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Opfer der Arbeit

Einmal hatten wir mitten im Sommer keine Arbeit. Da sagte mein Vater, daß es jetzt Zeit wäre, meine Verwandten kennenzulernen. Sie wohnten im Wurmkohlenrevier bei Aachen. Nie war bei uns über diese Verwandten gesprochen worden. Der Vater erlaubte mir, die Reise zu Fuß zu machen, trotzdem ich noch keine achtzehn Jahre war. Es waren an sechzig Kilometer zu Fuß, und acht Tage durfte ich ausbleiben. Am Abend des zweiten Tages kam ich in das Bergmannsdorf. Als ich nach den Leuten fragte, sah man mich merkwürdig an und lächelte geheimnisvoll. So, daß ich vorzog, nicht zu sagen, daß es meine Verwandten waren. Die Nachbarn redeten miteinander. Einer bot sich an, mich hinzuführen, denn allein würde ich das Haus doch nicht finden.

Ein bewaldetes Tal war in die Landschaft eingeschnitten. Hoch von der Straße aus zeigte der Mann einen Pfad, von dem ich inmitten eines Gebüsches eine Hütte sah. Ich ging den Pfad hinunter. Die Abendsonne leuchtete mild, und die Vögel sangen. Das Tal war nach der kleinen, schmutzigen Kohlenstadt wie ein herrlicher Garten, und ich vergaß das merkwürdige Lächeln des Führers. Da lichtete sich das Gebüsch; auf einer kleinen Wiese weidete eine Ziege. Am Wegrand saß ein alter Mann. Er wandte den Kopf zu mir, sah voll und lang in mein Gesicht. Ich setzte mich zu ihm, fragte nach seinem Namen. Er nickte nur, sah mich wieder lange an und nannte mich Matthias. Er wunderte sich immer nur, daß ich noch so jung sei. Dann würde ich die Altersrente sicher nicht bekommen, er bezöge sie schon seit vielen Jahren.

Unter ungläubigem Kopfschütteln, Beschauen, Befragen, sah ich, anfänglich mit Entsetzen, daß er mich für meinen Vater hielt. Er besah sich meine Hände und sagte, der Zeigefinger sei aber wieder schön angewachsen, den hätte ich doch in der Grube verloren. So ums Jahr sechsundsiebzig. Eifrig und anschaulich schilderte er, wie der Finger verlorenging und wußte sogar noch, daß die Maschine aus Jupille in Belgien gekommen war. Er beschrieb den Anzug, den der Vater an jenem Tag trug, so deutlich, daß ich ihn von einer Fotografie, der einzigen, die es aus Vaters Jugendzeit gab – wiedererkannte. Immer wieder wunderte er sich, daß ich so wenig gealtert, während er doch schon seit vielen Jahren seiner Haare wegen der »Weiße« genannt wurde.

Aber als ich ihm eine Fotografie unserer Familie zeigte, auf der Vater und Mutter und meine sechs Geschwister abgebildet waren, da fing er an zu weinen und sagte, er begreife nicht, warum der liebe Gott alle Brüder und Schwestern, ja, seinen Vater und die Mutter, so jung erhalten hätte und nur ihn so alt gemacht. Ich wollte ihm erklären, daß der vermeintliche Vater sein Bruder Matthias und ich des Matthias Sohn, sein Neffe, sei, aber er wollte nichts von diesen Lügen wissen. Gott habe ihn zu Unrecht bestraft; er sei doch immer nur ein braver Schmied gewesen und jeden Sonntag in die Kirche gegangen.

Die Ziege schaute bei dem lauten Weinen des Greises auf und rieb ihren Kopf an des Alten Gesicht. Da schlug er den Arm um den Kopf der Ziege und weinte, während das Tier die salzigen Tränentropfen leckte. Als er aufstand und ging, drängte die Ziege mich eifersüchtig beiseite. Unsägliche Traurigkeit beschlich mich. Ich wurde für meinen Vater gehalten. Mir war, als fühlte ich mich schon verwandelt, als durchpulste mich fremdes Blut und Gefühl. Ich gedachte zu fliehen, die kommende Nacht weiterzumarschieren. Ich tastete über mein Gesicht, als müsse ich die Falten des Vaters auf meiner Stirn wiederfinden, seinen Bart fühlen und die leere Höhle seines linken Auges. Wir gingen ins Haus. »Dat is Matthias!« sagte der alte Onkel, »der Matthias is gekommen! Gerhard, Gott hat mich gestraft, Matthias ist jung und ich bin alt! Oh, Gerhard, was hab ich verbrochen, daß er mich so straft!«

»Goden Ovend, Nonk!« grüßte eine Männerstimme, »dat is schön, dat du uns besuchst! Mar, du bist der Nonk Matthias nicht, du bist zwanzig Jahr, – sein Junge bist du, ja, der weiße Heinrich ist vierundsiebzig. Er ist dein Patohm! Ja, alles ist wunderbar! Wunderbar! Henn! Das glaubt kein Mensch nicht, da bricht die große Flamme durch den Stollen, frißt die Stempel auf, daß sie flammen und sinken, – die Stollenwände sind glühend, der Berg brennt, Kohlenwände glühen! Hinter dir die gewaltige Flamme, die brennende Erde hinter dir, und rennst du vor der Flamme, und die Flamme rennt und donnert hinter dir her, – und da steht der Mensch, tief unten in der Erde, auf Sohle vierhundert, und schaut hinauf durch den offenen Schacht in den hellen, lebendigen Tag, – und siehst du oben am Himmel die Sterne gehen, – und in der Nacht der Erde die lebendige Flamme hinter dir und durch den dunklen Schacht am hellen Tag die Sterne, ja die Sterne, die Sterne ...«

Er hob die Arme in die Höhe, warf den Kopf in den Nacken, während sein Leib sich in der Bewegung atemloser Flucht aufbäumte; er streckte sich aus, reckte sich hoch, spreizte die Finger, als bete er ein Wunder an, und dann sank er ruckweise zusammen, murmelnd: »Die Sterne, ja die Sterne!« – Dann fiel er mit leisem Wimmern auf den Boden nieder.

Der Alte kam und lächelte. »Ja, Matthias, auch den hat Gott gestraft! Aber Gerhard ist aufgefahren in den Himmel, durch den schwarzen Schacht in den Himmel, an dem man am hellen Tag die Sterne sehen kann, – er ist jetzt glücklich. Komm, setz dich an den Tisch!« Er nahm mich an der Hand, schritt über den liegenden Vetter weg, und im Halbdunkel des Raumes sah ich einen Tisch stehen, eine Kaffeetasse stand auf der Platte, halbvoll, aber so schief, daß sie an einem Rand überlief. Da erst merkte ich, daß der Boden des Raumes schräg war, daß die Schränke schief standen und die Mauern; nun wußte ich, daß Bodensenkungen den Raum so verwandelt hatten. Ungeachtet des Menschen, der am Boden lag und stöhnte, zündete der Alte das Feuer an, ging und molk die Ziege, stellte Teller auf den Tisch, brockte Brot und wärmte die Milchsuppe.

Der Alte setzte sich, aß und nickte mir freundlich zu. Als er den Teller zur Hälfte geleert hatte, sagte er zu dem Vetter: »Gerhard, Anna ist da!« Auf das Wort »Anna« erwachte der Bewußtlose, sagte mit erhobener Stimme: »Anna«, sah sich um und verschloß die Augen mit den Händen. Dann schüttelte er sich, stellte sich langsam auf die Füße, klopfte die Kleider rein und setzte sich an den Tisch.

Als der Alte eine kleine Öllampe angezündet auf den Tisch stellte, war mir nichts mehr fremd. Ohne Neugier oder Beklommenheit aß ich mit gutem Hunger. Ich gewöhnte mich an die Regelmäßigkeit, mit der der Vetter, wo er ging oder stand, zwischen allen Verrichtungen – mitten im Erzählen – die Hände hob und in fast feierlicher Ekstase wie eine Beschwörung die Worte aus sich herausstieß: »O Wunder! Das glaubt kein Mensch nicht! Da bricht die große Flamme durch den Stollen, frißt die Stempel auf, daß sie flammen und sinken, die Stollenwände glühen, die Wände brennen, Kohlenwände glühen. Hinter dir die Flamme, gewaltige Flamme, und die Flamme donnert; und da steht der Mensch tief unten auf der Sohle vierhundert und schaut hinauf durch den schwarzen Schacht in den hellen, lebendigen Tag, da oben am Himmel die Sterne gehen und in der Nacht der Erde die lebendige Flamme hinter dir, und durch den schwarzen Schacht die Sterne, ja die Sterne, die Sterne...«

Ich blieb drei Tage bei ihnen, ging in dem Geheimnis, wie die beiden selber ohne Neugier. Hörte sie reden, von unwirklichen Dingen, in Worten, wie ich sie nie hörte, oft nur Klang, nur Erinnerung an Bilder und Geschehnisse, rhythmisches Raunen, in Verzückung und Hingerissenheit, in Angst und Wildheit, in allen Formen von Temperament und Wahn. Es ist mir nicht bewußt geworden, als was ich gelebt in den drei Tagen und Nächten. Ich weiß nur, daß ich mitschwang und die Flamme fühlte, die durch die glühende Erde jagte und den Bergmann zum Schacht trieb; zu dem Schacht, dem eine Explosion das Fördergerüst weggerissen.

Ganz gelegentlich sagte mir später die Mutter, daß der Bruder des Vaters durch einen niederfallenden Eisenträger verwundet wurde und seitdem sein Gehirn krank sei; der Vetter habe bei einem Grubenbrand den Verstand verloren. Die zwei hätten sich zusammengetan und lebten von der Unfall- und Altersrente.

»Die Arbeit frißt sie alle – alle Lerschs frißt die Arbeit auf. Sein Bruder Anton ist schon als Junge durch übergroßes Lastenheben und Tragen am Bruch gestorben. Gerhard und Arnold sind wie der Vater, ewig hinter Erfindungen und Maschinen her – wollen alles verbessern, alles erneuern. Am Tag überm Amboß, in der Nacht über der Zeichnung – keine Ruhe kennen sie, keine Rast, keine Familie, keinen Sonntag – immer ist ihr Kopf oder sind ihre Hände an der Arbeit. Darum bringen sie es zu nichts, verspekulieren, verspintisieren alles, was sie erarbeiteten. Darum wollt ich, du wärst ein richtiger Techniker geworden! Aber, nun werdet auch ihr alle Kesselschmiede – mag Gott euch vor den Maschinen beschützen!«


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