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»Kein Kompromiß – Kein Wahlbündnis« ist die letzte größere Arbeit Liebknechts, die zu seinen Lebzeiten erschien; sie kann als sein politisches Testament betrachtet werden. Mit dieser Broschüre wandte sich Liebknecht energisch gegen den anwachsenden Opportunismus, insbesondere gegen den Revisionismus Bernsteins, und legte seinen Standpunkt zur Frage der Beteiligung der Partei an den preußischen Landtagswahlen dar, über die innerhalb der Partei unterschiedliche Auffassungen bestanden. Liebknechts Broschüre diente der Vorbereitung des Parteitages zu Hannover im Oktober 1899, der nach einem grundlegenden Referat Bebels – der von Liebknecht zu Unrecht des »praktischen Opportunismus« (in bezug auf die Wahlbeteiligung in Preußen) bezichtigt wurde – den revisionistischen Angriff auf die Grundanschauungen und die Taktik der Partei zurückwies. Liebknechts Broschüre erschien im Sommer 1899 – das Vorwort ist vom August 1899 datiert – im parteieigenen Verlag »Expedition der Buchhandlung Vorwärts« mit einer Auflage von 25 000 Exemplaren. Unsere Wiedergabe folgt dieser Ausgabe. Lenin sorgte 1907 für die Veröffentlichung in russischer Sprache und fügte ihr ein spezielles Vorwort bei.
Die nachstehende Broschüre ist nicht wie meine erste über Taktik ein Vortrag, aber sie ist veranlaßt durch einen Vortrag, den ich in diesem Sommer auf Wunsch meiner Berliner Wähler Wilhelm Liebknecht war seit dem 30. August 1888 bis zu seinem Tode als Vertreter des VI. Berliner Wahlkreises, des zahlenmäßig größten deutschen Wahlkreises, Reichstagsabgeordneter. über die letzten bayrischen Landtagswahlen im besonderen und Kompromisse im allgemeinen gehalten habe. Durch die Zähigkeit, mit der seit einiger Zeit von verschiedenen Seiten für die Annäherung unserer Partei an die bürgerlichen Parteien gearbeitet wird, namentlich durch die hartnäckige Propaganda für die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen, Nach dem Scheitern der Umsturzvorlage (s. Anm. 169) im Reichstag suchte die Reaktion den preußischen Landtag zum Abbau demokratischer Rechte zu nutzen. Am 13. Mai 1897 brachte die Regierung im Abgeordnetenhaus eine Novelle zum Vereinsgesetz ein, die das Versammlungs- und Koalitionsrecht drastisch beschneiden sollte. Dieses »Kleine Sozialistengesetz« wurde am 31. Mai in erster Lesung angenommen und erst in zweiter Lesung am 24. Juli 1897, unter dem Druck einer machtvollen Protestbewegung, mit knapper Mehrheit von vier Stimmen verworfen. Das war der Anstoß der Diskussion um die bis dahin abgelehnte Beteiligung der Sozialdemokratie an den preußischen Landtagswahlen. Liebknecht umging in seiner Argumentation die Tatsache, daß revolutionäre marxistische Kräfte wie August Bebel und Clara Zetkin für die Wahlbeteiligung trotz des Dreiklassenwahlrechtes eintraten. ist in einem Teil der Berliner Wähler – wie wohl der Genossen in ganz Deutschland – die Besorgnis erweckt worden, es seien in der Partei Strebungen vorhanden, die, wenn es auch nicht ihr Zweck, doch die Hinüberführung der sozialdemokratischen Partei in das Lager der bürgerlichen Parteien zum Zweck haben müßten. Der Besorgnis gab Nahrung die Bernsteinsche Bußschrift Gemeint ist Eduard Bernsteins Buch »Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie«, Stuttgart 1899. In dieser Broschüre faßte Bernstein seine bereits 1896/97 in einer Artikelserie gleichen Titels in der »Neuen Zeit« entwickelte antimarxistische Konzeption zusammen. – die feierliche Verleugnung der sozialdemokratischen Prinzipien durch einen Genossen, der bis dahin als ein Wächter unserer Prinzipien gegolten hatte, dessen Widerruf der sozialdemokratischen Irrlehre und sein Wiederbekenntnis zum alleinseligmachenden Glauben der bürgerlichen Weltanschauung. So unbedeutend die Schrift Bernsteins an sich ist, deren inhaltliche Bedeutung einzig darin liegt, daß sie ohne einen neuen selbständigen Gedanken als richtig zugesteht, was Feinde der Sozialdemokratie gegen die Sozialdemokratie seit Jahrzehnten hundertmal gesagt haben – im Zusammenhang mit der verwirrenden Agitation für die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen und mit den unglücklichen Isegrim-Artikeln Unter dem Pseudonym Isegrimm veröffentlichte Max Schippel im November 1898 einen Artikel »War Friedrich Engels milizgläubisch?« in den »Sozialistischen Monatsheften«, die zum theoretischen Organ des Revisionismus wurden. Schippel suchte damit eine Revision der antimilitaristischen Haltung der deutschen Sozialdemokratie in die Wege zu leiten. Nach einer dadurch ausgelösten öffentlichen Polemik, der »Milizdebatte«, wies der Parteitag zu Hannover 1899 Schippels Auffassungen in einer u. a. von Rosa Luxemburg und Clara Zetkin eingebrachten Resolution als »einen Vorstoß gegen die Grundsätze der sozialdemokratischen Partei« entschieden zurück. (Protokoll des Hannoveranischen Parteitages 1899, S. 247 ff.) gegen das Milizsystem und für den Militarismus erlangte die Schrift eine nicht wegzuleugnende symptomatische Bedeutung.
Und gerade als die Partei im Kampf gegen das Zuchthausgesetz Durch eine scharfmacherische Rede Wilhelms II. in Bad Oeynhausen bereits am 6. September 1898 angekündigt und durch einen Streikerlaß Posadowskys vorbereitet, wurde am 20. Juni 1899 im Reichstag ein Gesetzentwurf »zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse« eingebracht, der das Koalitions- und Streikrecht unter Androhung von Zuchthausstrafen faktisch beseitigen sollte. Gegen die »Zuchthausvorlage« erhob sich eine breite Protestbewegung, unter deren Druck der Gesetzentwurf am 20. November 1899 im Reichstag gegen die Stimmen der Konservativen abgelehnt wurde. und die sonstigen Knebelungsversuche der herrschenden Reaktion die Schippelei und Bernsteinerei zu vergessen anfing – vom nächsten Parteitag ein gründliches Aufräumen und Reinemachen erwartend –, da kam plötzlich die Nachricht von dem »Kuhhandel« in Bayern. An »bayrische Eigentümlichkeiten« sind wir seit Jahren gewöhnt; wir wissen, daß die bayrischen, überhaupt die süddeutschen Dinge nicht nach dem norddeutschen Maßstab zu messen sind – und niemand kann toleranter sein als die Berliner Genossen, die vor den Toren der Reichs- und Residenzstadt mit ebenso eigentümlichen, wenn auch andersgearteten Eigentümlichkeiten zu rechnen haben, wie die bayrischen nur sein können. Namentlich wissen wir, daß, wo das konfessionelle Element in der Politik mitspricht und das Zentrum Partei des politischen Klerikalismus. Das sozial heterogene Zentrum, das sich 1870 zunächst als Sammelbecken antipreußischer und partikularistischer katholischer Kräfte gebildet hatte, wandelte sich im Zusammenhang mit der Anpassung der katholischen Kirche an die kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu einer politischen Stütze des junkerlich-großbourgeoisen Herrschaftssystems. eine normale politische Entwicklung hindert, das Klassenbewußtsein leicht durch andere Rücksichten übertäubt wird. Und auch außerhalb Bayerns haben wir schon von gar seltsamen Wahlbündnissen Kunde bekommen. Allein, was diesmal in Bayern geschah, war in seiner Art doch eine Neuheit; ein formelles Bündnis, abgeschlossen nicht unter der Hand, nicht über die Köpfe der Menge hinweg von einzelnen Genossen, sondern von Partei zu Partei – von den Führern der Sozialdemokratie in Bayern mit den Führern der Zentrumspartei in Bayern.
Dieses Ereignis brachte eine große Bewegung hervor und verursachte in den weitesten Parteikreisen das peinlichste Aufsehen. Im ersten Moment fand das Erstaunen, fand die Mißbilligung keinen Ausdruck. Man konnte, da auch in Bayern die Landtagswahlen indirekt sind, nicht sofort Protest erheben, denn man hätte die bayrischen Genossen, die mitten in der Schlacht waren, ja nur gestört und vielleicht schwere Verantwortlichkeit auf sich geladen. So hatten die bayrischen Verteidiger des »Kuhhandels« zunächst für sich allein das Wort. Unter solchen Umständen ist es erklärlich, daß die Besorgnisse der Genossen, die Anzeichen einer planmäßigen und methodischen Versumpfung der Partei zu bemerken glaubten, aufs äußerste gesteigert wurden. Berliner Genossen wandten sich an mich. Ich legte dar, warum der »Vorwärts« noch nicht Stellung zu dem bayrischen »Kuhhandel« genommen, verhehlte jedoch nicht, daß meine Ansichten über Kompromisse nicht die der Gesamtredaktion seien, schrieb einen Artikel, der trotz seines außerordentlichen ruhigen Tons von bayrischen Genossen als ein schwerer Angriff betrachtet wurde, und entwickelte in einer Versammlung des Wahlvereins für den VI. Berliner Wahlkreis meine Ansichten. Obgleich ich, um des lieben Friedens willen, ein Tadelsvotum gegen die bayrischen Genossen verhinderte, bin ich dennoch und sind die Berliner Genossen wegen dieser Versammlung von bayrischen Parteigenossen sehr heftig angegriffen worden – und nicht immer in feinen Ausdrücken. Wer sich im Unrecht fühlt, pflegt die Schwäche der Gründe durch die Stärke der Sprache zu ersetzen. Ich habe deshalb die Grobheit meiner Gegner stets als unfreiwilliges Kompliment aufgefaßt und mich nie darüber geärgert.
Ungefähr gleichzeitig mit dem bayrischen Kuhhandel war in Frankreich der Eintritt eines Sozialisten – Millerand – in eine reaktionäre Bourgeoisregierung erfolgt und Anlaß zu einer Spaltung der französischen Sozialdemokratie geworden. Die tüchtigsten unserer französischen Genossen, Guesde, Lafargue, Vaillant, die Gründer der modernen sozialistischen Bewegung in Frankreich, protestierten gegen den Eintritt Millerands in das Ministerium des reaktionären Bourgeois Waldeck-Rousseau und des Kommuneschlächters Galliffet Vom 22. Juni 1899 bis 28. Mai 1902 war Alexandre-Etienne Millerand Handelsminister im reaktionären bürgerlichen Ministerium Waldeck-Rousseau. Dieser bis dahin beispiellose Schritt der Einordnung sozialdemokratischer Politiker in die bourgeoise Politik und den kapitalistischen Staat (»Millerandismus«) rief starke Auseinandersetzungen zwischen den marxistischen Kräften und den Opportunisten in der französischen und in der internationalen Arbeiterbewegung hervor. und trennten sich von der sozialistischen Kammergruppe, die ihrer Überzeugung nach sich von dem Boden des Klassenkampfs entfernt hatte.
Hier zeigten sich die Gefahren der Kompromißtaktik in ihrer ganzen Größe; und da inzwischen im »Vorwärts« in der Nummer vom 28. Juli ein Artikel, betitelt »Augenblicks-Kartelle« erschienen war, welcher der Kompromißtaktik das Wort redete, so entschloß ich mich, im Auftrag von Genossen Berlins und der Umgebung eine Broschüre zu schreiben, in der ich mich – wie ich weiß im Einklang mit der überwiegenden Mehrheit der Berliner Genossen – über die Frage der Taktik, insbesondere über Kompromisse und Wahlbündnisse ausspreche und so der Partei, soweit es in meiner Kraft steht, Gelegenheit biete, sich vor dem Parteitag Gemeint ist der Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, der vom 9. bis 14. Oktober 1899 in Hannover tagte. Hauptpunkt der Tagesordnung war die Auseinandersetzung mit dem Revisionismus (»Die Angriffe auf die Grundanschauungen und die taktische Stellungnahme der Partei«). noch einmal im Zusammenhang und in ihrem ganzen Umfang die Folgen zu vergegenwärtigen, welche ein Bruch mit der altbewährten Taktik unserer Partei nach sich ziehen würde.
Wenn ich hier von unserer Taktik rede, so nehme ich das Wort ohne Rücksicht auf Unwesentliches und Äußerliches in der Bedeutung, welche es seit Beginn der Partei für uns im Gegensatz zu allen übrigen Parteien gehabt hat – in der Bedeutung der Taktik des Klassenkampfes, die sehr oft in den Formen gewechselt hat, im Wesen aber unverändert dieselbe geblieben ist. Unsere eigene proletarische Klassentaktik, die uns von allen anderen Parteien auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft trennt und aus ihrer Gemeinschaft uns ausschließt.
Die Schrift ist eine Ferienarbeit. Sie ist im wahren Sinne des Wortes auf der Wanderschaft geschrieben – in Haus und Feld, auf Bergen, in der Eisenbahn, hier und dort. Das hat natürlich der Einheitlichkeit Abbruch tun müssen, beweist aber auch, wie ernst es mir mit der Sache ist, der ich die Sorglosigkeit meiner Ferien zum Opfer brachte.
Im August 1899 W. Liebknecht
Die Frage der Kompromisse hat in der einen oder anderen Form unsere Partei schon seit deren Eintritt in die politische Aktion beschäftigt. Für eine umfassende geschichtliche Darlegung habe ich indes jetzt keine Zeit und ist hier nicht der Ort. Der gegenwärtige Parteirechtszustand in bezug auf die Kompromißfrage drückt sich aus in den Beschlüssen der Parteitage von Köln, Hamburg und Stuttgart. Der Beschluß des Kölner Parteitags, gefaßt am 28. Oktober 1893, lautete:
»In Erwägung, daß das Dreiklassenwahlsystem in Preußen, das nach dem eigenen Ausdruck Bismarcks das elendste aller Wahlsysteme ist, der Sozialdemokratie es unmöglich macht, sich mit Aussicht auf Erfolg an den Wahlen zum preußischen Landtag selbständig zu beteiligen; in fernerer Erwägung, daß es den bisher beobachteten Grundsätzen der Partei bei Wahlen widerspricht, sich in Kompromisse mit feindlichen Parteien einzulassen, weil diese notwendigerweise zur Demoralisation und zu Streit und Zwietracht in den eigenen Reihen führen mußte, erklärt der Parteitag: es ist Pflicht der Parteigenossen in Preußen, sich jeder Beteiligung an den Landtagswahlen zu enthalten.
Der Parteitag beschließt ferner: in Erwägung, daß die Wahlsysteme in den Einzelstaaten eine wahre Musterkarte reaktionärer Wahlgesetze bilden, daß insbesondere der plutokratische Charakter des Dreiklassenwahlsystems in Preußen es der Arbeiterklasse unmöglich macht, eigene Vertreter in den Landtag zu senden, fordert der Parteitag die Parteigenossen auf, in allen Einzelstaaten eine umfassende und energische Agitation für die Einführung des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts für die Landtage im Sinne unserer Programmforderung in Angriff zu nehmen.« –
Drei Jahre später nahm der Parteitag von Hamburg – am 9. Oktober 1897 – folgende Resolution an:
»Der Beschluß des Kölner Parteitags, der den preußischen Parteigenossen die Beteiligung an den Landtagswahlen auf Grund des Dreiklassenwahlsystems untersagt, ist aufgehoben. Die Beteiligung an den nächsten preußischen Landtagswahlen ist überall geboten, wo die Verhältnisse den Parteigenossen eine solche ermöglichen. Inwieweit eine Wahlbeteiligung in den einzelnen Wahlkreisen möglich ist, entscheiden die Parteigenossen der einzelnen Wahlkreise nach Maßgabe der lokalen Verhältnisse.
Kompromisse und Bündnisse mit anderen Parteien dürfen nicht abgeschlossen werden.«
Die Aufhebung des Kölner Beschlusses erfolgte mit 160 gegen 50 Stimmen; die Gesamtresolution wurde mit 145 Stimmen gegen 64 Stimmen, bei einer Stimmenthaltung, angenommen. Um über die praktische Bedeutung des Hamburger Beschlusses Zweifel nicht aufkommen zu lassen, hatte nach den Abstimmungen über die einzelnen Teile der Resolution und nach der Gesamtabstimmung der Vorsitzende Singer, unter ausdrücklicher Zustimmung Bebels, des Antragstellers, ohne Widerspruch und mit im Protokoll verzeichneter Zustimmung erklärt:
»Ich konstatiere die Einmütigkeit des Parteitags darin, daß auf Grund des hier gefaßten Beschlusses eine Beteiligung nur durch Aufstellung sozialdemokratischer Wahlmänner geschehen kann.« Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten zu Hamburg vom 3. bis 10. Oktober 1897, Berlin 1897, S. 214 ff. August Bebel hatte eine Resolution eingebracht, die die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen unter gewissen Bedingungen vorsah. Referent Ignaz Auer begründete diesen Standpunkt. Liebknecht als Korreferent sprach sich scharf gegen die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen aus.
Daß Genossen von vornherein für liberale Wahlmänner stimmen sollten, war nach Bebels Bemerkung »absolut ausgeschlossen« und gehörte unter die Kategorie der »Kompromisse und Bündnisse« mit anderen Parteien.
Trotz des klaren Wortlauts und der ebenso klaren als autoritativen Auslegung des Beschlusses in bezug auf einen, verschiedenen Auffassungen Raum gebenden Punkt, war der Parteitag kaum auseinandergegangen, als Meinungsverschiedenheiten zum Ausdruck kamen. In scharfem Widerspruch mit den Tatsachen und mit dem Wortlaute des Protokolls wurde bestritten, daß das von vornherein erfolgende Eintreten unserer Partei für liberale Wahlmänner ein Kompromiß sei und sogar der Vorwurf erhoben, der Parteitag sei durch Singer »überrumpelt« worden. –
Der vorjährige Parteitag trat in Stuttgart zusammen unmittelbar vor den preußischen Landtagswahlen. Bei dem Auseinandergehen der Meinungen war nicht an eine Erledigung der Angelegenheit zu denken, zumal die Tagesordnung des Parteitags ohnehin überladen war. So blieb nichts übrig, als die endgültige Regelung einem späteren Parteitag zu überlassen und einen Notbeschluß zu fassen.
Am 5. Oktober 1898 nahm der Stuttgarter Parteitag nachstehende, von einer Kommission vereinbarte Resolution einstimmig an:
»Die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen unter dem Dreiklassenwahlsystem kann nicht wie die an den Reichstagswahlen als eine Heerschau betrachtet werden, nicht als ein Mittel, durch die Zählung unserer Stimmen einen moralischen Erfolg zu erreichen, sondern nur als ein Mittel, bestimmte praktische Erfolge zu erzielen, namentlich die Abwendung der Gefahr, daß die krasseste Reaktion die Mehrheit im Landtag erlangte. Von diesem Gesichtspunkte ausgehend, erklärt der Parteitag, daß die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen nicht in allen Wahlkreisen geboten ist, um so weniger, als bei der Kürze der Zeit, die uns von den preußischen Landtagswahlen trennt, nicht daran gedacht werden kann, die in dieser Frage jetzt weit auseinandergehenden Meinungen innerhalb der Partei einander so zu nähern, daß ein einheitliches Vorgehen der Partei möglich ist. Unter diesen Umständen überläßt es der Parteitag den Genossen der einzelnen Wahlkreise, über die Frage der Beteiligung zu entscheiden. Wird in einem Wahlkreis die Beteiligung beschlossen, so würden, falls es sich dabei um eine Unterstützung bürgerlicher Oppositionskandidaten handelt, die Kandidaten sich verpflichten müssen, für den Fall ihrer Wahl in den Landtag für die Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts, wie solches für die Wahlen zum Reichstag besteht, auch für die Wahlen zum Landtag einzutreten und im Landtag alle Maßnahmen entschieden zu bekämpfen, die geeignet sind, die bestehenden Volksrechte im Einzelstaat weiter zu schmälern oder zu beseitigen. Die zu dem Punkte: Preußische Landtagswahlen gestellten Anträge sind durch die Annahme dieser Resolution erledigt.« Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten zu Stuttgart vom 3. bis 8. Oktober 1898, Berlin 1898, S. 69f. und 161 f. Der Kommissionsantrag war durch Wilhelm Liebknecht kurz begründet worden.
Dies der Stuttgarter Beschluß. Man sieht, er ist bloß provisorisch und läßt die Frage der Taktik genau auf dem Boden des Hamburger Beschlusses. Trotzdem haben Genossen einzelner Wahlkreise sich für berechtigt gehalten, diesem Beschluß zuwider mit anderen Parteien Abmachungen zu treffen, die entschieden Kompromisse im Sinne des Hamburger Beschlusses sind. Und die jüngsten Wahlvorkommnisse in Bayern – das von beteiligten Genossen selbst als »Kuhhandel« bezeichnete Wahlbündnis mit dem Zentrum – hat gezeigt, daß, wenn einmal die Schneide des opportunistischen Keils in die Parteitaktik eingedrungen ist, das dicke Ende sich bald nachschiebt.
Für unsere Partei und für unsere Parteitaktik gibt es nur einen Rechtsboden: den Boden des Klassenkampfes, aus dem die Sozialdemokratische Partei hervorgewachsen ist und aus dem allein sie die nötige Kraft schöpfen kann, um jeden Sturm und all ihren Feinden trotzen zu können. Die Gründer unserer Partei, Marx, Engels, Lassalle, haben die Notwendigkeit des Klassencharakters unserer Bewegung den Arbeitern so unverlöschlich eingeprägt, daß bis in die neueste Zeit Abweichungen und Entgleisungen irgend erheblicher Art nicht vorgekommen sind. Der Kölner Beschluß wurde durch einen Vorschlag des in London lebenden und als Redakteur des »Sozialdemokrat« von den Genossen verehrten Eduard Bernstein hervorgerufen. Eduard Bernstein, Die preußischen Landtagswahlen und die Sozialdemokratie, Ein Vorschlag zur Diskussion; in: Die Neue Zeit, XI. Jg. 1892/93, 2. Bd., S. 772 ff.
Bis zum Jahr 1893 war in der Öffentlichkeit von der Möglichkeit oder Ratsamkeit einer Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen überhaupt nicht die Rede gewesen. Unterderhand war anfangs der achtziger Jahre von Frankfurter Demokraten ein Zusammengehen der Sozialdemokratie mit bürgerlichen Demokraten zur Erlangung eines sozialistischen und eines demokratischen Landtagsmandats für Frankfurt gemacht, aber auch unterderhand, ohne in weitere Kreise gedrungen zu sein, abgelehnt worden. Ausschlaggebend war der Grund, daß der Klassencharakter der Partei durch ein derartiges Bündnis geschwächt würde und daß der Vorteil eines Mandats durch den Nachteil eines Landtagswahlbündnisses mit einer Partei, die wir bei der Reichstagswahl bekämpfen müssen, weit überwogen werde.
Die Wichtigkeit eines preußischen Landtagsmandats wurde von niemand verkannt. Als von größerer Wichtigkeit wurde es aber erkannt, daß die Mandate der Partei ausschließlich der Kraft der Partei zu verdanken sein müssen; nicht einem Bündnis mit Parteien, die augenblicklich ein gemeinsames Interesse mit uns haben können, allein ihrem bürgerlichen Wesen nach uns feindlich sind und dauernd feindlich sein werden.
Der Bernsteinsche Vorschlag, welcher auf Beteiligung der Sozialdemokratie an den preußischen Landtagswahlen hinauslief, fand wenig Anklang und keine Verteidiger, so daß die von Bebel eingebrachte und begründete Resolution gegen die Beteiligung einstimmig angenommen wurde.
Daß die Frage der Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen nach einigen Jahren abermals auftauchen und sogar zu ziemlich lebhaften Debatten führen könnte, erscheint auf den ersten Blick nicht recht verständlich, erklärt sich aber durch zwei Umstände. In bezug auf das preußische Dreiklassenwahlsystem hatten im Laufe der Zeiten die Ansichten mancher Genossen eine Veränderung erfahren. Einesteils war es hier und da dem Gedächtnis entschwunden, daß der konsequent und raffiniert verwirklichte Zweck des Dreiklassenwahlsystems die hermetische Ausschließung des demokratischen Denkens und Fühlens war und daß die kapitalistische Ära, welche ziemlich gleichzeitig mit Einführung des »elendesten aller Wahlsysteme« begann, durch die Erzeugung eines klassenbewußten Proletariats das Votum der sozialistischen Massen noch bedeutungsloser gemacht hatte, als ursprünglich das Votum der demokratischen Massen gewesen war. Wie arg sich viele der Redner und Rednerinnen auf dem Hamburger Parteitag über das Wesen des Dreiklassensystems täuschten, erhellt unter Umständen daraus, daß mehrere sich in dem Wahn wiegten, die preußische Landtagswahlagitation könne zu einer großartigen Massenagitation benutzt werden. In dem Jubel über die Erfolge, welche mit anderen, auch nicht demokratischen Landtagswahlgesetzen, namentlich dem sächsischen, erzielt worden waren, hatten manche vergessen, daß das preußische Dreiklassensystem durch die obligatorische Öffentlichkeit der Stimmabgabe alle wirtschaftlich, sozial und politisch Abhängigen, das heißt die große Mehrheit der Bevölkerung, von vornherein von der Wahl tatsächlich ausgeschlossen und dadurch allein schon eine Massenbeteiligung und Massenagitation unmöglich gemacht hat.
Die optimistische Selbsttäuschung in bezug auf das preußische Dreiklassenwahlgesetz ging so weit, daß nicht wenige der Genossen sich allen Ernstes einbildeten, wir Sozialdemokraten seien imstande, aus eigener Kraft ohne Zusammengehen oder gar Paktieren mit anderen Parteien eine, wenn auch kleine Zahl von Mandaten zu erringen. In diesem Wahn wiegt heute sich niemand mehr. Heute weiß jeder, daß wir ohne Kompromiß oder Wahlbündnis kein einziges Mandat für den preußischen Landtag erringen können. Anders vor zwei Jahren, wo der Parteitag in seiner Mehrheit unter dem Bann optimistischer Selbsttäuschung sich für die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen aussprach. Zum Glück erinnerte sich aber die oberste Parteivertretung und Parteiinstanz des Ursprungs und Wesens der Partei und suchte durch ein rückhaltloses Verbot aller Kompromisse und Bündnisse mit anderen Parteien zu verhindern, daß die Selbsttäuschung Schritte veranlassen könnte, geeignet, die Partei zu schädigen und in falsche Bahnen zu leiten.
Man hat den Hamburger Beschluß widerspruchsvoll und unlogisch genannt. Richtig ist, wenn die Partei nach wie vor alle Kompromisse und Wahlbündnisse mit anderen Parteien verwirft, dann hatte es keinen Sinn, daß sie den Kölner Beschluß aufhob. Der Widerspruch, wie schon angedeutet, erklärt sich daraus, daß ein Teil der Partei über die Natur des preußischen Dreiklassenwahlgesetzes sich täuschte oder getäuscht war.
Aus diesem Widerspruch aber zu folgern, wie es tatsächlich geschehen ist, daß es der Partei mit ihrem Wunsch der Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen mehr ernst gewesen sei als mit ihrer Abneigung gegen Kompromisse und daß demgemäß, da ein Widerspruch vorhanden, der Widerspruch durch rückhaltloses Eintreten für die Wahlbeteiligung und durch Streichung des Verbots der Kompromisse und Wahlbündnisse aufzuheben sei, zeugt von ebensowenig Logik wie Achtung für die Prinzipien und die Geschichte der Partei.
Freilich, in gewissen Parteikreisen – und das bringt mich zu dem zweiten Moment, dem wir es verdanken, daß die Frage der Beteiligung an den Landtagswahlen zu einer ernsthaften Parteistreitfrage hat werden können –, in gewissen Kreisen ist die Neigung oder sagen wir das Bestreben vorhanden, den Boden des Klassenkampfes zu verlassen und auf den gemeinsamen Kampfboden der übrigen Parteien zu treten. Da nun die übrigen Parteien insgesamt auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft stehen, so ist dieser gemeinsame Boden mit Notwendigkeit der Boden der bürgerlichen Gesellschaft. Ich sage nicht, daß die Vertreter der neuen Taktik allesamt dies wollen; ich bin von vielen derselben sogar überzeugt, daß sie es nicht wollen. Aber andere wollen es; und es ist kein bloßer Zufall, daß gerade Bernstein es ist, welcher die Beteiligung der Sozialdemokratie an den preußischen Landtagswahlen zuerst vorgeschlagen hat. Dem auf Verbürgerlichung der Sozialdemokratie hinzielenden Programm Bernsteins entspricht diese Taktik durchaus, wohingegen sie vom Standpunkte derer, die den Klassenkampfcharakter unserer Partei nicht verleugnen oder zerstören wollen, entschieden unlogisch ist. Und ich stehe nicht an, meine frühere Erklärung zu wiederholen, daß ein praktisches Preisgeben unserer Partei-Grundanschauungen mir weit gefährlicher scheint als alle theoretischen Irrlichtereien Bernsteins zusammengenommen. Man hat behauptet, daß bei den bürgerlichen Parteien der politische Nerv abgestorben sei – daß sie den Sinn für Freiheit und Recht verloren hätten. Die Behauptung entbehrt sicherlich nicht des Grundes. Indes nicht erst seit neuerer Zeit. Wenn wir von kurzen Perioden absehen, hat das deutsche Bürgertum niemals das gehabt, was man unter »politischem Nerv« versteht. Wie dem aber sei, es kann im allgemeinen nicht geleugnet werden, daß wir unter dem Einflusse von politisch-ökonomischen Verhältnissen leben, die einesteils auf die äußerste Zuspitzung der ökonomischen und politischen Gegensätze, andererseits jedoch auch auf eine opportunistische Verflachung der Prinzipien hinwirken. Dazu kommt in Deutschland die politische Rückständigkeit unseres Bürgertums, die zur Folge hat, daß eine wirklich liberale Partei gar nicht vorhanden ist, ganz zu schweigen von einer demokratischen. Diese Tatsache hat nun zur natürlichen Folge, daß die ehrlich liberalen und demokratischen Elemente des Bürgertums mehr und mehr nach der Seite der Sozialdemokratie hin gravitieren, als der einzigen Partei, die in Deutschland demokratische Grundsätze verficht. Damit sind diese demokratischen Elemente aber noch keine Sozialisten, obgleich viele es zu sein glauben. Kurz, wir haben jetzt in Deutschland eine Erscheinung, die in Frankreich schon seit einem halben Jahrhundert und länger zu beobachten ist und die viel zur Verwirrung der französischen Parteiverhältnisse beigetragen hat, nämlich, daß ein Teil des radikalen Bürgertums sich unter die sozialistische Fahne schart, ohne das Wesen des Sozialismus begriffen zu haben. Dieser bürgerliche Sozialismus, der in Wirklichkeit nur philanthropisch-humanitärer Radikalismus ist, hat der Entwicklung des Sozialismus in Frankreich außerordentlich geschadet. Er hat die Prinzipien verwässert und verwischt und die sozialistische Partei geschwächt, weil er ihr Truppen zuführte, auf die im Moment der Entscheidung kein Verlaß war.
In den Aufsätzen, welche Marx über die Klassenkämpfe in Frankreich schrieb, Unter dem Titel »Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850« veröffentlichte Friedrich Engels 1895, kurz vor seinem Tode, vier Artikel von Marx, die 1850 in der »Neuen Rheinischen Zeitung. Politisch-ökonomische Revue« erschienen waren. Vgl. MEW, Bd. 7, S. 9 ff. Engels' Einleitung zu dieser Publikation war dessen letzte größere Arbeit. Vgl. MEW, Bd. 22, S. 509 ff. hat er diesen bürgerlichen Sozialismus auch für uns gekennzeichnet. Und es wäre eine Abirrung und Entgleisung ohnegleichen, wollte die deutsche Sozialdemokratie, die bisher, gerade weil sie unentwegt auf dem Boden des Klassenkampfs voranschritt, so wunderbare Erfolge und ein so wunderbares Wachstum gehabt hat, plötzlich kehrtmachen und in die Fehler hineinstürzen, deren Vermeidung die Größe und der Stolz unserer Partei gewesen ist und die deutsche Sozialdemokratie an die Spitze der internationalen Sozialdemokratie aller Länder gebracht hat.
Das Schwinden der Furcht und Abneigung vor uns in bürgerlichen Kreisen führt selbstverständlich bürgerliche Elemente in unsere Reihen. Solange das in geringem Maße der Fall ist, hat es nichts Bedenkliches, weil die bürgerlichen Elemente von den proletarischen majorisiert und allmählich aufgesogen werden. Ein andres ist es, wenn die bürgerlichen Elemente in der Partei so zahl- und einflußreich werden, daß die Aufsaugung erschwert wird und sogar die Gefahr entstehen kann, daß das proletarische Element zurückgedrängt wird. Für die deutsche Sozialdemokratie besteht, infolge der Rückständigkeit unseres Bürgertums, diese Gefahr der Verbürgerlichung nach zwei Richtungen hin. Während einerseits die demokratischen Elemente des Bürgertums, die in der eigenen Klasse keine politische Befriedigung finden, uns in größerer Menge zufließen als in Ländern mit normal entwickeltem Bürgertum, hat sich anderseits der unbürgerliche, wenn auch kapitalistische Geist unserer Regierungen einem Staatssozialismus Seinerzeit vielgebrauchtes Schlagwort für die Bestrebungen, die sozialen Gegensätze zwischen der Arbeiterklasse und den Ausbeuterklassen mit Hilfe staatlicher Reformmaßnahmen zu dämpfen. Die daran anknüpfenden opportunistischen Bestrebungen wies der Berliner Parteitag 1892 nach einem Referat von Liebknecht zurück. Er erklärte staatssozialistische Auffassungen als unvereinbar mit sozialdemokratischen Positionen. zugewandt, der in Wirklichkeit allerdings nur Staatskapitalismus ist, für solche, die durch äußere Ähnlichkeiten und Schlagwörter sich bestechen lassen, jedoch etwas Blendendes und Verführerisches hat. Der deutsche – oder genauer: preußische Staatssozialismus, dessen Ideal der Kasernen-, Junker- und Polizeistaat ist, haßt vor allem die Demokratie. Die Kanitze und Konsorten beteuern, aufrichtige und radikale Sozialisten zu sein – nur von der Demokratie wollen sie nichts wissen. Die Demokratie ist der Feind. Und sie ist ihnen etwas spezifisch Bürgerliches. Alles, was bürgerlich, ist aber dem Sozialistischen diametral entgegengesetzt. So gelangen wir zu dem Trugschluß, der auch in sozialdemokratischen Kreisen sich hier und da eingenistet hat, daß die Demokratie als etwas Bürgerliches mit dem Sozialismus nichts gemein habe, im Gegenteil ihm feindlich sei. Gewisse Verirrungen, zum Beispiel die Polemik gegen das Milizheer, lassen sich, wie früher die Schweitzerschen Irrleitungen, Gemeint ist die Politik des AD AV-Präsidenten J. B. von Schweitzer, die auf eine Annäherung der Arbeiterbewegung an den Bismarckstaat hinauslief. auf diesen Trugschluß zurückführen. Die Demokratie ist eben nichts spezifisch Bürgerliches, und wir dürfen niemals vergessen, daß wir nicht bloß eine sozialistische Partei sind, sondern eine sozialdemokratische, weil wir begriffen haben, daß Sozialismus und Demokratie untrennbar sind.
Als Fürst Bismarck in den sechziger Jahren den »Acheron« des Sozialismus bewegen wollte und mir durch Braß die Redaktion der »Norddeutschen«, später dann Marx durch Bucher gar die Redaktion des »Staatsanzeigers« anbieten ließ Im Juni 1878, unmittelbar vor Erlaß des Sozialistengesetzes, machte Marx in einer Erklärung das Angebot Lothar Buchers vom 8. Oktober 1865 publik, regelmäßig Artikel für den »Königlich Preußischen Staats-Anzeiger«, das offizielle Regierungsorgan, zu schreiben. – beides mit Vollmacht, den Sozialismus bis in seine letzten Konsequenzen und rücksichtslos im Ausdruck zu vertreten –, da war es natürlich nicht Liebe zum Sozialismus oder Verständnis des Sozialismus, was den Fürsten Bismarck leitete. Vom Sozialismus verstand er damals nichts und hat er niemals etwas verstanden bis zu seinem Tod – wie er überhaupt von den treibenden Kräften des politischen und gesellschaftlichen Lebens nie einen Begriff gehabt hat. Ein weniger wissenschaftlicher und weniger wissender und so rein auf Erfahrung und halb Spieler-, halb Bauernschlauheit fußender »Staatsmann« hat wohl in keinem Lande und zu keiner Zeit gelebt. Durch jene Angebote an Sozialisten wird beiläufig die Verlogenheit der Versicherung des Fürsten Bismarck, er habe die Sozialdemokratie allezeit mit dem Bestande des Staats für unvereinbar gehalten, ins hellste Licht gestellt. Bismarck wollte den Sozialismus zur Sprengung und Auflösung des bürgerlich-oppositionellen Liberalismus, insbesondere der Fortschrittspartei gebrauchen. Beiläufig für sich allein schon der schlußkräftigste Beweis dafür, daß er vom Wesen des Sozialismus keine Ahnung gehabt. Natürlich wiederholte sich das Schicksal des Zauberlehrlings. Die angerufene Elementarkraft wuchs dem Pfuscher über den Kopf, und nicht er hatte den Sozialismus, der Sozialismus hatte ihn. Die Frage der Taktik tauchte damals für unsere Partei zum erstenmal auf. Sollten wir Bismarck um den Preis gewisser Zugeständnisse an die Arbeiter Beistand gegen die Fortschrittspartei und die sonstigen Gegner seiner Politik leisten, in der Erwartung, dann schließlich stark genug für den erfolgreichen Kampf gegen ihn und den in seiner Person verkörperten Junker-, Polizei- und Militärstaat zu sein. Oder erheischte es die Klugheit und das Interesse der Partei, daß wir, den Kampf Bismarcks mit dem fortschrittlichen Bürgertum und den übrigen Gegnern seiner Politik für uns ausnutzend, die Bismarcksche Politik bekämpften und das Proletariat zu einer selbständigen politischen Partei organisierten, zu dem Zweck, es für die Eroberung der politischen Macht vorzubereiten.
Eine Zeitlang schwankte das Proletariat, aber nach wenigen Jahren war die vornehmlich durch Herrn von Schweitzer befürwortete Taktik der Annäherung an die Bismarcksche Politik von der Gesamtheit der deutschen Arbeiterschaft aufgegeben und die Taktik allgemein angenommen, welche bis auf den heutigen Tag für die Partei in Geltung gewesen ist. Diese Taktik besteht darin, den Klassencharakter der sozialistischen Partei, als einer proletarischen, rein zu erhalten, sie durch Agitation, Erziehung und Organisation zur siegreichen Durchführung des Emanzipationskampfes zu befähigen, den Klassenstaat, in dessen Händen die politische und ökonomische Macht des Kapitalismus konzentriert ist, methodisch zu bekämpfen und in diesem Kampf aus allen Streitigkeiten und Konflikten der verschiedenen bürgerlichen Parteien unter sich nach Möglichkeit Vorteil zu ziehen.
In Deutschland ist das Bürgertum nicht zur politischen Herrschaft gelangt wie in Frankreich und England. Während das englische Bürgertum schon vor dritthalb Jahrhunderten, das französische Bürgertum vor mehr als einem Jahrhundert mit allem mittelalterlichen Plunder aufgeräumt hat, ist das deutsche Bürgertum überhaupt nicht in der Lage gewesen, eine bürgerliche Revolution zu machen und das, was man unter dem Namen »bürgerliche Freiheiten« begreift, im Staat zu verwirklichen. Der Verlust des Welthandels infolge der Entdeckung von Amerika und die damit in Verbindung stehende Verkümmerung des wirtschaftlichen Lebens, die politische Zersplitterung und Verkommenheit Deutschlands, die fast an Abtötung grenzende Lähmung des nationalen Geistes, das Emporwuchern dynastischer volks- und kulturfeindlicher Interessen – das alles verhinderte das Aufblühen eines kräftigen Bürgertums. Als 1848 eine verspätete Gelegenheit sich bot, hatte das deutsche Bürgertum auch damals noch nicht die Kraft zu einer bürgerlichen Revolution. Nach kurzem Freiheitsrausch duckte es sich wieder unter das alte Joch. Aus Angst vor den Arbeitern, in denen es eine neue gefährliche Macht witterte, wurde es reaktionär, ohne je revolutionär gewesen zu sein, tat Buße für seine Freiheitsideale, die ihm als »Jugendeseleien« erschienen, und warf sich der politischen Reaktion in die Arme, bloß noch von dem einen Ideal erfüllt: sich zu bereichern. Das Bürgertum verschwand vom politischen Schauplatz und wurde entweder politisch gleichgültig oder kapitalistisch. Und kapitalistisch, das heißt unbedingtes Anerkennen und Unterstützen der Regierung, vorausgesetzt, daß sie eine Klassenstaatsregierung ist und rücksichtslos die Interessen des Kapitalismus vertritt und zur Geltung bringt. Um Mißverständnissen vorzubeugen und falsche Auffassungen abzuwehren, müssen wir uns des Unterschieds zwischen den Begriffen »bürgerlich« und »kapitalistisch« voll bewußt sein. Beide Begriffe, die infolge der Mehrdeutigkeit des deutschen Wortes »Bürger« für uns sehr leicht zusammenfallen und sich miteinander vermischen, sind scharf voneinander zu trennen. In Frankreich hat das Wort Bourgeois, das im Mittelalter dieselbe Bedeutung hatte wie unser »Bürger«, im Laufe der Zeiten und der wirtschaftlichen Entwicklung allmählich die Bedeutung des Großbürgertums angenommen, wohingegen wir Deutschen für den letzteren Begriff das französische Wort »Bourgeois« entlehnen, nebenher aber auch das deutsche »Bürger« und »bürgerlich« gebrauchen, ohne die Verschiedenheit hervorzuheben. So entspringt eine Sprachverwirrung, die der Begriffserklärung nichts weniger als förderlich ist. Wir reden von bürgerlicher Gesellschaft und meinen die moderne kapitalistische Bourgeoisgesellschaft. Wir reden von bürgerlichem Geist, bürgerlicher Freiheit und meinen einen demokratischen Geist der Freiheit, wie er dem Bürgertum in früheren Zeiten, als es die Pfaffen und Junker noch bekämpfte, zu eigen war, der aber dem Geist des kapitalistischen und damit reaktionär, junker- und pfaffenfreundlich gewordenen Bürgertums, richtiger der Bourgeoisie, diamentral entgegengesetzt ist. Die Richtigkeit der sogenannten materialistischen Geschichtsauffassung, welche die politische Entwicklung von der ökonomischen abhängig sein läßt, kann nicht anschaulicher und überzeugender zum Bewußtsein gebracht werden als durch die Umwandlung, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts innerhalb des Bürgertums vollzogen hat. Es ist aufs genaueste nachzuweisen, wie mit der Umgestaltung der Produktionsverhältnisse auch die Umgestaltung der politischen Anschauung und Stellungnahme des Bürgertums vor sich gegangen ist. Jeder Schritt vorwärts in der ökonomischen Entwicklung war ein Schritt vorwärts in der Entwicklung der Klassengegensätze und ein Schritt der Annäherung des Bürgertums an seine alten Feinde: die Junker und Pfaffen und der Entfernung von dem sich neubildenden Proletariat, das, um seine Emanzipation zu erwirken, für die Gleichberechtigung aller Menschen und für die einst vom Bürgertum verfochtenen demokratischen Forderungen eintreten muß. Von dem Augenblicke an, wo das Proletariat als vom Bürgertum losgelöste und ihm interessenfeindliche Klasse auftritt, hört das Bürgertum auf, demokratisch zu sein. In den Staaten des europäischen Festlands fällt diese Reaktion charakteristischerweise gerade in einen Zeitraum, der als revolutionärer par excellence bezeichnet zu werden pflegt – in die Zeit der Februar- Nach dreitägigen bewaffneten Kämpfen in Paris wurde am 25. Februar 1848 der Bürgerkönig Louis Philippe und mit ihm die Monarchie gestürzt und durch die siegreiche Februarrevolution die Republik erzwungen. Die Februarrevolution war der Beginn der Revolutionen von 1848/49 in Europa. und Märzrevolution. Am 18. März 1848 siegte, nachdem unter dem Einfluß der Februarrevolution und der Revolution in Wien sich in mehreren deutschen Staaten die revolutionäre Krise zugespitzt hatte, die bürgerlich-demokratische Revolution in Berlin. Der Widerspruch ist nur ein scheinbarer. Die Februarrevolution war ein verspäteter Sieg des bürgerlichen Idealismus, der den bürgerlichen Realismus zum Widerspruch, zur Opposition und zur Reaktion reizte. Der verfrühte Ausbruch der proletarischen Revolution (in der Pariser Junischlacht), 23. bis 26. Juni 1848 in Paris. Erste offene Klassenschlacht des Proletariats gegen die Bourgeoisie, in der die Pariser Arbeiter gegen die Einschnürung der bürgerlich-demokratischen Revolution und den Abbau ihrer Resultate kämpfen; provoziert durch die Schließung der Nationalwerkstätten (21. Juni 1848), die Zehntausende bitterster Not überantworteten. Der Aufstand wurde durch Militär und Mobilgarde unter Cavaignac brutal im Blut der Insurgenten erstickt. der dem verspäteten Ausbruch der bürgerlichen Revolution auf dem Fuß folgte, trieb das Bürgertum, das in dem Sieg des Proletariats den Untergang des Kapitalismus erkannte, auf die Seite seiner Erbfeinde. In Frankreich wurde Napoleon zum Präsidenten gewählt, und in Deutschland sehnte schon in den Flitterwochen der Märzrevolution das Bürgertum sich nach einem Retter, der das rote Gespenst bannen sollte. So war die »schwarze Reaktion«, die bei uns 1849 die »Revolution« ablöste, im Grunde genommen nur das eigentliche Wesen dieser »Revolution«, ihre Entkleidung von phantastisch-trügerischem Phrasenschaumgold. Unter der Herrschaft des Kapitalismus mußte das Bürgertum, soweit es kapitalistisch war oder unter kapitalistischem Einfluß stand, politisch reaktionär werden. Und die »schwarze Reaktion«, die vor einem halben Jahrhundert sich über das europäische Festland verbreitete, war ebensogut eine geschichtliche Notwendigkeit wie die »schwärzere Reaktion« des gegenwärtigen Zickzack- und Zuchthauskurses, dem der an sich selbst verzweifelnde Kapitalismus uns aufgezwungen hat.
In Deutschland, wo der Kapitalismus später als in England und Frankreich zur Entfaltung gelangt ist und wo ihm nicht, wie in jenen zwei Ländern, eine Ära der wirtschaftlichen Blüte wie der politischen Herrschaft des Bürgertums vorausgegangen ist, mußte die ganze politische Entwicklung einen anderen Charakter annehmen. Dort ein von mittelalterlichem Moder und Gestrüpp befreiter Boden – hier die neuste Neuzeit, so neu wie in Frankreich und England, zwischen mittelalterlichem Moder und Gestrüpp – der gesunde Wuchs von Ruinenefeu umklammert, das allem, was es mit seinen Saugfasern gepackt hat, das Leben aussaugt – das nur lebt vom Tode und von Fäulnis und das abgerissen und ausgerottetet werden muß, wenn das Gesunde und Wachsende nicht dem Tode verfallen soll. Und das deutsche Bürgertum, das zur Zeit, wo das Bürgertum in anderen Ländern dem Staat seinen bürgerlichen Stempel aufdrückte, den Schlaf der Schwäche geschlafen hatte, besitzt jetzt nicht die Kraft, den romantisch-tötenden Schmarotzerefeu des Junkertums und mittelalterlicher Halbbarbarei abzureißen und auszurotten.
Das politische Unvermögen des deutschen Bürgertums in Vergangenheit und Gegenwart ist, was das politische Leben Deutschlands von dem der übrigen Kulturländer unterscheidet und dem deutschen Proletariat die Mission zugewiesen hat, neben seiner eigenen proletarischen Aufgabe auch noch die von unserem Bürgertum versäumte Aufgabe zu erledigen. Durch die Natur der Verhältnisse wird die Taktik bedingt. Soweit das Bürgertum kapitalistisch ist, haben wir es zu bekämpfen, soweit das Bürgertum sich gegen den Kapitalismus und die von ihm geschützte und geförderte Reaktion wendet, haben wir es entweder positiv zu unterstützen oder doch wenigstens ihm nicht feindlich entgegenzutreten – es sei denn, daß es uns in die Schußlinie gerät, wie zum Beispiel bei Reichstagswahlen, wo ein bürgerlicher und ein sozialdemokratischer Kandidat einander das Mandat streitig machen.
Wenn wir von der Episode Schweitzer absehen, hat die deutsche Sozialdemokratie die schon von dem »Kommunistischen Manifest« vorgeschriebene Taktik – den Hauptkampf gegen die politische Reaktion zu führen und dem Bürgertum, soweit es noch liberal oder demokratisch ist, in seinem Kampf gegen die politische Reaktion Vorschub zu leisten und in keinem Fall sich auf seiten der politischen Reaktion in ihrem Kampf gegen das oppositionelle Bürgertum zu werfen – konsequent und bewußt durchgeführt. Es ist notwendig, dies hervorzuheben, weil Bernstein in seiner, von den bürgerlichen Parteien so verdächtig gespriesenen und empfohlenen Streitschrift gegen die sozialdemokratische Partei Deutschlands uns den Vorwurf gemacht hat, wir hätten, was bekanntlich eine alte Lieblingslegende des Herrn Eugen Richter ist, das deutsche Bürgertum einseitig zum Vorteil der politischen Reaktion bekämpft und es dermaßen abgestoßen und erschreckt, daß es sich in seiner Angst unter die Fittiche der politischen Reaktion des Junker-, Polizei- und Militärstaats geflüchtet habe. Es ist nicht möglich, der Wahrheit heftiger ins Gesicht zu schlagen. Zur Zeit des famosen »Verfassungskonflikts« der sechziger Jahre gab es noch keine, irgend ins Gesicht fallende sozialistische Partei. Als Lassalle 1864 von der Kugel des wallachischen Bojaren Racowitza fiel, zählte der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein in ganz Deutschland auf dem Papier fünf- bis sechstausend Mitglieder, in Wirklichkeit noch weniger. Von diesem winzigen Häuflein kann die deutsche Fortschrittspartei, auch wenn wir ihren Mannesmut mit deutsch-bürgerlichem Zwerg- oder Hasenmaß messen, nicht ins Bockshorn gejagt worden sein. Und doch kapitulierte sie vor Bismarck und erteilte ihm, nach dem Gelingen des Bruderkrieges von 1866, die Indemnität und beugte sich unter das von ihm errichtete kaudinische Joch. Zu behaupten, daß die Sozialdemokratie hieran schuld sei, ist einfach lächerlich. Es ist wahr, Lassalle hatte das Bürgertum sehr scharf angegriffen, allein damit bei den deutschen Arbeitern auch sehr wenig Anklang gefunden. Und obgleich Lassalle in seinem Kampf gegen die Fortschrittspartei sich verschiedentlich der Bismarckschen Reaktionspolitik vielleicht etwas zu sehr näherte, so darf doch nicht vergessen werden, daß er zu Anfang des Verfassungskonflikts auf Seiten der Fortschrittspartei gestanden und sich von ihr erst getrennt hatte, als sie sich trotz seiner wiederholten Aufforderungen hartnäckig weigerte, den Kampf ernsthaft zu führen.
Das deutsche Bürgertum – und das ist der Schlüssel zu seinem sonst unbegreiflichen Verhalten – hatte 1862 so wenig wie 1848 und früher das Zeug zu einer bürgerlichen Revolution. Es fürchtete – wie ich anfangs des Jahres 1863 einem der fortschrittlichen Führer ins Gesicht sagte –, es fürchtete die Revolution mehr als die Reaktion. Und Bismarck mit seiner zynischen Menschenverachtung und seiner Roßtäuschergeriebenheit hatte das bald herausgebracht. Die Herren Fortschrittler »imponierten ihm nicht« – und je frecher er im Verkehr mit ihnen war, desto leichter wickelte er sie um den Finger. Für den Freiheitsverrat der preußischen Fortschrittspartei die deutsche Sozialdemokratie verantwortlich machen, ist nicht bloß ein Attentat auf die historische Wahrheit, es zeugt auch von völligem Unverständnis der Rolle, welche das deutsche Bürgertum seit dem Mittelalter gespielt hat.
Ich stelle einfach die zwei Tatsachen nebeneinander: In der Ära des Verfassungskonflikts, wo die Fortschrittspartei auf der Höhe ihrer Macht stand und das Volk hinter sich hatte, wurde sie von Bismarck, der erst seine Laufbahn begonnen, spielend überwunden. In der Ära des Sozialistengesetzes, wo Fürst Bismarck auf der Höhe seiner Macht stand und mit allen Hilfsmitteln des Kapitalismus die Diktatur der Bourgeoisie ausübte, wurde er von der Sozialdemokratie, die alle bürgerlichen Parteien gegen sich hatte, spielend überwunden. Das zeigt, wer in Deutschland die Reaktion bekämpfen kann und wer nicht.
Die Jämmerlichkeit des deutschen Bürgertums hebt jedoch für uns nicht die Pflicht auf, ihm, wo immer es der Reaktion kräftig entgegentritt, Beistand zu gewähren, insoweit unsere eigenen Interessen nicht darunter zu leiden haben. Es ist das auch, seit die deutsche Sozialdemokratie als politische Partei auf dem Kampfplatz sich bewegt, ausnahmslos geschehen. Für meine Person brauche ich bloß an die Tatsache zu erinnern, daß ich 1865 aus Preußen ausgewiesen worden bin, weil ich den Versuch Bismarcks, mit Hilfe der Sozialisten die Fortschrittspartei wie zwischen zwei Mahlsteinen zu zerreiben, durchkreuzt habe. Ich kann mit gutem Gewissen sagen: in all meinen Kämpfen gegen die Bismarcksche Reaktion habe ich für die bürgerlichen Freiheiten gekämpft. Und in meiner vielberufenen Schrift über die politische Stellung der Sozialdemokratie habe ich den demokratischen Charakter unserer Bewegung doch wohl nicht mit minderem Nachdruck dargelegt, als dies in jüngster Zeit von Bernstein geschehen ist, der uns als nagelneue Weisheit empfiehlt, was wir etliche dreißig Jahre lang bereits üben.
Über meine obenerwähnte Broschüre über Taktik muß ich hier einiges sagen. Die Rede, aus der dieselbe hervorgegangen ist, wurde im Jahre 1869 gehalten – zur Zeit des Norddeutschen Bundes, eines Provisoriums, das unmöglich von Bestand sein konnte und entweder mit dem Zusammenbruch der großpreußischen Politik Bismarcks oder mit deren »Krönung« durch Eintritt der süddeutschen Staaten mit Ausschluß Österreichs endigen mußte. In diesem Provisorium oder Interim war die durch die Logik der Tatsachen uns auferlegte Taktik die der Bekämpfung um jeden Preis. Bismarck hatte nach napoleonischem Muster das allgemeine Wahlrecht eingeführt – nicht um die Volkssouveränität zu begründen, sondern um seine despotische Diktatur zu verdecken. Wie Napoleon durch seine Präfekten, so glaubte er durch seine Landräte das allgemeine Stimmrecht nach Belieben leiten zu können. Es dünkte ihm ein Werkzeug, das bequemer zu handhaben als das Dreiklassenwahlsystem, dessen das Bürgertum sich bemächtigt und in dessen zwei ersten Klassen es sich eine uneinnehmbare Verschanzung geschaffen hatte.
Die Geschichte des preußischen Dreiklassenwahlgesetzes ist interessant, weil sie so recht deutlich zeigt, wie die bestausgetiftelten politischen Einrichtungen der Reaktion durch die ökonomische Entwicklung umgestaltet und zeitweilig in ihr Gegenteil verkehrt werden können. Mit raffinierter Schlauheit darauf berechnet, jedes demokratische oder oppositionelle Element auszuschließen, erfüllte es ein Jahrzehnt lang diesen Zweck tadellos, bis eines schönen Tages das wirtschaftlich gekräftigte Bürgertum, empört über die widerlichen Orgien der Junker- und Polizeiwirtschaft, sich politisch zu fühlen begann und auf den Gedanken kam, daß es nur zu wollen brauche, um in den zwei ersten Wählerklassen die Mehrheit und damit den Sieg bei der Abgeordnetenwahl zu erlangen. Der Gedanke ward zur Tat, und Fürst Bismarck verwünschte das Werkzeug, das so schmählich versagte. Das Dreiklassenwahlrecht wurde das »elendste aller Wahlsysteme«, das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht dagegen, dieser Gottseibeiuns des »tollen Jahres« 1848, das sich im Napoleonischen Frankreich so trefflich bewährt, erstrahlte im Glanz cäsaristischer Staats- und Gesellschaftsrettung.
So erhielten wir das allgemeine Wahlrecht. Und noch aus einem anderen Grund. Die dynastisch-junkerliche Revolution von oben, in der die »nationale« Politik Bismarcks gipfelte, hätte in der Luft gestanden, wenn ihr nicht wenigstens der Schein einer Revolution von unten verliehen ward. Man brauchte das Volk, sei es auch nur als Statist. Und einen besseren Köder gab es nicht als das allgemeine Wahlrecht von 1848. Es knüpfte die Bismarcksche Revolution von oben an die 1848er Revolution von unten und versetzte die unkritischen Massen in den Wahn, das auf Kosten Deutschlands vergrößerte Junker-, Polizei- und Soldaten-Preußen sei das verwirklichte Deutschland der Demokratie. Wir wissen heute, wie tief der Wahn sich einwurzelte; Jahrzehnte brutaler Mißwirtschaft waren notwendig, um ihn wieder auszurotten.
In einem aber verrechnete sich Bismarck: in der Stärke des revolutionären Gedankens. Was in Frankreich nach der Junischlacht möglich war, die das ganze Bürgertum sich in die wildeste Reaktion stürzen ließ, war in Deutschland nicht möglich, wo die Staatsmacht nicht so straff zentralisiert war und wo, genährt durch die kapitalistische Entwicklung, eine gesunde Arbeiterbewegung heranwuchs, welche entschlossen war, die nationalen und dynastischen Krisen und Kämpfe im Interesse des Proletariats auszubeuten und den Sozialismus in Deutschland zur ausschlaggebenden Macht zu erheben, ihm zum Sieg und zur Herrschaft zu verhelfen. Und das deutsche Proletariat hatte neben dem Vorteil, aus der Arbeiterbewegung der anderen Länder, die Deutschland in politischer und ökonomischer Entwicklung voraus waren (und sind), die praktische Nutzanwendung ziehen zu können, das außerordentliche Glück, daß es durch seine großen Lehrer, Marx, Engels, Lassalle, gleich zu Beginn seiner politischen Laufbahn auf den Boden der politischen Aktion gedrängt und dadurch vor den Irrwegen der ausschließlich korporativen Organisationen einerseits und der ziel- und planlosen grundbürgerlich-»anarchistischen« Revolutionsmacherei und Revolutionsschreierei andererseits bewahrt wurde. Obgleich die deutsche Arbeiterklasse im Jahre 1867, wo das allgemeine Wahlrecht in Funktion trat, nur erst zum kleinsten Teile von Klassenbewußtsein erfüllt war, so war sie doch die einzige Klasse und die sozialistische die einzige Partei, welche die Bedeutung des Wählens und den Wert des Wahlrechts klar erkannte. Es war sogar ein wenig Überschätzung dabei, aber sie erwies sich nützlich, weil sie den Eifer vermehrte.
Wenn Fürst Bismarck sich der Hoffnung hingeben konnte, das allgemeine Wahlrecht werde sich im napoleonisch-plebiszitären Sinn ausbeuten lassen und der Reichstag werde, wie ich ihn 1867 nannte, das »Feigenblatt des Absolutismus« bleiben, so wurde die politische Grundlage für diese Hoffnung durch die Erweiterung des Norddeutschen Bundes zum deutschen Reich umgestürzt. Der höchste Triumph der Bismarckschen Politik schloß ihr Fiasko, ihren Bankrott in sich. Was der stramme preußische Kasernen- und Polizeigeist vielleicht für das Gebiet des Norddeutschen Bundes auf absehbare Zeit hätte verhindern können: das Entstehen und Heranwachsen einer selbständigen Volksbewegung, das war auf dem erweiterten Gebiet des deutschen Reichs nicht mehr zu verhindern. Die Volkskraft ließ sich nicht ersticken, und die Eifersucht der »Bundesfürsten« auf die preußische Vormacht wirkten mit, daß die Bäume des Bismarckschen Junker-Cäsarismus nicht so hoch emporschießen konnten wie die Bäume des Napoleonischen Präfekten-Cäsarismus. Den Arbeitern war durch keine Lockungen die Erkenntnis der Untrennbarkeit des Sozialismus von der Demokratie und der Demokratie von dem Sozialismus zu rauben.
»Die Frage«, so begann ich meine Rede von 1869, »welche Stellung hat die Sozialdemokratie im politischen Kampfe einzunehmen?, beantwortet sich leicht und sicher, wenn wir uns über die Untrennbarkeit des Sozialismus und der Demokratie klargeworden sind. Sozialismus und Demokratie sind nicht dasselbe, aber sie sind nur ein verschiedener Ausdruck desselben Grundgedankens; sie gehören zueinander, ergänzen einander, können nie miteinander im Widerspruch stehen. Der Sozialismus ohne Demokratie ist Aftersozialismus, wie die Demokratie ohne Sozialismus Afterdemokratie. Der demokratische Staat ist die einzig mögliche Form der sozialistisch organisierten Gesellschaft.«
Diese Wahrheit von der Untrennbarkeit der Demokratie und des Sozialismus hat der deutschen Arbeiterklasse in den schwierigsten Wirrnissen der Politik als sicherer Wegweiser gedient, so daß die gefährliche Klippe des Staatssozialismus vermieden ward, auf den die preußische Reaktion schon in den vierziger Jahren lossteuerte – war doch das Ideal des Kasernen- und Polizeistaats der Kasernen- und Polizeisozialismus, der sich schönrednerisch Staatssozialismus nennt! Die Wagener-Schweitzerischen Sophismen, daß die Demokratie etwas »Bürgerliches« sei und daß der Sozialismus, weil direkt gegen die »bürgerliche« Gesellschaft sich richtend, folgerichtig undemokratisch sein müsse, hat zwar zu Schweitzers Zeiten manchen Kopf verwirrt, in der Arbeitermasse jedoch nie Eingang gefunden. Heute ist dieser Trugschluß noch rudimentär in der bekannten Milizdebatte zutage getreten, hat aber nichts mehr zu bedeuten.
Ehe wir weitergehen, müssen wir uns über die Bedeutung des Wortes Kompromiß klarwerden, sonst ist jede Debatte vollkommen gegenstands- und erfolglos, weil jeder etwas anderes meint und folglich keiner die Argumente des anderen trifft. Wenn Kompromiß als Zugeständnis der Theorie an die Praxis aufgefaßt wird, so ist unser ganzes Leben und Handeln ein Kompromiß und ist, vom Leben des einzelnen zu dem der Völker und der Menschheit emporsteigend, die ganze Menschen- und Menschheitsgeschichte eine fortwährende, ununterbrochene Kette von Kompromissen. Die Geschichtsauffassung, daß zeitweilig tabula rasa, das heißt, reiner Tisch gemacht worden sei und werden müsse, um unbelastet von dem Alten neue Wirtschaft und Ordnung zu beginnen, ist höchst unwissenschaftlich und steht mit der Erfahrung im schroffsten Widerspruch. Die Tabula-rasa-Theorie spukt heute nur noch in den Köpfen der Polizeipolitiker, die von uns behaupten, wir hätten die Absicht, »alles zu verunjenieren«, was uns nicht in den Kram paßt. Die Herren urteilen dabei nach sich selbst, denn sie wähnen sich im Besitz der Wunderkraft: alles »verunjenieren« zu können, was der ewige Webstuhl der Zeit gewoben hat und webt, ohne daß vorher die polizeiliche Erlaubnis eingeholt worden ist. Die Männer des Sozialisten- und Zuchthausgesetzes bekunden durch ihr törichtes Treiben nur ihre bodenlose Ignoranz. Die organischen Gesetze, nach welchen die staatliche und gesellschaftliche Entwicklung sich vollzieht, lassen sich nicht willkürlich ändern oder außer Kraft setzen – sowenig dies mit den Gesetzen geht, nach welchen ein Tier, eine Pflanze wächst und sich entwickelt. Wer da gewaltsam eingreift, kann nur stören und zerstören – wie das von jeher das Schicksal der Polizeipolitiker gewesen ist. Was diese, sich »Staatsmänner« nennenden Pfuscher uns Sozialdemokraten nachsagen: wir könnten nichts schaffen, nur zerstören, ist bloß die Abspiegelung ihres eigenen Tuns und Treibens. Gibt es doch unter den unzähligen Sünden und Schlechtigkeiten, deren wir von ihnen angeklagt werden, nicht eine einzige, die sie nicht sich selber entnommen hätten. Ich denke da nur noch – um den alten Beispielen ein neues hinzuzufügen – an den Vorwurf, der seit zwei Jahrzehnten stereotyp geworden ist: die Sozialdemokratie habe zum Ziel die Diktatur des Proletariats. Die Ausführungen Liebknechts über die Diktatur des Proletariats widerspiegeln, daß es die revolutionäre deutsche Sozialdemokratie nicht vermochte, sich die Lehren der Pariser Kommune von 1871 umfassend zu erarbeiten. Liebknecht blieb damit hinter seinen eigenen Auffassungen über die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats zurück, die er 1891 in Leitartikeln des »Vorwärts« und 1893 in der »Zukunftsstaatsdebatte« äußerte. Hier bekannte er sich ausdrücklich zur Diktatur des Proletariats, die er allerdings nahezu ausschließlich in ihrer repressiven Funktion begriff, und betonte, »daß, um die Verwirklichung der neuen Gesellschaft mit ihren neuen Einrichtungen zu ermöglichen, das Proletariat ... die Gegner unschädlich zu machen hat ... im Bürgerkrieg haben wir doch nicht Friedenszustände ... wir haben ja jetzt schon so etwas wie einen gesellschaftlichen Krieg. Und im Bürgerkrieg muß die Regierung Diktatur üben, ist sie zur Diktatur gezwungen und verpflichtet«. Vgl. Der sozial-demokratische »Zukunftsstaat«, Verhandlungen des Deutschen Reichstages am 31. Januar, 3., 4., 6. und 7. Februar 1893, Berlin 1893, S. 123. Die Wahrheit ist: seit der Pariser Junischlacht, also seit einundfünfzig Jahren, haben wir auf dem Festlande von Europa tatsächlich die Diktatur der Bourgeoisie. Eine Diktatur, die gegen die Arbeiterklasse mit Feuer und Schwert ausgeübt wird – die uns nach der Junischlacht die grauenhaften Metzeleien der Kommune gebracht hat und Hunderte von kleineren Arbeitermetzeleien – eine Diktatur, die auf die Entrechtung der Arbeiterklasse hinausläuft und das Proletariat von dem Genuß nicht bloß der politischen Rechte, sondern auch des einfachen juristischen Rechts ausschließt – eine Diktatur, die sich in Dutzenden von Ausnahme- und Knebelgesetzen geäußert hat und der wir Deutschen das Sozialistengesetz, den Zuchthauskurs und Klassenjustizurteile wie das Löbtauer Urteil Zu 53 Jahren Zuchthaus, 8 Jahren Gefängnis und 70 Jahren Ehrverlust verurteilte der Dresdener Schwurgerichtshof am 3. Februar 1899 neun Bauarbeiter aus Dresden-Löbtau, die, von einem Richtfest kommend, an einer anderen Baustelle Arbeiten zu nichtgewerkschaftlichen Tarifen zu verhindern gesucht hatten. Obwohl sie nicht Sozialdemokraten waren, wurde das drakonische Urteil aus antisozialistischen Motiven gefällt. Ein Unterstützungsaufruf der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion erbrachte bis 18. März über 88 000 M für die betroffenen Familienangehörigen. und den Essener Meineidsprozeß Im Essener Meineidsprozeß (14.–17. August 1895) wurden sieben führende Mitglieder des Bergarbeiterverbandes zu insgesamt 19 Jahren Zuchthaus verurteilt. Mit diesem Terrorurteil, das sich hauptsächlich auf ein falsches Zeugnis eines Polizeibeamten stützte und 1911 annulliert werden mußte, sollte der Bergarbeiterverband insbesondere im Ruhrgebiet entscheidend getroffen und damit zugleich der im Entstehen begriffenen christlichen Bergarbeiterorganisation der Weg geebnet werden. verdanken. Und wenn »König Stumm«, der jetzt »König« ist im Reich der »Sozialreform«, sein Ziel der Vernichtung jeder Arbeiterorganisation erreichen würde – was war im Vergleich mit solcher Diktatur die Diktatur eines Marius und Sulla oder des französischen »Konvents« von 1792 bis 1794? Die politische Macht, welche die Sozialdemokratie erstrebt und welche sie erkämpfen wird, was immer die Feinde tun mögen, hat nicht die Errichtung einer Diktatur des Proletariats zum Zweck, sondern die Vernichtung der Diktatur der Bourgeoisie. Ähnlich wie der Klassenkampf, den das Proletariat führt, nur eine Abwehr ist des von der Bourgeoisie gegen das Proletariat geführten Klassenkampfes, dessen siegreiche Beendigung durch das Proletariat die Abschaffung des Klassenkampfes in jeder Form ist.
Wir Sozialdemokraten wissen, daß die Gesetze, nach denen sich die politische und soziale Entwicklung vollzieht, von uns ebensowenig gebeugt oder außer Kraft gesetzt werden können wie von den Gewalthabern der kapitalistischen Gesellschaft. Wir wissen, daß wir die sozialistische Produktion und Gesellschaftsform ebensowenig willkürlich einführen können, wie der deutsche Kaiser vor neun Jahren seine Februarerlasse Am 4. Februar 1890 unterzeichnete Wilhelm II. zwei Erlasse, in denen eine Arbeiterschutzgesetzgebung und die Einberufung einer internationalen Arbeiterschutzkonferenz der Regierungen angekündigt wurden. Die Erlasse waren auf die politischen und ökonomischen Massenkämpfe der Arbeiterklasse und das Fiasko des Sozialistengesetzes zurückzuführen. Unter dem Einfluß von Großindustriellen schränkte Wilhelm II. die Erlasse noch am gleichen Tag ein. gegen die Vertreter des kapitalistischen Klassenkampfes durchführen konnte. Wir haben deshalb den Versuchen unserer Gegner, die Arbeiterbewegung gewaltsam zu ersticken, mit lächelndem Gleichmut zuschauen können – wir waren und sind unseres Erfolges sicher, wie der Lösung einer mathematischen Aufgabe. Wir wissen aber auch, daß die Umgestaltung der Verhältnisse, weil sie organisch ist, sich, wenn auch unaufhaltsam, doch allmählich vollzieht und ohne Zerstörung. Die Zerstörung des Bestehenden, des Lebenskräftigen ist sogar im allgemeinen unmöglich. Wir haben das recht deutlich in der Französischen Revolution gesehen, die von allen politischen Umwälzungen wohl die planvollste und mit größter Tatkraft durchgeführte ist und doch nach der »goldenen Zeit« ideologischen Herumtappens und phantastisch-utopischen Illusionen dem Bestehenden Rechnung tragen und das Neue an das Alte anknüpfen mußte. Im ersten Anlauf gelingt es mitunter, Lebenskräftiges zu beseitigen, allein die Geschichte lehrt uns, daß auch die revolutionärsten und despotischsten Regierungen durch die Logik der Tatsachen schließlich zum Einlenken und zur Anerkennung – wenn auch in anderer Form – des zu Unrecht mechanisch Beseitigten gezwungen wurden. Kurz, die geschichtliche Gegenwart ist in der Regel ein Kompromiß zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Also, den Kompromiß in diesem Sinne zu verwerfen, wäre unwissenschaftliche Torheit. Und praktische Torheit wäre es, wenn eine politische Partei darauf verzichten wollte, aus den Konjunkturen – man verzeihe den geschäftsmäßigen Ausdruck – des politischen Lebens Vorteile zu ziehen und die Kämpfe der verschiedenen Parteien für sich auszunutzen. Das gebietet die Klugheit – dabei kommen Prinzipien nicht in Frage –, es werden keine Verpflichtungen eingegangen, und das, was die Klugheit zu tun gebietet, nicht zu tun, wäre eine Dummheit. Daß wir Sozialdemokraten im Reichstag in einer sozialpolitischen Frage gelegentlich mit den Konservativen für die Regierung stimmen, in politischen und in Handelsfragen gelegentlich mit den Freisinnigen gegen die Regierung, das ist ein selbstverständliches Erfordernis des politischen Kampfes und hat, wenn auch unzweifelhaft ein Kompromiß zwischen Theorie und Praxis vorliegt, mit den Kompromissen, gegen welche die Partei sich wiederholt scharf und ausdrücklich erklärt hat, nicht das mindeste gemein. Was die Partei im Auge hatte und was sie durch formelle Beschlüsse den Genossen zur Pflicht machte, das war die Vermeidung von Bündnissen, Verabredungen, Kartellen, Verträgen oder wie sonst es genannt werden mag, durch welche ein Prinzipienopfer bedingt oder überhaupt das Verhältnis unserer Partei zu den bürgerlichen Parteien in einer für uns nachteiligen Weise geändert wird. Letzterer Punkt muß besonders hervorgehoben werden, weil es auf diesen hauptsächlich ankommt. Bei der Debatte über die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen handelte es sich zum Beispiel ausschließlich um letzteren Punkt, da es keinem der für die Beteiligung eintretenden Genossen eingefallen ist, Parteiprinzipien bei einem Bündnis mit der Fortschrittspartei zum Opfer bringen zu wollen – obgleich nicht übersehen werden darf, daß taktische Fragen sehr leicht in prinzipielle umschlagen können. Wenn die Verhältnisse und die Notwendigkeiten der Lage ein Zusammengehen mit anderen Parteien erheischen, läßt sich dies stets auch ohne Kompromiß bewerkstelligen. Ich nehme das Beispiel Belgiens. Die liberale Partei hatte dort mit der sozialistischen das gleiche Interesse, die klerikale Partei zu bekämpfen. Beide Parteien fanden sich zusammen, und sie gingen zusammen bis zu einem gewissen Punkt. Das wäre auch ohne Abmachungen geschehen. Es geschah aber mit Abmachungen. Und der Erfolg? Zank und Streit. Die Abmachungen haben sich als ganz überflüssig erwiesen. Ist der Punkt überschritten, bis zu welchem Gemeinsamkeit der Interessen bestand und bis zu welchem die Gemeinsamkeit der Interessen auch ohne Abmachungen gemeinsames Handeln bewirkt hätte, so hört auch die Gemeinsamkeit des Handelns auf. Ist in den Arbeitern das Klassenbewußtsein nicht rege genug, so doch sicherlich bei den Herren Bourgeois, bei denen der Klasseninstinkt viel reger ist als bei den Arbeitern. Und zwar auch in den Ländern mit demokratischen Gesetzen und Einrichtungen. Ich verweise auf die Scheidung zwischen bürgerlichen Demokraten und Sozialisten in der Schweiz, dem Eldorado Bernsteins, wo nach Bernsteinscher Lehre der Klassengegensatz eigentlich ganz verschwunden sein sollte, jedoch, wie wir wissen, sich ebenso kräftig regt wie in weniger demokratischen Ländern. Damit soll indes nicht geleugnet sein, daß durch demokratische Einrichtungen die Schärfe der Klassenkämpfe gemildert wird.
In Belgien, mit seinen freien Institutionen einerseits und seiner Pfaffenregierung anderseits, hatten bisher die Wahlbündnisse der Sozialdemokratie mit bürgerlichen Parteien einen guten Nährboden gehabt. Jedenfalls hatte unsere Partei bei allen Bündnissen, die sie einging, den Vorteil der Leitung. Sie konnte nicht ausgebeutet und nicht betrogen werden. Trotzdem haben die belgischen Genossen ein Haar in den Kompromissen gefunden, und unser belgischer Genosse Vandervelde begrüßt in der »Wiener Arbeiterzeitung« 1889 gegründetes Organ der österreichischen Sozialdemokratie, erschien zunächst wöchentlich, ab 1894 zweimal wöchentlich und seit 1895 täglich. Ihr erster Redakteur war Victor Adler, zu ihren Mitarbeitern zählten u. a. Friedrich Engels, August Bebel, Karl Kautsky und Wilhelm Liebknecht. die Einführung des Proportionalsystems in Belgien als »das Ende der Wahlbündnisse«. »In den Klassenkampf«, so schreibt er, »werden hinfür keine sekundären Faktoren mehr hineinspielen, es werden die verwirrenden Nebenumstände verschwinden, die es den Massen so sehr erschweren, das Wahre des Klassenkampfes zu erfassen.« Freund Vandervelde hat also gefunden, daß die Kompromisse auch da, wo sie unter den für die Arbeiter günstigsten Bedingungen und Verhältnissen stattfinden, die nachteilige Wirkung haben, daß sie es »den Massen erschweren, das Wahre des Klassenkampfes zu erfassen« – mit anderen Worten, daß sie durch Entfernung der Arbeiter vom Boden des Klassenkampfes den Arbeitern die Möglichkeit entziehen, ihre volle Kraft zu entfalten und zur Geltung zu bringen, was sie bloß auf dem Boden des Klassenkampfes vermögen.
Das Gefährliche und Schädliche des Kompromisses besteht nicht in dem formellen Verschachern oder Beiseiteschieben von Parteiprinzipien. Das ist in unserer Partei wohl kaum jemals gewollt worden. Selbst als unsere Genossen in Essen bei der vorletzten Wahl »aus Bosheit« in der Stichwahl für den »Kanonenkönig« stimmten, dachten sie nicht daran, auch nur ein Jota unseres Programms zu opfern. Nicht hier liegt die Gefahr und des Übels Kern, sondern in dem Aufgeben, Zurücksetzen oder Vergessen des Klassenkampfstandpunktes, denn dieser ist der Ausgangspunkt der ganzen modernen Arbeiterbewegung. Es gilt da scharf zu unterscheiden, sich durch Schlagwörter nicht blenden zu lassen, kurz, wie ich es schon vor Jahrzehnten gegenüber der revolutionär tuenden, in Wirklichkeit philisterhaften und reaktionären Phraseologie des »Anarchismus«, dieser verspäteten Karikatur des bürgerlichen Freiheitsideals und theatralischen Maskerade der krämerhaften Freien Konkurrenz, gesagt habe: es gilt die Emanzipation von der Phrase.
Mitleid mit der Armut, Schwärmerei für Gleichheit und Freiheit, das Erkennen der gesellschaftlichen Ungerechtigkeit und der Wunsch, sie zu beseitigen, ist kein Sozialismus. Die Verurteilung des Reichtums, die Schätzung der Armut, wie wir sie im Christentum und in anderen Religionen finden, ist kein Sozialismus. Der Kommunismus der Urzeiten, wie er vor der Entstehung des Privateigentums herrschte und wie er zu allen Zeiten und bei allen Völkern schwärmerisch angelegten Menschen als Endziel vorschwebte, ist kein Sozialismus. Die gewaltsame Gleichmacherei der Babouvisten Anhänger einer an Francois Noël Babeuf anknüpfenden revolutionären utopisch-kommunistischen Lehre, die auf eine tatsächliche Gleichheit abzielte und vom utopischen Arbeiterkommunismus in den dreißiger und vierziger Jahren aufgegriffen wurde. (der Schüler Babeufs, der sogenannten Egalitaires – Gleichmacher) ist kein Sozialismus.
Bei all diesen Erscheinungen fehlt: die reale Grundlage der kapitalistischen Gesellschaft mit ihren Klassengegensätzen. Der moderne Sozialismus ist das Kind der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer Klassengegensätze. Ohne sie würde er nicht sein. Sozialismus und Ethik ist zweierlei. Das muß festgehalten werden.
Wer den Sozialismus in dem sentimentalen Sinn menschenfreundlicher Gleichheitsbestrebungen auffaßt, ohne von dem Wesen der kapitalistischen Gesellschaft einen Begriff zu haben, der ist kein Sozialist in dem Sinne des Klassenkampfes, ohne welchen der moderne Sozialismus nicht denkbar. Bernstein ist freilich in Worten auch für den Klassenkampf – wie der hessische Bauer für »die Republik und den Großherzog«. Wem das Wesen der kapitalistischen Gesellschaft und die Grundlage des modernen Sozialismus zu vollem Bewußtsein gekommen ist, der weiß auch, daß eine sozialistische Bewegung, die den Boden des Klassenkampfes verläßt, alles andere sein kann, nur keine sozialistische.
Diese Grundlage des Klassenkampfes, welche Marx – und das ist sein unsterbliches Verdienst – der modernen Arbeiterbewegung gegeben hat, ist der Hauptangriffspunkt in dem Kampf, den die bürgerliche Nationalökonomie gegen den Sozialismus führt. Sie leugnet den Klassenkampf und will die Arbeiterbewegung zu einem Teil der bürgerlichen Parteibewegung machen, die Sozialdemokratie zu einer Schattierung der bürgerlichen Demokratie. Gegen den Klassencharakter der modernen Arbeiterbewegung richten sich alle Anstrengungen der bürgerlichen Nationalökonomie und Politik. Gelingt es, Bresche zu schießen in dieses Bollwerk, in diese Zitadelle der Sozialdemokratie, so ist die Sozialdemokratie überwunden und das Proletariat unter die Botmäßigkeit der kapitalistischen Gesellschaft zurückgeworfen. Ist die Bresche anfangs auch noch so klein, der Feind hat die Möglichkeit, sie zu erweitern, und die Sicherheit des endgültigen Sieges. Und der Feind ist am gefährlichsten, wenn er als Freund sich der Festung naht, als Freund sich in sie einschleicht. Als Freund und Bundesgenosse.
Dem Feind, der uns als Feind mit offenem Visier entgegentritt, bieten wir lächelnd die Stirn, setzen wir spielend den Fuß auf den Nacken. Die dumm-brutalen Gewaltstreiche der Polizeipolitiker, die Attentate des Sozialistengesetzes, des Umsturzgesetzes, Die »Umsturzvorlage« (Gesetzentwurf betr. Änderungen und Ergänzungen des Strafgesetzbuches, des Militärstrafgesetzbuches und des Gesetzes über die Presse) wurde vom Reichskanzler Hohenlohe am 6. Dezember 1894 im Reichstag eingebracht. Mit den angedrohten Zuchthausstrafen für »Umsturzbestrebungen« und Gefängnisstrafen für öffentliche »Angriffe« auf Religion, Monarchie, Ehe, Familie oder Eigentum sollte sie der Polizeiwillkür Tür und Tor öffnen und die sozialistische Agitation lahmlegen. Die von der Sozialdemokratie entfachte breite Protestbewegung führte am 11. Mai 1895 zur Ablehnung der Umsturzvorlage im Reichstag. des Zuchthausgesetzes konnten uns nur Gefühle mitleidiger Verachtung entlocken – der Feind aber, der uns die Hand zum Wahlbündnis hinstreckt und sich als Freund und Bruder uns aufdrängt – ihn und ihn allein haben wir zu fürchten.
Unsere Festung trotzt jedem Angriff – sie kann nicht erstürmt, auch nicht durch Belagerung uns entrissen werden –, sie kann nur fallen, wenn wir selber dem Feind die Tore öffnen und ihn als Bundesgenossen in unsere Reihen aufnehmen. Aus dem Klassenkampf hervorgewachsen, hat unsere Partei den Klassenkampf zur Lebensbedingung. Durch und mit ihm unbesiegbar, ist sie verloren ohne ihn, weil sie dann die Wurzeln ihrer Kraft verloren hat. Wer das verkennt und wer da gar meint, der Klassenkampf sei ein überwundener Standpunkt, die Klassengegensätze verwischten sich allmählich, der steht auf dem Boden der bürgerlichen Weltanschauung.
Man hat den jetzigen Streit über die Taktik mit Bezug auf die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen usw. mit dem Streite verglichen, der Mitte der achtziger Jahre innerhalb der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion und Partei um die Dampfersubvention Eine Gesetzesvorlage Bismarcks vom 20. November 1884 hatte regelmäßige Schiffahrtsverbindungen mit Ostasien, Australien und Afrika durch staatlich subventionierte Privatunternehmen gefordert. Die opportunistische Mehrheit der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion war zur Bewilligung der auf jährlich etwa 5 Millionen Mark veranschlagten Subventionsmittel bereit. Die Minderheit (Bebel, Liebknecht u.a.) forderte die strikte Ablehnung nach dem Prinzip: Diesem System keinen Groschen, sie konnte sich auf die breite Parteimitgliedschaft stützen. Die Opportunisten suchten die Führung der Partei an sich zu reißen, wurden jedoch durch den marxistischen Führungskern um Bebel, der durch Friedrich Engels bestärkt wurde, und durch Massenproteste der Parteimitgliedschaft zurückgewiesen. Diese Auseinandersetzung, in der Liebknecht zunächst zu vermitteln suchte, dann aber an der Seite Bebels gegen die opportunistischen Bestrebungen energisch auftrat, endete mit einem Sieg der marxistischen Kräfte und ebnete den Weg zur weiteren Durchsetzung des Marxismus in der deutschen Arbeiterbewegung. entbrannt war. Der Vergleich scheint, wenn man nur die Oberfläche betrachtet, recht treffend, hört aber auf, treffend zu sein, sobald man an den Kern der Frage geht. Damals handelte es sich um die Anwendung allgemein anerkannter Grundsätze auf einen konkreten Fall. Daß die sozialdemokratische Fraktion die deutschen Schiffahrts- und Handelsinteressen zu fördern habe, das war ebenso allgemein anerkannt wie, daß sie der Kolonialpolitik und sonstigen imperialistisch-reaktionären Bestrebungen entgegenzutreten habe. Der Streit war nur um die Frage, ob die Dampfersubvention in erster Linie den deutschen Handelsinteressen, die nationale sind, diene oder der Kolonialpolitik, die nicht deutschen Nationalinteressen dient, sondern nur reaktionären und gemeinschädlichen Sonderinteressen. Niemand dachte daran, an der alten Taktik und Richtung der Partei etwas zu ändern. Bei dem jetzigen Streit aber handelt es sich um eine vollständige Änderung der alten Taktik und Richtung – um eine Änderung der Taktik, die eine Änderung des Wesens der Partei bedeuten würde. Es handelt sich um die Beibehaltung oder Preisgebung des Klassenkampfstandpunktes, der uns von allen bürgerlichen Parteien trennt – kurz, um einen entscheidenden Schritt, von welchem es abhängt, ob wir eine sozialistische Partei bleiben oder den Rubikon des Klassenkampfes überbrücken und linker Flügel der bürgerlichen Demokratie werden wollen.
Die Meinungsverschiedenheiten in theoretischen Dingen sind für die Partei ungefährlich. Es gibt für uns keine Grenzen der Kritik, und so groß unsere Verehrung ist für den Gründer und Bahnbrecher unserer Partei – wir kennen keine Unfehlbarkeit und keine andere Autorität als die der Wissenschaft, deren Gebiet sich stets erweitert, die, was bisher für Wahrheit galt, als Irrtum erweist, alte morsch gewordene Grundlagen zerschlägt und neue schafft, keinen Augenblick stehenbleibt und in fortwährendem Voranschreiten rücksichtslos über jeglichen Dogmenglauben hinweggeht. Schon auf dem Gothaer Einigungskongreß vor jetzt vierundzwanzig Jahren sagte ich: »Wir kennen keinen unfehlbaren Papst – auch keinen papiernen.« Und als ich 1891 in Erfurt den neuen Programmvorschlag, der auch einstimmige Annahme fand, erläuterte und befürwortete, sprach ich schon aus, daß unser Programm, gerade weil es ein wissenschaftliches ist, durch die stets fortschreitende Wissenschaft in einzelnen Punkten gleich nach seiner Annahme schon überholt sein werde. Daß kein Mensch – Marx trotz seines umfassenden und tiefen Geistes sowenig wie irgendein anderer – die Wissenschaft zum endgültigen Abschluß bringen kann, ist für jeden, der da weiß, was Wissenschaft ist, von vornherein klar. Und kein Sozialist hat darum ein Recht, theoretische Angriffe auf die Marxschen Lehren zu verurteilen und jemanden ob solcher Angriffe die Parteizugehörigkeit abzusprechen. Etwas anderes ist es, wenn die theoretischen Angriffe auf den Umsturz der Grundlagen unserer gesamten Weltanschauung hinauslaufen, wie dies zum Beispiel bei Bernstein der Fall ist. Dann heißt es: scharfe Abwehr.
Weit gefährlicher aber als theoretische Angriffe sind praktische Verleugnungen unserer Prinzipien. Mit theoretischen Diskussionen beschäftigt sich nur ein vergleichsweise kleiner Teil unserer Parteigenossen eingehend – praktische Verleugnungen des Prinzips, taktische Verstöße gegen das Parteiprogramm berühren dagegen jeden Parteigenossen, erregen die Aufmerksamkeit jedes Parteigenossen und bringen, wenn nicht rasch eingelenkt und eingerenkt wird, Verwirrung in die Gesamtpartei. Ich glaube bei keinem, der mit den Verhältnissen und mit der Partei vertraut ist, auf Widerspruch zu stoßen, wenn ich sage: innerhalb der Partei ist die Bernsteinsche »Streitschrift« von den Massen nur wenig beachtet worden. Anklang fand sie nur bei solchen, die schon vorher gleichen Anschauungen gehuldigt hatten, und Aufsehen erregte sie nur bei unseren Gegnern, die jetzt endlich ihre alte Hoffnung, daß die Partei sich spalten oder gar, daß die ganze Sozialdemokratie mit klingendem Spiel ins bürgerliche Lager abschwenken werde, sich erfüllen sahen. Ich wette, keine zehntausend unserer Genossen haben die Bernsteinsche Schrift gelesen – und ich bin weit entfernt, der Partei einen Vorwurf daraus zu machen, daß sie keine Lust hatte, sich noch einmal mit dem Gestrüpp zu befassen, das von den Gründern des Sozialismus vor länger als einem Menschenalter, ja zum Teil vor länger als zwei Menschenaltern abgehauen worden ist, um den Weg zum Sozialismus zu öffnen. Ebensogut könnte man unseren Genossen Mangel an Wissenschaftlichkeit vorwerfen, weil sie die vorsintflutlichen Schriften des Schulze-Delitzsch nicht mehr lesen, die als verstaubte Ladenhüter noch irgendwo in Landstädtchen umherliegen mögen.
Man betrachte doch die Liste derer, die über die Bernsteinsche Schrift geschrieben haben. Nicht ein einziger Arbeiter. Nur Genossen, die berufsmäßig zum Lesen und Besprechen der Schrift verpflichtet waren. Mit welchem Interesse dagegen verfolgt die Gesamtpartei die Frage der Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen, den bayerischen Kuhhandel wie lebhaft die Diskussion! In diesem lebhaften Interesse zeigte sich die Reife der Partei. Über die Zeit der theoretischen, programmatischen Debatten sind wir hinaus. Die Befestigung, die Vervollkommnung, die Läuterung unseres Programms überlassen wir getrost der Wissenschaft, die in der heutigen Gesellschaft nur Sache weniger sein kann. Die praktische Anwendung des Programms, die Taktik der Partei aber ist Sache aller; bei ihr arbeiten alle mit.
Der hervorragenden Wichtigkeit der Taktik, der Notwendigkeit, ihr den Klassenkampfcharakter zu bewahren, ist die Partei sich seit ihren Anfängen wohl bewußt gewesen. Wenn wir die Protokolle der früheren Parteitage von den siebziger Jahren an lesen, so finden wir wie bei allen Fragen der Taktik, daß der Gedanke im Vordergrund stand, die Partei rein zu halten von der Vermischung mit den anderen Parteien, die allesamt, so sehr sie voneinander abweichen, so heftig sie einander befehden mögen, den Boden der bürgerlichen Gesellschaft zur gemeinsamen Basis haben. Die Abgesondertheit der Sozialdemokratie von allen anderen Parteien, diese wesentliche Verschiedenheit, aus der blöde Gegner den Grund oder Vorwand schöpfen, uns in die politische Acht zu erklären, ist unser Stolz und unsere Stärke.
Noch auf dem Hamburger Parteitag, wo unter dem Einfluß einer Reihe verwirrender Umstände die Masse der Delegierten entschlossen schien, mit der alten Taktik und Tradition zu brechen, besann sich der Parteitag im letzten Moment vor dem Sprung ins Dunkle und erklärte sich mit überwältigender Majorität gegen jeden Kompromiß. Und dieser Beschluß ist bis auf den heutigen Tag in Gültigkeit. Wenn zwei oder drei Wahlkreise es über sich gewonnen haben, zu einer bürgerlichen Partei in ein Kartellverhältnis zu treten, so haben sie das auf eigene Verantwortung hin getan und unzweifelhaft dem Hamburger Beschluß zuwidergehandelt, der durch den Stuttgarter Beschluß – es sei das wiederholt – nicht aufgehoben worden ist. Dagegen haben die Berliner Parteigenossen, die von Kompromißfreunden der Verletzung des Hamburger Beschlusses angeklagt worden sind, diesen nach dem Geist und nach dem Wortlaut gewissenhaft befolgt und durch ihre entschiedene Haltung die Autorität der obersten Parteiinstanz gewahrt und der Partei einen Dienst geleistet.
Bei den Anwälten der Kompromißtaktik findet sich zumeist eine Überschätzung der parlamentarischen Tätigkeit und der Parlamentsmandate. Nicht, daß ich den ungeheueren Nutzen der parlamentarischen Tätigkeit verkenne, aber ist sie doch nicht Zweck, sondern nur Mittel zum Zweck. Und nicht in der Zahl der Mandate drückt unsere Macht sich aus, sondern in der Zahl der Wähler, die hinter uns stehen.
Es ist ein bürgerliches Gefühl, das den Besitz eines Mandats überschätzen läßt. In einem Mandat, wie im Geld, liegt Macht – Macht über andere. Wer die Reinheit, die Größe unserer Partei über alles stellt, für den hat ein Mandat nur insofern Wert, als es die Macht, die Ausbreitung der Sozialdemokratie zum Ausdruck bringen hilft. Was wollen zehn, was wollen hundert Mandate besagen, wenn unser Wappenschild durch ihren Erwerb seinen Glanz verloren hat? Der Wert eines Mandates an sich ist ein geringer. Aber der Wert unserer Parteieinheit ist unermeßlich. In ihr ruht unsere Stärke.
Wie mit dem abgeschornen Haar, das die Mannesehre bedeutete, die Kraft Simsons entschwunden war, so hörte die Kraft unserer Partei auf, wenn wir von bürgerlichen Delilas uns den schönsten Schmuck und die Wurzel unserer sieghaften Stärke abschmeicheln ließen: die Parteieinheit, die Parteiehre.
Wir dürfen nicht handeln wie die anderen Parteien, weil wir anders sind als die anderen. Wir sind – das kann nicht oft genug wiederholt werden – von allen anderen Parteien durch eine unverrückbare Scheidewand getrennt – eine Scheidewand, die der einzelne wohl übersteigen kann, aber jenseits deren er kein Sozialdemokrat ist.
»Wir sind anders als die anderen«; was für die anderen Notwendigkeit, Lebensbedingung ist, ist für uns der Tod. Was hat uns in Deutschland zu der ausschlaggebenden Partei gemacht, die nach dem ausdrücklichen Zeugnis Caprivis und nach der Lehre täglicher Erfahrung die Achse bildet, um welche die Regierungspolitik sich dreht? Doch wahrhaftig nicht unsere Reichstagsmandate. Wir könnten noch dreimal soviel haben, und die koalierten bürgerlichen Parteien brauchten sich nicht um uns zu bekümmern. Es ist die lawinenartig anwachsende Zahl unserer Anhänger, die allmählich, mit der Sicherheit eines Naturgesetzes oder richtiger der Naturkraft, von Zehntausenden zu Hunderttausenden, von Hunderttausenden zu Millionen angeschwollen ist und täglich anschwillt – den Gegnern zum Trutz und zu ohnmächtiger Wut. Und dieses lawinenartige Anschwellen, es ist erfolgt, und es erfolgt im Gegensatz zu, im Kampf mit allen übrigen Parteien. Alles, was mühselig ist und beladen, alles was zu leiden hat unter der Ungerechtigkeit, unter der Gewalttat der heutigen bürgerlichen Gesellschaft und in dem das Gefühl menschlicher Würde sich regt, schaut auf uns, wendet sich hoffnungsvoll zu uns als der einzigen Partei, welche Rettung, welche Erlösung bringt. Und wenn wir, die Gegner dieser ungerechten, gewalttätigen Welt, ihr plötzlich die Hand der Brüderschaft reichen, mit ihren Vertretern einen Bund schließen, unsere Genossen auffordern, Hand in Hand mit den Feinden zu gehen, deren Missetaten die Massen in unser Lager getrieben haben, welche Verwirrung in den Geistern. Wie können die Massen noch an uns glauben? Wenn die Männer des Zentrums, des Fortschritts und anderer bürgerlicher Parteien unsere Bundesgenossen sind – wozu dann der Kampf gegen die bürgerliche Gesellschaft, deren Vertreter und Verfechter sie allesamt sind? Welches Recht haben wir dann, überhaupt noch zu sein? Da war es allerdings für Hunderttausende, für Millionen, die unter unserem Banner das Heil suchten, nur ein ungeheurer Irrtum, daß sie zu uns gekommen sind. Wenn wir nicht anders sind als die anderen, dann sind wir nicht die Rechten – dann hat der Erlöser noch zu kommen. Der Sozialdemokratie war ein falscher Messias. Nicht besser als die anderen falschen! –
Gerade darin ist unsere Kraft, daß wir nicht sind wie die anderen, daß wir nicht bloß anders sind als die anderen, sondern auch ihre Todfeinde, die geschworen haben, die Bastille des Kapitalismus zu erstürmen und zu zertrümmern, deren Verteidiger die anderen allesamt sind. Darum sind wir auch nur stark, wenn wir allein sind.
Nicht daß ich sagen wollte, wir sollten uns vereinzeln (isolieren). An Gesellschaft hat es uns niemals gefehlt und wird es uns, solange der Kampf dauert, nicht fehlen. An das im wesentlichen wahre, buchstäblich genommen aber falsche Wort von der »einen reaktionären Masse« Gemeint ist die im Gothaer Programm von 1875 enthaltene, von Lassalle übernommene Phrase, wonach gegenüber der Arbeiterklasse »alle anderen Klassen nur eine reaktionäre Masse« seien. Diese für die Strategie und Taktik, namentlich für den demokratischen Kampf und die Bündnispolitik der Arbeiterbewegung unhaltbare These wurde durch das Erfurter Programm von 1891 eliminiert. hat die Sozialdemokratie, seit sie aus der Theorie in die Praxis gelangt ist, niemals geglaubt. Wir wissen, daß die einzelnen Glieder und Teile der »einen reaktionären Masse« unter sich im Streit sind, und wir haben diesen Streit stets für unsere Zwecke ausgebeutet. Wir haben Gegner gegen Gegner benutzt, uns aber nie benutzen lassen. Wir haben den in der Person des Junkers Bismarck verkörperten Kapitalismus und Militarismus bekämpft und uns all seiner kapitalistischen Gegner zu seiner Schwächung bedient: des Partikularismus, des bürgerlichen Demokratismus. Das waren jedoch nie Kompromisse – auch nicht »Augenblickskartelle«. Geradesowenig, wie es ein Kompromiß oder ein Augenblickskartell ist, wenn wir im Reichstag für einen fortschrittlichen Antrag gegen einen junkerlichen stimmen.
Die Ausschließlichkeit gegenüber anderen Parteien wird für die deutsche Sozialdemokratie durch die geschichtliche Entwicklung Deutschlands und durch unsere politischen Zustände noch besonders geboten: Wir haben kein revolutionäres Bürgertum, mit dem wir zeitweilig zusammengehen könnten, wie dies in Frankreich und Belgien geschehen ist – und wir haben keine demokratischen Einrichtungen, die es einem Sozialdemokraten ermöglichen, neben einem Mitglied einer anderen Partei in der Regierung zu sitzen. In der Schweiz ist die Regierung fast nur noch Verwaltung und außerdem vom Volk gewählt. Ein Sozialdemokrat einer Kantonsregierung besagt dort nicht mehr als ein Sozialdemokrat in einem Gemeinderat. In der Schweiz konnten unsere Genossen deshalb ganz unbedenklich für das Getreide- und Branntweinmonopol eintreten, denn eine Vergeudung der durch das Monopol erlangten Mittel zu volksfeindlichen und gemeinschädlichen Zwecken, wie das in Deutschland der Fall sein würde, ist nicht zu befürchten. Schon in Frankreich liegen die Dinge etwas anders als bei uns. Obgleich dort die Regierung entschieden eine Klassen- und Klassenkampfregierung ist – zeitweilig in einem Maß, wie kaum jemals eine zweite Regierung –, so sind die Verhältnisse so wenig konsolidiert und ist der Einfluß der Demokratie und auch der Sozialdemokratie ein so großer, daß ein dauernder Mißbrauch der Regierungsgewalt zu reaktionären und gemeinschädlichen Zwecken nicht zu erwarten ist. Deshalb konnte vor einigen Jahren von dem Sozialisten Jaurès in der französischen Kammer betreffend den Getreidehandel ein Antrag gestellt werden, der sich von dem im deutschen Reichstag gestellten Getreidemonopolantrag des agrarischen Grafen Kanitz äußerlich nur wenig unterschied. Um so größer war der innerliche Unterschied: In Frankreich gibt es kein Junkertum, da herrscht das Bürgertum direkt, jedoch unter Bedingungen, die ihm die Möglichkeit abschneiden, die Mittel der Regierung – Polizei, Militarismus, Klassenjustiz – zum Staatszweck zu machen, wie das in Deutschland nicht bloß möglich, sondern tatsächlich der Fall ist. Wir kommen hier immer und immer auf das tragische Geschick, das Deutschland um die Geschichtsperiode bürgerlicher Entwicklung geprellt hat. Wir haben zwar einen kapitalistischen Klassenstaat im schlimmsten Sinne des Wortes, allein der bürgerliche Kapitalismus herrscht nur indirekt, er hat sich gefallen lassen müssen, daß die rein katholische Priesterpartei, das Zentrum, die ausschlaggebende Partei ist in der deutschen Volksvertretung und daß das preußische Junkertum, eine rückständige, anachronistische Kaste, die weder im politischen noch im ökonomischen Leben eine notwendige Funktion zu erfüllen hat und eine rein parasitische Existenz führt, in den Besitz des Regierungsmonopols gelangen konnte. Die Folge dieses Zustandes ist, daß die Sozialdemokratie in Deutschland den Vorkampf für die bürgerliche Freiheit zu führen hat und daß also der deutschen Arbeiterklasse die Aufgaben zugefallen, mit dem sozialen Emanzipationskampf auch den politischen zu verbinden, mit anderen Worten, neben seiner Klassenaufgabe auch noch zu tun, was in normal entwickelten Ländern das Bürgertum längst getan hat.
Als eine politische Macht sind wir von allen Parteien ohne Ausnahme anerkannt – und zwar im Verhältnis unserer Macht. Auch die tollsten Reaktionäre, die uns die Daseinsberechtigung absprechen, buhlen um unsere Gunst und strafen durch ihr Handeln ihr Reden gegen uns Lügen. Aus der Tatsache, daß unsere »Bundesgenossenschaft« von anderen Parteien gesucht wird, ziehen einige Genossen die seltsame Schlußfolgerung, daß wir die Parteitaktik umwälzen und an Stelle der alten Politik des Klassenkampfes gegen alle anderen Parteien die Geschäftspolitik des Kuhhandels, der Wahlbündnisse, der Kompromisse zu setzen haben. Die so denken, vergessen, daß die Macht, welche unsere Bundesgenossenschaft auch von unseren erbittertsten Gegnern erstreben läßt, ohne jene alte Taktik des Klassenkampfes gar nicht vorhanden wäre. Hätten Marx, Engels, Lassalle die von Bernstein und seinen verschämten oder nicht verschämten Gesinnungsfreunden empfohlene Taktik der Kompromisse und des Anlehnens an bürgerliche Parteien befolgt, dann gäb es überhaupt keine Sozialdemokratie, dann wären wir ein Schwanz der Fortschrittspartei. Daß wir aber die Streitigkeiten der bürgerlichen Parteien unter sich taktisch ausnutzen, das ist selbstverständlich. Und das ist geschehen, seit wir eine deutsche Sozialdemokratie haben. Dazu brauchten wir nicht die Ratschläge der neugebackenen Parteistaatsmänner. Daß wir da und dort mit dem Zentrum, mit der Fortschrittspartei gegen eine reaktionäre Regierungspartei zusammenzugehen hatten, ist von den Genossen begriffen worden, ohne daß es einer besonderen Partei-Offenbarung bedurft hätte. Und in verschiedenen Wahlkreisen haben wir durch Zusammengehen mit dem Zentrum ohne Wahlbündnis größere Vorteile erreicht als durch den jüngsten bayrischen »Kuhhandel«. Eines schickt sich nicht für alle. Und wir Sozialdemokraten dürfen nicht sein wie die anderen Parteien, die allesamt mitschuldig sind an den Ungerechtigkeiten der heutigen Gesellschaft und mitverantwortlich für sie. Jeder, der unter diesen Ungerechtigkeiten leidet, erblickt in uns die Retter. Jedem von uns ist es schon geschehen, daß Gesellschaftsopfer, die, nachdem sie bei den Gerichten, bei der Regierung, bei dem Kaiser selbst und bei allen Parteien ihr Recht nicht gefunden, zu uns kommen als zu den Letzten und Einzigen, die helfen können. Sie kennen nicht unser wissenschaftliches Programm, sie wissen nicht, was Kapital und Kapitalismus ist, aber sie haben die Achtung, das Gefühl, daß wir eine Partei sind, die da hilft, wo alle anderen Parteien versagen. Dieser Glaube ist eine unerschöpfliche Machtquelle. Ein ähnlicher Glaube der Verzweiflung war es, der im verfaulenden Römerreich mehr und mehr um sich griff, der das Römerreich und die heidnische Welt langsam untergrub und der sie schließlich niederwarf. Diese unerschöpfliche Machtquelle geben wir auf, wenn wir mit anderen Parteien paktieren und die leidende Menschheit von uns stoßen, indem wir ihr sagen: »Wir sind nicht wesentlich anders als die anderen.« Ist einmal die Grenzlinie des Klassengegensatzes verwischt, sind wir einmal auf der schiefen Ebene des Kompromisses, dann gibt es kein Halten. Dann geht es weiter und weiter abwärts, bis es kein Tiefer mehr gibt. Im Reichstag haben wir lehrreiche Erfahrungen gesammelt. Die praktische Politik zwang uns zu Zugeständnissen an Einrichtungen der Gesellschaft, in der wir leben; allein jeder Schritt weiter auf der Bahn des Zugeständnisses an die heutige Gesellschaftsordnung fiel uns schwer und wurde nur mit Zögern getan. Es ist darüber gespottet worden von diesem und jenem. Allein der, welcher Furcht hat vor einem Schritt zur schiefen Ebene hin, ist jedenfalls ein zuverlässigerer Genosse als der, welcher die Schale des Spottes über die Zögernden ausgießt. Die Phrase der »Revolution« ist gewiß lächerlich. Lächerlich ist es gewiß – und niemand hat dies deutlicher gesagt als ich selber –, das Wort »Revolution«, »revolutionär« bei jeder Gelegenheit in dem Mund zu führen. Es kann das zu geistlos mechanischem Herleiern werden wie das Beten des Rosenkranzes. Allein, so lächerlich es auch ist, die Gesinnung und Parteizugehörigkeit renommistisch zur Schau zu tragen und bei jeder Gelegenheit, ohne daß ein Bedürfnis dafür vorhanden ist, zu betonen, so rechtfertigen solche Übertreibungen doch nicht, daß das Kind mit dem Bad ausgeschüttet und das Betonen des revolutionären Wesens unserer Partei ohne weiteres und im allgemeinen für lächerlich erklärt wird. Es zu betonen, ist eine sehr ernste, sogar eine notwendige Sache. Sehr ernst, denn die Zugehörigkeit zur Sozialdemokratie bedeutet Kampf – politischen Kampf, mit schweren Verfolgungen, und privaten Kampf – Kampf um die Existenz – ein Kampf, der für die meisten noch weit schwieriger und schwerer ist als der politische Kampf. Und notwendig, denn der Mut zu diesem Doppelkampf schöpft sich nur in dem Bewußtsein, daß die Ungerechtigkeiten der Gesellschaft, von denen die große Mehrzahl der Menschen heut erdrückt, verderbt, verkrüppelt wird, nur durch ein revolutionäres, das heißt das Übel: den Kapitalismus mit allen Wurzelfasern austilgendes Handeln zu beseitigen ist.
Ich weiß, es ist hier und da Mode geworden, über die Warnungen vor dem Hinabgleiten auf die schiefe Ebene zu lachen. Man hat an die Fabel vom Wolf und dem Schäfer erinnert. Das Gleichnis hinkt aber und spricht eher gegen die Lacher. Der Wolf war wirklich da und ist schließlich auch in die Herde hineingebrochen. Auch in unserem Fall ist es keine eingebildete Gefahr, vor der gewarnt wird. Und jedenfalls wird das Interesse der Partei von den Warnern nicht schlechter behütet als von den Lachern. Das Mißtrauen galt bisher als eine demokratische Tugend und die Vertrauensseligkeit als ein demokratisches Laster. Hier und da scheint man den Satz jetzt umkehren zu wollen.
Das Proletariat steht politisch wie sozial in schroffstem Gegensatz zu dem Klassenstaat – es hat ihn auch auf allen Gebieten und in allen Fragen zu bekämpfen. In Fragen der inneren Politik und in Fragen der äußeren.
Es ist freilich nicht immer leicht, das Richtige zu treffen. Wo die Interessen nicht sichtbar hervortreten, läßt das Gefühl sich leicht täuschen. Zum Glück haben wir da, wo es einmal schwer ist, sich zurechtzufinden, einen untrüglichen Kompaß in der Haltung unserer Feinde. Gibt es auch Fragen, wo wir vorübergehend mit ihnen übereinstimmen können, so ist es doch undenkbar, daß eine Sache, die von unseren Feinden als wichtig oder gar als Lebensfrage verfochten wird, eine Parteisache des Proletariats sein kann. Und wir werden nie irregehen, wenn wir tun, was den Interessen unserer Feinde zuwider geht, und andererseits werden wir fast niemals recht gehen, wenn wir tun; was den Beifall unserer Feinde findet. Die geschichtliche Entwicklung ist der Kampf in Permanenz – Interessenkämpfe, Stammeskämpfe, Klassenkämpfe. Und wenn schon in Geldsachen die Gemütlichkeit aufhört, wieviel mehr im Kampf. Gemütlichkeit und Sentimentalität sind vom Übel in der Politik. Sie haben noch keinen Sieg gebracht, wohl aber unzählige Niederlagen. Die Blüchersche Regel »Immer dem Kanonendonner nach und immer auf den Feind los!« ist auch für den politischen Kampf die beste Regel.
Hier ein Wort. Der Klasseninstinkt der Bourgeoisie ist weit besser ausgebildet als der des Proletariats. Die herrschende Klasse kennt naturgemäß ihre Interessen besser als die beherrschte, die an sich weniger Gelegenheit hat, sich aufzuklären und auch systematisch, teils mit, teils ohne Absicht durch die herrschende Klasse von der Erkenntnis ihrer Interessen abgelenkt wird.
Sage man nicht, es seien die rauhsten Formen, in denen der Sozialismus oft aufgetreten ist, wodurch das Bürgertum erschreckt und erbittert worden sei. Das ist grundfalsch. Es ist nicht die Form, es ist der Inhalt, den das Bürgertum verabscheut, und je harmloser die Form, desto gefährlicher erscheint in den meisten Fällen den Herren Bourgeois der Inhalt. Auf Feinheit der Form kommt es ihnen nicht an – das erhellt aus der Art, wie sie ihre eigenen Kämpfe führen. Wieviel hat man über den »Knüppel Tölckes« Gemeint ist die gewaltsame Sprengung »gegnerischer« Versammlungen durch die Lassalleaner. Der Versuch, auf diese Weise den Eisenacher Kongreß 1869 zu verhindern, scheiterte. geschimpft und – gefabelt. Aber die Knüppeltaktik hat in Deutschland Jahrzehnte bestanden und ist bis auf den heutigen Tag noch nicht ganz verschwunden. Aber nicht Arbeiter sind es und nicht Sozialisten, bei denen der Knüppel als ultima ratio – als oberster Vernunftgrund – gegolten. Es ist die Taktik der »Edelsten der Nation«, der Nationalliberalen, die namentlich in Mittel- und Südwestdeutschland durch Organisation von Hurra brüllenden Knüppelbataillonen sich ihre politischen Domänen zu sichern suchten im brutalen Terrorismus, den die vordringende Sozialdemokratie jedoch so ziemlich ausgerottet hat.
Jedenfalls dürfen wir uns darauf verlassen, daß der politische Instinkt unserer bürgerlichen Gegner sie, sobald ihr Klasseninteresse ins Spiel kommt, zu einer uns feindlichen Stellungnahme bestimmen wird. Ein klassisches Exempel bietet uns Belgien, wo – wie schon bemerkt – ein Kompromiß der Sozialdemokraten mit dem Liberalismus unter den denkbar günstigsten Bedingungen abgeschlossen war. Unsere Partei hatte die unbestrittene Leitung in der Hand, schwebte also nicht in der Gefahr, um die Früchte der gemeinsamen Erfolge geprellt zu werden. Das Ziel sollte das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht sein. Die klerikale Partei aber kennt ihre Pappenheimer. Sie weiß, daß das Bürgertum kein Klasseninteresse hat, den Arbeitern, die in den modernen Industriestaaten die Mehrheit der Bevölkerung bilden, das allgemeine Wahlrecht und damit die Aussicht auf die Mehrheit und die Herrschaft zu geben – sie boten, indem sie die Proportionalvertretung mit Pluralstimmrecht, das heißt mit mehreren Stimmen, für die Reichen gewährten, dem radikalen Bürgertum einen Anteil an der Staatsgewalt, wenn es ihnen im Kampf gegen das allgemeine, direkte und gleiche Wahlrecht beistehen würde. Und siehe da: ohne sich auch nur eine Minute zu besinnen, zerrissen die radikalen Herren Bourgeois ihren Vertrag mit den Sozialisten und kämpfen jetzt mit den Klerikalen gegen das allgemeine Wahlrecht und die Sozialdemokratie. Wer durch dieses Beispiel nicht belehrt wird, daß der Emanzipationskampf des Proletariats ein Klassenkampf ist, an dem ist Hopfen und Malz verloren. Es gibt keine bürgerliche Partei, auf deren feste Unterstützung die Sozialdemokratie rechnen kann. Und jegliche Unterstützung, die wir in den Wechselfällen des politischen Kampfes von bürgerlichen Parteien erlangen können, muß uns, wenn wir klug handeln, auch gewährt werden ohne Kompromiß. Mit den Kompromissen und Wahlbündnissen der Parteien ist es wie mit den Verträgen zwischen Staaten: sie werden genausolange beobachtet, als es den betreffenden Parteien das Interesse gebietet. Wo aber das Interesse gebietet, da bedarf es keiner Kompromisse, Wahlbündnisse und Verträge. Gesetzt – um an einen bestimmten Fall anzuknüpfen –, gesetzt den Fall, die Erwerbung von sechs neuen Landtagsmandaten sei für unsere Partei in Bayern von Wichtigkeit gewesen, so hätten bei der Stärke und dem Einfluß unserer Partei Mittel und Wege sich finden lassen, den Mandatszuwachs auch ohne Kuhhandel zu erlangen. Das Zentrum zu stärken, war unter allen Umständen – die Prinzipienfrage beiseite gelassen – ein schwerer taktischer Fehler. Ein Fehler, um so größer, als er den Auflösungsprozeß innerhalb des Zentrums aufhält. Dieses steht fest, solange die Arbeiter, welche im Bereich seines Einflusses sind, noch nicht zum Klassenbewußtsein gelangt sind, noch nicht gelernt haben, ihre Klasseninteressen über die konfessionellen Interessen zu setzen – ein Prozeß, den die ökonomische Entwicklung naturnotwendig mit sich bringt und den wir durch unsere Propaganda zu beschleunigen haben. Im Offenbacher und anderen Wahlkreisen ist uns das so weit gelungen, daß die meisten katholischen Arbeiter bei der letzten Wahl gleich im ersten Wahlgang für uns gestimmt haben und nicht für den Kandidaten ihrer eigenen Partei.
Die Klassenkampftaktik ist nicht bloß prinzipiell richtiger, sie ist auch wirksamer und erfolgreicher als die Kompromißtaktik. Der Nützlichkeitsstandpunkt, den die Verteidiger des bayerischen Kompromisses betonen, ist gewiß ein sehr – nützlicher, aber es gibt doch auch andere Faktoren als die Nützlichkeit, die in Betracht gezogen werden müssen. Die Reinheit des Prinzips, der Idealismus unseres Strebens, das sind Faktoren von stärkender und werdender Kraft – die uns die Kraft verliehen haben zu all unseren Kämpfen und unseren Lehren, die Kraft, alles, was sich unterdrückt fühlt und Ehrgefühl hat, unwiderstehlich an sich zu ziehen. Gewiß – das Bündnis mit dem Zentrum war sehr nützlich – es hat uns ein halb Dutzend Landtagsmandate gebracht, aber wie sagte doch Gretchen?
Wie konnt' ich sonst so tapfer schmählen,
Wenn tät' ein armes Mägdelein fehlen!
Wie konnt' ich über andrer Sünden
Nicht Worte g'nug der Zunge finden!
Wie schien mir's schwarz und schwärzt's sogar,
Mir's immer doch nicht schwarz g'nug war,
Und segnet' mich und tat so groß,
Und bin nun selbst der Sünde bloß!
Ja, wie konnten wir sonst so tapfer schmählen auf die »Kuhhändler«, namentlich die schwarzen! Wir schwärzten sogar das Schwarze und die Schwarzen. Und heute? Wir dürfen nicht alles tun, was die Gegner tun. Wir dürfen nicht alles dem Vorteil opfern. Und was unseren Gegnern ein Vorteil, ist uns tödliches Gift. Sagt der Adel von sich: noblesse oblige, so sagen wir: socialisme oblige, der Sozialismus verpflichtet.
Wenn die Taktik es vorschreibt oder doch erlaubt, sich mit den Gegnern zu verbinden, um durch ein »Augenblickskartell« einen Augenblickserfolg zu erzielen, so hat Schumacher in Solingen nur als guter Taktiker im Sinn des Opportunismus gehandelt, indem er voriges Jahr bei den Reichstagswahlen sich mit den Fortschrittlern verbündete, um die Partei – gegen uns zu retten. Er wurde nicht Bourgeois – behüte! –, er bediente sich nur der Bourgeoisie, um uns, die falschen Sozialisten, niederzuwerfen und dem wahren Sozialismus zum Sieg zu verhelfen, gerade wie Millerand durch das Bündnis mit Galliffet-Waldeck-Rousseau den Militarismus vernichten will. Schumacher kann für sein Handeln genau dieselben Gründe vorbringen wie Millerand für das seine. Wir nannten es Parteiverrat.
Mit dem Wachstum der Sozialdemokratie, mit ihrem Eindringen in die bisher von anderen Parteien beherrschten Gebiete und mit der Ausdehnung unserer praktischen Tätigkeit kommen wir immer häufiger in Augenblicksverbindungen oder Augenblicksverhältnisse mit anderen Parteien. Allein, diese Augenblicksverhältnisse sollen niemals zu Augenblickskartellen werden; wir dürfen uns niemals als Partei verpflichten. Wir müssen stets die Politik der freien Hand befolgen: die Lage ausnutzen, die Gegner für uns arbeiten lassen und, das Endziel der Partei fest im Auge, stets nur unsere eigenen Wege gehen – mit gegnerischen Parteien nur dann zusammengehen, wenn unser Weg zufällig der gleiche ist. Daß wir eine Partei des Klassenkampfes sind, die mit allen übrigen Parteien nichts gemein und alle übrigen Parteien zu bekämpfen, zu überwinden hat, um zum Ziel zu gelangen, des dürfen wir uns keinen Augenblick unbewußt sein.
Betreffend den Fall Millerand und die Frage der Parteieinheit schrieb ich, veranlaßt durch die französische Arbeiterpartei (der »Marxisten«) nach Epernay: In Epernay trat am 13.8.1899 der Kongreß der französischen Arbeiterpartei (Guesdisten) zusammen. Die 174 Delegierten debattierten die Haltung zum Eintritt Millerands in die bürgerliche Regierung und die Möglichkeiten zur Einigung der sozialistischen Arbeiterbewegung Frankreichs.
Meine Freunde!
Sie wissen, daß ich es mir zur Pflicht gemacht habe, mich in die Angelegenheiten der Sozialisten anderer Länder nicht einzumischen. Aber da Sie meine Meinung über die brennenden Fragen, die Ihren Kongreß und das ganze arbeitende und sozialistische Frankreich beschäftigen, zu kennen wünschen und da diejenigen Ihrer sozialistischen Landsleute, die in bezug auf diese Fragen anderer Ansicht sind als Sie, sich ebenfalls an mich gewandt haben, so habe ich keinen Grund, mit meiner Meinung zurückzuhalten. Und es ist im Grunde doch auch keine uns Deutschen fremde Angelegenheit, die Sie jetzt in Frankreich beschäftigt.
Die Internationalität des Sozialismus ist eine Tatsache, die sich von Tag zu Tag mehr fühlbar und geltend macht. Wir Sozialisten sind eine Nation für uns – eine und dieselbe internationale Nation in allen Ländern der Erde. Und die Kapitalisten mit ihren Agenten, Werkzeugen und getäuschten Gläubigen (dupes) sind ebenfalls eine internationale Nation, so daß wir in Wahrheit sagen können: Es gibt heute nur noch zwei Nationen in allen Ländern, die eine die andere bekämpfend, in dem großen Klassenkampf, welcher die neue Revolution ist – dem Klassenkampf, welcher gekämpft wird einerseits von dem Proletariat, vertretend den Sozialismus, andererseits von der Bourgeoisie, vertretend den Kapitalismus.
Und da der Kapitalismus die bürgerliche Welt (der Bourgeoisie) beherrscht, so sind, solange der Kapitalismus herrscht, mit Notwendigkeit alle Staaten Klassenstaaten und alle Regierungen Klassenregierungen, dienend den Zwecken und Interessen der herrschenden Klasse und bestimmt, den Klassenkampf für die Bourgeoisie gegen das Proletariat zu führen – für den Kapitalismus gegen den Sozialismus, für unsere Feinde gegen Euch, gegen uns. Vom Standpunkte des Klassenkampfes, dieser Grundlage des kämpfenden (militant) Sozialismus, ist das eine Wahrheit, welche durch die Logik des Gedankens und der Tatsachen über jeden Zweifel hinausgehoben ist. Ein Sozialist, der in eine Bourgeoisregierung eintritt, geht entweder zum Feind über, oder er gibt sich in die Gewalt des Feindes. In jedem Fall trennt ein Sozialist, der Mitglied einer Bourgeoisregierung wird, sich von uns, den kämpfenden Sozialisten. Er mag sich noch für einen Sozialisten halten, ist es aber nicht mehr; er kann von seiner Ehrlichkeit überzeugt sein, aber dann hat er nicht das Wesen des Klassenkampfes begriffen – nicht begriffen, daß der Sozialismus den Klassenkampf zur Grundlage hat.
Heutzutage, unter der Herrschaft des Kapitalismus, kann eine Regierung, selbst wenn sie voll Philanthropie und von den besten Absichten beseelt ist, nichts Ernsthaftes für unsere Sache tun. Man muß sich vor Illusionen (Selbsttäuschungen) hüten. Schon vor Jahrzehnten sagte ich: Wenn der Weg zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert ist, so der Weg zu Niederlagen mit Illusionen. In der heutigen Gesellschaft ist eine nichtkapitalistische Regierung eine Unmöglichkeit. Und der unglückliche Sozialist, den der Zufall in eine solche Regierung wirft, ist, wenn er seine Klasse nicht verraten will, zur Ohnmacht verurteilt. Die englische Bourgeoisie hat das Kunststück, die Opposition durch Teilnahme an der Regierung zu lähmen, seit einem Jahrhundert gelernt, und es ist in England traditionelle Praxis aller Regierung, daß das radikalste Mitglied der Opposition, welches naiv genug ist, sich zu dem Spiel herzugeben, in die Regierung genommen wird. Der Mann dient den »Kollegen« als Deckung und entwaffnet seine Freunde, die nicht auf ihn schießen können – wie man in der Schlacht nicht auf die Geißeln schießen kann, die der Feind vor sich gestellt hat.
Das meine Antwort auf die Frage, betreffend den Eintritt eines Sozialisten in eine Bourgeoisregierung.
Jetzt zu der zweiten Frage: der Frage der Einheit und Einigung. Die Antwort wird mir diktiert durch die Prinzipien und die Interessen der Partei. Ich bin für die Einheit der Partei – für die nationale und internationale Einheit der Partei. Aber es muß die Einheit des Sozialismus sein. Die Einheit mit Gegnern, mit Leuten, die andere Ziele und andere Interessen haben, ist keine sozialistische Einheit. Wir müssen unsere Einheit um jeden Preis und mit allen Opfern erstreben. Aber damit wir uns einigen und organisieren können, haben wir aller fremden und feindlichen Elemente uns zu entledigen. Was würde man von einem General sagen, der in Feindesland die Reihen seiner Armee mit Rekruten aus den Reihen der Feinde füllen wollte? Wäre das nicht der Gipfel der Torheit? Wohlan: in unsere Armee – das ist in unsere Partei, die eine Armee ist für den Klassenkampf und Klassenkrieg –, in unsere Armee Gegner hereinziehen, Soldaten mit den unsrigen entgegengesetzten Zielen und Interessen, das wäre Wahnsinn, das wäre Selbstmord.
Auf dem Boden des Klassenkampfes sind wir unbesiegbar; verlassen wir ihn, so sind wir verloren, weil wir keine Sozialisten mehr sind. Die Kraft und Macht des Sozialismus besteht in der Tatsache, daß wir einen Klassenkampf führen, daß die arbeitende Klasse durch die Kapitalistenklasse ausgebeutet und unterdrückt wird und daß in der kapitalistischen Gesellschaft wirksame Reformen, welche der Klassenherrschaft und Klassenausbeutung ein Ende machen, unmöglich sind.
Wir können nicht mit unseren Prinzipien schachern, wir können keinen Kompromiß, keinen Vertrag mit dem herrschenden System schließen. Wir müssen mit dem herrschenden System brechen, es auf Leben und Tod bekämpfen. Es muß fallen, damit der Sozialismus siegen kann; und von der herrschenden Klasse können wir doch wahrhaftig nicht erwarten, daß sie selber sich und ihrer Herrschaft den Gnadenstoß gibt. Die Internationale Arbeiter-Assoziation hat deshalb den Arbeitern gepredigt: die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiter selbst sein.
Kein Zweifel, es gibt Bourgeois, die aus Rechtsgefühl und Menschlichkeit sich auf Seiten der Arbeiter und Sozialisten stellen, allein das sind nur Ausnahmen – die Masse der Bourgeoisie hat Klassenbewußtsein, das Bewußtsein der herrschenden und ausbeutenden Klasse. Ja, die Masse der Bourgeoisie hat, weil herrschende Klasse, ein viel schärferes und stärkeres Klassenbewußtsein als das Proletariat.
Ich schließe – Sie haben mich um meine Meinung befragt, ich habe sie Ihnen gesagt. An Ihnen ist es zu tun, was die Prinzipien und das Interesse der Partei Ihnen zu tun gebieten.
Brüderlichen Gruß dem Kongreß von Epernay. Hoch das Frankreich der Sozialisten und Arbeiter! Hoch der Internationale Sozialismus!
Weimar, den 10. August 1899 W. Liebknecht
Meinem Brief habe ich nichts hinzuzufügen. Die Ereignisse haben ihn seitdem bestätigt. Durch die Anwesenheit eines Sozialisten in der Regierung ist nichts erreicht und nichts verhindert worden, was nicht auch ohne diese Anwesenheit hätte erreicht und verhindert werden können. Wohl aber ist die Sozialdemokratie, soweit sie den Eintritt des Sozialisten in die Regierung veranlaßte oder guthieß, für alle Begehungs- und Unterlassungssünden der Regierung in der Zeit, da der Sozialist ihr angehörte, mitverantwortlich geworden.
Wohl wird zur Entschuldigung oder Beschönigung gesagt, es habe sich um eine ausnahmsweise Lage gehandelt – darum, die Republik zu retten, die sonst hätte verlorengehen können. Das hält aber der Kritik nicht stand. Die Republik in Frankreich wird nicht durch die paar Mann in der Regierung, einschließlich des Sozialisten, aufrechterhalten, sondern durch die französischen Arbeiter, denen der größte Teil der Bauern und der Kleinbürger zur Seite steht – also durch die große Mehrheit des französischen Volkes, das sich weder durch die Pfaffen irreleiten noch durch die reaktionären Kapitalisten vergewaltigen läßt. Der Militarismus ist in Frankreich bei weitem nicht so stark und so gefährlich wie in Deutschland und die französische Armee in höherem Grade als in Deutschland eine »Volksarmee«. Sie ist ebenso zahlreich wie die deutsche, obgleich die Bevölkerung Frankreichs 15 Millionen weniger zählt als die Deutschlands – und enthält folglich einen entsprechend stärkeren Prozentsatz der Bevölkerung. Frankreich ist tatsächlich an der Grenze angelangt, wo mit dem preußisch-deutschen Militärsystem, das es nach dem Krieg von 1870/71 übernahm, gebrochen werden muß – wo es entweder, wie der Kriegsminister General Galliffet befürwortet hat, durch eine kleine, wohlgedrillte Prätorianerarmee ersetzt oder in das Milizsystem mit allgemeiner Wehrhaftmachung aller Wehrfähigen überführt werden muß. Mit einer solchen Armee sind keine Staatsstreiche zu machen. Mag ein Teil der Offiziere noch so reaktionär sein, die Masse der Soldaten ist zu eng mit dem Volke verbunden, um sich zu einem Staatsstreich benutzen zu lassen.
Handelte es sich bei der Bildung des Ministeriums Waldeck-Rousseau-Galliffet in der Tat, wie uns vorgeredet wurde, um den Schutz der Republik gegen einen Staatsstreich, so war die republikanische Gesinnung des französischen Proletariats Bürgschaft genug für die Regierung – jedenfalls eine ungleich bessere Bürgschaft als die Anwesenheit eines Sozialisten im Kabinett.
Der Umstand, daß der Chef dieses Ministeriums ein besonders scharf ausgeprägter Bourgeoiskapitalist und der Kriegsminister einer der verrufensten Sabreurs (Säbelraßler und Dreinschläger) des »kleinen Napoleon« und der blutdurstigste unter den Mördern der Kommune war, läßt das Unnatürliche in der Handlungsweise Millerands nur schärfer hervortreten. Allein, auch wenn an Stelle Waldeck-Rousseaus ein echt demokratischer Bürger, wie etwa Brisson, stände und an Stelle Galliffets ein ehrlicher, von Arbeiterblut nicht besudelter Soldat, würde der Schritt von unserem Standpunkt aus nicht minder verwerflich sein. Er wäre bloß nicht das Gefühl so verletzend.
Der Klassengegensatz mit dem Klassenkampf ist nun einmal eine vorhandene Tatsache. Der Staat ist, solange der Klassengegensatz und Klassenkampf dauert, mit Naturnotwendigkeit ein Klassenstaat, und die Regierung dieses Klassenstaates mit gleicher Naturnotwendigkeit eine Klassenregierung. Ein Sozialist, der sich verleiten läßt, Mitglied einer solchen Regierung zu werden, wird sein Klassenbewußtsein, falls er es nicht an der Tür des Kabinetts abgelegt hat – wie ein Mohammedaner die Schuhe am Eingang der Moschee –, bald vollständig verloren haben, falls er nicht die Mannhaftigkeit hat, die erste sich darbietende Gelegenheit zum Konflikt und zum Bruch zu benutzen.
Mit der Doktorfrage, ob überhaupt nicht ein Fall denkbar sei, wo ein Sozialist in eine nichtsozialistische Regierung eintreten könne, beschäftige ich mich nicht. Ein derartiger Fall könnte nur eintreten nach einer staatszertrümmernden Katastrophe, zum Beispiel im Lauf eines Weltkrieges, wenn die Regierung des Klassenstaates zusammengebrochen ist, ohne daß genügend Elemente zur sofortigen Bildung einer sozialistischen Regierung da wären.
Eine solche Eventualität hat aber Frankreich wahrhaftig nicht vorgelegen; und zur »Rettung der Republik« sind die Herren Waldeck-Rousseau und Galliffet in ganz Frankreich so ziemlich die wenigst berufenen Personen. Die sozialistische Partei war, ist und bleibt die einzig berufene Retterin und Schutzwacht der Republik – mit und ohne Millerand.
Guesde und Lafargue, die Hauptvertreter des wissenschaftlichen Sozialismus in Frankreich, haben in einer den »ministeriellen« Opportunitätssozialismus geißelnden Denkschrift den Unterschied zwischen der Tätigkeit in einer vom Volk gewählten Körperschaft und in einer Staatsbehörde oder gar der Staatsregierung dargelegt. Die Staatsbehörden und die Regierung sind Organe der Klassenherrschaft, die ihrer Natur nach im Interesse der herrschenden Klasse funktionieren müssen. Die Teilnahme an einem durch Wahl gebildeten Körper (Reichstag, Landtag, Gemeinderat usw.) dagegen ist der Ausfluß der Volkssouveränität, die von der Klassenherrschaft beeinflußt wird, aber über ihr steht und die einzige Macht ist, die ihr ein Ende machen kann. Die Vertreter der Sozialdemokratie in solchen Wahlkörperschaften gleichen den Basaltkegeln, die aus dem Erdinnern emporgetrieben, die Sandstein- und Schieferschichten durchbrochen haben – sie entspringen dem Volksinnern, sind Teile des Volks, und haben in sich das Recht und die Kraft der alles Staatliche und Gesellschaftliche überragenden und bestimmenden Volkssouveränität. Sie sind nicht da aus der Gnade der Gewalthaber, sondern wider deren Willen und wider deren Macht – Beamte wohl, jedoch Ehrenbeamte, Beamte nicht der Gewalthaber, sondern des Volkes, das sie gewählt hat, auf daß sie seinen souveränen Willen zur Geltung bringen. Deshalb ist es so grundverkehrt, unsere Tätigkeit im Reichstag und anderen Vertretungskörpern als einen Kompromiß mit den herrschenden Gewalten zu bezeichnen. Gewiß haben wir dort mit unseren Feinden zusammenzuarbeiten, allein als selbständige Macht in Ausübung des Mandats, das wir vom Volk erhalten haben. Das ist kein Zusammenarbeiten auf dem Boden gemeinschaftlicher Anschauungen und Ziele – es ist ein Arbeiten, das Kampf ist – ein gegenseitiges Ringen, ein Messen der Kräfte, aus deren Spiel, Richtung und Kraftsumme nach dem ewigen Gesetz vom Parallelogramm der Kräfte sich die Gesetzgebung und die Regierung herausbildet.
Daß im Laufe dieses gegenseitigen Ringens und Kämpfens wechselnde Interessengruppen und Augenblicksannäherungen vorkommen, liegt in der Natur der Dinge; derartige Momentgruppierungen Kompromisse zu nennen, ist reine Sprachwillkür. Ein aus den Verhältnissen sich ergebendes Nebeneinandergehen und ein durch die Umstände bedingtes Arbeiten und Streben in gleicher Richtung ist ebensowenig ein Vertrag, ein Bündnis oder ein Kompromiß, wie die gegenseitige Berührung von durcheinandergeschüttelten Glasstücken eines Kaleidoskops ein Vertrag, Bündnis oder Kompromiß ist. Ob die schüttelnde Gewalt eine mechanische ist oder die Macht organischer Gesetze – ist ganz gleichgültig. Das sind Annäherungen ohne jegliche Verpflichtung, Erzeugnisse des Augenblickes geboren, vom Augenblick wieder weggefegt.
Nicht minder falsch ist es, das Zusammengehen bei Stichwahlen mit Wahlbündnissen zu vergleichen, wie sie für die preußischen Landtagswahlen vorgeschlagen, für die bayrischen Landtagswahlen tatsächlich abgeschlossen worden sind. Jenes Zusammengehen ist nur eine Episode der Wahlschlacht, welche die Partei in ihrer Gesamtheit schlägt und deren erstem Haupttag nun die Nachschlacht folgt, in welcher die unentschiedenen Wahlen auszufechten sind. Daß wir in solchen Wahlkreisen, wo wir bei der Stichwahl nicht selber im Kampf stehen, dem Gegenkandidaten zum Sieg verhelfen, dessen Wahl unserer Partei die meisten Vorteile bietet, das ist ein Gebot elementarster Klugheit. Und ich habe dies schon zu einer Zeit als selbstverständlich befürwortet, da verschiedene, die heute für die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen schwärmen, es für einen halben Prinzipienverrat erklärten. Gäben wir, wenn ein Ausnahmegesetz besteht oder droht, bei einer Stichwahl zwischen zwei bürgerlichen Kandidaten nicht demjenigen unsere Stimme, der ein Gegner von Ausnahmegesetzen ist, so wären wir Esel, die den Knüttel verdienen. Aber das ist doch kein Kompromiß! Wir verpflichten uns zu nichts, wir opfern kein Prinzip, wir opfern kein Interesse – im Gegenteil, wir handeln einzig in unserem eigenen Interesse, das wir schädigen würden, handelten wir anders. Verpflichtungen liegen höchstens auf Seiten unserer Gegner vor. Diese Taktik ist so einfach und natürlich, daß sie nur durch unklare Prinzipienreiterei eine Zeitlang in Frage gestellt werden konnte und daß sie, als die Parteileitung es unterließ, sie den Genossen zu empfehlen, über die Köpfe der Parteileitung hinweg von dem gesunden Masseninstinkt der Parteigenossen zur Ausführung gebracht wurde. Und zwar von Fall zu Fall – mit besonderer Entscheidung für jeden besonderen Fall. Keine Schachergeschäfte, keine Mogeleien, klipp und klar: wir schlagen auf den Feind los, und wo zwei Feinde gegeneinanderstehen, von denen einer das Mandat gewinnen muß, schlagen wir den gefährlicheren von beiden zu Boden. Das ist Kampfpolitik, wie sie einer Kampfpartei ziemt.
Bei den Reichsstichwahlen Erreichte in einem Wahlkreis kein Kandidat die absolute Mehrheit (mehr als 50 Prozent der Stimmen), war ein zweiter Wahlgang, die Stichwahl, erforderlich zwischen den beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen. sind wir kämpfende Partei, die aus eigener Kraft sich ihren Anteil an der Volksvertretung erobert und allen übrigen Parteien ohne Ausnahme die Spitze bietet – auch denen, für deren Angehörige sie im Parteiinteresse bei Stichwahlen ihre Stimme und das Mandat gibt. Bei den preußischen Landtagswahlen sind wir unfähig, aus eigener Kraft auch nur ein einziges Mandat zu gewinnen; um eins oder mehrere gewinnen zu können, müssen wir uns an eine bürgerliche Partei wenden und mit ihr ein Handelsgeschäft abschließen. Bei der Reichstagswahl die stärkste Partei Deutschlands, sind wir bei der preußischen Landtagswahl die schwächste aller Parteien, ja vollkommen ohnmächtig, da wir auf Grund des »elendesten aller Wahlgesetze« zwar wahlberechtigt, aber wahlunfähig sind und ein Mandat nur unter der Bedingung einheimsen können, daß wir uns als Stimmvieh einer bürgerlichen Partei zur Verfügung stellen.
Bei den bayrischen Landtagswahlen liegen die Dinge allerdings etwas anders. In Bayern verbietet uns das Landtagswahlgesetz nicht den Erwerb eigener Mandate – das spricht aber nicht zugunsten eines Wahlkompromisses, sondern läßt im Gegenteil den »Kuhhandel« dieses Sommers nur im schlimmem Lichte erscheinen.
Auf die Gründe, die sonst gegen die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen vorzubringen sind, lasse ich mich jetzt nicht ein. Die Demoralisation durch die verschiedene Frontstellung bei Landtags- und bei Reichstagswahlen, die Verwirrung in den Köpfen, die Lockerung der Disziplin und vor allem die Verwischung des Klassenkampfcharakters unserer Partei ist schon – auch von mir selbst – so oft und so nachdrücklich hervorgehoben worden, daß ich die Leser durch Wiederholung nicht ermüden will.
Nur eins noch.
Wenn das Bürgertum noch Lebenskraft hätte, so brauchte es unsere Hilfe nicht, um bei den preußischen Landtagswahlen den Sieg zu erringen. Die ersten zwei Klassen gehören den bürgerlichen Wählern – niemand kann ihnen die Mehrheit streitig machen, wenn sie nicht selbst sich preisgeben. Und wie können wir ihnen dann helfen? Kann man einem Lahmen oder Schwertrunkenen zum Gehen aufhelfen? Man kann ihn emporheben, allein, sobald man ihn losläßt, fällt er wieder zu Boden wie ein Mehlsack. Wir kommen hier nicht von den Hörnern des Dilemmas los: Entweder das Bürgertum hat noch politische Lebenskraft – dann braucht es keine Hilfe, oder es hat sie nicht, dann nutzt keine Hilfe. Und gibt's ein Bündnis mit einem Leichnam?
Man hat es getadelt, daß ich in einer Zeitungspolemik erklärt habe, die Annahme eines neuen Sozialistengesetzes wäre ein kleineres Übel gewesen als die Verwischung des Klassengegensatzes und der Parteigrenzen durch ein Landtagswahlbündnis mit der preußischen Fortschrittspartei. Je mehr ich darüber nachdenke, desto fester bin ich von der Richtigkeit des Wortes überzeugt. Was soll aus der Partei werden, wenn wir durch angedrohte oder drohende Gefahren und Nachteile uns aus dem Geleise unserer Parteigrundsätze herausdrängen lassen? Die Furcht ist für den Menschen sprichwörtlich ein schlechter Ratgeber – für Parteien ist sie der Untergang. Die Furcht vor der Arbeiterbewegung und dem Sozialismus hat das deutsche, Bürgertum politisch zugrunde gerichtet – und die Tage der Sozialdemokratie wären gezählt, fände der Appell an die Furcht einen Widerhall in uns. Wir sollen nicht herausfordern, aber wir sollen uns auch nicht ins Bockshorn jagen und durch die Furcht zu Schritten verleiten lassen, die den Prinzipien, dem Wesen und der Würde unserer Partei nicht entsprechen. Durch Ängstlichkeit und Zahmheit entwaffnet man den Feind nicht, ermutigt man ihn nur. Nicht, daß wir versuchen sollen, mit dem Kopf durch die Wand zu rennen. Wir wollen und müssen »praktisch« sein. Aber ist das denn jemals geleugnet, bestritten worden? »Praktisch« sind wir immer – trotz Bernstein – gewesen. Wir haben stets an das Bestehende angeknüpft und mit Hinblick auf unser Ziel planvoll gearbeitet. In Gemeinden, Einzelstaaten, Reich sind alle vernünftigen Neuerungen von der Sozialdemokratie, wenn nicht angeregt, doch gefördert worden. Denken wir nur an die wichtigste aller Reformen: die Sozialreform, in welcher die Regierung, will sie nicht Ruinen oder Luftschlösser bauen, auf unsere vor Jahrzehnten schon gemachten Vorschläge zurückgreifen muß.
Wir können sogar von uns sagen, wir sind die praktischste, ja die einzige praktische Partei – praktisch im Sinne des Vernünftigen. Nur wer die organischen Entwicklungsgesetze kennt und im Einklang mit ihnen einem bestimmten Ziel planmäßig zustrebt, ist praktisch. Und so arbeiten wir. Unsere Gegner kennen diese Gesetze nicht oder sie erkennen sie nicht an und wollen sie beugen oder zerbrechen. Wer das Wasser zwingen will, bergauf zu laufen, ist sicher nicht praktisch, und solch törichtem Ziel gilt die Arbeit unserer Feinde. Freilich hat man gesagt: Die Arbeiter allein können die Emanzipation der Arbeiterklasse nicht bewirken, auch die intelligenten und gebildeten Elemente der anderen Klassen müßten mitarbeiten. Und wir werden auf die mancherlei den Arbeitern nützlichen Maßregeln verwiesen, die von bürgerlichen Parteien durchgeführt oder unterstützt worden sind. Aber das ist sophistisches Gerede. Denn – und in diesem Punkt ist das Zeugnis Bismarcks entscheidend – alle diese sozialreformatorischen Maßregeln – sie sind freilich karg genug – wären nie getroffen worden ohne die Initiative und das Drängen des klassenbewußten Proletariats und der Sozialdemokratie.
Bernstein meint allerdings, der Sozialismus sei die letzte Konsequenz des Liberalismus. Nun, das wäre die radikalste Aufhebung des Klassengegensatzes.
Von meinem ehemaligen Bundesbruder in Communismo, dem jetzigen Reichskanzler in re. Miquel, ist der Satz umgedreht worden: der Liberalismus ist die letzte Konsequenz des Kommunismus. Und daß der Miquelsche Liberalismus dem Konservatismus (im deutschen Sinne), das heißt, dem junkerlichen Mittelalterideal der Leibeigenschaft sehr nahe verwandt ist, das weiß wohl jedermann, der Augen hat zu sehen und Ohren zu hören.
Nein – die Sozialdemokratie hat für sich zu bleiben, ihre Kraft nur in sich selbst zu suchen und aus sich selbst zu schöpfen. Jede Kraft außer uns, an die wir uns anlehnen, ist für uns Schwächung. In dem Bewußtsein unserer Stärke, in dem Glauben an den Welteroberer-Beruf des Sozialismus ist das Geheimnis unserer außerordentlichen, fast wunderbaren Erfolge.
Der Islam war so lange unbesiegbar, als er an sich allein glaubte und in jedem Nichtmohammedaner einen Feind sah. Von dem Augenblick an, wo der Islam auf Kompromisse einging und in die Wege der nichtmohammedanischen, sogenannten zivilisierten Mächte einlenkte, hat er seine erobernde Kraft eingebüßt. Der Islam konnte nicht anders. Er war nicht der wahre, welterlösende Glaube. Der Sozialismus aber ist es, und der Sozialismus kann die Welt nicht erobern und nicht erlösen, wenn er aufhört, an sich allein zu glauben.
Drum lassen wir nicht ab von der alten Taktik! Und nicht von dem alten Programm! Stets voranschreitend mit der Wissenschaft und der wirtschaftlichen Entwicklung sind wir, was wir waren, und bleiben wir, was wir sind.
Oder – die Sozialdemokratie hört auf, zu sein.