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In unwahrscheinlich ferner Vorkriegszeit ist einmal, so berichtet eine heitere Überlieferung, ein liberaler Reichstagskandidat mit der lethargischen Kleinbahn in ein bremisches Dorf gereist, um die Bauern zur Fahne der »Freien Vereinigung liberaler Reichstagswähler« zu bekehren.
Lüder Wohlers, Besitzer der Ausspann- und Gartenwirtschaft »Zum grünen Jäger«, hatte zwar einen Tanzsaal, aber er hatte kein Rednerpult. Und ohne Rednerpult keine Bekehrung zur Fahne; wer wüßte das nicht?
»Das schadt'n abers nix«, sagte Lüder Wohlers. »Denn nehmen wir'n Torfkorb, un da decken wir denn'n Teppich über, un da stellen wir denn 'ne Leiter an, un da kann er denn dscha raufklabastern. Un wenn er das nich will, denn kann er dscha meintswegen Butter lecken gehn.«
Der liberale Reichstagskandidat wollte. Er klabasterte etwas mühsam rauf, und er redete, wie es der Herr ihm gegeben hatte, um die Bauern von den absoluten Werten der relativen Weltanschauung zu überzeugen. Aber es quälte ihn, daß ihren verkniffenen Mündern keine irgendwie geartete Meinungsäußerung zu entlocken war.
104 »Eure politische Überzeugung«, rief er leidenschaftlich, »muß so fest sein, wie der Boden, auf dem ich stehe.« Und er tat zur bekräftigenden Erläuterung einen nachdrücklich stampfenden Tritt.
Da nun gab der Boden, auf dem er stand, krachend nach, und der Mann verschwand jäh und gänzlich im Innern des Wohlersschen Torfkorbes; rauschend schlugen die Wellen des Teppichs über ihm zusammen, zugleich mit einem brausenden Gelächter, dessen Gedröhn über allerlei Ereignisse hinweg als heiteres Symbol zu uns herübertönt. 105
Das war Tölke Büssenschütt, Kirchendiener und Totengräber in Gnarrenstedt: ein wahrhaft frommer Mann und strenges Oberhaupt einer wahrhaft frommen Familie, bestehend aus seiner Frau Aleid und fünf springlebendigen, aber kreuzbraven Kindern. Für alle diese Mitglieder seines Hausstandes hatte Büssenschütt eines Sonntags (nach der Kirchzeit natürlich) einen Leiterwagen, zwei kernige Rösser und einen angemessenen Vorrat Butterkuchen bereitgestellt, um eine erholsame Fahrt über Land anzutreten. Die Gäule indessen, der übernommenen ernsten Aufgabe keineswegs sich bewußt und mithin durchaus unwürdig, unternahmen plötzlich einen ausschweifenden Galopp und kippten den Wagen um: So daß die Familie Büssenschütt jäh, aber sanft in einen tiefen und wohlgefüllten Muddgraben befördert wurde.
»Na«, sagte der Pastor lächelnd, als Büssenschütt ihm den Vorfall berichtete, »man sieht, der Herr verläßt die Seinen nicht. Aber es war wohl gar nicht so einfach, wieder herauszukrabbeln?«
»Mit dem Rauskrabbeln war das nich so eilig«, versetzte Büssenschütt. »Eers sind wir mal alle sitzen geblieben und haben ›Nun danket alle Gott!‹ gesungen.« 106
Ein philosophischer ländlicher Maurer hatte auf einem bremischen Bauernhofe einen Backofen errichtet und wanderte, nachdem er sein Werk betrachtet und gut befunden hatte, zufrieden und ehrbar heimwärts.
Als er zweihundertundfünfzig Schritte entfernt war, brach der Backofen gänzlich wieder zusammen.
Die Bauersfrau sauste mit klappernden Holzpantoffeln und knatternder Schürze hinter dem Erbauer her: »Meister! Meister! Der Ofen ist dscha all wieder umgefallen!«
Der Biedere wandte sich und sprach mit einem ernsten Seufzer:
»Dscha, lüttsche beste Frau, was hält 'r denn ewig?« 107
Als der gute alte Petersen noch die Dörfer des bremischen und oldenburgischen Landes bereiste, um der Lebensmittelgroßhandlung meines Vaters die Bestellungen der ländlichen Krämer zuzuführen, gab es die »Verkehrsmittel« heutiger Prägung im wesentlichen nur in den Wunschträumen revolutionärer Geister. Dagegen gab es Moorgegenden, die selbst für einen Mann von der abgehärteren Zähigkeit des alten Petersen nicht ganz leicht zugänglich waren. Da mußte denn unter anderen der alte Meyerdierks in Grasdorf helfen, der mit Fahrzeugen aller gängigen Typen aufwarten konnte.
»Liber Herr Petersen«, schrieb der alte Meyerdierks eines Tages an den alten Petersen. »Theile ihnen hierdurch mit, das ich den kleinen jachtwagen von Dr. Huenerhoff gekauft habe und fahre Ihnen gern im Moor. Da geht es über Alles im Trabe über weg. Solten sie aber Bedenken haben in so einen kleinen Wagen zu fahren theile ihnen hierdurch mit, das ich die Vertretung der Oldenburger Lebensversicherung habe und nehme ich ihnen ganz gerne auf.« 108
Wenn man eine Ware, die einem geliefert wird, aus irgendeinem Grunde nicht haben will, so »stellt man sie zur Verfügung«. Das kann man, je nach Neigung und Veranlagung, höflich oder unfreundlich tun. Der Krämer Garbade in Wörpeberg, mit dem mein Vater sich über eine Lieferung geschälter Erbsen veruneinigt hatte, tat es in einer ausgesprochen groben Form.
Garbade schrieb. »Die erpsen die Sie mir geschickt haben, können Sie Sich am Hute stecken.«
Mein Vater war nicht empfindlich; aber dieser Brief verletzte ihn. Er antwortete: »Ihr gefl. Schreiben vom 27. d. M. lag heute um 9 Uhr vor mir, um 9 Uhr 5 Minuten hinter mir.« 109
Als der alte Sengstake noch dem Weidwerk und den damit verbundenen Freiheiten huldigte (der alte Sengstake war verheiratet), behauptete die boshafte Sage, daß es für jagdbare Tiere beiderlei Geschlechts völlig ungefährlich war, ihm zu begegnen, wohingegen die weibliche Jugend der jüngeren Jahrgänge . . . Aber das gehört nicht in diese Geschichte.
Eines Abends betrat er nach der Pirsch das Gastzimmer des Bahnhofshotels zu Wörpeberg und rief dem alten Doktor Bestenbostel, der eben hinterm Dämmerschoppen saß, voll Stolz zu:
»Wissen Se schon, was ich heute geschossen habe?«
»Dscha«, sagte der Doktor, »das weiß ich ganz genau. Ich hab den Mann dscha in Behandlung.« 110
Der Herr aus Bremen, der in Kleinsehlte zur Jagd eingeladen war, suchte sich beim alten Förster Bollendonk über gewisse Voraussetzungen bei der Erkenntnis jagdbaren und vielleicht sogar schießbaren Getiers zu unterrichten.
»Herr Förster«, sagte er, »kann man das wohl ümmer gleich unnerscheiden, ob en Hase, ob das 'n Hase oder 'ne Häsin is?«
»Das können Sie haarscharf können Sie das erkennen«, versetzte Bollendonk.
»Och –! Und wie?«
»Sie schießen da auf. Wenn er denn wegläuft, denn is es en Hase, un wenn sie denn wegläuft, denn is es 'ne Häsin.« 111
»Bei die Dschagdpächters«, sagte der alte Förster Bollendonk, »da waren dscha früher manchmal welche bei, daß unsereins das kalte Schuddern kriegte. Mal hatten wir einen, der kam aus'r Stadt, und er war Viehhändler, und wenn er aus'm Zug stieg, denn sah man zuerst die Nase, das andere kam eers viel später, aber das schadete nichts. Man konnte es missen. No, das Wild trat dscha meist aus seinem Revier in die Staatsforsten über, denn so'n Tier, das was auf sich hält, zieht dscha fachmännische Behandlung vor. Bloß – wir hatten damals noch Wildschweine hier in'r Gegend, und da war'ne prachtvolle alte Sau bei, die ich persönlich sehr schätzte. Im stillen hatte ich ümmer Angst, daß 112 sie dem Viehhändler mal begegnete, und daß er sich an ihr vergriff.
No, eines Tages hat sie ihn denn dscha auch mal getroffen. Und wissen Se, was da passiert is? Sie is auf ihn zugekommen und hat ihn angekuckt, und denn hat sie sich ihm ganz friedlich vore Füße gelegt und hat behaglich gegrunzt und is eingeschlafen. Angst hat sie kein büschen gehabt; sie hat ihm gleich angesehn, daß er ihr gar nich durfte.« 113
Der städtische Heidewanderer, der sich im Gasthof »Zu den drei Linden« in Moorbergen zur Rast niederließ, erfreute den Wirt Lüer Seebode durch eine begeisterte und ausführlich begründete Lobpreisung der landschaftlichen Gegebenheiten.
»Aber«, so schloß er einschränkend, »ich habe mich doch darüber gewundert, daß hier im ganzen Revier nicht ein einziges Stück Wild zu sehen war. Gibt es hier denn gar keins?«
»Och doch«, versetzte Lüer Seebode, »früher, da hatten wir dscha so'n Stücker drei, vier Hasen; aber der Dschagdpächter aus Verden, der hat da dscha ümmer auf geschossen, un da sünd sie denn dscha schließlich weggegangen.« 114
In Sanddorf, das zwar nicht nach der Bestimmung der Landkarte, aber nach dem Gesetz der Sprache und der Menschenbeschaffenheit zu Bremen gehört, sah sich einmal der Ortsvorsteher und Klostermüller Diedrich Kühsel vor der Aufgabe, einen von der preußischen Regierung entsandten neuen Landrat zu begrüßen. Er hatte sich in mehrwöchiger Arbeit eine kernige Ansprache aufgebaut, die der besonderen geschichtlichen, wirtschaftlichen und ideellen Rolle Sanddorfs im Rahmen des preußischen Staates ausführlich gerecht wurde. Diese – vom Pastor wie vom Gemeindeschäfer gleichermaßen gutgeheißene – Ansprache hatte er in weiterer mehrwöchiger Arbeit zuverlässig auswendig gelernt; so trat er, prall umschlossen von dem schwarzen Gehrock, den der Schneider Sophus Schnakenberg festlich aufgebügelt hatte, den leicht ins Rötliche spielenden »Ziehlinner« im steif gewinkelten rechten Arm, aus der Gruppe der versammelten Honoratioren auf den Landrat zu und holte zur Ansprache aus.
Der Landrat, noch auf dem Trittbrett der Kutsche, in der er die erste Rundfahrt durch sein neues Reich erledigte, musterte die Abordnung kühl und gemessen durch sein funkelndes Einglas, sah die Rede auf sich 115 zukommen, gebot mit lässig erhobener Hand Einhalt und sagte knapp:
»Bitte kurz.«
Diedrich Kühsel klappte den Mund zu, schluckte seine Ansprache hinunter, machte mit kurzem Ruck eine eckige Verbeugung und sagte:
»Gu'n Morgen.«
Hierauf hieb er sich den Zylinder auf den Schädel und trat in die Gruppe der Honoratioren zurück.
Der Landrat stutzte, besann sich, ließ das Einglas fallen, lüftete sein Jägerhütchen und sagte:
»Hähä. Famos.«
Sie wurden gute Freunde. 116
Gerd Wischhusen, Großbauer zu Grasdorf, lebte mit seiner Frau Gesche in betrüblichem Unfrieden. In der Beurteilung der Schuldfrage ergaben sich im Dorf natürlich starke Meinungsgegensätze; Pastor Meiners indessen, bei dem eine lange und erfolgreiche Ehe alle männliche Überheblichkeit ausgerottet hatte, und zwar so gründlich, daß diese Wirkung auch über den Tod seiner Gattin hinaus anhielt – Pastor Meiners neigte dazu, die Hauptschuld an der Unverträglichkeit bei Gerd und nicht bei Gesche zu suchen. Infolgedessen entschloß er sich zu einem offenen und kraftvollen Wort von Mann zu Mann.
»Und deshalb, mein lieber Wischhusen«, schloß er, »meine ich: Versuchen Sie es mit Langmut und Großzügigkeit. Zeigen Sie sich für das Glück, das die Frau dem Manne schenkt, durch Duldsamkeit erkenntlich. Ich meine zu wissen, daß Ihre liebe Frau ein prächtiger Mensch ist, mit dem sich müßte auskommen lassen.«
»Zo –?« versetzte Gerd Wischhusen trocken. »Meinen Sie das, Herr Pastohr? No, denn will ich Sie mal'n Vorschlag machen. Sie sind dscha Witwer; da geht das dscha. Nehmen Sie ihr mal'n Vierteldschahr mit. Un denn wollen wir uns wiedersprechen.« 117
Harm Töbelmann, Schuster zu Grasdorf, begab sich eines Tages zu Pastor Meiners als zu dem für ihn zuständigen Seelsorger und sagte:
»Herr Pastohr! Metta Sägelken, was die Nähterin is, das is ne feine Deern, aber sie will mir nich so recht. Ich mach Sie ganz für umsonst en Paar Plüschschuhe, wenn Sie uns zusammenkriegen.«
»Mein lieber Töbelmann«, sagte Pastor Meiners, »es ist ein schönes und gottgefälliges Werk, eine gute Ehe zu stiften, und es bedarf dazu des irdischen Lohnes nicht. Verlassen Sie sich ganz auf mich.«
Genau ein halbes Jahr später erschien Harm Töbelmann abermals bei Pastor Meiners und sagte:
»Herr Pastohr! Vor 'n halbes Jahr hab ich Sie 'n Paar Plüschschuhe gemacht, weil daß Sie mir mit Metta Sägelken zusammengebracht hatten, und die waren dscha auch schön, und Sie haben sie dscha auch an. Herr Pastohr! Ich mach' Sie ganz für umsonst en Paar langschäftige Stiefel, wenn Sie mir von Metta wieder von abhelfen.« 118
Als vor langer, langer Zeit einmal mit freundlicher Genehmigung des Bremer Senats die Streitmacht eines benachbarten (deutschen) Landes auf bremischem Gebiet übte, geschah etwas überaus Peinliches. Ein Soldat dieser Heeresgruppe stahl ein Huhn, um seinen Ernährungsanteil damit aufzubessern. Die Untat wurde entdeckt, bestraft und wiedergutgemacht; aber dem zuständigen Oberst schien damit der Fleck auf seiner Soldatenehre nicht getilgt, und er litt darunter. Beim Abmarsch aus dem Quartierdorf kam er daher noch einmal auf den Vorfall zurück: Er bedaure ihn tief und könne nur bitten, ihn zu vergessen.
Hier nahm der Ortsvorsteher Ehler Kleybohm das Wort zu einer Entgegnung, die aufgezeichnet zu werden verdient, da sie zeigt, wie leicht man, vom Schwung einer guten Absicht getrieben, auf ein falsches Gleis fahren kann. Ehler Kleybohm nämlich sagte herzlich:
»Och, Herr Oberst, das ischa nu mal passiert, un das soll dscha nu gut sein, un da wollen wir gar nich mehr von sprechen. Gestohlen hat dscha nich der Soldat, gestohlen hat der Mensch; un Menschen sünd wir dscha alle.« 119
Dora Kattau, Tochter des Geestbauern Lüer Kattau, von jeher ein eigenwilliges Mädchen, hatte die Besonderheit so weit getrieben, daß sie einem sehr gesunden Sohne das Leben gab, ohne sich zuvor der kirchlichen und standesamtlichen Voraussetzungen zu versichern. Pastor Meiners begab sich kummervoll zu dem nach seiner Meinung bemitleidenswerten Großvater, um mit ihm den traurigen Fall, wenn auch nachträglich, so doch seelsorgerisch zu erörtern.
»Jejajija, Herr Pastohr«, sagte Lüer Kattau und klopfte mit bemerkenswerter Gelassenheit seine Pfeife an der Ofenkante aus, »was mein' Tochter Dora is, das is 'n ganz besonneres Stück Mensch. Den Kopf, den hat sie dscha ümmer ganz hoch oben zu sitzen, abers mit das annere Leibgestell, da rutscht sie denn dscha wohl mal mit aus.« 120
Ein Herr aus Bremen, der sich irgendwo an der Unterweser erging und etlicher Briefmarken bedürftig war, entdeckte an einem ländlichen Kramladen ein Schild mit der amtlichen Aufschrift: »Verkauf von Postwertzeichen«. Er trat ein, kaufte, um die pessimistisch aussehende Inhaberin ein wenig aufzuheitern, eine Tafel Schokolade und verlangte dann zwei Zwölfpfennigmarken.
»Die hab ich augenblicklich gar nich da«, sagte die Frau traurig.
»Dann geben Sie mir vier Sechser«, sagte der Herr.
»Och«, versetzte die Frau noch trauriger, »die sünd'r dscha auch nich.«
Der Kunde verzweifelte noch nicht. »Also – sechs Vierer oder – warten Sie mal – acht Dreier.«
»Die kriegen wie alle ers wieder«, sagte die Frau hoffnungslos.
Nun riß dem Kunden die Geduld: »Dann möchte ich aber wirklich mal wissen, weshalb bei Ihnen ›Verkauf von Postwertzeichen‹ am Hause steht.«
Die Frau legte den Kopf auf die Seite und sagte mit tiefbetrübter Zustimmung, die von stiller Beugung unter das Schicksal zeugte: »Tschä, nich, das sagen Se man.« 121
Als das große Gewitter blauschwarz und mit bösartig dumpfem Knurren bis dicht an Lüttjenbüttel heran war, so dicht, daß schon das erste angstvolle Gewisper durch die hitzedürren Blätter rauschte, nahm der Bauer Cord Meybohm die Kappe ab, wischte sich mit dem rot und blau gewürfelten Baumwolltuch über die fast schon bis zum Hinterkopf ausgedehnte Stirn und sagte zu seiner Frau:
»Aleid, ich glaube, diesmal kricht es uns bei'n Kanthaken. Es wär'n reines Wunner wär das, wenn das nich einschlagen täte, un bei so was weiß man nie, ob man hinterher denn noch auf seine zwei Beine nach'r Brandkasse hingehen kann. Da mein ich nu, wir sollten es da nich auf ankommen lassen, daß wir so mit alle unsere Sünnen in die Grube fahren. Wir haben nu zweiendreißig Dschahre mit'nanner gelebt, un das war dscha auch gut und orntlich; aber da is doch am Enne noch so manches, was der Eine von'n Annern nich weiß. Das wollen wir uns nu mal beichten, un du fängst an, weil daß du dscha in so'n Fall gewissermaßen den Vortritt hast.«
»Cord«, sagte seine Frau, »da magst du dscha wohl recht an haben, un ich will dich da nich in gegen sein. Aber wieso muß ich da denn nu mit anfangen?«
122 »Aleid«, sagte Cord, »das is von wegen den Anstand. In Fällen der Gefahr muß man ümmer die Frauens voranlassen.«
»Cord«, sagte Aleid, »denn hilft das dscha woll nich.«
Und sie begann zu beichten. Immer, wenn ein greller Blitz die Finsternis zerfetzte und die Dönze von schmetterndem Donnergekrach erbebte, sagte sie »uguttugutt« oder »nu is es so weit« und zog wimmernd die Schürze über den Kopf; aber Cord sorgte jedesmal mit raschem Griff dafür, daß die Fortsetzung der Beichte durch kein akustisches Hindernis beeinträchtigt wurde. Die Pfeife war ihm längst ausgegangen, manchmal schmunzelte er, manchmal sagte er »nu kuck mal einer an!« – manchmal schlug er sich schallend aufs Knie und japste: »Hitt di dat Dunnerwär!« Er wurde in dieser Stunde um zweiunddreißig Jahre klüger.
»Cord«, sagte Aleid schließlich, »nu hab ich dich allens gesagt, un nu kömmst du!«
Cord Meybohm stand auf, schob die Kattungardine zur Seite, sah hinaus, lächelte und versetzte:
»Aleid, da kömmt woll mal'ne annere Gelegenheit für. Ich glaube, da achtern klärt es sich all so'n ganz klein büschen wieder auf.« 123
Seit vierzig Jahren verbrachten die beiden, der früh verwitwete Häusler Dierk Tietjen mit dem beträchtlich zu kurzen linken Bein und der einspännige Schäfer Hinrich Bommelmann, der »öber'n Weg« in einer schiefen Kate wohnte, die Stunden nach Feierabend in wortkarger Gemeinschaft. Krieg und Frieden, Liebe und Haß, Hochzeit und Kindtaufe, Freundschaften und Prozesse, Leben und Tod in ihrer vermeintlichen Gegensätzlichkeit hatten das Dorf Lüttjenbüttel mit ihren Erregungen erfüllt, soweit das in Lüttjenbüttel möglich war. Dierk Tietjen und Hinrich Bommelmann hatten ihren unvermeidbaren Anteil daran bekommen. An ihrer Verbindung hatte das keinen einzigen Tag lang etwas geändert. Im Winter und an kalten Abenden saßen sie auf Tietjens Ofenbank, an warmen Abenden auf der Bank vor Tietjens Strohdachhaus. Sie rauchten stumm ihre Kalkbrösel und betrachteten – an warmen Abenden den Himmel, an kalten Abenden das Torffeuer. Schließlich erhoben sie sich – im Sommer um neun, im Winter um halb zehn –, klopften ihre Pfeifen aus – im Sommer an der Gartenbank, im Winter an der Ofenbank –, spuckten ein letztes Mal aus – im Sommer in den Sand, im Winter in die Asche –, sagten »Gonacht« und gingen zu Bett.
124 Als sie mitsammen sagenhaft steinuralt geworden waren, verspürte Dierk Tietjen eines Abends kurz vor dem Abschied das unbezähmbare Verlangen, für das Wesen dieser Gemeinsamkeit einen erklärenden Satz zu finden.
»Hinrich«, sagte er, »wie kömmt das einklich wohl, daß wir uns ümmer so gut vertragen haben?«
Hinrich Bommelmann sah gelassen an ihm vorbei, so daß man nicht hätte sagen können, ob das schwimmende Blaßblau seiner Augen ihre natürliche Farbe oder der Widerschein des Abendhimmels war.
»Dierk«, sagte er, »das will ich dich sagen. Das kömmt daher, weil daß wir im Grunne nie viel vonenanner gehalten haben.« 125
Ein wißbegieriger Stadtbewohner, der vernommen hatte, daß in Kleinsehlte die Leute in unzerstörbarem Gemütsgleichgewicht ein sagenhaftes Alter erreichen, machte sich dorthin auf, um die Wahrheit der Kunde zu erforschen. Im Gasthaus »Zur kühlen Rast« traf er den Bauer Timm Klatte. Er saß hinter seinem Wacholder und schmökte heiter seinen Brösel.
»An die achtzig bün ich dscha nu so langsamerhand rangekommen,« sagte er.
»Oh –!« rief der Städter bewundernd. »Und noch so rüstig!«
»Jejajija, das geht ümmer noch so jichtens hin«, nickte Timm Klatte und kippte rüstig den gespendeten Wacholder. »Aber da sollten Sie ers mal meinen Vadder sehn; der is hunnertzwei un tanzt noch die dschüngsten Deerns aus'r Puste.«
»Is dscha woll nich möglich!« rief der Städter.
»Inwieso is das nu wohl nich möglich?« fragte Timm Klatte. »Ich würde dscha sagen, Sie sollten meinen Großvadder fragen – der is hunnertsechsundzwanzig. Abers den treffen Sie dschetz nich, der is bei'm Heuen.«
»Also nu wird es mir aber zu bunt!« rief der wißbegierige Stadtbewohner zornig. »Sie wollen mich wohl für dumm verkaufen?«
126 »Wär am Enne gar nich mal'n schlechtes Geschäft«, meinte Timm Klatte. »Abers wenn Sie mich das nich zu glauben, dennso fragen Se mal Paster Rotermund. Der sitzt vorne in'r Gaststube. Un der hat uns alle getauft.«
Der Frager kehrte stumm an seinen Ausgangspunkt zurück. 127
Als der Bauer Klaus Budelmann in Wörpeberg den neuen Knecht angenommen hatte, mußte er eine Frage beantworten: Wie es denn wohl des Morgens mit dem Aufstehen wäre? Ob es damit sehr genau genommen würde?
Klaus Budelmann sah den Frager ernst an.
»Aufzustehen brauchst du garnich«, sagte er. »Du kannst liegen bleiben. Mal hatten wie hier Einen, der blieb auch liegen. Reineweg liegen blieb der. Abers der is nu tot.«
»War er denn krank?« fragte der Knecht.
»Krank war der nich«, versetzte Klaus Budelmann. »Der is verhungert.« 128
Auf den einsamen Moorhöfen, die im Winter oft monatelang durch eine Einöde aus Wasser, Eis und Morast von der Welt getrennt sind, hat sich der Brauch herausgebildet, droben auf dem Dachboden ein paar bretterne Behältnisse für des Menschen sterbliches Teil vorrätig zu halten; denn oft genug geschieht es, daß ein Moorbewohner, der sich im Winter auf die letzte Pilgerfahrt macht und den Reiseweg der Seele längst hinter sich gebracht hat, dort oben geduldig warten muß, bis das Tauwetter seinem Leibe den Reiseweg zum weitabgelegenen Friedhof gestattet.
Nun darf niemand etwas Böses oder Häßliches darin erblicken, daß die Moorbäuerinnen diese leeren Behausungen aus Tannenholz oft dazu benutzen, Vorräte für den Winter aufzubewahren. Denn ist es ein gar so widersinniger Gedanke, daß eine Truhe, die den Stoff für des Leibes Nahrung umschließt, endlich dazu bestimmt ist, eben diesen Leib aufzunehmen, wenn er den irdischen Hunger überwunden hat?
Der Altenteiler Klaus Kämena mußte, als er am Ofen seine letzte Pfeife geraucht hatte, vier Wochen auf die Reise zum Kirchhof warten. Danach gab es den herkömmlichen Leichenschmaus, und die Bäuerin, seine Schwiegertochter, schickte ihren Zwölfjährigen auf den 129 Dachboden, um sich von den Backpflaumen holen zu lassen, die – – – aber das wissen wir schon.
Nach wenigen Minuten kam Dierk kreidebleich wieder herunter und sagte:
»Oh, Mutter, was haben wir denn nu gemacht? Nu haben wir die Backpflaumen eingekuhlt, und Großvadder steht da noch!« 130