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Seine Aufwärterin war ein junges, schlankes, rehfüßiges, immer heitres und lustiges Mädchen. Ihre Gutherzigkeit war ohne Grenzen, ihr Wuchs so schön als er sein konnte, ihr Gesicht nicht fein, aber die ganze Seele malte sich darin. Diese Ehrlichkeit, dieses sorgenfreier unendlich Aufmunternde in ihrem Auge verbreitete Trost und Freude auf allen Gesichtern, die sie ansahen; lesen mochte sie nicht, aber desto lieber tanzen, welches ihre Lebensgeister in der ihr so unnachahmbaren Munterkeit erhielt. In der Tat war ihr gewöhnlicher Gang fast ein beständiger Tanz, und wenn sie sprach, jauchzte sie, nicht um damit zu gefallen, sondern, weil das herzliche innerliche Vergnügen mit sich selbst und ihrem Zustande keinen andern Ausweg wußte. In ihrem Anzug war sie immer sehr reinlich, und an dieser Tugend sowohl, als selbst im Geschmack, ließ sie ihre Gebieterin unendlich weit hinter sich. – Wie vieles kommt auf den Augenblick an, zu wie vielen schrecklichen Katastrophen war nur die Zeit, die Verbindung kleiner, oft unwichtig scheinender Umstände die Lunte! Ach, daß unsere Richter, vielleicht in spätern bessern Zeiten, der göttlichen Gerechtigkeit nachahmend, auch dies auf die Waagschale legten, nicht die Handlung selbst, wie sie ins Auge fällt, sondern sie mit allen ihren Veranlassungen und zwingenden Ursachen richteten, eh' sie sie zu bestrafen das Herz hätten! – In einem der Augenblicke, wo die menschliche Seele an all ihrem Glück verzagt, brachte Marie (so hieß die Aufwärterin) Zerbinen den Kaffee aufs Zimmer. Der Herr des Hauses war eben mit seiner ganzen Familie zu einem Landfestin zwei Stunden vor der Stadt herausgefahren, von dem er vor Abend nicht wiederkam. Zerbin hatte den Morgen einem Bürger, der ihm zu einem Spazierritt schon vor einer Woche das Pferd geliehen, den letzten Groschen aus dem Beutel gegeben; es fiel ihm, als er sie tanzend hereintreten sah, ein, indem die Empfindung des Mangels kalt und grauenvoll über ihm schwebte, dieses gutartige holde Geschöpf könne wohl in dem Augenblick ebenso bedürftig sein, und aus Größe der Seele, oder aus jungfräulicher Schüchternheit, ihren Verdruß über das lange Außenbleiben seiner Bezahlung verbeißen: er fragte sie also mit einem ziemlich verwilderten Gesicht: »Jungfer! ich bin Ihr ja auch noch schuldig; wieviel beträgt's denn?«
Ob sie nun aus seiner Miene geschlossen, daß ihm die Bezahlung itzt wohl schwerfallen dürfte, oder ob etwas in ihrem Herzen für ihn sprach, das nur wünschte durch eine Handlung der Aufopferung sich ihm weisen zu können – genug, sie wußte mit einer so eigenen Naivetät ein erstauntes Gesicht anzunehmen, die Hände so bescheiden zu falten, so beklemmt zurückzutreten, daß Zerbin selber drüber irreward. »Sie mir schuldig, mein Herr? seit wann denn? – Woher denn?« – »Hat Sie mir nicht fünf Gulden von Ihrem Lohn geliehen – und nachher noch fünfe von Ihrer guten Freundin verschafft?« – »Sie träumen. Ich glaube, die gelehrten Herren haben zuweilen Erscheinungen.« – »Ich muß es Ihr bezahlen, Jungfer. Ich will meine Uhr versetzen.« – Um meinen Leserinnen und Lesern dieses Betragen unserer artigen Bäuerin in ein besseres Licht zu setzen, müssen wir hier erinnern, daß sie Tochter eines der reichsten Schulzen aus einem benachbarten Dorf war, und nicht sowohl wegen des Lohns, als wegen alter Verbindlichkeiten, die ihr Vater dem Herrn vom Hause hatte, bei ihm diente.
Sie setzte sich hierauf in eine noch feierlichere Stellung, und tat die schrecklichsten Schwüre, daß er ihr nichts schuldig wäre; er sprang auf, weinte für Scham, Wut und Dankbarkeit; sie fing mit an zu weinen, sagte, wenn er wieder was nötig hätte, sollte er sich nur an sie wenden, sie hätte einen reichen Vaterbruder in der Vorstadt, sie würde schon Mittel finden, etwas von ihm zu bekommen; er schloß sie in seine Arme; ihr bebenden Lippen begegneten sich – Einsamkeit, Stille, Heimlichkeit, tausend angsthafte, freudenschaurige Gefühle überraschten sie; sie verstummten – sie gleiteten – sie fielen.
Diese Trunkenheit des Glücks war die erste und einzige, die Zerbinen für seine Lebenszeit zugemessen war, um ihn in desto tieferes Elend hinabzustürzen. Zwar wußten beide auch nachmals noch Gelegenheit zu finden, ihre Zärtlichkeiten zu wiederholen; aber wie der erste Schritt zum Laster, so mit Rosen bestreut er auch sein mag, immer andere nach sich zieht, so ging es auch hier. Zerbins hohe Begriffe von der Heiligkeit, aufgesparten Glückseligkeit, von dem Himmel des Ehestandes verschwanden. Die Augen fingen ihm, wie unsern ersten Eltern, an aufzugehen, er sah alle Dinge in ihrem rechten Verhältnis, sah bei der Ehe nichts mehr, als einen Kontrakt zwischen zwei Parteien aus politischen Absichten. Hortensia und ihr steifes Betragen hatte nun in seinen Augen gar nichts Widriges mehr, da der Vater eine ansehnliche Stelle im Magistrat bekleidete, und zehntausend Taler mitgeben konnte: er ward vernünftig. Er hatte die Liebe seiner Marie zum voraus eingeerntet; Liebe schien ihm nun ein Ingrediens, das gar nicht in den Heiratsverspruch gehörte; die große Weisheit unserer heutigen Philosophen ging ihm auf, daß Ehe eine wechselseitige Hülfleistung, Liebe eine vorübereilende Grille sei; eine Mißheirat schien seinem aufgeklärten Verstande nun ein ebenso unverzeihbares Verbrechen, als es ihm ehemals der Ehebruch und die Verführung der Unschuld geschienen hatten. In ein Dörfchen zu gehen, und mit seinem freundlichen Mariechen Bauer zu werden – oder dem Vorurteil aller honetten Leute in Leipzig Trotz zu bieten und seine schöne Bäuerin im Angesicht all seiner galanten Bekanntschaften zu heiraten – welch ein unförmlicher Gedanke für einen Philosophen, dem itzt erst die Fackel der Wahrheit zu leuchten anfing, der itzt erst die Beziehungen der Menschen, die Abweichungen der Stände, die Torheiten phantastischer junger Leute, die Irrtümer der Phantasei, und das unermeßliche Gebiet der Wahrheit im echtesten Licht übersah! Von dieser Zeit an faßte er den Entschluß, Professor der ökonomischen Wissenschaften, nebenan des Naturrechts, des Völkerrechts, der Politik und der Moral, zu werden. Saubere Moral, die mit dem Verderben eines unschuldigen Mädchens anfing! Er räsonierte nun ungefähr also:
»Der Trieb ist allen Menschen gemein; er ist ein Naturgesetz. Die Gesellschaft kann mich von den Pflichten des Naturgesetzes nicht lossagen, als wenn diese den gesellschaftlichen Pflichten entgegenstehen. Solange sie sich damit vereinigen lassen, sind sie erlaubt – was sage ich? sie sind Pflicht. Ich darf also die Achtung, die ich der Gesellschaft schuldig bin, nicht aus den Augen setzen. Folglich: wenn ich Marien dahin bringen kann, daß sie um einige Zeit eine Reise zu ihren Verwandten vorschützt, so sie insgeheim nach Berlin führe, wo ich gleichfalls meinen Vater zu besuchen habe, ihr dort ein Zimmer miete, das Kind auf die Rechnung meiner künftigen Erbschaft von dem und dem alten Bekannten meines Vaters in der Stille erziehen lasse – unterdessen wiederkomme und eine reiche Partie – Marie bleibt immer mein, und je verstohlner wir nachher zusammenkommen, desto süßer – Liebe hat ihre eigene Sphäre, ihre eigene Zwecke, ihre eigene Pflichten, die von denen der Ehe himmelweit unterschieden sind.«
Er setzte sich sogleich hin, an seinen Vater zu schreiben, ihm durch die unvermutete Entdeckung, daß er noch lebte, eine Freude zu machen, und sich zugleich für seine bedrängten Umstände, und zu einer Reise nach Berlin, eine Hülfe von hundert Friedrichd'or auszubitten. In diesem Augenblick trat Marie ins Zimmer. Er kleidete ihr sein Projekt in solche lügen- und schmeichelhafte Farben ein, daß sie mit Tränen in alles willigte. Wiewohl sie ihm die Freuden eines eingezogenen, schuldlosen Lebens, in einem Dorf, wo ihr Vater ihn mit beiden Händen würde aufgenommen haben, mit Worten vormalte, die Steine erweicht haben würden: aber seine Politik drang diesmal durch. Sie wollten sich in Berlin so lange aufhalten, bis sein Vater tot wäre, und er förmliche Anstalten zu einer öffentlichen Verheiratung mit ihr machen könnte. Sie ergab sich endlich in seine höheren Einsichten, warf sich in seine Arme, drückte ihm ihre Liebe nochmals auf die Lippen, und erhielt von ihm die Versiegelung seiner noch immer ebenso heftigen Leidenschaft.
Alles ging gut: er fing hierauf an, statt der verdrüßlichen Lehre von Potenzen und Exponenten, ein Kollegium über die Moral und eines über das Jus Naturae zu lesen, das ihm gar kein Kopfbrechen kostete, und ungemein gut von der Lunge ging. Er bekam einen Zulauf, der unerhört war, und es währte kein halbes Jahr, so ließ er für seine Lesestunden ein neues Kompendium der philosophischen Moral, gepfropft aufs Natur- und Völkerrecht, drucken, das in allen gelehrten Zeitungen bis an den Himmel erhoben ward. Unterdessen blieb das arme Mariechen, die Veranlassung aller dieser Revolutionen, ein unglückliches Mittelding zwischen Frau und Jungfer; ihre glückliche Lustigkeit verlor sich; die Rosen auf ihren Wangen starben; die Zeit ihrer Entbindung nahte heran; Zerbin fing an verlegen zu werden, wenn sie auf sein Zimmer trat. Ein unangenehmer Vorfall kam noch dazwischen.
Dem Hause des Herrn Freundlach gegenüber lag ein Kaffeehaus, das Hohendorf sowohl, als Altheim, in der Zeit ihrer ersten Bekanntschaft mit Renatchen, gleich nach dem Essen gewöhnlich zu besuchen pflegten. In der Zeit des Noviziats, da es bei beiden noch immer hieß:
Ich aber steh, und stampf, und glühe, Und flieg im Geiste hin zu ihr, Und bleib, indem ich zu ihr fliehe, Stets unstet, aber immer hier, Weil, bis mich Glück und Freundschaft retten, Die oft ein langer Schlaf befällt, Mich hier, mit diamantnen Ketten, Das Schicksal angefesselt hält. |
Uz. |
Obzwar Hohendorf itzt fast gar keinen Zutritt in dem Hause mehr hatte, oder doch wenigstens von dem Idol seiner Wünsche allemal sehr frostig empfangen ward: so blieb doch ein gewisser Zauber um dieses Kaffeehaus schweben; er fühlte allemal nach dem Essen einen geheimen Zug hinzugehen, von dem er sich selbst nicht Rechenschaft zu geben wußte. Da sah er denn sein geliebtes Renatchen sehr oft mit Altheimen am Fenster, und rächte sich, oder glaubte sich mit verachtungsvollen Blicken recht herzlich an ihnen zu rächen. Altheim selbst kam auch noch bisweilen dahin, wenn Renatchen etwa sich nicht sprechen ließ, oder einen Besuch bei einer Verwandtin machte, die er nicht wohl leiden konnte, weil sie beiden immer so spitzfindige Reden gab.
An einem dieser Nachmittage kam Hohendorf mit Altheim in einem Billardspiel, wo mehrere Personen um den Einsatz spielten, in einer sogenannten Guerre zusammen, und es traf sich unglücklicherweise, daß die beiden Nebenbuhler grade aufeinander folgen mußten. Hohendorf, der schon lang eine Gelegenheit an Altheim suchte, machte, ohne daß es ihm selbst Vorteil brachte, seinen Ballen, welches wider die Regel vom Spiel ist. Altheim zeigte seinen Verdruß darüber; Hohendorf schüttelte lächelnd den Kopf; als die Reihe wieder an ihn kam, machte er, nun wirklich unversehens und wider Willen, den Ballen des Altheim zum andernmal. Altheim, fest versichert, daß dies in der Absicht geschehe, ihn zu beleidigen, warf ihm den Billardstock ins Gesicht; sie griffen nach den Degen; man trennte sie; den andern Morgen ritten sie vor der Stadt hinaus ins Rosental, sich auf Pistolen zu schlagen, wo Altheim so glücklich oder so unglücklich war, seinen Gegner zu erlegen, und sich ungesäumt aus dem Staube machte, ohne nachher, weder seiner Geliebten, noch unserm Zerbin, seinem Mentor, jemals mit einer Silbe Nachricht von sich zu geben.
Zerbin wußte also auch die anderweitigen Schulden, die er, auf die Rechnung der vom Grafen zu bekommenden rückständigen Pension, gemacht hatte, nicht zu bezahlen; er mußte eine ganz andre Haushaltung anfangen. Um seinen Hausherrn in guter Laune zu erhalten, redete er nun, bisweilen rätselhaft, bisweilen ziemlich deutlich, von gewissen Absichten, die er auf seine Tochter hätte, deren Jugend und Schöne sehr stark zu sinken anfing. Sobald Marie bei ihren geheimen Zusammenkünften sich unruhig darüber bezeigte, wußte er sie mit der Notwendigkeit dieser Maskerade zufrieden zu sprechen, damit ihn der Herr des Hauses nicht wegen Hausmiete und Kostgeld mahnte, welches in der Tat auch nicht erfolgte, und seine Sicherheit und stillschweigende Verbindlichkeit gegen Hortensien immer größer machte. Seine ganze Hoffnung, der letzte Anker, den er ausgeworfen, stand nun auf die Antwort von seinem Vater. Man stelle sich Mariens Entzücken vor, als sie ihm selbst den Brief aus Berlin von dem Posthause brachte, und den Übergang zu ihrer Verzweiflung, als sie nun aus seinem Munde hörte, daß auch hier der Tau zerrissen sei. Sein Vater war, durch einen der kühnsten Diebstähle, da man ihn selbst und seine alte Magd geknebelt hatte, rein ausgeplündert worden, und itzt im allerkümmerlichsten Mangel, da er, wegen seines bekannten Wuchers, bei niemand einmal Mitleiden fand. Er bat seinen Sohn, ihn, wo möglich, mit Geld zu unterstützen, oder zu sich nach Leipzig kommen zu lassen. Es blieb Marien nichts übrig, als Weinen und Schluchzen; sie warf sich ihm zu Füßen; er sollte mit ihr in ihr Dorf gehen, um ihr bei ihrem Vater Vergebung zu verschaffen. Alles war umsonst; er stellte ihr vor, daß eine Geschichte von der Art, wenn sie bekannt würde, ihn unfehlbar um seine Stelle bei der Universität bringen würde, daß er sich durch sein Ansehen, durch seinen Kredit, durch seine Gelehrsamkeit wohl noch so weit bringen würde, sein berlinisches Projekt mit ihr auch hier in Leipzig auszuführen, daß er ein Werk unter der Presse hätte, für welches ihm der Buchhändler dreihundert Taler geboten, daß er die zur Erziehung des Kindes verwenden wolle, daß sie ihm versprechen solle, sich an ihre Freundin in der Vorstadt zu wenden, ihr ihren Zustand zu gestehen, eine schleunige Krankheit bei ihr vorzuschützen, unter dem Vorwand in ihrem Hause zu bleiben, bis die Entbindung vorüber wäre, und unter der Zeit eine andere Magd in ihre Stelle zu mieten usw. Sie versprach alles aus Liebe zu ihm; sie ging von ihm, fest entschlossen, allen möglichen Stürmen des Schicksals Trotz zu bieten, um ihm seine Ehre und guten Namen in der Stadt zu erhalten; an den ihrigen dachte sie nicht einmal. Ihre Hände noch naß von den Tränen, mit denen er sie beschworen hatte, die Sache geheimzuhalten, dachte, sah, begriff sie keine Schwierigkeiten bei dieser Sache, fing sogleich an, den Anfang ihrer Rolle zu spielen, und sich bei ihrer Jungfer über Kopfweh und Fieberschauer zu beklagen. Den Nachmittag hatte sie den Plan gemacht, ihrer Freundin einen Besuch zu geben, und da, gleich als ob sie unvermutet von einem hitzigen Fieber überfallen wäre, sich zu Bette zu legen.