Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
(1909)
… Die Sozialdemokratie baut ihre ganze Weltanschauung auf dem wissenschaftlichen Sozialismus, d. h. dem Marxismus auf. Die philosophische Grundlage des Marxismus bildet, wie es Marx und Engels wiederholt erklärt haben, der dialektische Materialismus, der die historischen Traditionen des Materialismus des 18. Jahrhunderts in Frankreich und desjenigen Feuerbachs Ludwig Feuerbach (1804-1872) – deutscher Philosoph, erst Anhänger von Hegel, dann Materialist, führte den Beweis (im »Wesen des Christentums«), daß die Herrschaft von Religionssystemen über den menschlichen Geist zu Ende sei. Das höchste Ziel des Menschen ist in ihm selbst und im irdischen Leben enthalten. Außerhalb desselben gibt es kein anderes Leben. In seiner Gottesvorstellung schaut der Mensch nur seinen eigenen idealisierten Gattungsbegriff an und hält ihn im Glauben für wirklich. Sein materialistischer Standpunkt versperrte Feuerbach den Weg zur bürgerlich-akademischen Laufbahn. (erste Hälfte des 19. Jahrhunderts) in Deutschland völlig übernommen hat, – eines Materialismus, der absolut atheistisch, jeder Religion entschieden feindlich gegenübersteht. Wir erinnern daran, daß der ganze Engelssche »Anti-Dühring«, den Marx im Manuskript durchgelesen hat, den Materialisten und Atheisten Dühring Eugen Dühring (1833-1921) – deutscher Philosoph und Nationalökonom, vertrat den Standpunkt der Klassenversöhnung und des steigenden Anteils der Arbeiterklasse am gesellschaftlichen Wohlstand. In seinem Werk »Anti-Dühring« unterzog Engels die Lehren D.s einer vernichtenden Kritik. der Inkonsequenz seines Materialismus zeiht, weil er der Religion und der Religionsphilosophie Hintertürchen offen läßt. Wir erinnern ferner daran, daß Engels in seinem Werk über Ludwig Feuerbach letzterem den Vorwurf macht, daß er die Religion bekämpft habe, nicht um sie abzuschaffen, sondern um sie aufzufrischen, um eine neue »erhabene« Religion zu erfinden und dergleichen. Die Religion ist Opium für das Volk – dieser Marxsche Spruch ist der Eckstein der ganzen Weltanschauung des Marxismus in Fragen der Religion. Der Marxismus betrachtet alle heutigen Religionen und Kirchen, alle und jegliche religiösen Organisationen stets als Organe der bürgerlichen Reaktion, die zum Schutze der Ausbeutung und der Betäubung der Arbeiterklasse dienen.
Zu gleicher Zeit jedoch verurteilte Engels wiederholt die Versuche jener Leute, die »linker« oder »revolutionärer« als die Sozialdemokratie sein und in das Programm der Arbeiterpartei ein direktes Bekenntnis zum Atheismus im Sinne einer Kriegserklärung an die Religion aufnehmen wollten. 1874, bei der Besprechung des berühmten Manifestes der Kommune-Flüchtlinge, der Blanquisten
Blanquisten – Anhänger des französischen Revolutionärs und Sozialisten Blanqui; sie glaubten den Umsturz der Gesellschaft nicht durch bewußtes organisiertes Vorgehen der werktätigen Massen selbst, sondern durch Aufstände geheimer, eng begrenzter Verschwörerorganisationen herbeiführen zu können., die als Emigranten in London lebten, behandelt Engels ihre lärmende Kriegserklärung an die Religion als Dummheit und meint, eine solche Kriegsansage sei das beste Mittel, um das Interesse für die Religion neu zu beleben und das tatsächliche Absterben der Religion zu erschweren. Engels wirft den Blanquisten Unfähigkeit vor, weil sie nicht begreifen, daß nur der Klassenkampf der Arbeitermassen, dadurch, daß er die breitesten Schichten des Proletariats allseitig in eine klassenbewußte und revolutionäre gesellschaftliche
Praxis hineinzieht, imstande ist, wirklich die unterdrückten Massen vom Joche der Religion zu befreien, während die Proklamierung des Krieges gegen die Religion als politische Aufgabe der Arbeiterpartei eine anarchistische Phrase ist. Auch 1877, im »Anti-Dühring«, wo Engels erbarmungslos die geringsten Zugeständnisse des Philosophen Dühring an den Idealismus und die Religion geißelt, verurteilt er nicht minder entschieden den angeblich revolutionären Gedanken Dührings, der die Religion in der sozialistischen Gesellschaft verboten wissen wollte. Der Religion einen solchen Krieg anzusagen, meint Engels, heißt, »Bismarck selbst überbismarcken«, d. h. die Dummheit des Bismarckschen Kampfes gegen die Klerikalen wiederholen (gemeint ist der berüchtigte »Kulturkampf«, d. h. der Kampf, den Bismarck in den 70er Jahren gegen die Partei der deutschen Katholiken, das »
Zentrum«, durch Polizeiverfolgungen geführt
hat). Durch diesen Kampf
festigte Bismarck nur den streitbaren Klerikalismus der Katholiken, schädigte er nur die Sache der wirklichen Kultur, denn er rückte statt der politischen Trennungen die religiösen in den Vordergrund und lenkte so die Aufmerksamkeit gewisser Schichten der Arbeiterklasse und der Demokratie von den dringenden Aufgaben des Klassen- und Revolutionskampfes in der Richtung eines ganz oberflächlichen und bürgerlich verlogenen Antiklerikalismus ab. Indem Engels dem ultrarevolutionär sein wollenden Dühring vorwarf, in anderer Form dieselbe Dummheit Bismarcks wiederholen zu wollen, verlangte er von der Arbeiterpartei die Fähigkeit, geduldig an der Organisierung und Aufklärung des Proletariats zu arbeiten, einer Sache, die zum Absterben der Religion führt, und sich nicht in das Abenteuer eines politischen Krieges gegen die Religion zu stürzen. Dieser Standpunkt ist der deutschen Sozialdemokratie in Fleisch und Blut übergegangen, und so sprach sie sich z. B. für die Jesuitenfreiheit, für deren Zulassung in Deutschland, für die Aufhebung aller Polizeimaßnahmen gegen diese oder jene Religion aus. »Erklärung der Religion zur Privatsache«, dieser berühmte Punkt des Erfurter Programms
Das
Erfurter Programm der deutschen Sozialdemokratie wurde 1891 auf dem Erfurter Parteitag an Stelle des veralteten Gothaer Programms angenommen und diente als Vorbild für die Programme vieler ausländischer sozialdemokratischer Parteien, darunter auch für die russische.
Wie die Nachkriegs-SPD den Satz »Erklärung der Religion zur Privatsache« auslegt, ermesse man an folgendem Tiefsinn Sollmanns (im August-Heft 1927 der »Gesellschaft«, S. 128): »Der tiefere Grund und Sinn des berühmten Satzes von der Religion als Privatsache ist, daß der Marxismus mit den verschiedensten Weltanschauungen vereinbar ist.« (!) (1891) hat diese politische Taktik der Sozialdemokratie auch programmatisch festgelegt.
Inzwischen ist diese Taktik bereits zur Routine geworden und hat eine neue Verballhornung des Marxismus in entgegengesetzter Richtung, in der Richtung des Opportunismus, erzeugt. Man begann den Grundsatz des Erfurter Programms in dem Sinne auszulegen, daß wir Sozialdemokraten, daß unsere Partei die Religion als Privatsache betrachten, daß die Religion für uns als Sozialdemokraten, für uns als Partei Privatsache sei. Ohne sich in eine direkte Polemik gegen diese opportunistische Auffassung einzulassen, hat Engels in den neunziger Jahren es für notwendig gehalten, sich entschieden gegen sie zu wenden, nicht in polemischer, sondern in positiver Form. Engels tat es nämlich in Form einer von ihm absichtlich unterstrichenen Erklärung, daß die Sozialdemokratie wohl die Religion als Privatsache betrachte in bezug auf den Staat, keineswegs aber in bezug auf sich selbst, in bezug auf den Marxismus, in bezug auf die Arbeiterpartei Engels im 1891 erschienenen Vorwort zu Marx, »Der Bürgerkrieg in Frankreich«: »Reformen, die die republikanische Bourgeoisie nur aus Feigheit unterlassen hatte, die aber für die Aktion der Arbeiterklasse eine notwendige Grundlage bildeten, wie die Durchführung des Satzes, daß dem Staat gegenüber die Religion bloße Privatsache sei.«.
Das ist die äußere Geschichte des Auftretens von Marx und Engels in der Religionsfrage. Für Leute, die den Marxismus nachlässig behandeln, Leute, die nicht denken können oder wollen, ist diese Geschichte ein Knäuel sinnloser Widersprüche und Schwankungen des Marxismus: ein Brei aus »konsequentem« Atheismus und »Nachsicht« gegenüber der Religion, ein »prinzipienloses« Schwanken zwischen dem r-r-revolutionären Krieg gegen Gott und dem feigen Wunsch, den gläubigen Arbeitern nach dem Munde zu reden, der Angst, sie abzuschrecken usw. usw. In der Literatur der anarchistischen Phraseure kann man gar manche in diesem Stil gehaltene Ausfälle gegen den Marxismus finden.
Wer aber einigermaßen fähig ist, sich dem Marxismus gegenüber ernsthaft zu verhalten, sich in seine philosophischen Grundlagen und in die Erfahrungen der internationalen Sozialdemokratie hineinzudenken, der wird mit Leichtigkeit einsehen, daß die Taktik des Marxismus in bezug auf die Religion höchst konsequent und von Marx und Engels durchdacht ist, daß dasjenige, was Dilettanten und Ignoranten für Schwankungen halten, eine direkte und unvermeidliche Schlußfolgerung aus dem dialektischen Materialismus ist. Es wäre grundfalsch, wollte man glauben, daß die scheinbare »Mäßigung« des Marxismus in bezug auf die Religion ihre Erklärung findet in sogenannten »taktischen« Erwägungen im Sinne des Wunsches, »nicht abzuschrecken« und dergl. Im Gegenteil, die politische Linie des Marxismus ist auch in dieser Frage untrennbar mit seinen philosophischen Grundlagen verknüpft.
Marxismus ist Materialismus. Als solcher steht er der Religion genau so schonungslos feindlich gegenüber wie der Materialismus der Enzyklopädisten Enzyklopädisten nennt man die Mitarbeiter an der berühmten französischen Enzyklopädie (Sachwörterbuch der Wissenschaften), einem Werk, das das gesamte wissenschaftliche Material in materialistischem Geiste zusammenfaßte und 1751-72 unter der Redaktion von Diderot und d'Alembert erschien. des 18. Jahrhunderts oder derjenige Feuerbachs. Das steht fest. Aber der dialektische Materialismus von Marx und Engels geht weiter als die Enzyklopädisten und Feuerbach, indem er die materialistische Philosophie auf die Geschichte, auf die Sozialwissenschaften anwendet. Wir müssen gegen die Religion ankämpfen. Das ist das Abc des gesamten Materialismus, folglich auch des Marxismus. Doch der Marxismus ist nicht Materialismus, der beim Abc stehengeblieben ist. Der Marxismus geht weiter. Er sagt: man muß es verstehen, die Religion zu bekämpfen, und dazu muß man den Ursprung des Glaubens und der Religion bei den Massen materialistisch erklären. Der Kampf gegen die Religion darf nicht auf eine abstrakt ideologische Propaganda beschränkt werden, man darf ihn nicht auf eine solche Propaganda reduzieren, man muß diesen Kampf mit der konkreten Praxis der auf die Beseitigung der sozialen Wurzeln der Religion gerichteten Klassenbewegung in Zusammenhang bringen. Warum hält sich die Religion in den rückständigen Schichten des städtischen Proletariats, in breiten Schichten des Halbproletariats sowie in der Masse der Bauernschaft? Infolge der Unwissenheit des Volkes, antwortet der bürgerliche Fortschrittler, der Radikale oder der bürgerliche Materialist. Also: nieder mit der Religion, es lebe der Atheismus! Die Verbreitung atheistischer Anschauungen ist unsere Hauptaufgabe. Der Marxist sagt: falsch. Eine solche Auffassung ist oberflächliche, bürgerlich beschränkte Kulturträgerei. Eine solche Auffassung erklärt die Wurzeln der Religion nicht tief genug, nicht materialistisch, sondern idealistisch. In den modernen kapitalistischen Ländern sind diese Wurzeln hauptsächlich sozialer Natur. Das soziale Niedergedrücktsein der werktätigen Massen, ihre scheinbar absolute Ohnmacht gegenüber den blinden Kräften des Kapitalismus, der den gewöhnlichen arbeitenden Menschen täglich und stündlich tausendmal mehr fürchterlichste Leiden und entsetzlichste Qualen zufügt als alle außerordentlichen Ereignisse, wie Krieg, Erdbeben usw. – das ist es, worin die tiefste heutige Wurzel der Religion zu suchen ist. »Die Furcht hat die Götter erzeugt Ein von Feuerbach in der 4. Vorlesung seines »Wesen der Religion« zitierter Vers eines römischen Dichters..« Die Furcht vor der blinden Macht des Kapitals, die eine blindwaltende Macht ist, weil sie von den Volksmassen nicht vorausgesehen werden kann, die auf Schritt und Tritt den Proletarier und kleinen Eigentümer bedroht und über sie »plötzlich«, »unerwartet«, »zufällig« Ruin, Untergang, Verwandlung in einen Bettler, einen Pauper, eine Prostituierte bringt, sie dem Hungertode preisgeben kann und dies auch tatsächlich tut – das ist der Ursprung der heutigen Religion, den der Materialist vor allem und am meisten im Auge haben muß, will er nicht in den Kinderschuhen des Materialismus steckenbleiben So betonte Lenin in einem Artikel des »Sozialdemokrat« zur Zeit des Weltkrieges (am 26. Juli 1915): »Der Krieg muß in den Massen unbedingt die stürmischsten Gefühle hervorrufen, die den üblichen Zustand der Psychologie des Schlafes durchbrechen … Welches sind die Hauptströme dieser stürmischen Gefühle? 1. Schrecken und Verzweiflung. Daher – Stärkung der Religion. Die Kirchen beginnen sich von neuem zu füllen – frohlocken die Reaktionäre. ›Wo Leiden sind, da ist Religion‹, sagt der Erzreaktionär Barrès. Und er hat Recht« (siehe Lenin, Sämtliche Werke, Bd. XVIII, S. 226).. Keine Aufklärungsbroschüre wird die Religion aus den durch die kapitalistische Zwangsarbeit zermürbten, von den blinden zerstörenden Kräften des Kapitalismus abhängigen Massen ausmerzen, solange diese Massen nicht selbst gelernt haben werden, vereint, organisiert, planmäßig, bewußt gegen diese Wurzel der Religion, gegen die Herrschaft des Kapitals in allen ihren Formen anzukämpfen.
Folgt aber daraus, daß Aufklärungsbroschüren gegen die Religion schädlich oder überflüssig sind? Mitnichten. Daraus folgt etwas ganz anderes. Daraus folgt, daß die atheistische Propaganda der Sozialdemokratie ihrer Grundaufgabe untergeordnet sein muß, nämlich der Entfaltung des Klassenkampfes der ausgebeuteten Massen gegen die Ausbeuter.
Wer sich nicht in die Grundlagen des dialektischen Materialismus, d. h. der Philosophie Marx' und Engels' vertieft hat, der kann diesen Grundsatz mißverstehen (oder wenigstens nicht sofort verstehen). Wie denn das? Soll denn die geistige Propaganda, die Propagierung gewisser Ideen, der Kampf gegen jenen Feind der Kultur und des Fortschritts, der sich seit Jahrtausenden hält (d. h. der Kampf gegen die Religion), dem Klassenkampf, d. h. dem Kampf für bestimmte praktische Ziele auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet untergeordnet werden?
Das ist einer jener landläufigen Einwände gegen den Marxismus, die ein völliges Nichtbegreifen der Marxschen Dialektik beweisen. Der Widerspruch, der die so Argumentierenden verwirrt, ist der lebendige Widerspruch des lebendigen Lebens, d. h. es ist ein dialektischer, kein bloß in Worten bestehender, ausgedachter Widerspruch. Eine absolute, unüberbrückbare Schranke zwischen der theoretischen Propaganda des Atheismus, d. h. der Vernichtung des religiösen Glaubens bei gewissen Schichten des Proletariats, und dem Erfolg, dem Verlauf, den Bedingungen des Klassenkampfes dieser Schichten aufrichten – heißt undialektisch denken, heißt dasjenige, was eine bewegliche, relative Schranke ist, in eine absolute Schranke verwandeln, heißt gewaltsam das voneinander trennen, was in der lebendigen Wirklichkeit untrennbar verbunden ist. Nehmen wir ein Beispiel. Das Proletariat eines gegebenen Gebietes und eines gegebenen Industriezweiges teilt sich, sagen wir, in eine fortgeschrittene Schicht ziemlich klassenbewußter Sozialdemokraten, die natürlich Atheisten sind, und in ziemlich rückständige Arbeiter, die noch mit dem Dorfe und der Bauernschaft verbunden sind, die an Gott glauben, in die Kirche gehen oder gar noch unter dem direkten Einfluß des Ortsgeistlichen stehen, der, sagen wir, einen christlichen Arbeiterverein gründet. Angenommen ferner, daß der Wirtschaftskampf in diesem Orte zu einem Streik geführt hat. Der Marxist muß unbedingt den Erfolg der Streikbewegung in den Vordergrund rücken, muß entschlossen in diesem Kampfe einer Trennung der Arbeiter in Atheisten und Christen entgegenarbeiten, muß energisch eine solche Trennung bekämpfen. Atheistische Propaganda kann unter solchen Umständen nicht nur überflüssig, sondern schädlich sein – nicht vom Standpunkt der spießbürgerlichen Erwägungen aus, man könnte die rückständigen Schichten abschrecken, das Wahlmandat einbüßen usw., sondern vom Standpunkt des wirklichen Fortschritts des Klassenkampfes, der in der Situation der modernen kapitalistischen Gesellschaft die christlichen Arbeiter hundertmal besser zur Sozialdemokratie und zum Atheismus bringen wird als die nackte atheistische Propaganda. Der Prediger des Atheismus würde in einem solchen Moment und unter solchen Umständen nur den Pfaffen Vorschub leisten, die nichts sehnlicher herbeiwünschen, als die Einteilung der Arbeiter nach ihrer Beteiligung am Streik durch eine solche nach ihrem Glauben an Gott zu ersetzen. Der Anarchist, der den Krieg gegen Gott um jeden Preis propagiert, würde in Wirklichkeit den Pfaffen und der Bourgeoisie helfen (wie ja die Anarchisten in Wirklichkeit stets der Bourgeoisie helfen). Der Marxist muß Materialist sein, d. h. ein Feind der Religion, aber ein dialektischer Materialist, d. h. ein solcher, der den Kampf gegen die Religion nicht abstrakt, nicht auf den Boden einer abstrakten, rein theoretischen, sich stets gleichbleibenden Propaganda stellt, sondern konkret, auf den Boden des Klassenkampfes, der tatsächlich vor sich geht und der die Massen am meisten und am besten erzieht. Der Marxist muß die ganze konkrete Situation erfassen können, muß stets die Grenze zwischen Anarchismus und Opportunismus zu finden wissen (diese Grenze ist relativ, beweglich, veränderlich, aber sie ist da), er darf weder in den abstrakten, phrasenhaften, in Wirklichkeit hohlen »Revolutionarismus« des Anarchisten verfallen noch in die Spießigkeit und den Opportunismus des Kleinbürgers oder des liberalen Intellektuellen, der sich vor dem Kampf gegen die Religion fürchtet, diese seine Aufgabe vergißt, sich mit dem Gottesglauben abfindet und sich nicht von den Interessen des Klassenkampfes leiten läßt, sondern von der kleinlichen, miserablen Berechnung: niemand weh tun, niemand abstoßen, niemand abschrecken, nach der neunmalweisen Regel: »leben und leben lassen« usw. usw.
Von diesem Standpunkt aus müssen alle Einzelfragen, die das Verhältnis der Sozialdemokratie zur Religion betreffen, entschieden werden. Es wird z. B. oft die Frage aufgeworfen, ob ein Geistlicher Mitglied der sozialdemokratischen Partei sein kann, und diese Frage wird gewöhnlich ohne jeglichen Vorbehalt im positiven Sinne beantwortet, indem man sich auf die Erfahrung der europäischen sozialdemokratischen Parteien beruft. Aber diese Erfahrung ist nicht allein ein Produkt der Anwendung der Doktrin des Marxismus auf die Arbeiterbewegung, sondern auch die Folge der besonderen historischen Verhältnisse im Westen, die in Rußland nicht vorhanden sind (wir werden darauf noch zu sprechen kommen), so daß eine bedingungslose, positive Antwort hier falsch ist. Man kann nicht ein für allemal und für alle Verhältnisse erklären, daß Geistliche nicht Mitglieder der sozialdemokratischen Partei sein können, aber man kann auch nicht ein für allemal die entgegengesetzte Regel aufstellen. Wenn ein Geistlicher zwecks gemeinsamer politischer Arbeit zu uns kommt und gewissenhaft Parteiarbeit leistet, ohne gegen das Parteiprogramm aufzutreten, so können wir ihn in die Reihen der Sozialdemokratie aufnehmen, denn der Widerspruch zwischen dem Geiste und den Grundlagen unseres Programms und der religiösen Ueberzeugung des Geistlichen könnte unter solchen Umständen ein nur ihn allein angehender persönlicher Widerspruch bleiben, eine politische Organisation kann aber nicht ihre Mitglieder daraufhin prüfen, ob nicht zwischen ihren Anschauungen und dem Programm der Partei ein Widerspruch bestehe. Doch ein solcher Fall könnte natürlich selbst in Europa nur eine seltene Ausnahme sein, in Rußland ist er schon ganz unwahrscheinlich. Und würde z. B. ein Geistlicher in die sozialdemokratische Partei eintreten und als seine wichtigste und fast ausschließliche Arbeit eine aktive Propaganda religiöser Anschauungen in der Partei betreiben wollen, so müßte die Partei ihn aus ihrer Mitte unbedingt ausschließen. Wir müssen alle Arbeiter, die den Glauben an Gott noch bewahrt haben, zu der sozialdemokratischen Partei nicht nur zulassen, sondern sie mit verdoppelter Energie heranziehen; wir sind unbedingt gegen die geringste Verletzung ihrer religiösen Ueberzeugung, aber wir wollen sie heranziehen, um sie im Geiste unseres Programms zu erziehen, nicht aber, damit sie aktiv gegen dieses kämpfen. Wir lassen innerhalb der Partei Meinungsfreiheit gelten, jedoch in gewissen Grenzen, die durch die Freiheit der Gruppierung bestimmt sind: wir sind nicht verpflichtet, Hand in Hand mit Leuten zu gehen, die aktiv Ansichten propagieren, welche von der Mehrheit der Partei abgelehnt werden.
Ein anderes Beispiel: kann man Mitglieder der sozialdemokratischen Partei wegen der Erklärung: »der Sozialismus ist meine Religion« sowie wegen Propagierung von Ansichten, die einer solchen Erklärung entsprechen, unter allen Umständen in gleicher Weise verurteilen? Nein. Eine Abweichung vom Marxismus (und folglich auch vom Sozialismus) liegt hier zweifellos vor, aber die Bedeutung dieser Abweichung, ihr sozusagen spezifisches Gewicht kann in verschiedenen Situationen verschieden sein. Es sind zwei verschiedene Dinge, ob ein Agitator oder ein Mensch, der vor der Arbeitermasse auftritt, so spricht, um verständlicher zu sein, um seine Darlegung zu beginnen, um durch Ausdrücke, die der unentwickelten Masse am geläufigsten sind, seine Ansichten realer hervortreten zu lassen, oder ob ein Schriftsteller anfängt, das »Gott-konstruieren« oder einen gott-konstruierenden Sozialismus zu predigen (z. B. im Geiste unserer Lunatscharski und Co.). Ebenso wie im ersten Falle eine Zurechtweisung eine Nörgelei oder sogar eine unangebrachte Beschränkung der Freiheit des Agitators, der Freiheit der »pädagogischen« Einwirkung sein könnte, ebenso ist im zweiten Falle eine Verurteilung seitens der Partei notwendig und obligatorisch. Die These »Sozialismus ist Religion« ist bei den einen eine Form des Uebergangs von der Religion zum Sozialismus, bei den anderen – vom Sozialismus zur Religion.
Gehen wir nun zu den Bedingungen über, die im Westen eine opportunistische Deutung des Grundsatzes »Erklärung der Religion zur Privatsache« erzeugt haben. Gewiß, dabei sind auch allgemeine Ursachen im Spiel, die den Opportunismus überhaupt erzeugen als Preisgabe der Grundinteressen der Arbeiterbewegung zugunsten von Augenblicksvorteilen. Die Partei des Proletariats fordert vom Staate die Erklärung der Religion zur Privatsache, ohne jedoch die Frage des Kampfes gegen das Opium des Volkes, des Kampfes gegen religiösen Aberglauben usw. auch nur im geringsten als »Privatsache« zu betrachten. Die Opportunisten verdrehen die Frage so, als ob die sozialdemokratische Partei die Religion für eine Privatsache hielte!
Aber außer der üblichen opportunistischen Entstellung (die in den Debatten unserer Dumafraktion bei der Behandlung unserer Aktion in der Religionsfrage vollkommen ungeklärt blieb), gibt es besondere historische Bedingungen, die die jetzige, man möchte sagen, übermäßige Gleichgültigkeit der europäischen Sozialdemokraten in Fragen der Religion hervorgerufen haben. Diese Bedingungen sind zweierlei Art. Erstens ist die Aufgabe der Religionsbekämpfung historisch eine Aufgabe der revolutionären Bourgeoisie, und im Westen ist diese Aufgabe von der bürgerlichen Demokratie in der Epoche ihrer Revolutionen oder ihres Ansturmes gegen den Feudalismus und das Mittelalter in bedeutendem Grade erfüllt worden (oder wurde wenigstens zu jener Zeit erfüllt). Sowohl in Frankreich als auch in Deutschland besteht die Tradition des bürgerlichen Kampfes gegen die Religion, der lange vor dem Sozialismus aufgenommen wurde (die Enzyklopädisten, Feuerbach). In Rußland lastet, den Bedingungen unserer bürgerlich-demokratischen Revolution entsprechend, auch diese Aufgabe fast ganz auf den Schultern der Arbeiterklasse. Die kleinbürgerliche Demokratie (der Narodniki Narodniki – aus dem russischen Wort »Narod« (Volk) abgeleitet, »Volkstümler«; ursprünglich die russischen revolutionären Intellektuellen, die Anfang der siebziger Jahre d. v. Jahrhunderts »ins Volk gingen«, um dort die revolutionären Ideen zu verbreiten; später allgemein die Anhänger der auf diesem Boden entstandenen antimarxistischen kleinbürgerlich-revolutionären Ideologie, des sogenannten »Narodnitschestwo«, die sogenannten Sozialrevolutionäre, Volkssozialisten und andere Gruppen und Grüppchen dieses Schlages gehören dieser Richtung an. Die Richtung artete zur offenen Konterrevolution aus. hat in dieser Hinsicht bei uns nicht zu viel geleistet (wie die neugebackenen Schwarzhundert-Kadetten oder die kadettischen Schwarzhundert-Leute aus den »Wjechi« » Wjechi« (»Merkpfähle«) – ein Sammelbuch, 1909 von bürgerlichen Intellektuellen herausgegeben, die in Mystik und philosophischen Idealismus verfallen waren und ihren Revolutionarismus während der Revolution 1905 bereuten. Mitarbeiter waren auch die ehemaligen Marxisten Struve, Bulgakow u. a. glauben), sondern zu wenig im Vergleich zu Europa.
Andererseits hat die Tradition des bürgerlichen Kampfes gegen die Religion in Europa bereits eine spezifisch bürgerliche Entstellung dieses Kampfes durch den Anarchismus erzeugt, der, wie die Marxisten schon längst und wiederholt auseinandergesetzt haben, bei aller »Wut« seiner Attacken gegen die Bourgeoisie auf dem Boden der bürgerlichen Weltanschauung steht. Die Anarchisten und Blanquisten in den romanischen Ländern, Most Most (1846-1900) – bekannter deutscher Sozialdemokrat in den siebziger Jahren; Mitglied des Reichstages. Während des Sozialistengesetzes entwickelte sich Most zum Anarchisten, wanderte nach England, später nach Amerika aus und propagierte die wildesten Kampfmethoden: terroristische Akte, Expropriationen usw. (der übrigens ein Schüler Dührings war) und Konsorten in Deutschland, die Anarchisten der 80er Jahre in Oesterreich haben die revolutionäre Phrase im Kampfe gegen die Religion bis zum nec plus ultra nec plus ultra – Höchstmaß; nicht mehr weiter, es ist erreicht! gebracht. Kein Wunder, daß die europäischen Sozialdemokraten den Bogen, den die Anarchisten nach der einen Seite überspannt haben, jetzt nach der anderen Seite überspannen. Das ist begreiflich und in gewissem Maße auch berechtigt, aber wir russischen Sozialdemokraten dürfen die besonderen historischen Verhältnisse des Westens nicht außer acht lassen.
Zweitens: im Westen war nach Beendigung der nationalen bürgerlichen Revolutionen, nach der Einführung einer mehr oder weniger vollständigen Glaubensfreiheit die Frage des demokratischen Kampfes gegen die Religion schon so sehr historisch in den Hintergrund gedrängt durch den Kampf der bürgerlichen Demokratie gegen den Sozialismus, daß die bürgerlichen Regierungen bewußt versuchten, durch Inszenierung eines scheinliberalen »Feldzuges« gegen den Klerikalismus die Massen vom Sozialismus abzulenken. Einen solchen Charakter trug sowohl der Kulturkampf in Deutschland als auch der Kampf der bürgerlichen Republikaner Frankreichs gegen den Klerikalismus. Der bürgerliche Antiklerikalismus als Mittel zur Ablenkung der Aufmerksamkeit der Arbeitermassen vom Sozialismus ging im Westen der Ausbreitung der jetzigen »Gleichgültigkeit« gegen den Kampf mit der Religion unter den Sozialdemokraten voraus. Wodurch das letztere wiederum begreiflich und berechtigt wird, denn dem bürgerlichen und Bismarckschen Antiklerikalismus mußten die Sozialdemokraten gerade die Unterordnung des Kampfes gegen die Religion unter den Kampf um den Sozialismus entgegensetzen.
In Rußland liegen die Verhältnisse ganz anders. Das Proletariat ist der Führer unserer bürgerlich-demokratischen Revolution. Seine Partei muß der geistige Führer im Kampfe gegen jeden Rest des Mittelalters sein, darunter auch gegen die alte offizielle Religion sowie alle Versuche, diese aufzufrischen, neu oder auf eine andere Art zu begründen usw. Wenn daher Engels verhältnismäßig sanft den Opportunismus der deutschen Sozialdemokratie korrigierte, die an Stelle der Forderung der Arbeiterpartei, der Staat möge die Religion zur Privatsache erklären, die Erklärung der Religion zur Privatsache für die Sozialdemokraten selber und die sozialdemokratische Partei setzten, – so ist es begreiflich, daß eine Uebernahme dieser deutschen Entstellung durch die russischen Opportunisten einen hundertmal schärferen Tadel von Engels verdient hätte.
Als unsere Fraktion von der Dumatribüne herab erklärte, die Religion sei Opium für das Volk, handelte sie durchaus richtig und schuf auf diese Weise einen Präzedenzfall, der als Grundlage für alle Aktionen der russischen Sozialdemokraten in der Religionsfrage zu dienen hat. Hätte man noch weiter gehen, die atheistischen Schlußfolgerungen noch ausführlicher entwickeln sollen? Wir glauben, nein. Das hätte die Gefahr der Uebertreibung des Kampfes gegen die Religion seitens der politischen Partei des Proletariats hervorrufen, hätte zu einer Verwischung der Grenze zwischen der bürgerlichen und der sozialistischen Bekämpfung der Religion führen können. Das Erste, was die sozialdemokratische Fraktion in der stockreaktionären Duma zu erfüllen hatte, ist mit Ehren vollbracht worden.
Das Zweite – und für die Sozialdemokratie fast das Wichtigste –, die Aufhellung der Klassenrolle der Kirche und der Geistlichkeit bei der Unterstützung der Schwarzhundert-Regierung und der Bourgeoisie in ihrem Kampfe gegen die Arbeiterklasse – ist ebenfalls mit Ehren erfüllt worden.
Drittens hätte man ganz ausführlich den richtigen Sinn der These erläutern sollen, die so oft von den deutschen Opportunisten entstellt wird: »Erklärung der Religion zur Privatsache.«
(»Proletarij« Nr. 45, 13. (26.) Mai 1909)