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Fragmentarisches

Ein Kapitel aus einem fragmentarischen Roman

Der Doktor Bryller ist schließlich doch Oberlehrer geworden. Einer, ein wütender Feind, hatte ihm schon vor Jahren in der veralteten Zeitschrift: »Das andere A« solch Schicksal prophezeit. Damals war er zu Tode traurig über die Erkenntnis des Feindes, deren Wahrhaftigkeit er nach heftigem Nachdenken nicht leugnen konnte. Er schrieb einen maßlosen Artikel, der nirgends angenommen wurde. Und eines Abends betrank er sich ein wenig mit französischem Sekt, um die angeborene Angst umzubringen, die ihn hinderte, den Feind zu verhauen. Aber seine Feigheit verließ ihn auch in der Trunkenheit nicht. Da gab er, unsagbar unglücklich, auf, sich zu rächen.

Er begann offiziell, einsam und verklärt zu leben. Er teilte dies mit; agitatorisch, wie er oft das Programm einer neuen Kunstrichtung verkündet hatte. Und mit einer innersten Feierlichkeit wie bei einem bedeutenden Begräbnis. Noch seine Niederlage nutzte er aus, sich überlegen zu fühlen. Im Grunde lebte er kaum anders als bisher. Nur daß er tatsächlich seelisch trostloser geworden war. Jetzt mußte er sich so beruhigen: Selbst wenn ich erreichen könnte, was ich erreichen wollte, würde ich nichts erreichen. Während er vordem so gedacht hatte: Zwar ist leider richtig, daß ich nichts erreichen kann, aber was ich erreichen kann, ist ziemlich schön.

Praktisch, wie Berthold Bryller in gewissen Beziehungen war, wußte er seine Schwächen allgemein menschlich aufzufassen, so daß die Verzweiflung, die sich anfangs in hysterischen Anfällen besonderer Art offenbart hatte, bald – bis auf seltene Zustände – dem Gefühl einer erhabenen Gleichgültigkeit wich. Nach wie vor schrieb er seine frechen und unvorsichtigen Briefe, die ihm viel schadeten, veröffentlichte er besonders kluge, etwas wahnsinnige Aufsätze in den wenigen Blättern, mit deren Herausgebern er zufällig nicht verfeindet war, gründete er Clubs, die ihn ausstießen, Zeitschriften, in denen er bekämpft wurde. Nach wie vor machte er sich auch sonst durch seine Beteiligung überall unmöglich. Uneingeweihte würden allerdings den Umstand, daß er nicht mehr in dem Café Klößchen zu sehen war, als ein Zeichen seiner innerlichen Verwandlung bemerken können, wenn nicht ein an der Tür des Cafés befestigtes Plakat:

Bryllern ist der Eintritt verboten!

veranlaßt hätte, einen Streit mit dem Wirt als Ursache seines Fernbleibens anzunehmen.

Aber allmählich wurde dem Doktor Bryller, der doch kein Trottel war, das hoffnungslose literarische Dasein unausstehlich. Hinzu kam, daß seine Geldmittel in absehbarer Zeit erschöpft waren. Er mußte also, unfähig, sich gegebenenfalls zu töten, bedacht sein, durch Arbeit seinen Lebensunterhalt zu beschaffen. Die schriftstellerische Tätigkeit war pekuniär ungefähr erfolglos. In eine feste literarische Stellung zu treten – etwa als Redakteur –, würde er nicht über das Herz gebracht haben, abgesehen davon, daß ihn niemand genommen hätte. Was blieb ihm, als mit dem Rest seines Kapitals die unterbrochenen Universitätsstudien fortzusetzen, die notwendigen Staatsexamina zu machen, sich als Oberlehrer eine gesicherte, ganz angenehme Position zu schaffen. Übrigens war ihm dieser Beruf durchaus bequem. Überzeugt von der unverbesserlichen menschlichen Fehlerhaftigkeit, die er an dem eigenen Leibe erfahren hatte, durchdrungen von der vollständigen Zwecklosigkeit körperlichen und geistigen Strebens, ließ er gern jeglichen Trieben ungehemmten Lauf. Seinen Herrschergelüsten, seinem sonstigen Ehrgeiz, sogar seinen erotischen Bedürfnissen konnte er als Oberlehrer am ehesten Genüge tun.

Der Doktor Bryller war trotz seiner Launenhaftigkeit und häufigen Sonderbarkeiten einer der beliebtesten Lehrer des Grauen Gymnasiums. Die kleinen Zöglinge vergötterten ihn, die größeren hingen ihm leidenschaftlich an. Natürlich gab es auch Schüler, die ihn nicht mochten. Zum Beispiel der Quintaner Max Mechenmal, den er einige Male ohne auffallenden Grund geohrfeigt hatte. Das hätte für Doktor Berthold Bryller beinahe unangenehmste Folgen gehabt. Gelegentlich der auf die entrüstete Beschwerde des Quintaners von dem Direktor Rudolph Richter einberufenen Lehrerkonferenz zeigte sich, daß die große Mehrzahl der Kollegen im Gegensatz zu den Schülern dem Doktor keineswegs freundlich gesinnt war. Als er auf die Frage, warum er geschlagen habe, lächelnd erwiderte, weil ihm Mechenmal mißfalle, wollte man, dem Vorschlag des angesehenen Kollegen Lothar Laaks folgend, der vorgesetzten Behörde empfehlen, ihn für längere Zeit zwecks geistiger Erholung in ein Sanatorium zu entfernen. Nur der Zufall, daß der gekränkte Quintaner Mechenmal ein bei Lehrern und Schülern in gleichem Maße verhaßtes Individuum war: wegen seiner katzenfreundlichen Verlegenheit und heimlich aufhetzenden Bosheit, hinderte einen solchen Entschluß. Obwohl der Kollege Laaks – der einzige, der für Mechenmal Worte der Anerkennung fand – unter Aufwand vieler schmutziger Dialektik feurig dafür eintrat. Man begnügte sich, den Herrn Doktor Bryller auf das Ungehörige seiner Handlungsweise drohend aufmerksam zu machen.

Etwa ein halbes Jahr vor der endgültigen lebenslänglichen Verwahrung Berthold Bryllers in einem staatlich subventionierten Irrenheim war ein Geschrei auf dem Hof des Grauen Gymnasiums. Ein Haufen zumeist kleinerer Schüler wälzte sich hinter einem zwergenhaften, vergrämten, schiefen Jungen, dessen Rücken die zarten Anfänge einer Buckelkrümmung aufwies. Man rief ihm vergnügt und gehässig – in dem Lärm unverständliche – sicherlich bösartige Neckworte zu. Er wurde gestoßen, so daß er stolperte. Viele ältere Gymnasiasten sahen das muntere Treiben belustigt an. Auch der Oberlehrer Laaks, der die Aufsicht führte, unterdrückte nicht ein vergnügtes Schmunzeln. In einem Fenster war das regungslose Gesicht des Doktor Bryller.

Der schiefe Junge ging, ohne sich zu wehren. Gebückten Kopfes. Oft mußte er mit der Hand über die Augen wischen. Nur einmal, als einer der Übermütigsten – natürlich der Quintaner Mechenmal – ihm unter johlendem Beifall der anderen in das Gesicht spie, warf er sich tief aufweinend gegen den Angreifer; der lief sofort davon. Mitten durch den Haufen, der ihm jubelnd überall den Weg verstellte, verfolgte der weinende Bucklige den Kameraden. Er würde den Mechenmal vielleicht auch erreicht haben, wenn nicht der langjährige Untertertianer Spinoza Spaß ihn plötzlich an dem Buckel wie an einem Haken festgehalten hätte. Spinoza Spaß grinste gemütlich und boshaft das affenförmige, sehnsüchtig phlegmatische Gesicht entlang, als er den kleinen verzweifelten Kohn wie ein Gewicht langsam durch die sonnige Frühlingsluft bewegte. Er ist durch diese Heldentat einer der berühmtesten Untertertianer des Grauen Gymnasiums geworden.

Vorzeitig machten dem sonderbaren Schauspiel einige mitleidige größere Gymnasiasten ein Ende. Der hagere, bleiche Primaner Paulus entriß den winzigen unglückseligen Menschen dem giftig dreinblickenden Spaß und bedrohte jeden mit Schlägen, der den schiefen kleinen Kohn weiterhin belästige. Aus Furcht vor Paulus und einigen Gleichgesinnten ließ man auch – wenigstens vorläufig – den glühenden Buckligen in Ruh. Der drückte sich die grauen Mauern entlang. Und wäre am liebsten versunken. Froh war er, als die Schulglocke das Zeichen gab, in die Klassenstuben zu verschwinden.

Der Primaner Peter Paulus war schon auf dem etwas finsteren Gange zu dem geräumigen Zimmer, in welchem der Pastor Leopold Lehmann den Schülern der oberen Klassen hebräischen Unterricht zu erteilen pflegte, als der Oberlehrer Laaks ihn einholte, ihn anrief, ihn in ein geheimnisvolles, sehr aufgeregtes Gespräch zog. Laaks machte dem Paulus anscheinend Vorwürfe. Merkwürdig war aber, daß er nicht aussah wie ein Lehrer, der den Schüler zurechtweist, sondern etwa wie ein mißtrauischer Verwandter, der sich in einer Erbschaftsangelegenheit übervorteilt glaubt. Auch das Verhalten des Primaners war durchaus nicht das Verhalten eines Untergebenen ...

Die Unterredung der beiden mußte sich wohl sehr ausgedehnt haben. Denn als Peter Paulus noch bleicher als sonst eintrat und das zu späte Kommen mit einem dienstlichen Gespräch entschuldigte, hatte der Pastor Lehmann das eigentliche Pensum längst erledigt; war in einer religiösen Diskussion begriffen, die er in moderner Weise regelmäßig an den hebräischen Unterricht knüpfte. Man sprach gerade über Gott und studentisches Wesen, kam aber nach einigen unwichtigen Erörterungen zu dem Thema: Abtreibung und Seelenleben, bei dem man verharrte. Den Anlaß hatte eine Mitteilung in einem Artistenfachblatt gegeben, die einer sich ausgeschnitten und zwecks Auseinandersetzung mitgebracht hatte. Der Pastor las vor:

Zusammenbruch der berühmten Tänzerin Lola Lalà
Die rühmlichst bekannte Varietetänzerin Lola Lalà, die auch unter der Bezeichnung Lo Lálalà auftrat und deren Mädchenname Leni Levi ist, mußte, wie ein Korrespondent uns drahtet, in eine Irrenanstalt gebracht werden, was gewaltiges Aufsehen erregte. Man fand die Bedauernswerte in Adamskostüm splitternackt gegen Morgen auf einem Weizenfeld bitter weinend eine schwere Zigarre rauchend. Herr Gottschalk Schulz, ein zartfühlender Poet, hat in der »Zeitung für erhellte Bürger« darüber ein ergreifendes Gedicht veröffentlicht, das einen pikanten Reiz dadurch hat, daß – so munkelt man wohl nicht mit Unrecht – der Dichter zu der armen lieblichen Tänzerin recht herzliche Beziehungen unterhielt. Deshalb sei dies schöne Gedicht unseren Lesern nicht vorenthalten: – – –

Das Gedicht hatte die Überschrift: Der Rauch auf dem Felde. Der Pastor las es aber nicht vor, weil es zu zotig sei. Auch nicht zur Sache gehöre. Dagegen las er:

Wie ich aus besonderer, authentischer Quelle in später Abendstunde noch erfahre, soll die Ursache des seelischen Zusammenbruchs der Tänzerin ein nach glücklich erfolgter Abtreibung durch einen Einbruch verursachter Schreck gewesen sein. Eine gerichtliche Untersuchung ist eingeleitet.

Danach begann der Pastor eine Rede über die Abtreibung so: »Die Erkenntnis des Menschen gipfelt darin, daß er das am höchsten entwickelte Erdwesen sei. Das kann kein Mensch bestreiten.« Er bemerkte nicht das absichtlich übertrieben unterdrückte Lachen einiger. Und langsam fuhr er fort. Er verurteilte die Abtreibung als Gott ungefällig vom religiösen und sozialpolitischen Standpunkt aus. Zum Schlusse sagte er: »Wir sind modern. Wir scheuen uns nicht, anstößige Fragen mit sittlichem Ernst zu behandeln.« –

Der einzige, der widersprach, war Peter Paulus. Er geriet – äußerlich ruhig – in solche Wut, daß er sagte: »Wenn ich Arzt wäre, Herr Pastor, würde ich selbst –« Da sagte erregt der Pastor: »Glauben Sie an Gott, Paulus?« Und Peter Paulus sagte nur: »Nein.« Er wurde einige Minuten vor Schluß der Lehrstunde wegen Sozialdemokratie und Gottlosigkeit von dem hebräischen Unterricht ausgeschlossen.

Trotzig ging er hinaus. Warf die Tür.

*

Als der verwitwete Gefängnisgeistliche Christian Kohn sein einziges herz- und geisteskrankes Kind in eine Anstalt geben mußte, adoptierte er – niemand weiß warum – einen kleinen Krüppel. Man schwatzte vielerlei. Am hartnäckigsten erhielt sich das Gerücht, der Krüppel Kuno sei ein natürlicher Sohn des Geistlichen. Die Mutter sei die populäre Totschlägerin Trude, die ihren abtrünnigen Zuhälter erschossen hatte. Trude war, weil sich herausstellte, daß sie trächtig war, unter jubelndem Beifall des ganzen Volkes begnadigt worden. Man behauptet, der mitleidige Geistliche habe Trudes Schwangerschaft bewirkt. Doch ist das nicht nachgewiesen.

Kuno Kohn verbrachte die erste halbwache Jugend in den trostlosen steinernen Räumen und Höfen des Zuchthauses. Der Adoptivvater kümmerte sich wenig um den Jungen. Wochenlang ließ er sich nicht sehen. Überlassen einer mürrischen Dienstperson, die in der Hauptsache die dürftige Wirtschaft des Geistlichen besorgte, ohne ausreichende Pflege, ohne Spielgenossen, ohne Anregung und Liebe konnte sich das krüpplige Kind nicht entwickeln. Blieb immer zwergenhaft. Blaß und verträumt schlich er einher. Verschüchtert und furchtsam. Gegen Abend wimmelte es auf den winkligen Treppen mit vergitterten Fenstern, in den großen düsteren Hallen und Gängen von verwegenen Schatten und schauerlichen Geräuschen. Ein Robusterer würde solche peripherischen Dinge nicht beachtet haben, wenn er sie überhaupt bemerkt hätte. Aber auf den Kuno Kohn drang das Geringste ein, das Nebensächlichste hatte Bedeutung, entsetzte ihn. Überall und von allem fürchtete er Unheil. Nichts war ihm vertraut. Die ewige Angst machte ihn selbst zu einem kleinen huschenden Gespenst und gab seinen schwindsüchtigen Augen phosphorisches Leuchten. Wenn er zu später Stunde weggeschickt wurde, etwa um Milch zu holen oder Petroleum, betete er in fiebriger Inbrunst zu dem lieben Gott. Atemlos und kalkig kam er wieder.

Über alles fürchtete Kuno Kohn die tausendfältige Finsternis vor dem Einschlafen. Früher hatte man ihm eine winzige Lampe in das Zimmer gestellt, deren rötlicher melancholischer Schein ihn etwas beruhigte. Auf der weichen Wand tauchten sonderbarste Fratzen auf und Kämpfe, aber auch Zinnsoldatenmärsche und ergötzliches Durcheinander von Feen und Kuchenläden und Königinnen, bis ein Schlaf kam. Seit einiger Zeit wünschte der Geistliche solche Verweichlichung der Seele seines Sohnes nicht mehr. Kuno mußte in dem Dunkelen leben. Weg war das bißchen Sichtbarkeit. Das unzählige unfaßbare Geschehen des Chaos kugelte sich um den kleinen Menschen. Mehr Welt drängte sich in dem kurzen Nachtzimmer des Buckligen, als der ganze große Tag enthielt. Kuno Kohn hatte den Körper, der in dem Bett liegen sollte, verloren: war nur noch Schreck und Hilflosigkeit und Sehnsucht. Am schlimmsten war, wenn sich das wüste Ungefähr zu Erscheinungen oder Berührungen verdichtete. Dann schrie der Kohn verzweifelt auf. Entweder hörte man den Aufschrei nicht oder legte ihm keine Bedeutung bei. In Gefängnissen schreit es immer in der Nacht irgendwo. Kuno lag oft lange, bis das unergründliche Loch, das so viel unbegreiflichen Inhalt hatte, die lebhaften Bilder einließ, die Traum und Schlaf brachten: Einbrecher, oder vielleicht eine Droschkenfahrt in der Sonne, einen Besuch bei dem kleinen kranken Bruder, ein Spiel mit Straßenkindern, die lieben traurigen Engelaugen der Maria Müller, für die man sterben möchte.

Des Kuno Kohn gute Bekannte waren die Gefangenen. Nicht die Wächter; die waren zwar recht freundlich zu ihm, aber ein instinktives Mißtrauen herrschte verborgen. Dagegen die Totschläger und Spieler, Lustmörder und Räuber, die berühmtesten Einbrecher und die Mehrzahl der sonstigen distinguierten Alteingesessenen begrüßten den kleinen Buckligen herzlich durch geringes Kopfnicken oder fast unmerkliches Grinsen, sooft er kam, der stummen grauen Arbeit mit aufgerissenen Träumeraugen zuzusehen. Nur die Hehler, Wucherer, Hochstapler, Defraudanten, Bauernfänger, die meisten Bankerotteure und manche Zuhälter blieben unerfreut. Besonders angefreundet hatte sich Kuno Kohn im Laufe der Jahre mit dem jugendlichen Einbrecher Benjamin. Die beiden saßen oft stundenlang zusammen. – Die Wächter drückten ein Auge zu ... Benjamin erzählte dem Buckligen schwärmend. Von Sonne. Und Freiheit. Und der Erlösung der Menschen. Kuno Kohn vermittelte den geheimen Verkehr Benjamins mit der Außenwelt und erwies dem Freunde allerlei Gefälligkeiten, er verschaffte ihm Zigaretten, Bücher, kleine Werkzeuge. Als einmal in dem Käfig Benjamins ein Band Goethe und etwas Zigarettenasche gefunden wurde, hatte man Kohn in Verdacht. Nach dem kurz darauf erfolgten Ausbruch des Einbrechers, der nur mit fremder Hilfe geschehen sein konnte, machte man dem Geistlichen Mitteilung. Der verbot dem Sohn das Zusammensein mit den Eingesperrten. Die Wächter durften ihn nicht mehr einlassen.

Die großen Probleme, die den Kuno Kohn, sobald er einigermaßen denken konnte, immer wieder quälten, waren hauptsächlich Tod und Gott. Im Alter von vier oder fünf Jahren glaubte er nicht an den Tod, wenigstens nicht an seinen. Und er betete täglich zu dem lieben Gott, bevor er sich hinlegte: »Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Gott allein.« Aber wenn er während des Tages etwas getan hatte, was ihm sündhaft erschien – und das geschah fast immer –, fügte er (im Bett sitzend; stehend, wenn es besonders schlimm war) lange und reumütige Monologe hinzu, bis er, übermüdet, mit noch gefalteten Fingern und Tränen einschlief. Wenn Finsternis und Angst kamen, betete er immer. Allmählich mehrten sich die Zweifel. Er mußte an seinen Tod glauben und den Glauben an Gott verlassen. Als er in die Schule kam, begann die Fülle von Leiden, die für manche Kinder damit verbunden sind.

Notizen zum Roman

Das Ende

Irrenhaus: Bryller, Lola.
Ertrinken im Meer: Kohn, Maria.
Selbstmord: Schulz, Paulus.
Lebenbleiben: Spinoza Spaß, Laaks, Mechenmal.

I. Auftritt im Schulhof. Peter Paulus für, Laaks gegen Kohn (Kohn hatte sich verunreinigt, Max Mechenmal). Später Kohn an Paulus sich anschließend gegen Laaks. Eifersuchtsszenen. Infolge der Laaksschen Intrigen fällt Paulus durchs Abiturium, schießt sich tot. Abschiedsbriefe (rührend an Kohn, offizielles Begräbnis, Kohn rennt davon).

Oberlehrer Dr. Bryller läßt alles geschehen, redet dem geliebten Paulus sogar zu, sich zu töten: Töte dich, ehe es zu spät ist (solange du noch dazu fähig bist). Es hat zwar keinen Zweck, bereitet dir aber etwas wie Genugtuung. (Gott ist eine Zeiterscheinung.)

Die Leiche wurde wohlverpackt in einem Kasten auf den Friedhof getragen, wo man sie unter einer Garderobenmarke für ewig abgelegt.

*

II. Szene Kohn, Laaks in Badewanne.

Laaks machte einen Angriff auf Maxens Weiblichkeit. – Laaks und Kohn treffen sich. Kohn grüßt, Laaks holt ihn ein. Lädt ihn ein. »Nein, Herr Oberlehrer.« Kohn zittert – »Wollen Sie ein Bad nehmen?« – »Ich habe schon gebadet.« – Mondlicht beleuchtet die beiden in der Badewanne. In haariger Nacktheit – seine behaarten Weiberbeine – ein Männerfreund.

*

III. Szene in homosexueller Kneipe.

(Siehst du, mein Junge, so ist das Leben – er kniff ihn zärtlich in den Hintern.)

*

IV. Abtreibungsszene.

Die Varietétänzerin Lola Lalà: Die kluge Frau sagte scherzend: Wenn Frauen auseinandergehen, dann bleiben sie noch lange stehn. – Auf Wiedersehn, mein Fräulein. Lola Lalà, alias Lene Levi läuft wie wahnsinnig.

*

V. Einbruchsszene bei Lola: – – – Der berufsmäßige Einbrecher Benjamin, der unter dem Bett lag, wußte nicht, was er dazu denken sollte. Sein Kopf schüttelte sich, dabei stieß der Hirnschädel einen sinnlosen Bettpfosten, der daraufhin einen starren Ton von sich gab. Der Mann Benjamin erschrak. Die Lampe fiel um. Gardinen brannten sofort.

Plötzlich hatte sich auch ihr (Lola Lalà) Körper erschreckt. Alles in der Fresse von schleckerndem Feuer. Lief hinaus. Tür zu. Schloß ab. Zweimal. Sinnlos. Plötzlich hinter der Tür Männerrufe, kläglich: Hilfe, Hilfe. Schrie sie: Mörder, Mörder, Mörder. Rannte. Auf der Straße im Frieden des Abends: Leute aus Häusern. Ratlos. Die Rennende an allen vorüber. Mörder, Mörder ... Eine Verrückte hinter ihr her. Einem Hundefänger gelang, sie zu fassen. Mörder, Mörder. Mit ihr in offener Droschke und durch die Stadt. Mörder, Mörder. Fenster auf, Wagen bleiben stehen. Gelaufe. In Irrenabteilung des Krankenhauses.

Inzwischen brennende Stube. Einbrecher Benjamin auf Fenster strampelnd: Hilfe. Unerlaubte Handlung. Hilfe. Da soll man nicht Sozialdemokrat werden. Heulend: Falle der Polizei, anständigen Menschen verbrennen lassen. Hilfe, Hilfe. Feuerwehr kommt. Hilfe. Wasser bespritzt ihn. Vom Regen in die Traufe. Kann ja auch gleich in den Fluß springen. Ersäuft.

Als die halbverweste Leiche aus dem Wasser gezogen wurde, fing der noch betrunkene Arzt an, faule Witze zu machen. Dr. Bryller übergab sich.

Alles Reden, Denken, Dichten ist unnütz; eine aus dem Wasser gezogene vor dir im Tode liegende Leiche macht alles Geschreibe zuschanden mit ihrer schrecklichen Verzerrtheit. Sieh, wie das Gesicht und die Hände im Krampf wie in Eisen gegittert sind! Wie sie schreiend aus sich heraus wollen!

*

VI. Irrenhausszene: Die rothaarige verrückte Schwester des Martin Müller (Maria).

»Die Erde wird dunkel«, sagte die verrückte rothaarige Schwester des Martin Müller, Maria. (Sie liebt ihren Bruder.) Den kleinen Kohn streichelt sie, aber: »Ich kann nur Heilige lieben«, sagt sie. Die Melodien des Abends, der wie Seidenschleier alles verhüllt: die grünen Bäume, den sehnsüchtigen Erdboden, die Bank mit dem rothaarigen Mädchen und dem kleinen Buckelkohn, – waren ringsum.

In der Irrenanstalt: Die eine Insassin war schon eine ziemlich angegraute Dame, die sagte: »Wenn man sich schon so lange hier aufhält, bleibt man da.« – Ein moderner Schriftsteller, der sich einbildet, er sei nur dort, um das Milieu zu studieren, in Wirklichkeit aber Gehirnerweichung hat. etc.

*

VII. Kohns erste Geliebte (auf Laaksens Veranlassung): Hysterische Person, die Wanzen krochen nur so in der Küche herum.

*

VIII. Das Ende des Dr. Bryller.

*

IX. Schriftsteller Schulz und Kokotte Kitty. («Nicht so laut«, sagte Kitty, als Schulz ihr von Gott erzählte.)

*

X. Vortrag des Gelehrten Neumann:

Sensation: Ein erst sechzehnjähriger Gelehrter namens Neumann spricht über Mutterschutz und Kindererziehung – – – scheint ihm hier nicht der Ort, über gefallene Mädchen zu reden – – – Die Frau hat eingesehen, daß ihr der Platz gebührt, auf den sie gehört – – – Das Elend der Prostitution – – Posierte Handbewegungen. Stimme. Augenbrauen in die Höhe ziehen. Ich muß mich in Extremen ausdrücken. Ich muß den Zionismus als eine besondere Abart der Prostitution entschieden verurteilen. Mutterschutz: Die Mutter muß gegen ihre Kinder geschützt werden (neue sensationelle Auffassung), sagte eine Dame.

– – – Sie, eine Germanistin, warf in die Debatte: »Wo du deinen Glauben gelassen hast, mußt du ihn holen.«

*

XI. Kohns zweite Geliebte: Backfisch (in der einen Hand hatte sie eine illustrierte Himmelskunde).

Er liebte sie in der Weise: er schrieb sich häufig auf, wenn sie etwas Komisches sagte, um es später zu verwenden (schriftstellerisch). Aber in einem Kaffeegarten an einem Teich – überall war schon Abend, und Dunst hing wie Schleier an den Bäumen und Tischen und Kellnern nahm er sein Notizbuch aus der ausgerissenen Innentasche seines Oberrockes und las ihr leise vor ... Sie lachte und er lachte – stiller und unglücklich. Jeder dachte: Das ist nicht das Richtige ... sie dachte noch: Der ist nicht innig ... Er dachte noch: Das arme Ding, wie fern ist sie mir ... dann gingen sie rudern.

*

XII. Kneipenszene in Nürnberg: Kunstmayer.

Alle selig besoffen, können kaum noch richtig sprechen. Lallen. Einer sagt: »Dede do dadä.« – – – Ob sichs lohnt um dieser tierisch Dahindösenden? – – – »Sieh, wie ein Ochsenauge ist der Blick dieses Arbeiters nach innen gekehrt«, sagte Paulus.

»Die oberen Zehntausend regieren die Welt«, brummte der Kellner bitter, dann spielte er eine wilde Variation von »Puppchen, du bist mein Augenstern« auf einer Mundharmonika. Von Zeit zu Zeit schlug er dann gegen eine Kante. Die Hand rieb er an einem Ärmel oder Hosenbein blank.

Karl Kunstmayer, heruntergekommener Kabarettist: Ich schweinigle gern ... – ein ganz famoser Kerl, philosophisch tip top, aber ist zu ideal – – –

Man war in wehmütiger Stimmung. Kunstmayer sang leise: »Das haben die Mädchen so gerne.«

*

XIII. Ertrinken im Meer.

Ich habe eine Angst, daß auch das Mädchen ersoffen ist. Nebenbuhler in dem Meer verunglückt (ertrunken). »Es ist gemein, daß man darüber höchstens ein Gedicht machen kann oder plötzlich den Schluß zu einer Geschichte findet«, schrie der tote Kohn. Während sie gingen, fanden sie überall weiße Sonderblätter der Zeitung über das Geschehnis. – – – »Das ist eine Brutalität«, sagte ein anderer. »Dies ist der richtige Ausdruck.« – »Endlich!« seufzte erlöst ein anderer. Kohn schrie: »Ich will aber keinen Schluß zu einer Geschichte haben. Das ist gemein. Ich komme von Sinnen. Aufpeitschen will ich. Quälen will ich euch, nicht euch befriedigen. Heulschreie müßt ihr aus euch stoßen. Ihr müßt euch auflösen in Schmerzen.« Der tote Kohn wurde nicht empfunden.

Detektiv Daniel

Ein Gewitter machte Krach. Der Detektiv Daniel fuhr aus dem Schlaf. Er sagte: »Die verfluchte Ruhestörung.« Da klopfte es erregt an die Tür. Die Tänzerin Lola Lalà fand sich ein.

»Es gibt viel zu wenig Einbrecher«, sagte der Detektiv Daniel. »Es gibt weniger Mörder, als man denkt«, sagte Daniel, die ängstliche Frau beruhigend.

Max Mechenmal

Er nahm das junge Ding, nachdem er sich erst nach dem Alter erkundigt hatte, nur erotisch überlegend, daß er zu ihr Liebesworte spreche und sich im stillen darüber lustig mache, also ein recht schlechter Kerl sei. Einigermaßen stolz auf die Erkenntnis seines schlechten Charakters, beruhigte er sich und beschloß, das Ding zu vergewaltigen.

Berthold Bryller

»Kuno Kohn ist dasselbe in Grün, was Else Lasker-Schüler in Blau ist«, sagte Bryller.

Wenn er ein Mädchen loswerden wollte, erzählte er ihr wunderschön-rührend von seiner Lues, stellte sich als Märtyrer dar, der um ihrer Gesundheit willen das Opfer bringe. Die meisten Mädchen hielten ihn weinend für einen bedeutenden und sehr edlen Menschen. Nur eine fragte einmal unverschämt, warum er das nicht vorher erzähle.

Gegensatz zwischen dem wurstigen gewandten Nihilismus Bryllers und der reinen Verzweiflung des Paulus.

Oberlehrer Laaks

Ich habe Sehnsucht, Liebe und was weiß ich für sie. – Da könnten komische Dinge geschehen.

Lola Lalà

Sie prahlte mit ihrer zeitweisen und teilweisen Unberührtheit.

Sie sagte: Wie gesagt, ich bin sichtlich erschrocken. – – – Ich finde dies mit Recht albern. – – – Diese wirklich kurzen Zeilen. – – – Er liebt mich nur erotisch. – – – Ich lüge ja immer. – – – Der hat mich sehr lieb. – – Jede Tänzerin hat bekanntlich einen Freund. – – –

Ideen, Bilder und Situationen

(Notizen)

»Ich bin ein Nihilist, wie er im Buch steht«, sagte er, erstaunt über das furchtbare Wort.

*

Ich gieße meine Augen in meiner Hände Grab.

*

Der Kopf sitzt, eine Geschwulst, auf einem ausgestopften Anzug. In einer Tasche eine prachtvolle Miniaturausgabe des Konkursrechtes, in der anderen ein wertvolles kleines Strafgesetzbuch.

*

Lampen, die Blumen der Nacht, glimmen.

*

Nackte Finger schleichen, spielende weiße Schlangen, hin zu einem Revolver. Und alle Männer blicken. Der Himmel fließt um die Nackte wie ein Tanzkleid. Sie schießt den Spiegel tot. – Schreit auf, hebt Hände. Aus zitronenfarbenem Himmel fällt ein Weiß in die grüne Erde.

*

Er spielte an einem Pickel über dem Halskragen, drückte wiederholt, so daß die Stelle rot wurde und aufschwoll, bis der Pickel platzte. Er besah den Eiter auf der Hand, zog ein Tuch aus einer Tasche, wischte die Hand ab, hielt das Tuch an die wunde Stelle, saß verloren traurig. »Der Mensch ist hochinteressant«, sagte eine hysterische Dame in dem Vorbeigehen.

*

Die Erde flackert irgendwo.

*

Mir passiert häufig beim Lesen einer kitschigen rosanen Geschichte, daß mir trotz des inneren Lachens ein Schauer durch den Körper geht.

*

Die Erde, das Vieh.

*

Ich bin in meinem schmerzenden Kopf.

*

Die Luft fliegt schmierig umher. Sie bleibt an den Häusern kleben und an den Händen der Menschen.

*

Sammlung: Berühmte Luetiker.

*

Ich will aufhören, langsam zugrunde zu gehen.

*

Daß geistige Leute sich nicht unterhalten können.

*

Weib ist nur ein Vorwand für namenlose Sehnsucht.

*

Ich liebe die Menschen, nicht Einzelne. Ich leide mit den Elenden um des Elends wegen.

*

Er fraß den Schlaf.

*

Gespräch: »Sie will sich töten.« Er: »Am sichersten wäre es.«

*

Ihre Augen lagen, leuchtender Schmuck, in ihrer Haut.

*

Ich bin ja nur ein armes, altes, dickes, schwaches Weib.

*

Ein Reiter ging, sich auf einen Regenschirm stützend, nachdenklich durch die sonnigen Straßen.

*

Ich bin mir überlegen.

*

Die Vielheit der Frauenzärtlichkeiten läßt erst das Ideal »Mein Weib« konstruieren. Man muß sich bewußt sein, daß tatsächlich – Gottseidank – ein ständiger Wechsel notwendig ist. Und eine ist am Strand – und eine liest am Abend – und eine – – –

*

Ein Pferd machte Laufschritt.

*

»Ich finde das unreif und schlecht beobachtet«, spricht Backfisch von erotischer Skizze.

*

»Der strengste Objektivismus ist die höchste Moral«, sagte mein Bruder, als er mich schlug. Das ist eine sehr edle Anschauung.

*

Idee zu einem Drama: Befriedigung ist auch das Letzte nicht.

*

Er sank hinunter. Tief, tief in einen Schlaf hinein wie in einen Sarg aus sanften Frauen.

*

Ein Vogel knarrte im Baum.

*

Auf einem hohen Berg lag ein bärtiger Kopf, neben ihm ein Bauch. Auf dem Bauch spielten fleischige Finger melancholisch mit einer dicken goldenen Kette, die wie Feuer glitzerte.

*

Augen und Sehnsucht: Schwarze Flammen aus dem Gesicht beleuchten die weiße Stirn, hinter der tausend mit Sehnsucht gefärbte Bilder funkeln.

*

In ihrem Hirn tanzte gerade ein schöner Geliebter.

*

Ihre Augen waren ein lichtbraunes Gewand.

*

Caféhaus: Alte fette Dirnen (Großmütter) mit schabiger Haut – baumelnde dicke Beine –, junge mit schwarzen Fingernägeln in neuen koketten Kleidern.

*

Er betete in die Luft, mit wundem Rücken und aufgerissenem Maul, er rief: »Mein Körper ist ein Bett, in dem gehurt wird.«

*

Manche Dirnen haben so viel sanft überlegene Mütterlichkeit um die Augen und sind die hilflosesten Kinder.

*

Der abgelehnte Geliebte: Er geht durch viele Straßen und Stunden. In jeder Verzweiflung. Stellt sich vor den Spiegel. Hat sich lieb.

Die Tiere

Schauspiel

Grundgedanke: Heilige Sehnsucht aus dem tierischen Triebleben zur seelischen Reinheit. Je größer der Dreck, desto heftiger die Sehnsucht. Aber vergebens: die Sehnsüchtigen gehen im Dreck unter.

Nur der Bürger, der sich über nichts schwere Gedanken macht und nichts tief empfindet, blüht im Dreck.


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