Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
9. Jan. 08. Genf
Teurer A. M.!
Vor einigen Tagen bin ich mit meiner Frau hier angekommen. Nach seiner Rückkehr vom Londoner Parteikongreß (April, Mai 1907) lebte Wladimir Iljitsch in der Nähe von Petrograd, in Finnland, im Villenort Kuokkala (Villa »Wasa«). Im Zusammenhang mit den beginnenden Verhaftungen im Flecken Terijoki (einem Nachbarorte, der ebenfalls russischen Revolutionären als Zuflucht diente) beschloß das bolschewistische Zentralkomitee, die Herausgabe des »Proletarier« nach dem Auslande zu verlegen. Dem Gen. Lenin, sowie A. A. Bogdanow, Malinowski und Innokentij (Joseph Feodorowitsch Dubrowinski) wurde der Auftrag erteilt, zwecks Leitung des »Proletarier« ins Ausland zu reisen. Wladimir Iljitsch reiste Ende November oder spätestens Anfang Dezember aus Kuokkala ab, verbrachte ungefähr vierzehn Tage in Stockholm, in Erwartung von Nadeshda Konstantinowna (seiner Frau), die später abreiste, blieb 3-4 Tage in Berlin und kam am 6. – 7. Januar 1908 neuen Stils in Genf an. Wir haben uns unterwegs beide erkältet. Hier richten wir uns ein, so gut es geht, vorläufig nur vorübergehend, und daher in jeder Beziehung mangelhaft. Ihr Brief hat mich sehr erfreut; es wäre wirklich fein, nach Capri abzudampfen! Unbedingt werde ich mich gelegentlich frei machen, um Sie zu besuchen. Jetzt ist es freilich leider unmöglich. Wir sind mit dem Auftrage hierhergekommen, eine Zeitung zu gründen: den »Proletarier« aus Finnland hierher zu verlegen. Es ist noch nicht endgültig entschieden, ob wir Genf oder eine andere Stadt wählen werden. Auf jeden Fall heißt es sich beeilen, und die Neueinrichtung gibt eine ganze Menge Schererei. Wenn es doch möglich wäre, im Sommer oder Frühling Sie zu besuchen, sobald die Sache schon im Gang ist! Wann ist es bei Ihnen auf Capri besonders schön?
Wie geht's mit der Gesundheit? Wie fühlen Sie sich? Fällt Ihnen das Arbeiten leicht? Auf der Durchreise durch Berlin hörte ich, daß Sie mit Lunatsch[arsk]i eine Tournee durch Italien und speziell in Rom veranstaltet haben. Hat Ihnen Italien gefallen? Sehen Sie viel Russen?
Ich denke, es ist am besten, Sie zu besuchen, wenn Sie keine große Arbeit vorhaben, damit wir zusammen schlendern und plaudern können.
Haben Sie mein Buch [den ersten Band meiner gesammelten Artikel, 12 Jahre umfassend] erhalten? Ich hatte den Auftrag gegeben, es Ihnen aus Petersburg zuzusenden.
Herzlichsten Gruß an M. Feod-wna. M. Feod-wna (M. F. in den nachfolgenden Briefen) – ist die Gattin A. M. Gorkis, Maria Feodorowna Andrejewa. Auf Wiedersehen!
Ihr N. LENIN.
Meine Adresse: Mr. WL. Oulianoff. 17, Rue des Deux Ponts, 17 [chez Küpfer], Genève.
15. Jan. 08.
Teure A. M. und M. F.!
Ich habe heute Ihren Expressbrief erhalten. Es ist doch verteufelt verlockend, zu Euch nach Capri zu kommen! Sie haben das so schön ausgemalt, daß ich mich, bei Gott, unbedingt auf den Weg machen werde und auch versuchen will, meine Frau mit herauszubekommen. Nur den Zeitpunkt weiß ich noch nicht: jetzt geht's nicht anders, ich muß mich dem »Proletarier« widmen, er muß auf festen Füßen stehen und die Arbeit um jeden Preis in Schwung gebracht werden. Das wird einen bis zwei Monate minimum in Anspruch nehmen. Aber es muß gemacht werden. Dann aber kommen wir im Frühling – den Capreser Weißwein trinken und uns Neapel ansehen und mit Ihnen plaudern. Ich habe gerade angefangen italienisch zu lernen, und habe mich denn auch wie ein Lernender gleich auf die von M. F-a geschriebene Adresse gestürzt: »expresso« anstatt »espresso«! Her mit dem Wörterbuch!
Nun, und was die Übersendung des »Proletariers« betrifft, das haben Sie sich selbst eingebrockt. Jetzt kommen Sie nicht so leichten Kaufs von uns los! M. F-na soll jetzt gleich einen Haufen Aufträge bekommen.
1. Unbedingt den Sekretär des Verbandes der Schiffahrtsangestellten und -Arbeiter [ein solcher Verband muß existieren!] der Schiffe, die zur Verbindung mit Rußland dienen, aufsuchen.
2. Von ihm in Erfahrung bringen, von wo und wohin Schiffe verkehren; wie oft. Er soll uns unbedingt einen allwöchentlichen Transport zustande bringen. Wieviel es kosten wird? Er soll uns einen zuverlässigen Menschen finden [gibt es zuverlässige Italiener?] Brauchen Sie eine Adresse in Rußland [sagen wir, in Odessa] zur Ablieferung der Zeitung, oder könnten sie zeitweilig unbedeutende Mengen bei irgendeinem italienischen Gastwirt in Odessa aufbewahren? Das ist für uns äußerst wichtig.
3. Sollte es M. F. unmöglich sein, das alles selbst zu bewerkstelligen, zu veranlassen, ausfindig zu machen, auseinanderzusetzen, nachzuprüfen usw., so soll sie uns mit diesem Sekretär unmittelbar in Verbindung setzen: wir werden uns dann brieflich mit ihm verständigen.
Mit dieser Angelegenheit muß man sich beeilen: wir hoffen in 2-3 Wochen den »Proletarier« hier herauszugeben, Die Herausgabe des »Proletarier« verzögerte sich. No. 21 des »Proletarier« (die erste im Auslande, in Genf, herausgegebene Nummer) erschien am 26. Februar neuen Stils, d. h. erst 5 Wochen nach vorstehendem Briefe Wladimir Iljitschs. und er muß sofort abgeschickt werden.
Nun – auf Wiedersehen auf Capri! Daß Sie mir gesund bleiben, A. M.! Gleichzeitig mit diesem Briefe sandte Wladimir Iljitsch einen Brief an A. W. Lunatscharski, der mit A. M. Gorki zusammen auf Capri lebte. Dieser Brief gelangt in den »Ergänzungen« (I) zum Abdruck. –
Ihr W. ULJANOW.
2. Febr. 08.
Teurer A. M.!
Ich schreibe Ihnen in zwei Angelegenheiten. Erstens, in der Sache Ssemaschko. Wenn Sie ihn nicht persönlich kennen, so verlohnt es sich nicht für Sie, sich in die folgende Angelegenheit einzumischen. Wenn Sie ihn kennen, so lohnt es sich.
L. Martow hat in der Berner s.-d. Zeitung eine »Deklaration« veröffentlicht, wo er sagt, d[aß] Ssemaschko nicht als Delegierter auf dem Stuttg[arter] Kongreß war, sondern einfach als Journalist. Kein Wort über seine Zugehörigkeit zu der s.-d. Partei. Das ist eine Gemeinheit seitens eines Menschewisten gegen einen Bolschewisten, der ins Gefängnis geraten ist. N. A. Ssemaschko, Sozialdemokrat seit dem Anfang der 90er Jahre, wurde Ende Januar 1908 in Genf verhaftet. Der Internationale Sozialistische Kongreß in Stuttgart fand im August 1907 statt. – Ich habe meine offizielle Erklärung als Vertreter der SDAPR. bereits an das Internat[ionale] Büro geschickt. Wenn Sie Ssemaschko persönlich kennen oder in Nishnij gekannt haben, so schreiben Sie unbedingt auch an jene Zeitung, daß Martows Erklärung Sie empöre, daß Sie Ssemaschko persönlich als einen S.-D. kennten, daß Sie überzeugt seien von seinem Unbeteiligtsein an Sachen, die von der internationalen Polizei aufgebauscht werden! Nachstehend gebe ich Ihnen die Adresse der Zeitung und den vollständigen Text der Martowschen Erklärung, den M. F. Ihnen übersetzen wird. An die Redaktion schreiben Sie selbst russisch, und bitten Sie M. F., eine deutsche Übersetzung beizufügen.
Die zweite Angelegenheit. Wir sind jetzt alle drei hier zusammengekommen, die wir aus Rußland hergesandt sind, den » Proletarier« in Gang zu bringen. (Bogdanow, ich und ein »Praktiker« Der »Praktiker« ist Joseph Feodorowitsch Dubrowinski..) Alles in Ordnung, dieser Tage veröffentlichen wir eine Anzeige. 3. Die »Anzeige« steht dem Leninschen Institute nicht zur Verfügung. Als Mitarbeiter nennen wir Sie. Schreiben Sie mir ein paar Zeilen, ob Sie uns etwas für die ersten Nummern geben könnten (etwa im Sinne der Betrachtungen über das Kleinbürgertum aus dem »Neuen Leben« »Neues Leben« war die erste legale bolschewistische Zeitung, die Ende 1905 in Petersburg herauskam. (Nr. 1 erschien am Donnerstag, den 27. Oktober [10. November] 1905). Von der Nr. 6, vom 2. /15. November, an wurde sie von Lenin unmittelbar redigiert. Sie wurde nach der Veröffentlichung des Manifestes des Petersburger Rates der Arbeiterdelegierten verboten (Nr. 28, Sonnabend, den 3. /16. Dezember 1905). In dieser Zeitung veröffentlichte Maxim Gorki in den Nrn. 1 (vom 27. Oktober 1905); 4 (vom 30. Oktober 1905); 12 (vom 13. November 1905); 18 (vom 20. November 1905) seine »Betrachtungen über das Kleinbürgertum«, die gegen den antirevolutionären Geist der russischen Intellektuellen gerichtet waren und in der Mitte der letzteren große Entrüstung hervorriefen. oder Fragmente aus der Erzählung, d[ie] Sie eben schreiben, und dergleichen).
Ich drücke Ihnen kräftig die Hand. Herzlichen Gruß an M. F-na!
Ihr W. ULJANOW.
In der Zeitung »Berner Tagwacht« (Adresse der Redaktion: Kapellenstraße 6, Bern. Organ der S.-D.), in No. 24, vom 30. Jan. 08, ist folgendes veröffentlicht:
» Erklärung. – In einigen Zeitungen stand zu lesen, daß der unlängst in Genf verhaftete Dr. Simaschko ein Delegierter der Genfer Gruppe der russischen Sozialdemokratie in Stuttgart gewesen sei. Dem gegenüber erkläre ich, daß Dr. Simaschko nicht Mitglied der russischen Sektion auf dem genannten Kongresse war und kein Delegiertenmandat besessen hat. Er war dort nur als Journalist tätig.
L. Martow, Delegierter der russischen Sozialdemokratie auf dem Stuttgarter Kongreß.«
Das ist alles. Die Gemeinheit liegt hier darin, daß die Sozialdemokratie verblümt den Staub von ihren Schuhen schüttelt und sich von Ssemaschko lossagt!
13. Febr. 08.
Teurer Al. M-tsch!
Ich glaube, manches in den von Ihnen angeregten Fragen über unsere Meinungsverschiedenheiten – ist einfach ein Mißverständnis. Ganz gewiß habe ich nicht daran gedacht, »die Intelligenz zu verjagen«, wie es die einfältigen Synd[ikali]sten tun, oder ihre Notwendigkeit für die Arb[eiter]bewegung abzuleugnen. In allen diesen Fragen kann es zwischen uns keine Meinungsverschiedenheit geben; davon bin ich fest überzeugt, und da wir jetzt nicht zusammenkommen können, ist es nötig, gleich anzufangen, zusammen zu arbeiten. In der Arbeit kommen wir am leichtesten und am besten zu einer endgültigen Übereinstimmung.
Ihr Plan, für den »Prol[etarier]« (eine Anzeige ist Ihnen zugegangen) kleine Sachen schreiben zu wollen, freut mich ganz außerordentlich. Es versteht sich aber von selber, wenn Sie eine große Arbeit vorhaben, so lassen Sie sich nicht ablenken.
Wegen Trotzki wollte ich Ihnen voriges Mal antworten, vergaß es aber. Wir (d. h. die hiesige Redaktion des »Proletarier,« Al. Al. [Bogdanow], ich und »Inok« [Dubrowinski] – ein sehr lieber Kollege von den russischen B[olsch]e[wi]sten) – haben sofort beschlossen, ihn zur Mitarbeit am »Proletarier« aufzufordern. Wir haben ihm einen Brief geschrieben, ein Thema vorgemerkt und es ihm vorgeschlagen. Unterschrieben haben wir nach gemeinsamer Übereinkunft »die Redaktion des Proletarier,« weil wir die Sache auf kollegialeren Grund und Boden stellen wollten, (ich persönlich habe z. B. mit Trotzki einen großen Kampf gehabt, wir lagen uns fürchterlich in den Haaren 1903-1905, als er Men[schewi]st war). Ob nun Trotzki über diese Form beleidigt gewesen ist, weiß ich nicht, aber er hat einen Brief geschickt, den er nicht selbst geschrieben hat: »im Auftrage des Gen. Trotzki« wurde die Redaktion des » Prol[etarier]« benachrichtigt, daß er ablehne mitzuwirken, er sei zu beschäftigt.
Das ist Pose, meiner Ansicht nach. Auch auf dem Lond[oner] Parteitag benahm er sich als Poseur. Ich weiß nicht recht, ob er mit den B[olsch]e[wi]sten gehen wird …
Die M[enschewi]sten haben hier eine Voranzeige betreffs der Monatsschrift »Die Stimme des Sozial-Demokraten« mit der Unterschrift von Plechanow, Axelrod, Dan, Martow, Martynow veröffentlicht. Ich werde sie mir verschaffen und sie Ihnen schicken. Der Kampf kann sich zuspitzen. Und Trotzki will »über den kämpfenden Fraktionen« stehen …
Hinsichtlich des Materialismus, und zwar gerade als Weltanschauung, glaube ich, daß ich im wesentlichen nicht mit Ihnen einverstanden bin. Und zwar nicht in bezug auf die »mater[ialistische] Geschichtsauffassung« (unsere »Empirio« »Unsere Empirio«, d. h. Empiriokritiker und Empiriomonisten (A. A. Bogdanow, W. A. Basarow, A. W. Lunatscharski). Über den Gang der Meinungsverschiedenheiten mit ihnen s. den nächstfolgenden Brief Wladimir Iljitschs (Nr. 5). leugnen die nicht ab), sondern auf den philosophischen Materialismus. Daß die Angelsachsen und Deutschen dem »Materialismus« ihr Kleinbürgertum zu verdanken hätten und die Romanen – ihren Anarchismus, – das bestreite ich auf das entschiedenste. Der Materialismus als Philosophie ist bei ihnen allen unbeliebt. Die »Neue Zeit,« das allergediegenste und gebildetste Organ, interessiert sich nicht für Philosophie, war niemals eifriger Anhänger des philosoph[ischen] Ma[teriali]smus, und veröffentlichte in letzter Zeit die Empiriokritiker ohne jeden Vorbehalt. Daß man aus dem Materialismus, den Marx und Engels gelehrt haben, eine tote Kleinbürgerlichkeit folgern kann, das ist falsch, falsch! Alle kleinbürgerlichen Strömungen in der Sozial-Demokratie kämpfen vor allen Dingen gegen den philosophischen Materialismus an, neigen zu Kant, zum Neokantianertum, zur kritischen Philosophie. Nein, jene Philosophie, die Engels im »Anti-Dühring« begründete, läßt das Kleinbürgertum nicht einmal über ihre Schwelle. Plechanow schadet dieser Philosophie, indem er den Kampf hier mit dem Fraktionskampf verknüpft, – aber den jetzigen Plechanow darf ja kein russischer S[ozial-]D[emokrat] mit dem alten Plechanow verwechseln.
Al. Al. [Bogdanow] hat mich eben verlassen. Ich werde ihn wieder und immer wieder an den »Konfereur« A. M. Gorki schlug vor, eine Zusammenkunft der im Auslande wohnenden bolschewistischen Literaten zwecks gemeinsamer Besprechung der aufkommenden Meinungsverschiedenheiten zu veranstalten. Von dieser beabsichtigten, jedoch nicht zustande gekommenen »Konferenz« ist auch in den folgenden Briefen die Rede. erinnern. Wenn Sie darauf bestehen, – kann man eine von einigen Tagen veranstalten, und sogar bald. Gleichzeitig mit diesem Briefe schrieb und sandte Wladimir Iljitsch auch einen Brief an A. W. Lunatscharski, der die gleichen Themen behandelt. Wir geben diesen Brief in den »Ergänzungen« (II) wieder.
Mit Händedruck.
LENIN.
25. Febr. 08.
Teurer A. M.!
Ihren Brief habe ich nicht sogleich beantwortet, weil betreffs Ihres Artikels Gorkis Artikel ist uns unbekannt. Er war für den »Proletarier« bestimmt. Sein Inhalt geht aus der weiteren Darlegung Wladimir Iljitschs hervor. oder in gewissem Zusammenhange damit, wie seltsam das auf den ersten Blick auch scheinen mag, zwischen Al. Al. [Bogdanow] und mir in der Redaktion eine ziemlich ernstliche Rauferei entstanden ist … Hm … Hm … ich habe nicht an der Stelle und nicht aus dem Anlasse gesprochen, wie Sie es meinten!
Das kam so.
Das Buch »Umrisse der Philosophie des M[arxi]smus« Das Buch »Umrisse der Philosophie des Marxismus« erschien im Jahre 1908 (S. Petersburg, Verlag »Serno«). Inhalt: W. Basarow: »Mystizismus und Realismus unserer Zeit«. – Beermann: »Über die Dialektik«. – Lunatscharski: »Die Atheisten«. – P. Juschkewitsch: »Die moderne Energetik vom Standpunkte des Empiriosymbolismus«. – Bogdanow: »Das Land der Götzen und die Philosophie des Marxismus.« I. Helfond: »Die Philosophie Dietzgens und der moderne Positivismus«. S. Suworow: »Die Grundlagen der sozialen Philosophie«. – hat die seit langem bestehenden Meinungsverschiedenheiten zwischen den B[olsch]e[wi]sten in den Fragen der Philosophie doppelt verschärft. Ich halte mich nicht für kompetent genug in diesen Fragen, um mich zu beeilen, in der Presse hervorzutreten. Aber verfolgt habe ich unsere Partei-Diskussionen über die Philosophie immer sehr aufmerksam, – angefangen von dem Kampfe Plechanows gegen Michailowski & Co. zu Ende der 80er Jahre bis 1895, ferner seinen Kampf mit den Kantianern 1898 und in den folg. Jahren (damals habe ich ihn nicht nur verfolgt, sondern zum Teil auch daran teilgenommen, als Redaktionsmitglied der » Sarja« [»Morgenröte«], seit 1900); schließlich seinen Kampf mit den Empiriokritikern & Co.
Die philosophischen Werke Bogdanows habe ich seit seinem energetischen Buche von der »Hist[orischen] Ansicht über die Natur« verfolgt, welches Buch ich während meines Aufenthaltes in Sibirien Al. Al. Bogdanows Buch »Die Grundelemente einer historischen Ansicht über die Natur« erschien 1899 in Moskau. Wladimir Iljitsch war zu jener Zeit in der Verbannung. studiert habe. Für Bogdanow war dieser Standpunkt bloß ein Übergang zu anderen philosophischen Ansichten. Seine persönliche Bekanntschaft machte ich im Jahre 1904, wobei wir einander sofort präsentierten: ich ihm – meine »Schritte« Die Broschüre »Ein Schritt vorwärts, zwei – zurück«, erschienen in Genf, im Mai 1904 (in den Gesammelten Werken, Band V, S. 303-490, zum Abdruck gelangt)., er mir – sein damaliges philosoph[isches] Werk. 5. Es handelt sich um das Buch A. A. Bogdanows »Der Empiriomonismus«. Teil I, S. Petersburg, 1904. Und sogleich (im Frühjahr oder Anfang Sommer 1904) schrieb ich ihm aus Genf nach Paris, daß er mich durch seine Schriften mit Nachdruck von seinen Ansichten abbringe und ebenso sehr von der Richtigkeit der Plechanowschen Ansichten überzeuge.
Mit Plechanow habe ich mich, als wir zusammen arbeiteten, nicht selten über Bogdanow unterhalten. Plechanow setzte mir das Irrtümliche in Bogdanows Ansichten auseinander, hielt jedoch diese Abweichung durchaus nicht für hoffnungslos groß. Ich kann mich noch ausgezeichnet daran erinnern, daß Plech[anow] und ich im Sommer 1903 im Namen der Redaktion der » Sarja« [»Morgenröte«] mit dem Delegierten der Redaktion der »Umrisse der realistischen Weltanschauung« Der marxistische Almanach »Umrisse der realistischen Weltanschauung«, der gegen die »Narodniki« und die Revisionisten gerichtet war, erschien 1904. Inhalt: S. Suworow: »Grundlagen der Philosophie des Lebens«. – A. Lunatscharski: »Grundlagen der positiven Aesthetik«. – W. Basarow: »Die autoritäre Metaphysik und die autonome Persönlichkeit.« – A. Bogdanow: »Austausch und Technik«. – P. Maslow: »Über die Agrarfrage«. – A. Finn: »Der industrielle Kapitalismus in Rußland in dem letzten Jahrzehnt«. – P. Rumjanzew: »Die Evolution der russischen Bauernschaft«. – N. Korssak: (A. Bogdanow): »Die rechtliche und die werktätige Gesellschaft.« – W. Fritsche: »Die sozial-psychologischen Grundlagen des naturalistischen lmpressionismus«. – W. Schuljatikow: »Der Wiederaufbau der zerstörten Ästhetik«. – Von Plechanow und Lenin erschienen keine Artikel in dem Almanach. – in Genf ein Gespräch führten, wobei wir uns einverstanden erklärten, mitzuwirken; ich – in Agr[ar]fragen, Plechanow – auf dem Gebiete der Philosophie gegen Mach. Seinen Kampf gegen Mach stellte Plechanow als Bedingung seiner Mitarbeit auf, – welche Bedingung von dem Delegierten der Redaktion der »Umrisse« voll angenommen wurde. Plechanow betrachtete Bogdanow damals als einen Verbündeten im Kampf gegen den Revisionismus, aber als einen Verbündeten, der insofern irrte, als er mit Ostwald und ferner mit Mach ging.
Im Frühling und Herbste 1904 schlossen Bogdanow und ich uns endgültig einander als B[olsch]e[wi]sten an, und bildeten jenen stillschweigenden und die Philosophie als neutrales Gebiet stillschweigend ausschaltenden Block, der die ganze Zeit der Revolution hindurch dauerte und uns die Möglichkeit gab, in der Revolution gemeinsam jene Taktik der revolutionären Sozial-Demokratie [Bolschewismus] durchzuführen, die nach meiner tiefsten Überzeugung die einzig richtige war.
Mit Philosophie konnte man sich in der Hitze der Revolution nur wenig befassen. Im Gefängnis schrieb Bogdanow Anfang 1906 noch eine Arbeit, – ich glaube, den III. Bd. des Empiriomonismus. A. A. Bogdanow wurde am 2./15. Dezember 1905 bei der Verhaftung des Petersburger Rates der Arbeiterdelegierten mit verhaftet. – Das von ihm im Gefängnis geschriebene Buch war tatsächlich der »Empiriomonismus«, Teil III. – S. Petersburg, 1906. Im Sommer 1906 schenkte er ihn mir, und ich machte mich mit Aufmerksamkeit daran. Als ich ihn durchgelesen hatte, war ich fuchswild: es wurde mir noch klarer, daß er einen grundfalschen Weg geht, nicht den marxistischen. Ich schrieb ihm damals eine »Liebeserklärung,« ein Brieflein über Philosophie im Umfange von drei Heften. Dort setzte ich ihm auseinander, daß ich natürlich nur ein simpler Marxist in der Philosophie sei, daß mich aber gerade seine klaren, populären, vortrefflich geschriebenen Arbeiten endgültig von seinem Unrechte in den wesentlichsten Punkten und von Plechanows Rechte überzeugten. Diese Heftchen zeigte ich einigen Freunden (Lunatsch[arski] u. a.) und ging mit dem Gedanken um, sie unter dem Titel zu veröffentlichen: »Betrachtungen eines einfachen Marxisten über die Philosophie,« kam aber nicht dazu. Jetzt tut es mir leid, daß ich sie damals nicht sogleich drucken ließ. Ich habe dieser Tage nach Petersburg geschrieben, mit der Bitte, diese Heftchen aufzufinden und sie mir zu schicken. Das Schicksal dieser »Heftchen« ist uns unbekannt. Unter dem an das Institut übergebenen Material des ausländischen Archivs Wladimir Iljitschs sind sie nicht zu finden. Angesichts der besonderen Wichtigkeit dieser »Heftchen« für die Geschichte der philosophischen Anschauungen Wladimir Iljitschs wäre das Institut jenen Genossen zu großem Danke verpflichtet, die das Institut auf die Spur dieser »Heftchen« hinweisen könnten. –
Jetzt sind die »Umrisse der Ph[ilosophie] des M[arxi]smus« erschienen. Ich habe alle Artikel durchgelesen, außer dem Suworowschen (ich bin gerade dabei), Wladimir Iljitsch scheint die Artikel des Almanachs der Reihe nach gelesen zu haben. Der Artikel Suworows: »Grundlagen der sozialen Philosophie« (S. 291-328) ist der letzte im Almanach. und bei jedem Artikel war ich einfach toll vor Empörung. Nein, das ist kein Marxismus! Und unsere Empiriokritiker, Empiriomonisten und Empiriosymboliker Als »Empiriosymbolismus« bezeichnete sein System – eine Variation des Empiriokritizismus – der Mitarbeiter des Almanachs, P. Juschkewitsch. geraten in einen Sumpf. Dem Leser vorzumachen, daß der »Glaube« an die Realität der Außenwelt »Mystik« sei (Basarow), auf die scheußlichste Weise Materialismus und Kantianertum zu verwechseln (Basarow und Bogdanow), die Wesensverschiedenheit des Agnostizismus (Empiriokritizismus) und des Idealismus (Empiriomonismus) zu predigen, – den Arbeitern einen »religiösen Atheismus« und eine »Anbetung« der höchsten menschlichen Potenzialitäten zu lehren (Lunatscharski), – die Engelssche Lehre von der Dialektik als Mystik zu erklären (Beermann), – aus der stinkenden Quelle irgendwelcher französischer »Positivisten« – Agnostiker oder Metaphysiker zu schöpfen, – hol sie der Teufel – mitsamt der »symbolischen Theorie der Erkenntnis« (Juschkewitsch)! Nein, das ist zu stark! Natürlich wir sind simple Marxisten, in der Philosophie unbelesen, aber warum muß man uns so beleidigen und so etwas als Ph[iloso]phie des M[arxi]smus auftischen! Ich lasse mich eher vierteilen, als daß ich mich damit einverstanden erkläre, an einem Organ oder an einem Kollegium mich zu beteiligen, das solche Sachen predigt.
Ich fühle mich wieder zu den »Betrachtungen eines einfachen Marxisten über die Ph[iloso]phie« hingezogen, und ich habe angefangen, daran zu arbeiten; Al[exander] Al[exandrowi]tsch [Bogdanow] legte ich meine Eindrücke – während meiner Lektüre an den »Umrissen« – natürlich geradeheraus und grob dar.
Was Ihr Artikel mit alledem zu tun hat? – werden Sie mich fragen. Das hat er damit zu tun, daß gerade zu solcher Zeit, da diese Meinungsverschiedenheiten zwischen den B[olsch]e[wi]sten sich besonders zuzuspitzen drohen, Sie ganz offensichtlich anfangen, in Ihrer Arbeit für den »Proletarier« Ansichten der gleichen Richtung zu äußern. Ich weiß natürlich nicht, wie und was bei Ihnen im großen ganzen dabei herausgekommen wäre. Außerdem bin ich der Ansicht, daß ein Künstler aus jeder Philosophie viel Nützliches für sich schöpfen kann. Endlich bin ich vollkommen und unbedingt damit einverstanden, daß Sie in Fragen künstlerischen Schaffens das unfehlbarste Urteil besitzen und daß, wenn Sie derartige Anschauungen sowohl aus Ihrer künstlerischen Erfahrung als auch aus der Philosophie schöpfen, auch wenn diese Philosophie eine idealistische ist, Sie zu Schlußfolgerungen gelangen können, die der Arbeiterpartei ungeheuren Nutzen bringen können. Das ist alles richtig. Und trotzdem muß der »Proletarier« gegenüber unseren sämtlichen Meinungsverschiedenheiten in der Philosophie absolut neutral bleiben und den Lesern auch nicht den geringsten Anlaß geben, die B[olsch]e[wi]sten als Richtung, als taktische Linie des revolutionären Flügels der russischen S.-D., mit dem Empiriokritizismus oder mit dem Empiriomonismus in Verbindung zu bringen.
Als ich Ihren Artikel gelesen und noch einmal gelesen hatte und darauf A. A. [Bogdanow] sagte, ich sei gegen seine Veröffentlichung, wurde dieser finsterer als eine Gewitterwolke. Eine Atmosphäre der Spaltung hängt förmlich in der Luft. Gestern
D. h. am 24. Februar 1908. versammelten wir unser Redaktions-Dreigespann zu einer speziellen Sitzung, um diese Frage zu besprechen. Da kam uns plötzlich ein dummer Ausfall der Zeitschrift »Neue Zeit« zu Hilfe. In No. 20 hat ein unbekannter Übersetzer
einen Artikel von Bogdanow über Mach veröffentlicht, wobei er in seinem Vorwort die blödsinnige Äußerung machte, daß die Meinungsverschiedenheiten zwischen Plechanow und Bogdanow die Tendenz hätten, unter den russischen S.-D. zu einer
fraktionellen Meinungsverschiedenheit zwischen B[olsch]e[wi]sten und Me[nschewi]sten zu werden
Der Artikel Bogdanows über Mach, um den es sich bei Wladimir Iljitsch handelt, ist betitelt: »Ernst Mach und die Revolution«, von A. Bogdanow. – »Neue Zeit«, I. Band. Nr. 20 (14. Februar 1908, S. 695-700).! Durch diese Worte hat der dumme Verfasser oder Verfasserin dieses Vorworts uns zusammengeschlossen. Wir kamen sofort darin überein, daß eine Erklärung unserer Neutralität unbedingt jetzt gleich in der nächsten Nummer des »Proletarier« notwendig sei. Dies entsprach auf das genaueste meiner Stimmung nach dem Erscheinen der »Umrisse.« Die Erklärung wurde verfaßt, einstimmig bekräftigt, morgen erscheint sie in No. 21 des »
Prol[etarier]« und wird Ihnen zugesandt.
In Nr. 21 des »Proletarier«, erschienen und datiert den 26. Februar 1909, steht folgende Erklärung der Redaktion:
In Nr. 20 der »Neuen Zeit« lesen wir im Vorwort des uns unbekannten Übersetzers des Artikels von A. Bogdanow über Ernst Mach folgendes: »In der russischen Sozial-Demokratie verrät sich leider eine starke Tendenz, diese oder jene Einstellung zu Mach zu einer Frage einer Fraktionsteilung zu gestalten. Sehr wichtige Meinungsverschiedenheiten zwischen Bolschewisten und Menschewisten werden verschärft durch den Streit über eine Frage, die unseres Erachtens mit diesen Meinungsverschiedenheiten in keinerlei Verbindung steht, nämlich: ob der Marxismus in erkenntnis-theoretischer Hinsicht mit der Lehre Spinozas und Holbachs oder Machs und Avenarius übereinstimmt?« Bei dieser Gelegenheit hält die Redaktion des »Proletarier«, als ideelle Vertreterin der bolschewistischen Strömung, es für notwendig, folgende Erklärung abzugeben: »In Wirklichkeit ist dieser philosophische Streit kein Fraktionsstreit und darf es, nach der Meinung der Redaktion, nicht sein; jeder Versuch, diese Meinungsverschiedenheiten als fraktionelle hinzustellen, ist von Grund aus irrtümlich. Unter den Mitgliedern der einen und der anderen Fraktion gibt es Anhänger beider philosophischer Richtungen.«
Was nun Ihren Artikel betrifft, so haben wir beschlossen, die Frage hierüber zu verschieben, Ihnen in drei Briefen – eines jeden der drei Redakteure des » Proletarier« die ganze Sachlage darzulegen und meine und Bogdanows Reise zu Ihnen zu beschleunigen.
Sie haben also einen Brief sowohl von Al. Al. [Bogdanow] als auch von dem dritten Redakteur [Dubrowinski], von dem ich Ihnen einmal früher schrieb, zu erwarten.
Meine Meinung glaube ich Ihnen ganz offen sagen zu müssen. Eine gewisse Rauferei unter den B[olsch]e[wi]sten in der Frage der Philosophie halte ich jetzt für ganz unvermeidlich. Aber sich deswegen zu spalten wäre, meiner Meinung nach, dumm. Wir haben einen Block zur Durchführung einer bestimmten Taktik in der Arbeiterpartei gebildet. Diese Taktik führten und führen wir bisher ohne Meinungsverschiedenheiten durch, (die einzige Meinungsverschiedenheit gab es gelegentlich des Boykotts der 3. Duma), Lenin trat für die Beteiligung an der 3. Duma ein (s. seinen Artikel »Gegen den Boykott«, Gesammelte Werke, Bd. VIII, S. 434 bis 461), A. A. Bogdanow vertrat den Boykott der Duma und wurde von den »Boykottisten« als Referent in die Parteikonferenz 1907 entsandt. aber erstens hat sie sich bei uns nie auch nur bis zu einer Andeutung auf eine Spaltung verschärft; zweitens entsprach sie nicht der Meinungsverschiedenheit der Materialisten und Machisten, denn der Machist Basarow z. B. war, wie ich, gegen den Boykott und schrieb darüber (ein großes Feuilleton im »Proletarier«) Basarows Artikel »Der umgekehrte Parlamentskretinismus« stand ohne Unterschrift in Nr. 18 des »Proletarier«, vom 26. Oktober 1907..
Die Sache der Durchführung der Taktik der revolutionären Sozialdemokratie in der Arbeiterpartei wegen Streitigkeiten darüber, ob Materialismus oder Machismus, zu behindern, wäre meiner Ansicht nach eine unverzeihliche Dummheit. Wir müssen uns wegen der Philosophie so in den Haaren liegen, daß der »Proletarier« und die B[olsch]e[wi]sten, als Fraktion der Partei, davon nicht berührt werden. Und das ist durchaus möglich.
Und Sie müssen meiner Meinung nach dabei mithelfen. Helfen können Sie aber dadurch, daß Sie im » Prol[etarier]« über neutrale (d. h. durch nichts mit der Philosophie verknüpfte) Fragen der Literaturkritik, der Publizistik und des künstlerischen Schaffens usw. schreiben. Ihren Artikel hingegen – wenn Sie eine Spaltung verhindern und neuen Zank lokalisieren wollen – sollten Sie umarbeiten: alles, was auch nur indirekt mit der Bogdanowschen Philosophie verbunden ist, müßten Sie anderswohin verlegen. Sie haben ja gottlob Stellen genug, wo Sie schreiben können, abgesehen vom » Prol[etarier].« Alles, was mit Bogdanows Philosophie nicht zusammenhängt – und der größte Teil Ihres Artikels hängt nicht mit ihr zusammen – müßten Sie in einer Reihe Artikel für den » Proletarier« darlegen. Eine andere Haltung Ihrerseits, d. h. eine Weigerung, den Artikel umzuarbeiten, oder eine Verweigerung der Mitarbeit am »Proletarier,« wird meiner Meinung nach unvermeidlich zu einer Verschärfung des Konfliktes unter den B[olsch]e[wi]sten führen, zu einer Erschwerung der Lokalisierung eines neuen Zankes, zu einer Schwächung der dringenden, praktisch und politisch notwendigen Sache der revolutionären S.-D. in Rußland.
Dies ist meine Meinung. Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich denke, und erwarte jetzt Ihre Antwort.
Heute wollten wir zu Ihnen reisen, aber es erwies sich, daß wir es um mindestens eine Woche, vielleicht auch um zwei, drei Wochen aufschieben müssen.
Ich drücke Ihnen kräftig die Hand.
Ihr W. LENIN.
[März 1908]. Der Brief ist nicht datiert. Zweifellos fällt er in den Monat März 1908 und geht dem Brief Nr. 7 voran, der mit dem 16. März datiert ist.
Teurer A. M.!
Ziemlich lange habe ich Ihnen nicht mehr geschrieben. Unsere Reise verzögert sich immer wieder: jetzt eben ist das Haupthindernis – das Fehlen jeglicher Nachrichten aus Brüssel. Mir wurde von meinen dortigen Freunden geschrieben, daß man mich dort zur Sitzung des Büros (des Intern[ationalen] Sozial[istischen]) erwarte. Ich fragte den Sekretär an, wann ich denn kommen solle (da ich nach Italien müsse). Eine Antwort habe ich noch nicht erhalten.
Und Brüssel darf man nicht versäumen.
Haben Sie den » Prol[etarier]« erhalten? Was haben Sie denn für Absichten in bezug auf ihn? Und An. Wass. [Lunatscharski]? Seine Weigerung, über die Kommune zu schreiben, habe ich mit Bedauern erhalten. Unser dritter Redakteur ist Innokentij [Dubrowinski]. Schreiben Sie mir, ob Sie und An. Wass. irgendwelche Pläne für den Proletarier haben.
Mit Händedruck.
Ihr LEN[IN].
16. März 08.
Teurer A. M.!
Wie ärgerlich, daß aus meiner Reise zu Ihnen nichts wird. Aus Brüssel habe ich Antwort erhalten, und hier stände nichts im Wege. Aber ich habe kein Geld, keine Zeit, ich kann die Zeitung nicht im Stich lassen.
Danach zu urteilen, daß Sie eine Ziege haben und daß dies Tatsache ist – ist Ihre Stimmung gut und Ihre Geistesverfassung die richtige und Ihr Leben normal. Bei uns hingegen klappt es nicht so recht. Mit A. Al. (Bogdanow) bin ich gewissermaßen verzankt. Die Zeitung vernachlässige ich wegen meiner philosophischen Passion: heute lese ich einen Empiriokritiker und schimpfe wie ein Rohrspatz; morgen – einen anderen – und fluche wie ein Fuhrmann. Und Innokentij [Dubrowinski] schilt mich, und mit Recht, wegen meiner Nachlässigkeit dem »Proletarier« gegenüber. Es klappt nicht recht.
Na, anders kann es nicht sein. Kommt Zeit – kommt Rat.
Es wäre herrlich, wenn es Ihnen möglich wäre, für den »Prol[etarier]« zu schreiben ohne Abbruch für die großen Arbeiten.
Ich drücke Ihnen die Hand – und herzlichen Gruß an A[natol] Wass[iljewitsch] und an M[aria] Fe[odorowna].
Ihr LENIN.
24. März 08.
An Al. M-tsch persönlich.
Teurer A. M.!
Ich habe Ihren Brief bezüglich meiner Rauferei mit den Machisten bekommen. Ich verstehe und achte vollkommen Ihr Gefühl und muß sagen, daß ich von meinen Petersburger Freunden etwas Ähnliches erhalte, aber ich bin tiefinnerst überzeugt, daß Sie sich irren.
Sie müssen und werden es natürlich verstehen, daß, wenn ein Parteimensch einmal zu der Überzeugung der doppelt- und dreifachen Irrtümlichkeit und der Schädlichkeit einer bestimmten Lehre kommt, es seine Pflicht ist, gegen dieselbe vorzugehen. Ich hätte kein Geschrei erhoben, wenn ich mich nicht unbedingt davon überzeugt hätte (und ich überzeuge mich mit jedem Tage immer mehr davon, je näher ich die Urquellen der Weisheit von Bas[arow], Bogd[anow] und Co. kennen lerne), daß ihr Buch – durch und durch unsinnig, schädlich, philiströs, pfäffisch von A bis Z ist, von den Zweigen bis zur Wurzel, bis zu Mach und Avenarius. Plechanow ist im wesentlichen durchaus im Recht ihnen gegenüber, nur versteht er es nicht, oder er will nicht, oder er ist zu träge, das konkret, ausführlich, einfach zu sagen, ohne das Publikum durch philosophische Feinheiten einzuschüchtern. Und ich werde das in meiner Weise sagen, koste es was es wolle.
Von was für einer »Versöhnung« kann denn hier die Rede sein, lieber A. M.? Ich bitte Sie, es ist lächerlich, davon auch nur anzufangen. Der Kampf ist absolut unvermeidlich. Und die Parteileute müssen ihre Bemühungen nicht auf ein Zusammenkitten, ein Aufschieben oder ein Ausweichen richten, sondern darauf, daß die praktisch notwendige Parteiarbeit nicht darunter leidet. Dafür müssen Sie sorgen, und neun Zehntel der russischen B[olsch]e[wi]sten werden Ihnen hierin helfen und Ihnen großen Dank dafür sagen.
Wie das zu machen ist? Durch »Neutralität«? Nein. Neutralität kann und wird es in einer solchen Frage nicht geben. Wenn man davon reden kann, dann allenfalls in bedingtem Sinn: man muß diesen ganzen Zwist von der Fraktion scheiden. Bisher haben Sie »abseits« geschrieben, außerhalb der fraktionellen Veröffentlichungen; schreiben Sie auch ferner so. Nur so wird die Fraktion nicht engagiert, nicht hineinverwickelt, nicht gezwungen, morgen oder übermorgen zu entscheiden, ob zustimmen, d. h. den Zwist in einen chronischen, langwierigen, aussichtslosen zu verwandeln.
Eben deswegen bin ich gegen die Aufnahme irgendwelcher Philosophie in die Zeitschrift. Es handelt sich um eine von A. M. Gorki geplante Zeitschrift mit bolschewistischen Mitarbeitern. Die Herausgabe einer solchen Zeitschrift ist nicht zustande gekommen. Ich weiß, man schilt mich dafür: er will anderen den Mund verbieten, bevor er noch seinen eigenen aufgetan hat! Aber denken Sie nur einmal kaltblütig darüber nach.
Die Zeitschrift mit Philosophie: No. 1 – drei Artikel von Bas[arow], Bogd[anow], Lunatsch[arski] gegen Plech[ano]w. Ein Artikel von mir, wo es heißt, daß die »Umr[isse] der Ph[ilosophie] des M[arxis]mus« – Berdjaewsche Philosophie und Pfaffengewäsch sind.
No. 2 – dreimal drei Artikel von Bogd[anow], Bas[arow], Lunatsch[arski] gegen Plech[anow] und Lenin in gereiztem Tone. Ein Artikel von mir, wo andererseits bewiesen wird, d[aß] die »Umr[isse] der Ph[ilosophie] des M[arxis]mus« – Pfaffengewäsch sind.
Nr. 3 – Heulen und Fluchen!
Ich kann sechs oder zwölf Artikel gegen die »Umr[isse] der Ph[ilosophie] des M[arxis]mus« schreiben, je einen Artikel gegen jeden Verfasser und gegen jede Seite ihrer Anschauungen. Kann das so weitergehen? Wie lange? Macht dies eine Spaltung nicht unvermeidlich infolge endloser Verschärfung und Erbitterung? Verpflichtet dies die Fraktion nicht zu einer Entscheidung: fasse doch einen Beschluß, werde dir doch klar darüber, mache doch der »Diskussion« durch ein Votum endlich ein Ende …
Denken Sie gründlich darüber nach, wenn Sie eine Spaltung befürchten. Werden die Praktiker es übernehmen, Bücher mit einem solchen »Kampfe« zu verbreiten? Ist der andere Weg nicht besser: schreibt, wie bisher, abseits, außerhalb der Fraktionspresse. Zankt euch abseits, die Fraktion kann vorläufig warten. Wenn eine Möglichkeit besteht, die unvermeidliche Erbitterung abzuschwächen, so ist es nur diese, meiner Ansicht nach.
Sie schreiben: die Me[nschewi]sten werden in diesem Zanke gewinnen. Sie irren sich, Sie irren sich gründlich, A. M.! Sie werden gewinnen, wenn die Beksche Die Bolschewisten wurden manchmal der Kürze halber »Beks« genannt, daher »Beksche Fraktion«, anstatt »bolschewistische Fraktion.« Fraktion sich nicht von der Philosophie dreier B[olsch]e[wi]sten absondert. Dann werden sie endgültig gewinnen. Wenn hingegen der philosophische Zwist außerhalb der Fraktion seinen Verlauf nehmen wird, dann werden die M[enschewi]sten sich endgültig auf die Politik beschränkt sehen, und das ist ihr Tod.
Ich sage: den Zwist von der Fraktion scheiden. Natürlich ist es ein bißchen schwierig, ein bißchen schmerzhaft, diese Scheidung an lebendigen Menschen vorzunehmen. Dazu gehört Zeit; gehören sorgsame Genossen. Hier können die Praktiker helfen, hier müssen Sie helfen, – hier ist »Psychologie,« hier ist Ihr Arbeitsfeld. Ich glaube, Sie könnten hier viel helfen – wenn Sie natürlich nach dem Lesen meines Buches gegen die »Umrisse« nicht ebenso wütend auf mich werden, wie ich – gegen sie. Überlegen Sie sich das mit der Zeitschrift ordentlich und antworten Sie mir bald. Ich bin ein wenig im Zweifel, ob es sich lohnt, daß wir jetzt zusammen D. h. mit Al. Al. Bogdanow. zu Ihnen kommen? Was nützt es, die Nerven überflüssigerweise zu martern? »Langer Abschied« … und ohne Zank geht's nun doch einmal nicht. Wäre es nicht besser, die Sache mit der Zeitschrift ohne lange Unterhandlungen, ohne feierliche und zu nichts führende Konferenzen möglichst einfach zu entscheiden? Diese Fragen stelle ich Ihnen nur, um mich mit Ihnen zu beraten.
Herzlichen Gruß an M. F. Nach Capri komme ich ganz bestimmt und will mich bemühen, auch meine Frau mitzubringen, nur möchte ich es gern unabhängig von dem philos[ophischen] Zank tun.
Ich drücke Ihnen kräftig die Hand.
Ihr LENIN.
P. – Ich füge eine wichtige Mitteilung betreffs eines Spitzels bei Ihnen bei. Diese Mitteilung ist nicht in unserem Besitz.
1. April 08.
Der Brief ist nicht datiert. Der ihm angewiesene Platz wurde nach dem Inhalte bestimmt.
Warum haben wir keine Nachrichten von Ihnen, teurer A. M.? Längst schon, schrieben Sie, hätten Sie Ihre große Arbeit beendet, und wollten uns im »Proletarier« helfen. Wann denn? Wie wäre es, wenn Sie uns ein Feuilletönchen schickten über Tolstoi oder dergl.? Schreiben Sie doch, ob Sie die Absicht haben.
Al. Al. [Bogdanow] ist zu Ihnen abgereist. Ich kann weder die Zeitung im Stiche lassen, noch mich von der Arbeit losreißen. Nun, das ist nur ein Aufschub, ich komme doch.
Wie finden Sie den » Proletarier?« Verwahrlost ist er. Ich habe noch nie meine Zeitung so vernachlässigt: ganze Tage lang lese ich die verdammten Machisten, und meine Zeit[ungs]artikel schreibe ich unglaublich flüchtig.
Nun, ich drücke Ihnen die Hand.
Ihr LE[NIN]
An M. F-na tausend Grüße! Ich komme auf dem Fahrrade zu ihr.
Tragen Sie auch Anat[ol] Wass[iljewitsch] auf, für den » Prol[etarier]« zu schreiben! Lassen Sie mich ein wenig in philosophischer Tonart schimpfen, helfen Sie so lange dem »Proletarier!«
16. April 08.
Teurer Al. M.!
Ich erhielt heute Ihren Brief und beeile mich, zu antworten. Eine Reise ist für mich unnütz und
schädlich: mit Leuten sprechen, die darauf aus sind, eine Vereinigung des wissensch[aftlichen] Sozialismus mit der Religion zu predigen,
kann und will ich
nicht. Die Zeit der Heftchen
»Die Heftchen« sind eine Anspielung auf jenen Briefwechsel zwischen Wladimir Iljitsch und A. Bogdanow in Fragen der Philosophie, von dem Wladimir Iljitsch in seinem Briefe Nr. 5 erzählt. ist vorüber. Streiten läßt sich nicht, nutzlos an den Nerven zu zerren ist dumm. Man muß die Ph[iloso]phie von den Partei-(Fraktions-)Angelegenheiten
scheiden: hierzu verpflichtet auch der Beschluß der B. Z.
B. Z. ist die Bolschewistische Zentrale, de facto das Zentralkomitee der bolschewistischen Fraktion der damals noch vereinigten Partei. »Die Bolschewistische Zentrale« wurde auf der Fraktionsberatung der bolschewistischen Delegierten des Londoner Kongresses im Mai 1907 gewählt und bestand aus Lenin, Sinowjew, Bogdanow, Dubrowinski, Roschkow, Kamenew u. a.
Der Beschluß der B. Z., von dem im Briefe die Rede ist, lief auf eine Trennung der philosophischen Streitigkeiten von den Angelegenheiten der Fraktion und auf die Unzulässigkeit philosophischer Streitfragen in den Spalten des »Proletarier« hinaus.
Ich habe schon die denkbar formellste Kriegserklärung
zum Druck eingesandt.
Hier spricht Wladimir Iljitsch von seinem Artikel »Der Marxismus und der Revisionismus« im Almanach »Karl Marx« (St. Petersburg, 1908), den gerade in jenen Tagen eine Gruppe von Bolschewisten (W. Worowski, L. Kamenew, Sinowjew, Roschkow) in Petersburg herauszugeben im Begriff stand. Seinen Artikel versah Wladimir Iljitsch mit folgender Anmerkung: »S. das Buch »Umrisse der Philosophie des Marxismus« von Bogdanow, Basarow u. a. Hier ist nicht der Ort, dies Buch zu besprechen, und ich muß mich vorläufig auf die Erklärung beschränken, daß ich in allernächster Zeit in einer Reihe von Artikeln oder in einer besondern Broschüre zeigen werde, daß alles, was im Texte über die neukantianischen Revisionisten gesagt ist, sich im wesentlichen auch auf diese »neuen« neohumeistischen und neoberkeleyanischen Revisionisten bezieht.«
Im Texte seines Artikels charakterisierte Wladimir Iljitsch den Revisionismus in der Philosophie mit folgenden Worten: »Auf dem Gebiete der Philosophie bewegte sich der Revisionismus am Gängelbande der bürgerlichen Professoren-»Wissenschaft«. Die Professoren kehrten »zurück zu Kant«, – und der Revisionismus schleppte sich hinter den Neokantianern her; die Professoren wiederholten tausendmal von den Popen hergebetete Trivialitäten gegen den philosophischen Materialismus – und die Revisionisten murmelten mit herablassendem Lächeln (Wort für Wort nach dem letzten Handbuch), daß der Materialismus schon längst »widerlegt« sei; die Professoren behandelten Hegel wie »einen toten Hund«, und während sie selber den Idealismus predigten, nur einen tausendmal kleinlicheren und trivialeren als den Hegelschen, hatten sie für die Dialektik nur ein verächtliches Achselzucken, – und die Revisionisten folgten ihnen geradeswegs in den Sumpf der philosophischen Trivialisierung der Wissenschaft, indem sie die »schlaue« (und revolutionäre) Dialektik durch eine »einfache« (und ruhige) »Evolution« ersetzten; die Professoren verdienten sich ihr Staatsgehalt, indem sie sowohl ihre idealistischen als auch ihre »kritischen« Systeme der herrschenden mittelalterlichen »Philosophie« (d. h. Theologie) anpaßten – und die Revisionisten schmiegten sich an sie an, indem sie sich bemühten die Religion zu einer »Privatsache« zu machen, nicht in bezug auf den modernen Staat, sondern auf die Partei der führenden Klasse.
Was für eine Klassenbedeutung dergleichen an Marx vorgenommene »Berichtigungen« tatsächlich hatten, braucht nicht erst gesagt zu werden – es ist ohne weiteres klar. Wir wollen nur bemerken, daß der einzige Marxist in der internationalen Sozialdemokratie, der an den unglaublichen Abgeschmacktheiten, die die Revisionisten hier geäußert haben, vom Standpunkte eines folgerichtigen dialektischen Materialismus Kritik geübt hat – Plechanow war. Es ist um so notwendiger, dies ausdrücklich zu betonen, als heutzutage von Grund aus irrige Versuche angestellt werden, alten reaktionären philosophischen Kram unter der Fahne der Kritik des taktischen Opportunismus von Plechanow durchzuschmuggeln.« (S. 211-212).
Dies war in der Literatur die erste öffentliche Erklärung, die Wladimir Iljitsch über seine Stellungnahme zu der Philosophie Bogdanows, Basarows u. a. abgab. Besonders wesentlich darin ist im Hinblick auf die damaligen Fraktionsbeziehungen seine gerade und offene Solidarität mit Plechanow. Das war tatsächlich eine »Kriegserklärung« an Bogdanow u. Co. Diplomatie ist hier nicht mehr angebracht, – ich spreche natürlich nicht im schlechten Sinne von der Diplomatie, sondern im guten.
Eine »gute« Diplomatie Ihrerseits, lieber A. M. (wenn Sie sich nicht auch zu Gott bekehrt haben), müßte in einer Scheidung unserer gemeinsamen (d. h. mich eingeschlossen) Angelegenheiten von der Ph[iloso]phie bestehen.
Aus einem Gespräch über andere Angelegenheiten außer der Philosophie würde jetzt nichts werden: es würde unnatürlich herauskommen. Übrigens, wenn diese anderen Angelegenheiten wirklich keine philosophischen sind, sondern wenn der »Prol[etarier]« zum Beispiel gerade jetzt und gerade bei Ihnen ein Gespräch erfordert, so könnte ich kommen (ich weiß nicht, ob ich das Geld dazu aufbringen werde: es sind da eben jetzt Schwierigkeiten), doch ich wiederhole: nur unter der Bedingung, daß ich über Philosophie und Religion nicht spreche.
Zu Ihnen will ich ganz bestimmt kommen, sobald ich freier bin und meine Arbeit beendet habe, um zu plaudern.
Ich drücke Ihre Hand kräftig.
Ihr L[ENIN].
An M. F-na einen herzlichen Gruß: sie ist wohl nicht für Gott, was?
19. April 08.
Teurer A. M.!
Ich habe Ihr und M. F.'s Telegramm erhalten und schicke Ihnen heute oder morgen früh meine Absage. Ich wiederhole es nochmals, – es ist keinesfalls zulässig, Literatenstreitigkeiten über Philosophie mit der Sache der Partei (d. h. der Fraktion) durcheinanderzumengen. Ich habe dies schon An[atol] Wass[iljewitsch] [Lunatscharski] geschrieben, und um allen Mißdeutungen oder Trugschlüssen aus meiner Absage, zu Ihnen zu kommen, vorzubeugen, wiederhole ich es für alle Genossen. Wir müssen unsere Fraktionssache nach wie vor gemeinschaftlich führen; die Politik, die wir während der Revolutionszeit geführt und durchgeführt haben, hat niemand von uns gereut. Also ist es unsere Pflicht, sie gegen die Partei zu verteidigen und durchzuführen. Das können wir nur alle zusammen machen und müssen es im » Prol[etarier]« und in der ganzen Parteiarbeit tun.
Wenn hierbei A den B oder B den A wegen seiner Philosophie ausschimpft, so müssen wir das gesondert, das will besagen – ohne Nachteil für die Sache, tun.
Ich bitte Sie und die Genossen inständig, meine Weigerung, hinzukommen, nicht schlecht auszulegen. Ich bitte sehr um Entschuldigung, aber nach der ganzen Sachlage und dem Stande der Redaktion kann ich nicht reisen.
Ich sende allen einen kräftigen Händedruck,
Ihr LENIN.
Von An[atol] Wass[iljewitsch] [Lunatscharski] erwarten wir baldmöglichst den versprochenen Artikel über den römischen Streik.
Von allen Literaten erwarten wir Hilfe für den » Proletarier«: wir tragen alle die Verantwortung vor den Russen, die unzufrieden mit ihm sind.
Al. Al. [Bogdanow] soll sich ordentlich um Geld
bemühen. In Rußland heult man vor Geldmangel.
In dem im Institut vorhandenen Paket Briefe folgt auf diesen Brief eine lange Pause, die genau 2 Jahre umfaßt. Ob Wladimir Iljitsch während dieses Zeitraumes (April 1908 – April 1910) an Gorki geschrieben hat? Ob die Briefe dieser Periode verlorengegangen sind? das ist uns unbekannt. Es läßt sich vermuten, daß der Briefwechsel während dieser Jahre unterbrochen wurde. Der Kampf zwischen Wladimir Iljitsch und der Gruppe A. A. Bogdanows, von der in den obigen Briefen Wladimir Iljitschs die Rede war, spitzte sich in jener Zeit immer mehr zu. Im Herbste 1908 beendete Wladimir Iljitsch sein Buch gegen Bogdanow, Basarow, Lunatscharski u. a. (»Materialismus und Empiriokritizismus. Kritische Betrachtungen über eine reaktionäre Philosophie.« – Erschienen in Moskau, im Frühjahr 1909). Anfang 1909 brach der »Proletarier« sein Schweigen hinsichtlich der Streitfragen und brachte in Nr. 42, vom 25.(12.) Febr. 1909, einen Artikel von Kamenew: »Getrennte Wege«, der gegen die von A. A. Bogdanows Gruppe vertretenen Anschauungen gerichtet war. Der letztere legte, als Mitglied der Bolschewistischen Zentrale, formellen Protest ein. Zu gleicher Zeit gingen A. A. Bogdanow, A. W. Lunatscharski u. a., mit nächster Beihilfe und Mitwirkung von A. M. Gorki, an die Organisation einer »Schule« auf Capri für eine Gruppe von ihnen aus Rußland dorthin berufener Arbeiter. In dieser »Schule« sahen Wladimir Iljitsch und seine nächsten Genossen natürlicherweise den Versuch, den Grund zu legen zu einer Fraktionsorganisation der Anhänger Bogdanows. Wladimir Iljitsch weigerte sich, in dieser Schule Vorlesungen zu halten (s. seinen Absagebrief. Gesammelte Werke, Bd. XI, I. Teil, S. 287-288). Im Juni 1909 fand in Paris eine Konferenz der »Bolchewistischen Zentrale« statt (die sogenannte Beratung der erweiterten Redaktion des »Proletarier«), auf der es zu einem endgültigen Bruch zwischen den Leninschen Bolschewisten und Bogdanow, Lunatscharski, Alexinski u. a. kam. Die auf dieser Konferenz mit allernächster Mitwirkung von Wladimir Iljitsch ausgearbeiteten Beschlüsse betrafen, unter anderem, auch die im Briefwechsel zwischen Wladimir Iljitsch und Gorki berührten Themen.
Der Beschluß »Über die religiösen Tendenzen in den sozialdemokratischen Kreisen« lautete: – »In Anbetracht dessen, daß gegenwärtig, wo – in der Atmosphäre des Verfalls in der sozialen Bewegung – das Wachsen der religiösen Stimmungen in der konterrevolutionären bürgerlichen Intelligenz den Fragen dieser Art eine wichtige öffentliche Bedeutung verliehen hat und im Zusammenhang mit diesem Wachsen der religiösen Stimmungen von einzelnen Sozialdemokraten Versuche gemacht werden, mit der Sozialdemokratie die Predigt des Glaubens und der Religiosität zu verbinden und sogar dem wissenschaftlichen Sozialismus den Charakter eines religiösen Glaubens beizulegen – erklärt die erweiterte Redaktion des »Proletarier«, daß sie diese Richtung, die besonders stark in den Artikeln des Genossen Lunatscharski propagiert wird, als eine Richtung betrachtet, die mit den Grundlagen des Marxismus bricht und dem Wesen ihrer Lehren nach und durchaus nicht nur in ihrer Terminologie, der revolutionären sozial-demokratischen Aufklärungsarbeit unter den Arbeitermassen schädlich ist, und daß die bolchewistische Fraktion mit dergleichen Entstellungen des wissenschaftlichen Sozialismus nichts gemein hat.
Indem sie des weiteren konstatiert, daß diese Richtung eine Form des Kampfes der kleinbürgerlichen Tendenzen gegen den proletarischen Sozialismus – den Marxismus – ist und letzteren, soweit sie zu der Besprechung politischer Fragen (wie z. B. im Artikel von Lunatscharski im »Literarischen Verfall«) übergeht, durch die ersteren ersetzt, hält die erweiterte Redaktion des »Proletarier« die Veröffentlichung des Artikels »Getrennte Wege« in Nr. 42 des »Proletarier« für richtig und empfiehlt der Redaktion, wie bisher, Tendenzen dieser Art aufs entschlossenste zu bekämpfen, indem sie deren antimarxistischen Charakter aufdeckt.«
Der nächstfolgende Beschluß, der mit demselben Fragenkomplex zusammenhing, lautete: »Anläßlich des vom Gen. Maximow (Bogdanow bei der erweiterten Redaktion des »Proletarier« eingelegten Protestes gegen den von der Redaktion des »Proletarier« veröffentlichten Artikel »Getrennte Wege« (von L. B. Kamenew) – eines Protestes, der die Androhung einer Spaltung in sich schließt – hält die erweiterte Redaktion des »Proletarier« es für nötig, zu erklären: 1. daß der Hinweis des Gen. Maximow auf eine Verletzung des Beschlusses der Redaktion – in den Spalten eines illegalen Organs keine philosophischen Abhandlungen erscheinen zu lassen – durchaus unbegründet ist, da der Kampf gegen jegliche Form des religiösen Bewußtseins und der religiösen Stimmungen, von wo diese auch ausgehen mögen, eine der notwendigsten und naheliegendsten Aufgaben des Leitorganes der Fraktion ist und die Spalten des »Proletarier« in keiner Weise einem solchen Kampfe verschlossen bleiben konnten; 2. daß ein solcher Protest als ein Versuch angesehen werden muß, die religiöse Propaganda im sozial-demokratischen Kreise zu bemänteln und den »Proletarier« an der Verwirklichung seiner Aufgabe zu hindern.«
Und endlich der Beschluß betreffs der »Schule« auf Capri lautete: »Die erweiterte Redaktion des »Proletarier« erkennt nach eingehender Erörterung der Frage über die Schule auf Capri, daß die Organisation dieser Schule durch eine Gruppe von Initiatoren (darunter ein Mitglied der erweiterten Redaktion des »Proletarier«, Gen. Maximow [A. A. Bogdanow]) von Anfang an unabhängig von der Redaktion des »Proletarier« vor sich ging und von einer Agitation gegen dieselbe begleitet war.
Die erweiterte Redaktion des »Proletarier« konstatiert auf Grund der ganzen Handlungsweise der Initiatoren der Schule auf Capri, daß diese Initiatoren keine allgemeinen Fraktionsziele, d. h. nicht die Ziele der bolschewistischen Fraktion, als einer ideellen Strömung in der Partei, verfolgen, sondern ihre eigenen Ziele einer ideell-politischen Gruppe. Die erweiterte Redaktion des »Proletarier« konstatiert, daß im Zusammenhange mit den Meinungsverschiedenheiten, die in unserer Fraktion bezüglich der Fragen über den Otsowismus, den Ultimativismus, das Verhältnis zu der Predigt des »Gotterschaffens« und überhaupt über die innerparteilichen Aufgaben der Bolschewisten zutage getreten sind, daß im Zusammenhange damit, daß die Initiatoren und Organisatoren der Schule auf Capri ausschließlich Vertreter des Otsowismus, des Ultimativismus und der »Gotterschaffung« sind, – die ideell-politische Physiognomie dieses neuen Zentrums sich mit hinreichender Klarheit bestimmen läßt.
Angesichts alles dieses erklärt die erweiterte Redaktion des »Proletarier«, daß die bolschewistische Fraktion keinerlei Verantwortung für diese Schule tragen kann.« Alle diese Beschlüsse wurden in Nr. 46 des »Proletarier«, vom 3./16. Juli 1909 (Beilage) veröffentlicht und gelangten im Sammelbuche »Die KPR. in den Resolutionen ihrer Kongresse und Konferenzen«, unter L. Kamenews Redaktion, 1898-1922 (S. 113), zum Abdruck.
A. Bogdanow und seine Anhänger, darunter auch A. M. Gorki, traten hierauf als gesonderte Fraktion mit ihrem Organ »Wperiod« [»Vorwärts«] an die Öffentlichkeit. (Die Kritik der neuen Fraktion der »Vorwärtsler« s. im Artikel von Lenin »Über die Fraktion der »Vorwärtsler«, Ges. Werke, Bd. XI, IL Teil, S. 93-99).
Der Bruch der Bolschewisten mit Bogdanow gab der bürgerlichen Presse Anlaß zu zahlreichen Gerüchten, insbesondere hinsichtlich der Beziehungen zwischen den Bolschewisten und Gorki.
Der »Proletarier« (Nr. 50, vom 11. Dezember 1909) reagierte auf diese Gerüchte mit einem speziellen Artikel, »Fabel der bürgerlichen Presse über den Ausschluß Gorkis«, dessen Verfasser Wladimir Iljitsch ist. Hier ist sie: »Mehrere Tage bereits schwelgen die bürgerlichen Zeitungen Frankreichs (»L'Eclair«, »Le Radical«), Deutschlands (»Berliner Tageblatt«) und Rußlands (»Der Morgen Rußlands«, »Die Rede«, »Das Russische Wort«, »Die Neue Zeit«) in der sensationellsten Neuigkeit: »Der Ausschluß Gorkis aus der Sozialdemokratischen Partei.« Der »Vorwärts« hat bereits einen Widerruf dieser Ungereimtheit veröffentlicht. Die Redaktion des »Proletarier« hat ebenfalls an mehrere Zeitungen Widerrufe ergehen lassen, aber die bürgerliche Presse ignoriert dies und fährt fort Klatschereien aufzubauschen.
Die Quelle dieser Klatscherei ist klar: Irgendein Skribent, der mit halbem Ohr von den Meinungsverschiedenheiten im Zusammenhange mit dem Otsowismus und der »Gotterschaffung« gehört hat, (eine Frage, die seit fast einem Jahre in der Partei überhaupt und im »Proletarier« im besonderen erörtert wird), hat die Bruchstücke seiner Auskünfte auf das gottloseste verdreht und an den erdichteten »Interviews« ein »schönes Stück Geld« verdient usw.
Der Zweck dieses lügenhaften Feldzuges ist nicht minder klar. Den bürgerlichen Parteien ist es
erwünscht, daß Gorki aus der sozial-demokratischen Partei austritt. Die bürgerlichen Zeitungen bemühen sich aus Leibeskräften, die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der s.-d. Partei anzufachen und sie in verzerrter Gestalt darzustellen. Die bürgerlichen Zeitungen mühen sich umsonst ab. Genosse Gorki hat sich durch seine großen künstlerischen Werke viel zu stark mit der Arbeiterbewegung Rußlands und der ganzen Welt verbunden, als daß er ihnen anders als mit Verachtung antworten könnte«. (Lenins Ges. Werke, Bd. XI, I. Teil, S. 360).
In der legalen Literatur trat die Gruppe von A. Bogdanow, A. Lunatscharski u. a. zu jener Zeit mit dem Sammelbuche »Umrisse der Philosophie des Kollektivismus« (Erstes Sammelbuch, 1909, Petersburg) an die Öffentlichkeit, wo ein Artikel von Gorki neben Artikeln von Bogdanow, Basarow u. a. veröffentlicht war. Inhalt:
N. Werner (A. Bogdanow): »Wissenschaft und Philosophie«. –
A. Bogdanow: »Die Philosophie des modernen Naturforschers.«
W. Basarow: »Material für die kollektive Erfahrung und die sie organisierenden Formen«. –
A. Lunatscharski: »Kleinbürgertum und Individualismus«. –
M. Gorki: »Die Zerstörung der Persönlichkeit«.
Es ist möglich, daß diese Umstände die zweijährige Unterbrechung im Briefwechsel zwischen Wladimir Iljitsch und Gorki hervorgerufen haben. –
11. April 10.
An Al. Max-tsch.
Teurer A. M.!
Erst heute ist es mir gelungen, Ihren und M. F.'s Brief zu erhalten, der mir durch M. S. Botkina vermittelt wurde. Um es nicht zu vergessen: Sie können mir sowohl an meine persönliche Adresse schreiben (Oulianoff, 4, rue Marie Rose, 4. Paris XIV), als auch an die Parteiadresse – dann ist es sicherer, in 2 Briefumschlägen, und auf dem inneren: persönlich für Lenin (110, Avenue d'Orléans. Mr. Kotliarenko. Paris XIV).
Die gewünschte Literatur will ich versuchen, Ihnen gleich morgen zuzusenden.
Ob ich Sie heruntergemacht habe und wo? Wahrscheinlich, im »Diskus[sions-]Blatt« Nr. 1 (herausgegeben vom Z[entral] O[rgan]).
Das »Diskussions-Blatt« Nr. 1 erschien am 6./19. März 1910 in Paris. Darin stand ein Artikel von Wladimir Iljitsch: »Aufzeichnungen eines Publizisten. Über die ›Plattform‹ der Anhänger und Verteidiger des Otsowismus« (abgedruckt in den Ges. Werken, Bd. XI, II. Teil, S. 13-22). Darin heißt es in bezug auf Gorki: »Übrigens kann man nicht sagen, daß der reale Inhalt, den die zitierten Worte der Plattform haben, durchweg negativ ist. Hinter ihnen birgt sich auch ein gewisser positiver Inhalt. Dieser positive Inhalt läßt sich mit einem Worte ausdrücken: M. Gorki«.
»In der Tat wäre es unnütz, die Tatsache zu verheimlichen, die bereits (mit Entstellungen und Mißdeutungen) von der bürgerlichen Presse ausposaunt worden ist – nämlich, daß M. Gorki zu den Anhängern der neuen Gruppe gehört. Gorki ist zweifellos der bedeutendste Vertreter der
proletarischen Kunst, der viel für sie getan hat und noch mehr tun kann. Jede Fraktion der sozial-demokratischen Partei kann mit Recht auf die Zugehörigkeit Gorkis zu ihr stolz sein, aber auf dieser Grundlage die »proletarische Kunst« in die Plattform einfügen, hieße dieser Plattform ein Armutszeugnis ausstellen, hieße – seine Gruppe auf einen literarischen
Zirkel beschränken, der sich selber gerade als »autoritär« entlarvt. Die Autoren der Plattform reden sehr viel gegen die Autoritäten, ohne geradeheraus zu erklären, worum es sich handelt. Die Sache ist die, daß die Verteidigung des Materialismus in der Philosophie und der Kampf gegen den Otsowismus bei den Bolschewisten ihnen ein Unternehmen einzelner »Autoritäten« scheint (ein Wink mit dem Zaunpfahl), denen die Feinde des Machismus, wie es heißt, »blindlings vertrauen«. Dergleichen Ausfälle sind natürlich durchaus kindisch. Aber gerade mit Autoritäten gehen die »Vorwärtsler« schlecht um. Gorki ist eine Autorität in der Sache der proletarischen Kunst, das läßt sich nicht abstreiten.
Diese Autorität zur Festigung des Machismus und des
Otsowismus auszunutzen suchen (natürlich in ideeller Hinsicht) – heißt
ein Beispiel dafür geben, wie man mit
Autoritäten nicht umgehen soll.
In der Sache der proletarischen Kunst ist M. Gorki ein ungeheures
Plus, trotz seiner Sympathien für den Machismus und Otsowismus. In der Sache der Entwicklung der sozial-demokratischen proletarischen Bewegung ist die
Plattform, die in der Partei die Gruppen der Otsowisten und Machisten absondert, indem sie als spezielle Gruppenaufgabe die Entwicklung einer »proletarisch« sein sollenden Kunst in den Vordergrund rückt, – ein
Minus, denn diese Plattform will gerade das in dem Wirken einer bedeutenden Autorität festlegen und ausnutzen, was deren schwache Seite ist, was als negative Größe in die Summe des ungeheuren Nutzens, den sie dem Proletariate bringt, mit unterläuft.« Ich schicke es Ihnen. Wenn diejenigen, die Ihnen das sagten, etwas anderes im Sinne hatten, so kann ich mich jetzt nicht mehr daran erinnern. Sonst habe ich in dieser Zeit nichts geschrieben.
Jetzt bezüglich der Vereinigung. »Ist es Tatsache oder eine Anekdote?« fragen Sie. Da muß ich weit ausholen, denn in dieser Tatsache liegt ein gewisses »anekdotenhaftes« (mehr kleinliches) Etwas, und auch etwas Ernstes, nach meiner Überzeugung.
Zu einer Parteivereinigung führten und führen ernstliche, eingreifende Faktoren: die Notwendigkeit einer Säuberung der S[ozial]-D[emokra]tie von der Liquidatorenwirtschaft und dem Otsowismus, auf ideellem Gebiete; die fürchterlich schwierige Lage der Partei und der ganzen s[ozial]-d[emokratischen] Arbeit und das Heranreifen eines neuen Typus des S[ozial]-D[emokraten] unter den Arbeitern, auf praktischem Gebiet.
Im Plenum des Z[entral-]K[omitees] Es handelt sich um das Plenum des Z. K. der Partei, das im Anfang des Jahres 1910 in Paris stattfand. Die im Grunde gleiche, jedoch im Vergleich zum Briefe an Gorki ausführlichere Einschätzung des Plenums s. im Artikel von Wladimir Iljitsch: »Aufzeichnungen eines Publizisten. – Die Vereinigungskrise in unserer Partei« »Diskussions-Blatt«, Nr. 2, vom 24. Mai (7. Juni) 1910. – Abgedruckt in den Ges. Werken, Bd. XI, 11. Teil, S. 48-94). (»dem langen Plenum« – drei Wochen lang dauerte die Quälerei, alle Nerven gingen kaputt, Tod und Teufel!) gesellten sich zu diesen ernstlichen und tief eingreifenden Faktoren, die längst nicht allen zum Bewußtsein kamen, kleine und kleinliche hinzu, es kam eine Stimmung der »Versöhnlichkeit überhaupt« (ohne klaren Gedanken, mit wem, wozu, wie), es kam der Haß gegen die b[olschewistische] Zentrale wegen ihres erbarmungslosen ideellen Kampfes hinzu, es kam der Zwist und bei den Me[nschewi]sten der Wunsch, Krakehl zu machen, hinzu – und aus alledem kam ein Kind mit Eiterbeulen heraus.
Und so quälen wir uns denn jetzt ab. Entweder werden wir – bestenfalls – die Eiterbeulen aufschneiden und den Eiter herauslassen, das Kind heilen und aufziehen.
Oder – schlimmstenfalls – das Kind stirbt. Dann werden wir eine Zeitl[an]g kinderlos bleiben (das will heißen: wir werden die b[olschewistische] Fraktion wiederherstellen), und dann werden wir ein gesünderes Kind zur Welt bringen.
Von den Me[nschewi]sten streben etliche einer ernstlichen Vereinigung zu (nicht ganz bewußt zwar, langsam, schwankend, aber sie streben doch und, was die Hauptsache ist, sie können nicht anders als vorwärts streben) – die Plechanowianer, die
Parteiler, die Arbeiter. Die Stimmler
Die Stimmler sind die Anhänger der »Stimme des Sozial-Demokraten«, des Organs der Menschewisten (Paris, 1908-1913), redigiert von J. Martow, F. Dan, P. Axelrod u. a. hingegen machen Ausflüchte, bringen Verwirrung, schaden. Es bildet sich bei ihnen ein starkes, legales, opportunistisches Zentrum in Rußland (Potressow & Co. in der Literatur: s. »Unser Morgenrot,« Nr. 2 – welcher …, dieser Potressow! – und Michail, Roman, Jurij – die 16 Verfasser des offenen Briefes in Nr. 19/20 der »Stimme« – in der praktischen Organisationsarbeit).
»Unsere Morgenröte« – eine legale Zeitschrift der Menschewisten in Petersburg (1910-1914) … In Nr. 2 dieser Zeitschrift des Jahrganges 1910 befindet sich ein Artikel von A. N. Potressow: »Wie es kam, daß Kleinigkeiten die Oberhand gewannen.« Dieser Artikel rief unter den Bolschewisten und überhaupt unter allen Verfechtern einer Erhaltung und Festigung der illegalen Partei besonders starke Entrüstung hervor, denn er enthielt einen offenen Aufruf zur Liquidation der revolutionären Geheimparteien.
Michail (Issuf) Roman (Jermolajew), Jurij (Tschatzki-Bronstein), Mitglieder des Z. K., Menschewisten, die sich weigerten an den Wideraufbau des Z.-Komitees und der illegalen Organisation zu schreiten und dadurch den Beschluß des Plenums des Z. K. zunichte machten.
Der »offene Brief« in Nr. 19-20 (Januar-Februar 1910) der »Stimme des Sozial-Demokraten« war von 16 Anhängern des Standpunktes von Potressow und den obenerwähnten Menschewisten aus dem Z. K. unterschrieben und enthielt eine Verteidigung der Stellung der »Liquidatoren«. Der Artikel Potressows, die Handlungsweise der drei menschewistischen Mitglieder des Z.K. und der »offene Brief«, worin die Bolschewisten einen Aufruf zur Zerstörung der revolutionären Partei des Proletariats ersahen, riefen seitens Wladimir Iljitschs einen wütenden Angriff gegen die Liquidatoren hervor. (S. seinen Artikel, »Die Stimme der Liquidatoren wider die Partei« u. a., in den Ges. Werken, Bd. XI, II. Teil, S. 29-36).
Das Plenum des Z[entral-]K[omitees] hatte den Wunsch, alle zu vereinigen. Jetzt werden die Stimmler abtrünnig. Diese Eiterbeule muß entfernt werden. Ohne Zank, Skandal, Plackerei, Schmutz und »Bodensatz« ist das nicht zu machen.
Wir sitzen jetzt mitten in dem dicksten Quark. Entweder wird das russische Z[entral-]K[omitee] den Stimmlern die Flügel stutzen, indem es sie aus den wichtigen Behörden (so z. B. aus dem Z[entral-]Organ usw.) entfernt, oder wir werden die Fraktion wiederherstellen müssen.
Plechanow hat in Nr. 11 des »Tagebuches« eine Einschätzung des Plenums gegeben, die deutlich bewies, daß bei ihm jetzt der aufrichtige und ernste Wunsch nach einer Bekämpfung des Opportunismus den kleinen und kleinlichen Wunsch überwiegt, die Stimmler-Opportunisten gegen die B[olsch]e[wi]sten auszunutzen. G. W. Plechanow hatte schon mehrere Monate vor diesem Briefe Wladimir Iljitschs mit den Menschewisten gebrochen, war aus den Redaktionen aller legalen und illegalen menschewistischen Zeitungen ausgetreten und hatte die Veröffentlichung seines eigenen Organs: »Das Tagebuch des Sozial-Demokraten« erneuert, in welchem er die revolutionäre Geheimpresse verteidigte. Auf diese Weise schien ein Zusammenarbeiten des Leninschen und Plechanowschen Blocks gegen die Liquidatoren möglich. Dieses Zusammenarbeiten verwirklichte sich tatsächlich: Plechanow veröffentlichte 1910-1913, zum ersten Male nach dem Bruch von 1903, eine Reihe von Artikeln in den von Lenin redigierten Zeitschriften und Zeitungen (»Sozial-Demokrat«, die Zeitschrift »Der Gedanke«, die Zeitungen »Der Stern« und »Die Wahrheit«).Hier geht auch ein verwickelter Wirrwarr vor sich, aber das legalistische, liquidatorische Zentrum der Me[nschewi]sten, das sich in Rußland gebildet hat, führt unvermeidlich dazu, daß ernsthafte S[ozial-]D[emokraten] sich von ihnen abgestoßen fühlen.
Jetzt [ – ] bei den »Vorwärtslern«. Eine Zeit lang schien es mir, daß es auch innerhalb dieser Gruppe zwei Richtungen gäbe: zur Partei, zum Marxismus, zur Lossage von Machismus und Otsowismus – und das Gegenteil. Der ersteren würde eine Parteivereinigung den Weg zu einem bequemen, nicht beschämenden Entgegenkommen zwecks Widergutmachung der offenkundigen Ungereimtheiten des Otsowismus usw. ebnen. Aber die zweite Strömung gewinnt bei ihnen augenscheinlich die Oberhand. Alexinski (ein richtiges Wickelkind in der Politik, jedoch ein bösartiges und eine Dummheit nach der anderen begehendes Wickelkind) ist mit einem Krach sowohl aus der Redaktion des »Diskus[sions-]Blattes« als auch aus der Parteischulkommission ausgetreten. Wahrscheinlich werden sie doch ihre Schule begründen, wieder eine Fraktionsschule, wieder abseits. Wenn es so kommen sollte – so wollen wir wiederum Streit führen, wollen ihnen die Arbeiter abspenstig machen.
Und so stellt es sich denn heraus, daß das »Anekdotenhafte« im Zusammenschluß jetzt eben vorwiegt, sich in den Vordergrund drängt, zu hämischem Kichern und dgl. Anlaß gibt. Man sagt, der S[ozial-]R[evolutionär] Tschernow habe anläßlich des Zusammenschlusses der S[ozial-]D[emokraten] sogar ein Vaudeville unter dem Titel »Der Sturm im Wasserglase« geschrieben, und dies Vaudeville gelange dieser Tage in einer (sensationslustigen) Gruppe der Emigrantenkolonie Dies fand tatsächlich in der Pariser Kolonie statt. Der Verfasser des Vaudevilles war der »bekannte« Sozialrevolutionär W. Tschernow. zur Aufführung.
Mitten drin in diesem »Anekdotenhaften,« in diesem Gezänk und Skandal, dieser Plackerei und diesem »Bodensatz« zu sitzen, ist ekelhaft; das alles mit anzusehen – ist auch ekelhaft. Aber es ist unverzeihlich, sich seiner Stimmung hinzugeben. Das Emigrantentum ist jetzt hundertmal drückender als vor der Revolution. Emigrantentum und Zänkerei sind unzertrennlich.
Aber die Zänkerei wird wegfallen; die Zänkerei wird zu neun Zehnteln im Ausland bleiben; die Zänkerei ist ein Akzessorium. Die Entwicklung der Partei dagegen, die Entwicklung der s[ozial-]d[emokratischen] Bewegung schreitet und schreitet vorwärts durch alle verteufelten Schwierigkeiten des jetzigen Zustandes. Die Säuberung der s[ozial-]d[emokratischen] Partei von ihren gefährlichen »Abweichungen,« vom Liquidatorentum und Otsowismus schreitet unaufhaltsam vorwärts; im Rahmen des Zusammenschlusses ist sie bedeutend weiter vorgeschritten als früher. Mit dem Otsowismus sind wir, im Grunde genommen, bereits im Plenum ideell fertig gewesen. Mit dem Liquidatorentum haben wir damals keinen Schluß gemacht, weil es den Me[nschewi]sten gelungen war, eine Zeitlang die Schlange zu verbergen, jetzt aber hat man sie ans Tageslicht befördert, jetzt sehen sie alle, jetzt wollen wir sie vernichten, – und wir werden es erreichen!
Und diese Säuberung ist durchaus nicht nur eine »ideelle« Aufgabe, durchaus nicht nur »Literatur,« wie dieser … Potressow meint, der ebenso für die Machisten eintritt, wie die Men[schewi]sten im Plenum für die »Vorwärtsler« eingetreten sind. Nein, diese Säuberung ist untrennbar mit dem Kern der Arbeiterbewegung verbunden, die in der heutigen schwierigen Zeit das Wesen der s[ozial-]d[emokratischen] Arbeit lernt, und zwar auf dem Wege der Verneinung lernt, auf dem Wege der Verneinung des Liquidatorentums und des Otsowismus ihre Fahrt antritt. Nur der … Trotzki bildet sich ein, man könne diese Verneinung umgehen, sie wäre überflüssig, das ginge die Arbeiter nichts an, die Fragen des Liquidatorentums und des Otsowismus würden nicht vom Leben, sondern von der Presse der bösen Polemiker gestellt.
Ich kann mir vorstellen, wie schwer es jenen fällt, die das schwierige Wachsen der neuen s[ozial-]d[emokratischen] Bewegung am Ende der 80er und am Anfang der 90er Jahre nicht mit angesehen und miterlebt haben, dieses schwierige Wachsen jetzt mit anzusehen. Damals gab es nur wenige Dutzend oder noch weniger solcher S[ozial-]D[emokraten]. Jetzt sind ihrer Hunderte und Tausende. Daher die Krisis und die Krisen. Und die S[ozial-]D[emokratie] in ihrer Gesamtheit macht sie offen durch und wird sie auch weiterhin ehrlich durchkämpfen.
Mit kräftigem Händedruck.
Ihr LENIN.
22. Nov. 10.
Teurer A. M.!
Ich schrieb Ihnen vor ein paar Tagen und schickte Ihnen die »Arb[eiter-]Zeitung »Die Arbeiterzeitung« – eine populäre Zeitung, herausgegeben von den Bolschewisten in Paris, 1910-1912 (unter der Redaktion von Lenin, Sinowjew und Kamenew) nach dem Bruch mit den Menschewisten und mit Trotzki. Nr. 1 erschien am 31. Oktober (13. November) 1910. Nr. 9 (die letzte) – am 30. Juli (12. August) 1912.«; ich fragte Sie auch, was aus der Zeitschrift geworden wäre, von der wir im Sommer Im Sommer 1910 verbrachte W. I. ein paar Tage bei Gorki auf Capri. sprachen und von der Sie mir zu schreiben versprachen.
Heute lese ich in der »Rjetsch« eine Anzeige bezüglich des »Sowremennik«, herausgegeben »unter allernächster und ausschließlicher Mitwirkung [so steht es da gedruckt! in völliger Unkenntnis der Grammatik, aber um so prätentiöser und vielsagender] von Amphiteatrow« und mit Ihrer ständigen Mitarbeit.
Was ist das? Was heißt das? »Eine große Monatsschrift,« mit Abteilungen für »Politik, Wissenschaft, Geschichte, öffentliches Leben,« – das ist ja aber ganz und gar nicht dasselbe wie die Sammelbücher, die die besten Kräfte der schönen Literatur zu konzentrieren suchten. Eine solche Zeitschrift muß doch entweder eine ganz bestimmte, ernsthafte, streng durchgeführte Richtung haben, oder sie wird sich und ihre Mitarbeiter unfehlbar blamieren. Eine Richtung hat der » Westn[ik] Jewropy« (»Europäischer Kurier«), – eine schlechte, schwache, talentlose zwar, aber doch eine Richtung, die einem best[immten] Element dient, gewissen Bürgerschichten, und die auch bestimmte Kreise von Professoren, Beamten und der s[ogenannten] Intelligenz unter den »anständigen« (richtiger – anständig sein wollenden) Liberalen umfaßt. Eine Richtung hat die » Rus[skaja] Mysl« (»Russischer Gedanke«) – eine widerliche zwar, aber doch eine Richtung die der konterrevolutionären liberalen Bourgeoisie sehr gute Dienste erweist. Eine Richtung hat das »Rus[skoje] Bogatstwo« (»Russischer Reichtum«) – im Sinne der Narodniki, der Narodniki-Kadetten, aber doch eine Richtung, die jahrzehntelang sich an ihre Richtlinie hält, die gewissen Bevölkerungsschichten dient. Eine Richtung hat auch der » Ssowr[emenny] Mir« (»Heutige Welt«), – häufig eine menschewistische Kadettenrichtung (jetzt mit einer Neigung zum Parteimenschewismus hin), aber doch eine Richtung. Eine Zeitschrift ohne Richtung – ist ein ungereimtes, unsinniges, skandalöses und schädliches Ding. Was für eine Richtung aber kann es bei einer »ausschließlichen Mitwirkung« von Amphitheatrow geben? A. Amphitheatrow – Belletrist und Publizist. Seine literarische Tätigkeit begann er in humoristischen Blättern. War lange Mitarbeiter bei Suworin, in dem reaktionären »Nowoje Wremja«. Dann wurde er etwas linksradikaler, blieb aber ebenso prinzipienlos und politisch unwissend wie im »Nowoje Wremja«. Nach der Revolution von 1905 reiste er ins Ausland, wo er 1906 die Zeitschrift »Die rote Fahne« (die erste Nummer erschien im April 1906 in Paris) herauszugeben versuchte, doch fand diese keinerlei Unterstützung wegen ihrer völligen politischen Haltlosigkeit und ging nach dem 5. Hefte ein. Es ist doch nicht etwa G. Lopatin Hermann Lopatin – ein Schlüsselburger Gefangener, der sich nach seiner Befreiung aus dem Gefängnis weder in der Politik noch in der Literatur irgendwie hervorgetan hatte., der eine Richtung zu geben vermag, und wenn die Gerüchte (es heißt, sie wären auch in die Zeitungen gelangt), von der Mitwirkung Katscharowskis K. Katscharowski, Sozialrevolutionär, Verfasser der »Russkaja Obschtschina« und einer Reihe anderer Arbeiten in der Agrarfrage im alttestamentarischen Geiste der Narodniki. stimmen, so ist das schon eine »Richtung,« aber eine von den stumpfsinnig sozialrevolutionären Richtungen.
Als wir im Sommer unser Gespräch hatten, und ich Ihnen erzählte, daß ich Ihnen schon einen bekümmerten Brief über die » Beichte« »Die Beichte« – eine Erzählung von A. M. Gorki, erschien im 23. Band des Sammelbuches »Snanije« (»Wissen«), 1908, als die Streitigkeiten zwischen Wladimir Iljitsch und der Bogdanowschen Gruppe in vollem Gange waren. Lenins Brief über die »Beichte« ist uns unbekannt. Einige Bemerkungen über die »Beichte« sind im Artikel »Getrennte Wege« von L. Kamenew enthalten (»Der Proletarier«, Nr. 42, vom 25./12. Februar 1910), der im Einverständnis mit Wladimir Iljitsch geschrieben und von ihm redigiert wurde. fertiggeschrieben hatte, ihn aber wegen der damals beginnenden Spaltung mit den Machisten nicht absandte, entgegneten Sie: »Da taten Sie unrecht daran!« Dann machten Sie mir auch zum Vorwurf, daß ich die Schule auf Capri S. Anmerkung 1 zu Brief 11 (der Beschluß über die Capreser Schule). nicht besucht hatte, und sagten, daß die Loslösung der Machisten-Otsowisten Sie, bei einem anderen Verlauf der Sache, weniger Nerven, weniger verausgabte Kräfte gekostet hätte. In der Erinnerung an diese Worte, habe ich beschlossen, Ihnen jetzt zu schreiben, ohne Aufschub, und ohne jegliche Nachprüfung abzuwarten, unter dem frischen Eindruck der Erzählung.
Ich finde, eine dicke politische und ökonomische Zeitschrift unter ausschließlicher Mitwirkung Amphitheatrows ist eine viel schlimmere Angelegenheit als eine besondere machistisch-otsowistische Fraktion. Schlimm war und ist an dieser Fraktion, daß die ideelle Strömung vom Marxismus, von der Sozial-Demokratie wegführt, ohne indessen den Bruch mit dem Marxismus auszusprechen, sondern nur Verwirrung anrichtend.
Die Amphitheatrowsche Zeitschrift (wie gut hat seine »Rote Fahne« S. Anmerkung 3. daran getan, zu rechter Zeit zu sterben!) ist eine politische Handlung, ein politisches Unternehmen, dem es sogar am Bewußtsein fehlt, daß eine allgemeine »Linksheit« in der Politik nicht genügt, daß nach 1905 ernstlich über Politik zu reden, ohne Klarstellung seiner Beziehungen zum Marxismus und zur Sozial-Demokratie – unmöglich, undenkbar ist.
Die Sache steht übel. Meine Stimmung ist traurig.
Ihr LENIN.
An M[aria] F[eodorow]na – salut et fraternité! »Gruß und Brüderlichkeit.«
3. Jan. 11.
Teurer A. M.!
Schon längst hatte ich vor, Ihnen auf Ihren Brief zu antworten, aber die Verschärfung der hiesigen Zänkerei Der … Trotzki mobilisiert die Mitarbeiter der »Stimme« und Vorwärtsler gegen uns. Das ist Krieg! (daß hunderttausend Teufel sie holten!) lenkte mich immer wieder ab.
Und ich möchte doch so gern mit Ihnen plaudern.
Zu allererst, ehe ich es vergesse: Tria ist verhaftet, zusammen mit Jordania und Ramischwili. Tria ist Wlas Mgeladse, ein grusinischer Arbeiter, Menschewist, Delegierter des transkaukas. Komitees auf der »August«-Konferenz. Nach 1905 nahm er an der persischen Revolution teil. 1910 wurde vom »Sozial-Demokraten« seine Broschüre »Die kaukasischen Sozial-Demokraten in der persischen Revolution« mit einem Vorworte von Volontaire (M. Pawlowitsch) herausgegeben. N. Jordania und N. Ramischwili – die Führer der kaukasischen Menschewisten. Man behauptet, es wäre Tatsache. Schade um den feinen Burschen. Ein Revolutionär ist er.
Betreffs des »Sowrem[ennik].« Ich lese heute in der »Rjetsch« den Inhalt des ersten Heftes und fluche, fluche. Wodowosow über Muromzew … Koloso über Mich[ailow]ski, Lopatin »Nicht die Unsrigen« usw. Soll man da nicht fluchen? Dabei scheinen Sie auch noch zu spotten: »Realismus, Demokratie, Aktivität.«
Meinen Sie, das seien gute Worte? Üble Worte sind es, von sämtlichen bürgerlichen Schlauköpfen der Welt ausgenutzt, von den Kadetten und Essers (Sozialrevolutionären) bei uns bis zu Briand oder Millerand hier, »Hier«, d. h. in Frankreich. Wladimir Iljitsch lebte damals in Paris. Lloyd George in England usw. Sowohl die Worte sind übel, hohl als auch der Inhalt, der etwas Sozialrevolutionäres, Kadettisches verspricht. Es ist nicht schön.
Was Tolstoi betrifft, so teile ich vollkommen Ihre Meinung, daß die Heuchler und Spitzbuben einen Heiligen aus ihm machen werden. Plechanow ist auch wütend über den Schwindel und das Schweifwedeln vor Tolstoi, und hierin sind wir einig. Er schimpft dafür auf »Unsere Morgenröte« im Z. O. (nächste Nummer),
Der Artikel »Karl Marx und Leo Tolstoi« von G. W. Plechanow gelangte in Nr. 19-20 des »Sozial-Demokraten«, des Zentralorgans der Partei, vom 13./26. Januar 1911 zum Abdruck. ich – in der »Mysl« (heute kam Nr. 1 an. Gratulieren Sie uns – unser Journälchen, ein marxistisches, erscheint in Moskau! Das war heute eine Freude bei uns).
»Mysl« war die erste legale Zeitschrift, die die Bolschewisten nach dem Zusammenbruch von 1905-1906 begründen konnten. Nr. 1 erschien im Dezember 1910 in Moskau. Im ganzen kamen 5 Nrn. heraus; die letzte wurde beschlagnahmt und erhielt fast gar keine Verbreitung. Die Redaktion der »Mysl« befand sich vollständig in den Händen der ausländischen Zentrale der Bolschewisten (Lenin, Sinowjew und Kamenew). Der Artikel Wladimir Iljitschs über die unrichtige Einschätzung Tolstois in der menschewistischen Presse ist betitelt: »Helden des kleinen Vorbehalts«. – »Mysl« Nr. 1, (s. Ges. Werke, Bd. XI, II. Teil). In der »Swesda« Nr. 1 (erschienen am 16. Dez. in SPB.)
ist auch ein gutes Feuilleton von Plechanow, mit einer
abgeschmackten Anmerkung, für die wir die
Redaktion
»Swesda« – die erste legale Zeitung der Bolschewisten nach 1907. Ihre Herausgabe wurde von W. I. Lenin, G. J. Sinowjew und L. B. Kamenew, sowie N. G. Poletajew, einem Mitglied der sozialdemokratischen Fraktion der III. Reichsduma, während des Internationalen Sozialisten-Kongresses in Kopenhagen, im August 1910) beschlossen. In der »Swesda« (Nr. 1. erschien am 16. Dezember 1910) nahmen außer den Bolschewisten auch Plechanow und seine nächsten Genossen teil. Die »Swesda« wurde mehrfach beschlagnahmt und mit Geldstrafen belegt, und nach Nr. 68, vom 19. April 1912, verboten. Sie wurde durch die »Newskaja Swesda« abgelöst, deren Nr. 1, vom 26. Februar an Stelle der 13. Nummer der »Swesda« herauskam. Nr. 2 erschien am 3. Mai 1912. Mit Nr. 27, vom 5. September 1912, ging sie ein. Zu diesem Zeitpunkt gelang es den Bolschewisten, die täglich erscheinende Zeitung »Prawda« (»Die Wahrheit«) zu schaffen.
Betreffs des Feuilletons »Aufzeichnungen eines Publizisten« von Plechanow, in Nr. 1 der »Swesda« (Untertitel: »Von hier bis da«) lautet die Anmerkung der
Redaktion: »Die Redaktion beabsichtigt, mehrere Artikel der Frage der öffentlichen Bedeutung des Wirkens Tolstois, die zweifellos einer allseitigen Beleuchtung bedarf, zu widmen.« bereits ausgeschimpft haben … Das wird wahrscheinlich Jordanski mit Bontsch[-Brujewitsch] ausgedacht haben! Aber was kann der »Sowremennik« gegen die »Legende von T[olstoi] und seiner Religion« ausrichten! Etwa – Wodowosow und Lopatin? Sie geruhen wohl zu scherzen.
Daß man anfängt, die Studenten zu verhauen, ist meiner Ansicht nach untröstlich, aber dem Tolstoi darf man weder »Passivismus,« noch Anarchismus, noch Narodnitschestwo, noch Religion hingehen lassen.
Hinsichtlich der Donquichotterie in der internationalen Politik der S[ozial-]D[emokratie] dünkt mich, sind Sie im Unrecht. Die Revisionisten behaupten ja schon lange, daß die koloniale Politik progressiv sei, daß sie den Kapitalismus festige, und daß es daher zwecklos sei, ihn der Habgier und der Grausamkeit zu bezichtigen, denn »ohne diese Eigenschaften« sei das Kapital gleichsam »ohne Hände.«
Donquichotterie und Wehleidigkeit wäre es, wenn die S[ozial-]D[emokraten] den Arbeitern sagen würden, es gäbe vielleicht irgendwo eine Rettung außerhalb der Entwicklung des Kapitalismus, nicht durch die Entwicklung des Kapitalismus. Jedoch wir sagen das nicht. Wir sagen: das Kapital frißt euch auf, frißt die Perser, frißt alle und wird so lange fressen, bis ihr es niederwerft. Das ist die Wahrheit. Und wir vergessen nicht hinzuzufügen: außer dem Wachstum des Kapitalismus gibt es kein Pfand des Sieges über ihn.
Die Marxisten verfechten keinerlei reaktionäre Maßnahmen, wie z. B. Trustverbote, Handelsbeschränkungen und dergl. Aber – jedem das seine: mögen Chomiakow & Co. Eisenbahnen quer durch Persien bauen, mögen sie Liachows hinschicken – Sache der Marxisten ist: ihre Entlarvung in den Augen der Arbeiter. Die Frage der Übernahme des geplanten Neubaus einer Eisenbahn in Persien durch das russische Kapital bildete damals das Tagesgespräch. In Nr. 1 der »Mysl« war dieser Frage ein Artikel L. Kamenews: »Der große Weg nach Indien« gewidmet (»Mysl«, Dezember 1910, Nr. 1, S. 73-78). »Er frißt euch und wird euch auffressen, er würgt euch und wird euch erwürgen; wehrt euch.«
Der Widerstand gegen die Kolonialpolitik und die intern[ationale] Räuberei auf dem Wege der Organisation des Proletariats, auf dem Wege der Verteidigung der Freiheit für den proletarischen Kampf hemmt nicht die Entwicklung des Kapitalismus, sondern beschleunigt sie, weil das alles eine Zuhilfenahme von verfeinerteren, technisch höherstehenden Mitteln des Kapitalismus zur Folge hat. Es gibt zweierlei Kapitalismus. Es gibt einen Kapitalismus der Schwarzen Hundert, des Oktobrismus, und es gibt einen Kapitalismus der Narodniki (den realistischen, demokratischen, »aktiven«). Je mehr wir den Kapitalismus in den Augen der Arbeiter der »Habgier« und der »Grausamkeit« überführen, um so schwerer wird der Kapitalismus der ersten Art standhalten können, um so unausbleiblicher ist sein Übergang in den Kapitalismus der zweiten Art. Das aber kommt uns, kommt dem Proletariat gerade recht.
Vielleicht meinen Sie, ich widerspreche mir selber? Am Anfang des Briefes fand ich die Worte »Realismus, Demokratie, Aktivität« übel, und jetzt finde ich sie gut? Hierin liegt kein Widerspruch: für den Proletarier ist es übel, für den Bourgeois gut.
Die Deutschen haben eine musterhafte opportunistische Zeitschrift: »Sozialistische Monatshefte.« Darin fallen schon lange solche Herren, wie Schippel und Bernstein, über die intern[ationale] Politik der revolutionären S[ozial-]D[emokratie] mit dem lauten Geschrei her, daß deren Politik angeblich auf das »Lamentieren mitleidiger Menschen« hinauslaufe. Das ist ein Kunststück opportunistischer Spitzbuben, mein Lieber. Bitten Sie, daß man Ihnen aus Neapel diese Zeitschrift kommen läßt und ihre Artikel übersetzt, wenn Sie sich für internationale Politik interessieren. Sicherlich haben Sie auch in Italien solche Opportunisten, – bloß Marxisten gibt es in Italien nicht, das ist das Übel an diesem Lande.
Das internationale Proletariat bedrängt das Kapital zwiefach: dadurch, daß es ihn aus dem oktobristischen in einen demokratischen verwandelt, und dadurch, daß es, indem es das oktobristische Kapital von sich jagt, dasselbe zu den Wilden verlegt. Das aber erweitert die Basis des Kapitals und nähert es seinem Tode. In Westeuropa gibt es fast gar keinen oktobristischen Kapitalismus mehr; beinahe das ganze Kapital ist demokratisch. Das oktobristische Kapital ist aus England, Frankreich nach Rußland und Asien ausgewandert. Die russische Revolution und die Revolution in Asien ist ein Kampf um die Verdrängung des oktobristischen Kapitals und seinen Ersatz durch ein demokratisches. Das demokratische Kapital aber ist eine Letztgeburt. Weiter führt sein Weg nicht. Dann kommt sein Ende.
Wie haben Sie die » Swesda« und die » Mysl« gefunden? Die erstere ist farblos, meiner Ansicht nach. Aber die zweite ist ganz unser und freut mich unmäßig. Aber man wird sie nicht lange leben lassen. »Mysl« war die erste legale Zeitschrift, die die Bolschewisten nach dem Zusammenbruch von 1905-1906 begründen konnten. Nr. 1 erschien im Dezember 1910 in Moskau. Im ganzen kamen 5 Nrn. heraus; die letzte wurde beschlagnahmt und erhielt fast gar keine Verbreitung. Die Redaktion der »Mysl« befand sich vollständig in den Händen der ausländischen Zentrale der Bolschewisten (Lenin, Sinowjew und Kamenew). Der Artikel Wladimir Iljitschs über die unrichtige Einschätzung Tolstois in der menschewistischen Presse ist betitelt: »Helden des kleinen Vorbehalts«. – »Mysl« Nr. 1, (s. Ges. Werke, Bd. XI, II. Teil).
Wie ist's, könnten Sie nicht mein Buch über die Agr[ar-]Frage im Verlag »Snanije« anbringen?
»Mein Buch über die Agrarfrage«. – »Das Agrarprogramm der Sozial-Demokratie in der ersten russischen Revolution 1905-1907« wurde von Wladimir Iljitsch 1907 geschrieben und blieb bis zum Oktober 1917 als Handschrift liegen. Zehn Jahre lang hatte Wladimir Iljitsch für eines seiner hervorragendsten Werke keinen Verleger finden können.
»Snanije« (»Wissen«) – ein Verlag, an dem A. M. Gorki mitwirkte. Leiter des Verlages war ein gewisser Pjatnitzki (nicht zu verwechseln mit dem gegenwärtig in der Komintern tätigen Gen. Pjatnitzki). Sprechen Sie doch einmal mit Pjatnitzki. Ich finde und finde keinen Verleger. Es ist einfach zum Schreien.
Ich lese Ihre Endbemerkung: »Meine Hände zittern und frieren« – und bin empört. Diese miserablen Häuser auf Capri! Das ist doch abscheulich! Sogar wir haben Dampfheizung, es ist ganz warm, und Ihnen »frieren die Hände.« Sie müssen rebellieren.
Mit kräftigem Händedruck.
Ihr LENIN.
Ich habe aus Bologna eine Einladung erhalten, die Schule zu besuchen (20 Arbeiter). Ich habe mit einer Absage geantwortet. Mit den Vorwärtslern will ich nichts zu tun haben. Wir ziehen die Arbeiter wieder hier herüber. Die Schule in Bologna war der zweite Versuch der »Vorwärts«-Gruppe, eine Organisationsbasis für ihre Fraktion zu schaffen. Ebenso wie der erste, endete auch dieser Versuch mit einem Mißerfolg. Die Arbeiter, die aus Rußland in diese Schule gekommen waren, folgten zum größten Teil der Einladung unserer Gruppe nach Paris, wo für sie eine Reihe von Vorlesungen und Unterrichtskursen organisiert wurde. –
[April 1911.] Der Brief ist nicht datiert. Seinem Inhalt nach gehört er in die Periode nach dem Eingehen der »Mysl«, d. h. in den April 1911 hinein.
Teurer A. M.!
Wie geht es mit der Gesundheit? M. F. schrieb, daß Sie mit Husten und dergl. zurückgekehrt sind. Ich hoffe, Sie sind wieder wohl.
Wir haben Unglück gehabt mit der »Mysl.« Aus der » Rjetsch« u. a. Zeitungen wissen Sie wohl schon, um was es sich handelt. Wir müssen die Sache nach Petersburg überführen und von vorne anfangen. Wir haben aber keine legalen, zuverlässigen Leute.
Könnten Sie uns nicht helfen, wenn Sie Sympathie für die »Mysl« haben? Oder vielleicht könnte Pjatnitzki
»Mein Buch über die Agrarfrage«. – »Das Agrarprogramm der Sozial-Demokratie in der ersten russischen Revolution 1905-1907« wurde von Wladimir Iljitsch 1907 geschrieben und blieb bis zum Oktober 1917 als Handschrift liegen. Zehn Jahre lang hatte Wladimir Iljitsch für eines seiner hervorragendsten Werke keinen Verleger finden können.
»Snanije« (»Wissen«) – ein Verlag, an dem A. M. Gorki mitwirkte. Leiter des Verlages war ein gewisser Pjatnitzki (nicht zu verwechseln mit dem gegenwärtig in der Komintern tätigen Gen. Pjatnitzki). helfen? Die Dinge liegen so, daß wir vorläufig noch Geld haben für die Herausgabe so eines kleinen Journälchens (natürlich unter der Bedingung einer unentgeltlichen Mitarbeit unser aller und eines Honorars von 20 Rbl. pro Bogen an Unbeteiligte! Es ist nicht üppig, wie Sie sehen). Somit ist
jetzt ausschließlich
technische Hilfe erforderlich: einen Verleger finden, der,
ohne einen einzigen Heller von seinem eigenen Gelde zu verausgaben, die Zeitschrift herausgeben würde (wobei wir so sehr auf
strengste Legalität bedacht sind, daß wir sowohl dem Verleger als auch dem Sekretär der Red[aktion] und dem Syndikus des Verlages das Recht einräumen, alles auch nur im mindesten Gefährliche
zurückzuhalten: vier Nummern haben wir ohne die geringste Schikane seitens des Gerichtes veröffentlicht, Nr. 5 ist wegen Kautsky beschlagnahmt worden!! Es ist ganz klar,
daß dies Schikane ist. Bei K[autsky] gibt es nichts Illegales).
Warum sollte Pjatnitzki oder jemand anders uns in einer so ungefährlichen Sache nicht helfen?
Wenn es unmöglich ist, einen Verleger zu finden, ließe sich dann nicht ein Sekretär finden – ein legaler Mensch, dem wir monatlich 50 Rbl. zahlen würden für die Plackerei mit der Druckerei und der Expedition? Es muß ein ehrlicher und sorgsamer Mensch sein, das ist alles. Wir haben keine legalen Leute, – außer den Arbeitern (die passen dazu nicht), – das ist unser Unglück.
Die zweite Angelegenheit. Wir besitzen eine bereits bezahlte Übersetzung der neuesten Aufsätze von Kautsky gegen Maslow. Es handelt sich hier um die Artikel von Maslow in der »Neuen Zeit«, Jahrgang 1911. In Nr. 17, vom 27. Januar, S. 583-587, hatte Maslow einen Artikel eingerückt, betitelt: »Droht der Menschheit eine Übervölkerung?« Dieser Artikel war gegen Kautskys Buch »Vermehrung und Entwicklung in Natur und Gesellschaft,« erschienen im Jahre 1910, gerichtet. K. Kautsky beantwortete Maslows Artikel mit einer scharfen Kritik in einem umfangreichen Aufsatz, der in drei Nummern der »Neuen Zeit« (in Nr. 18, 19 und 20, Jahrgang 1911, S. 620-627, 652-662, 684-697) unter der Überschrift »Maltusianismus und Sozialismus« veröffentlicht wurde. In Nr. 29 der »Neuen Zeit«, vom 21. April (29. Jahrgang, Band 2), erwidert Maslow Kautsky in dem Artikel »Das Wirtschafts- und Steuersystem«, in der Annahme, Kautsky habe ihn falsch verstanden. Kautsky antwortete mit einer neuerlichen Entgegnung: »Bodenfragen« (»Neue Zeit«, Nr. 33, vom 19. Mai, S. 209-219, und Nr. 34, vom 26. Mai, S. 259-270). Eine legale Sache. Eine notwendige Sache, denn Maslow hat eine kolossale Menge geflunkert und die russischen Leser belogen. Es sind 3 bis 5 Druckbogen. Könnte man das nicht herausgeben – ohne Honorar (denn unsere Übersetzung ist bereits bezahlt), zum Selbstkostenpreis? Taugt Pjatn[itzki] für so etwas (oder sonst jemand) oder nicht?
Die dritte Angelegenheit. J. M. Nachamkes, der wegen seiner Beziehungen zu der s[ozialdemokratischen] Fraktion aus Petersburg ausgewiesen wurde und hierher kommen mußte ( Newsorow, auch Steklow genannt, Verfasser eines guten Buches über Tschernyschewski), sucht dringend Arbeit und bittet mich, Sie zu fragen, ob man nicht Pearys » Reise nach dem Nordpol« herausgeben könnte. Er meint, es würde vergriffen werden.
Was gibt es bei Ihnen Neues hinsichtlich der »Pläne?« Schreiben Sie mir. Den Arbeitern aus unserer Schule antworten Sie doch mal. Es sind brave Burschen. Einer ist Dichter, der arme Kerl, – er dichtet Verse und hat niemanden, der ihn unterweisen, ihm helfen, ihn belehren und beraten könnte.
Mit Händedruck.
Ihr LENIN.
Robert E. Peary:
»La découverte du pôle Nord.« – Paris, – prachtvolle Illustr[ationen]. Die Klischees kann man hier billig kaufen. Es sind ca. 15 Druckbogen zu je 40.000 Buchstaben. (Eben war ich bei Steklow, der mir diese Einzelheiten mitgeteilt hat.)
27. Mai 11.
Teurer A. M.!
Dieser Tage erhielt ich einen Brief von Poletajew. N. G. Poletajew, ein Bolschewist, Mitglied der III. Reichsduma, einer der Organisatoren der »Swesda« und der »Prawda«. Er schreibt unter anderem: »Ich habe einen Brief von Gorki erhalten. Er macht N. I. N. I. – N. I. Jordanski, Redakteur des »Sowremenny Mir«, schloß sich G. W. Plechanow an und nahm teil an der Organisation der »Swesda«, deren Mitarbeiter er war. Gegenwärtig Kommunist. den Vorschlag, ins Ausland zu kommen, zwecks Ausarbeitung eines Planes zum Zusammenschluß um irgendein Organ, fügt hinzu, daß er diesbezüglich mit Ihnen und mit dem M[enschewi]sten M. (ich versteh Martow darunter) gesprochen hat.«
Poletajew fügt hinzu, daß N. I. (Jordanski) wohl kaum für diesen Plan tauglich sei und daß, wenn schon jemand reisen müßte, es jemand anders sein müsse. Pokrowski I. N. Pokrowski, Sozial-Demokrat, Mitglied der III. Reichsduma, nahm teil an der Organisation der »Swesda«, deren Mitarbeiter er war. würde wohl schwerlich reisen.
Nachdem ich diesen Brief von Poletajew durchgelesen hatte, bekam ich einen Schreck – bei Gott, ich kriegte einen Schreck.
Ein Zusammenschluß unsererseits mit M[enschewi]sten wie Martow ist absolut hoffnungslos, wie ich Ihnen hier schon sagte. Wenn wir um eines so hoffnungslosen Planes willen eine »Konferenz« zustande bringen wollen, – so kommt nichts als eine Blamage heraus (ich persönlich würde nicht einmal zu einer Beratung mit Martow kommen).
Nach Poletajews Brief zu urteilen, ist die Beteiligung der Dumafraktion D.h. der sozial-demokratischen Fraktion der III. Reichsduma. Die Fraktion der III. Reichsduma schwankte während der ganzen Dauer des Kampfes zwischen Bolschewisten und Liquidatoren, ohne bestimmte Stellung nehmen zu wollen. Tatsächlich stand sie den Menschewisten näher, mit Ausnahme einzelner Mitglieder, wie z. B. N. G. Poletajew, der entschieden mit den Bolschewisten ging und ihnen bei der Begründung der »Prawda« und der »Swesda« half. vorgesehen; ist das notwendig? Wenn es sich um eine Zeitschrift handelt – dann hat die Dumafraktion nichts dabei zu tun. Handelt es sich um eine Zeitung, so darf nicht vergessen werden, daß wir mit der » Swesda« (»Stern«) genug Uneinigkeiten hatten und noch haben: sie haben keine Richtlinie, sie haben Angst, mit uns zu gehen, sie haben auch Angst, mit den Liquidatoren zu gehen, sie drehen und wenden sich, sie schwanken hin und her.
Wenn überdies ein Zusammenschluß der Plechanowzer + wir + die Dumafraktion in Aussicht genommen werden soll, so droht dies Plechanow das Übergewicht zu geben, da in der Dumafraktion die Me[nschewi]sten überwiegen. Ist es wünschenswert und vernünftig, Plechanow das Übergewicht zu lassen?
Ich fürchte sehr, daß Jordanski für solche Pläne ungeeignet ist (denn er hat » seine« Zeitschrift, und er wird entweder ein Hemmnis sein oder nach »seiner« Zeitschrift hinüberziehen wollen, die er ferner in seinem halbliberalen Geiste führen wird).
Um Enttäuschungen und hoffnungslosen Zänkereien aus dem Wege zu gehen, muß man, meiner Ansicht nach, in bezug auf den »Zusammenschluß« sehr vorsichtig sein. Wirklich und wahrhaftig, man müßte sich jetzt nicht zusammenschließen, sondern absondern! Wenn sich ein Herausgeber für eine Zeitschrift oder Zeitung findet, muß persönlich von Ihnen ein Vertrag mit ihm geschlossen werden (oder, wenn möglich, ohne Vertrag Geld von ihm erhalten werden); bei einer »Konferenz« hingegen kommt nur Kohl heraus, wirklich, nur Kohl.
Ich schreibe Ihnen das, weil ich zuallerletzt möchte, daß
Sie Zeit, Nerven und dergl. an derartige Dinge vergeuden. Ich
weiß selber aus bitterer Erfahrung der Jahre 1908-1911, daß ein »Zusammenschluß«
jetzt unmöglich ist. Bei uns in der »Mysl«, z. B., hatte Plechanow öfters seine Launen – er ist, z. B., mit meinem Aufsatz über die Streiks und über Potressow
Lenins Artikel »Über die Statistik der Streiks in Rußland« in Nr. 1 der »Mysl«, vom Dezember 1910, und in Nr. 2, vom Januar 1911.
Lenins Artikel »Die Helden des kleinen Vorbehalts« in Nr. 1 der »Mysl«, vom Dezember 1910. unzufrieden, weil er meint, daß ich »ihn« heruntermache! Eingerenkt haben wir es ja wieder, und
einstweilen kann und muß man mit Plechanow arbeiten, aber
formelle Zusammenschlüsse und Konferenzen sind verfrüht und können alles verderben.
Beeilen Sie sich nicht mit der Konferenz!
Bei uns wird mit Bestimmtheit davon gesprochen, daß ein Zirkular von Stolypin hinsichtlich der Schließung aller s.-d. Organe existiert. Das sieht nach Wahrheit aus. Vor der IV. Duma wird man die Zügel vermutlich noch zehnmal straffer ziehen.
Die legalen Möglichkeiten werden in nächster Zeit offenbar geringer werden. Man muß sich an die illegale Arbeit halten.
M. F. schrieb, daß Sie ganz aus dem »Snanije« ausgetreten sind. Also – ein völliger Bruch mit Pjatn[itzki], und mein vorhergehender Brief ist zu spät gekommen?
»Mein Buch über die Agrarfrage«. – »Das Agrarprogramm der Sozial-Demokratie in der ersten russischen Revolution 1905-1907« wurde von Wladimir Iljitsch 1907 geschrieben und blieb bis zum Oktober 1917 als Handschrift liegen. Zehn Jahre lang hatte Wladimir Iljitsch für eines seiner hervorragendsten Werke keinen Verleger finden können.
»Snanije« (»Wissen«) – ein Verlag, an dem A. M. Gorki mitwirkte. Leiter des Verlages war ein gewisser Pjatnitzki (nicht zu verwechseln mit dem gegenwärtig in der Komintern tätigen Gen. Pjatnitzki).
Mit Händedruck.
Ihr LENIN.
P. S. – Die »Sowr[emennaja] Shisjn« in Baku hat man auch beschlagnahmt und erwürgt! »Sowremennaja Shisnj«, eine Zeitung der Arbeiter von Baku, an der sich die Bolschewisten beteiligten. Es erschienen im ganzen drei Nummern im Jahre 1911.
(Vor dem Sommer 1912). Im Sommer 1912 siedelte Wladimir Iljitsch nach Krakau über, wo er bis zum August 1914 lebte, d. h. bis zum Beginn des Krieges. Die Beweggründe, die Wladimir Iljitsch und mit ihm auch andere bolschewistische Emigranten (G. Sinowjew L. Kamenew) veranlaßten, aus Paris nach Krakau überzusiedeln, werden von Wladimir Iljitsch in seinem folgenden Briefe (Nr. 19) dargelegt.
Teurer A. M.!
Am Sonnabend bin ich frei und werde zu Hause sein. Paßt es Ihnen um 2 ½ Uhr? Wenn nicht, so könnte es auch abends sein.
Mit Händedruck
Ihr LENIN.
4, Rue Marie Rose, 2. Stock (nach russischer Auffassung der dritte), linke Tür.
Krakau, 1. August 1912.
Krakau, Österreich.
Zwierzyniec 218.
Wl. Ulijanow.
Teurer A. M.!
Ich habe Ihren Brief und den der Sibirier erhalten. Meine Adresse ist jetzt nicht mehr Paris, – s. oben. Im Sommer 1912 siedelte Wladimir Iljitsch nach Krakau über, wo er bis zum August 1914 lebte, d. h. bis zum Beginn des Krieges. Die Beweggründe, die Wladimir Iljitsch und mit ihm auch andere bolschewistische Emigranten (G. Sinowjew L. Kamenew) veranlaßten, aus Paris nach Krakau überzusiedeln, werden von Wladimir Iljitsch in seinem folgenden Briefe (Nr. 19) dargelegt.
Es ist mir nicht ganz klar geworden, aus welcher Partei Sie mich hinausjagen wollen, – doch nicht aus der Sozialrevolutionären?
Nein, Scherz beiseite, eine üble Manier haben Sie sich da angewöhnt, eine spießige, bürgerliche – die Manier, abzuwinken: »Ihr seid alle Zankhähne.« Sehen Sie sich doch einmal die neue Sozialrevolutionäre Literatur an: »Die Initiative,« »Nachr[ichten] der ausl[ändischen] Bezirks-Or[ganisa]tion,« – vergleichen Sie das mit dem »Rev[olutionären] Gedanken,« mit dem »Rev[olutionären] Rußland« – und dann auch noch mit Ropschin
»Die Initiative«, »Nachrichten der ausländischen Bezirksorganisation der Sozial-Revolutionären Partei«, »Der revolutionäre Gedanke« – Organe verschiedener Gruppen der emigrierten Sozialrevolutionäre, die in Rechts- oder Linksopposition zu der Richtlinie der Zentralgruppe der S.-R. standen, welch letztere ihr offizielles Organ, »Die Fahne der Arbeit«, besaß, dem Wladimir Iljitsch irrtümlich den Namen »Das Revolutionäre Rußland« zuschreibt. Dieser Irrtum erklärt sich dadurch, daß bis zum Jahre 1905 das Zentralorgan der Sozialrevolutionäre die Bezeichnung »Revolutionäres Rußland« trug. Alle obenerwähnten Organe erschienen 1908-1913 im Auslande. Während dieser Jahre veröffentlichte der Sozialrevolutionär Sawinkow unter dem Pseudonym W. Ropschin zwei Renegatenromane aus dem Leben der Revolutionäre: »Das fahle Roß« in der »Russkaja Mysl«, 1909, 1. Heft (Januar), und »Das, was nie war« (»Drei Brüder«), in den Heften der Zeitschrift »Sawjety« beginnend im ersten Heft, im April 1912, bis zum vierten, ebenfalls im April, 1913. Diese meint gerade Wladimir Iljitsch. usw. Denken Sie an die »Wechi«
»Wechi«, ein Sammelbuch von Aufsätzen über die russische Intelligenz. Inhaltsverzeichnis: Vorwort. –
N. A. Berdjajew – »Die philosophische Wahrheit und die Wahrheit der Intelligenz«. –
S. N. Bulgakow – »Heroen und Glaubenshelden«. –
M. O. Herschensohn – »Die schöpferische Selbsterkenntnis«. –
B. A. Kistiakowski – »Zur Verteidigung des Rechts«. –
P. B. Struve – »Die Intelligenz und die Revolution.« –
S. L. Frank – »Die Ethik des Nihilismus«. –
A. S. Isgojew – »Über die intellektuelle Jugend«. – Dies Sammelbuch hatte die Bedeutung eines Manifestes der konterrevolutionären Intelligenz. Im Buchverlage »Semlja« (»Erde«) erschien 1910 das Sammelbuch: »Die Intelligenz in Rußland«, das mit den »Wechi« polemisierte. Inhaltsverzeichnis dieses Sammelbuches:
I. I. Petrunkewitsch – »Die Intelligenz und die »Wechi«. –
K. K. Arsenjew – »Mittel und Wege der Buße«. –
N. A. Gredeskul – »Der Wendepunkt der russischen Intelligenz und seine Bedeutung«. –
M. M. Kowalewski – »Die Wechselbeziehung zwischen Freiheit und sozialer Solidarität«. –
P. N. Miljukow – »Die Intelligenz und die historische Tradition«. –
D. N. Owsjaniko-Kulikowski – »Psychologie der russischen Intelligenz«. –
M. A. Slawinski – Die russische Intelligenz und die nationale Frage«. –
M. I. Tugan-Baranowski – »Die Intelligenz und der Sozialismus«.
Wladimir Iljitsch widmete den »Wechi« eine Reihe von Vorträgen in den ausländischen russischen Kolonien und mehrere Artikel (s. Ges. Werke, Bd. XIX, S. 23-25, »Die Wechowzer und der Nationalismus«, und Bd. XI, II. Teil). und die Polemik (quasi-Polemik) Miljukows mit ihnen, an Gredeskul, (der heute entdeckt hat, daß Rußland keine zweite Revolution braucht), usw. usw.
Vergleichen Sie das alles in seiner Gesamtheit, die ganze Summe der ideologischen Strömungen in den Jahren 1908 bis 1912 bei den Sozial-Revolutionären, bei den »Trudowiki«, »Bessaglawzy« »Die Bessaglawzy« nannte man die Gruppe von E. Kuskowa, S. Prokopowitsch. W. Bogutscharski u. a., nach dem Namen der Zeitschrift »Bes Saglawija« (»ohne Überschrift«), die diese Gruppe nach ihrem Austritt aus der Kadettenpartei 1906 herausgab. und Kadetten, mit dem, was bei den Sozialdemokraten war und ist (irgendeinmal wird irgendein Historiker diese Arbeit gewiß machen) und Sie werden sehen, daß alle, buchstäblich alle außer den Sozialdemokraten dieselben, buchstäblich dieselben Fragen zu lösen suchten, derentwegen sich von unserer Partei Grüppchen mit der Tendenz zu Liquidation und Rückzug lösten.
Die Bourgeois, die Liberalen und die Sozial-Revolutionäre, die die »großen Fragen« niemals ernst behandeln, hinter den andern dreintrotten, diplomatisieren, sich mit Eklektizismus durchhelfen, sie alle schreien andauernd darüber, daß es bei den Sozialdemokraten Händel und Reibereien gäbe. Der Unterschied zwischen der Sozialdemokratie und ihnen allen ist der, daß der Kampf innerhalb der einzelnen Gruppen der Sozialdemokratie tiefen und klaren ideellen Wurzeln entstammte, während bei ihnen die Gegensätze äußerlich geglättet, innerlich aber leer, kleinlich und oberflächlich sind. Niemals und um keinen Preis würde ich den scharfen Kampf der Strömungen bei der Sozialdemokratie gegen die geschniegelte Leere und Armut der Sozial-Revolutionäre und Konsorten eintauschen.
Mit kräftigem Händedruck.
Ihr LENIN.
P. S. – Gruß an M. F.!
P. S. – In Rußland herrscht gehobene, revolutionäre Stimmung, keine andere, sondern gerade eine revolutionäre. Und es ist uns schließlich doch gelungen, die Tageszeitung »Prawda« zu begründen – unter anderem, gerade dank jener Konferenz (im Januar), die von den Dummköpfen so bekläfft wurde. Die Januarkonferenz (1912) in Prag wurde von den Bolschewisten nach ihrem endgültigen Bruche mit den Menschewisten, Vorwärtslern und Trotzkianern einberufen. Auf dieser Konferenz wurde der Zentralapparat der Partei wiederhergestellt. Ebendaselbst wurde die Frage bezüglich der Umwandlung der Wochenschrift »Swesda« in eine Tageszeitung gelöst, welch letztere denn auch im April 1912 unter dem Namen »Prawda« (»Wahrheit«) herauskam.
[August-September 1912] Der Brief ist nicht datiert. Er fällt in die Zeit vom August-September 1912.
Teurer A. M.!
Wenn Sie zugeben, daß »unsere Zänkerei« durch nicht in Einklang zu bringende Unterschiede der ideellen Wurzeln hervorgerufen wird« – daß es bei den S.-R. dasselbe ist – (daß es sich bei den Kadetten – »Wechi« – ebenso verhält, das haben Sie nicht hinzugefügt, aber daran ist nicht zu zweifeln) – daß sich eine reformistische Partei (ein treffendes Wort!) bildet, dann darf man nicht sowohl zum Liquidator als auch zu seinem Feinde sagen: »Ihr seid alle beide Zankhähne.«
Dann ist es Sache derer, die die ideellen Wurzeln der »Zänkerei« erfaßt haben, ohne daran teilzunehmen, der Masse behilflich zu sein, die Wurzeln aufzufinden, nicht aber die Masse darin zu rechtfertigen, daß sie die Zwistigkeiten als »persönliche Sache der Generale« ansieht.
Wir »Führer haben kein einziges klares Buch, keine einzige große Broschüre geschrieben« … Stimmt nicht. Wir haben geschrieben, wie wir's verstanden. Nicht weniger klar, nicht weniger sachlich als früher. Und wir haben viel geschrieben. Es kam vor, daß wir gegen Leute ohne jede »Zänkerei« (gegen die »Wechi«, gegen Tschernow, gegen Roschkow usw.) schrieben. Wladimir Iljitschs Aufsätze gegen die »Wechi« sind in Anmerkung 3 zu Brief Nr. 18 angeführt. Aufsätze von Wladimir Iljitsch speziell gegen Tschernow gibt es in jenen Jahren nicht. Es läßt sich vermuten, daß Wladimir Iljitsch im gegenwärtigen Falle L. Kamenews Artikel »Über die Pflichten eines Demokraten« (Entgegnung an W. Tschernow) Nrn. 8-9, vom Juli und August 1912, und Nr. 2 der »Prosweschtschenije« (»Aufklärung«), vom Februar 1913), Tschernow gewidmet, meinte. Gegen N. Roschkow, der von den Bolschewisten zu den Menschewisten überging, wandte sich Wladimir Iljitsch mit dem Artikel »Das Manifest der liberalen Arbeiterpartei« in der »Swesda« Nr. 32, vom 3. Dezember 1911. (Bekommen Sie alle Nummern der »Newskaja Swesda« zu Gesicht?) … »Das Ergebnis hiervon: es gibt gegenwärtig in Rußland unter den A[rbeit]ern sehr viel tüchtige … -Jugend, aber sie ist so ingrimmig gegen das Ausland gestimmt« … das ist Tatsache, aber es ist nicht das Ergebnis einer Schuld seitens der »Führer«, sondern des Losgerissenseins oder, richtiger, des Zerrissenseins Rußlands und der Emigrantenzentren. Das Zerrissene muß man zusammenknüpfen; die Führer herunterzumachen ist jedoch billig, populär; aber von geringem Nutzen ist, … »was die A[rbeit]er von einer Beteiligung an der Konferenz abbringt.«
An was für einer Konferenz? Die jetzt von den Liquidatoren einberufen wird? Davon raten auch wir ab! Liegt hier nicht ein Mißverständnis Ihrerseits vor? Wladimir Iljitsch meint die sogenannte »Augustkonferenz« 1912, die als Gegenstück zu der Januarkonferenz der Bolschewisten von den vereinten Kräften der Menschewisten, Vorwärtsler, Trotzkianer u. a. einberufen wurde. Die Bolschewisten nahmen selbstverständlich keinerlei Anteil an dieser Konferenz.
Ich habe gelesen, d[aß] Amphitheatrow, ich glaube fast in der Warschauer Zeitung, für den Boykott der IV. Duma eintritt? Haben Sie diesen Artikel vielleicht? Schicken Sie ihn mir – ich schicke ihn Ihnen zurück.
Und in der Baltischen Flotte kocht's! In Paris besuchte mich (unter uns gesagt) ein spezieller, von der Matrosen- und S.-D.-Versammlung entsandter Delegierter. Es ist keine Organisation da – es ist geradezu zum Heulen!! Wenn Sie Verbindungen in Offizierskreisen haben, so müssen alle Kräfte darangesetzt werden, um da irgend etwas zu schaffen. Die Stimmung unter den Matrosen ist eine kampflustige, aber es kann sein, daß sie wieder alle vergeblich umkommen.
Ihre Aufsätze in den »Saprossy Shisjni« sind aber nicht gut. »Saprossy Shisjni« – eine in Petersburg 1909-1912 herausgegebene Zeitschrift (die erste Nummer kam am 18. Oktober 1909, die letzte, Nr. 52 – im Dezember 1912 heraus) unter allernächster Mitwirkung von Maxim Kowalewski und R. M. Blank. Eine erschöpfende Charakteristik dieser Zeitschrift ist in Wladimir Iljitschs Brief selbst gegeben. A. M. Gorki veröffentlichte in dieser Zeitschrift seine Aufsätze: »Aus weiter Ferne« in Nr. 11, vom 16. Dezember 1911, und in den Nrn. 7 (vom 17. Februar), 11 (16. März), 13 (31. März), 27 (6. Juli), 29 (20. Juli) 1912, sowie einige seiner »Märchen.« Eine sonderbare Zeitschrift im übrigen – liquidatorisch-trudowikisch-wechistisch. Übrigens – so recht »die ständelose reformistische Partei« …
Sie fragen, weshalb ich in Österreich bin. Das Z. K. hat hier ein Bureau begründet (unter uns gesagt): die Grenze ist nahe, wir nutzen sie aus, es ist näher zu Petersburg, am 3. Tage haben wir schon die dortigen Zeitungen in der Hand, auch das Einsenden an die dortigen Zeitungen ist unvergleichlich leichter geworden, die Mitarbeit kommt besser in Gang. Zänkerei gibt es hier weniger, das ist ein Plus. Eine gute Bibliothek gibt es hier nicht, das ist ein Minus. Ohne Bücher ist es schwer.
Mit kräftigem Händedruck.
Ihr LENIN.
Gruß an M. F.
[7. Nov. 1912]. Der Brief ist nicht datiert. Das Datum kann jedoch nach dem Inhalt genau festgestellt werden. Die Wahlen der Wahlmänner in der Arbeiterkurie in Petersburg fanden am 25. Oktober (8. November) 1912 statt. Folglich ist der Brief am 7. November 1912 neuen Stils geschrieben.
Teurer A. M.!
Dieser Tage erhielt ich von der Redaktion der »Prawda« aus Petersburg einen Brief, in w[elch]em sie mich bitten, Ihnen zu schreiben, daß sie über Ihre ständige Mitarbeit außerordentlich erfreut sein würden. »Wir möchten Gorki 25 Kopeken pro Zeile anbieten, aber wir fürchten, er könne sich gekränkt fühlen« – so schreiben sie mir.
Meiner Ansicht nach liegt darin durchaus nichts Kränkendes. Daß Ihre Mitarbeit sich unter dem Einfluß irgendwelcher Erwägungen hinsichtlich des Honorars ändern könnte, das kann niemandem auch nur in den Sinn kommen. Ebenso ist es allbekannt, daß die Arbeiterzeitung »Prawda«, die gewöhnlich 2 Kopeken pro Zeile, noch öfter aber nichts zahlt, durch Honorar überhaupt nicht anzulocken imstande ist.
Aber daß die Mitarbeiter einer Arbeiterzeitung ein regelmäßiges, wenn auch noch so bescheidenes Gehalt beziehen, daran ist nichts Schlimmes, »außer nur Gutes.« Der Absatz beträgt jetzt 20-25 Tausend. Es wird Zeit, an einen soliden Betrieb mit bezahlten Beiträgen der Mitarbeiter zu denken. Was ist denn Schlimmes daran, wenn allmählich alle, die für eine Arb[eiter-]Zeitung schreiben, zu verdienen anfangen? Und was kann an diesem Angebot Kränkendes sein?
Ich bin sicher, daß die Befürchtungen der Petersburger Redaktion der »Prawda« ganz unbegründet sind und daß Sie ihr Angebot nicht anders als kameradschaftlich auffassen werden. Schreiben Sie ein paar Worte entweder direkt an die Redaktion oder an mich.
Morgen finden in Petersburg die Wahlen der Wahlmänner (in der Arb[eiter-]Kurie) statt. Der Kampf mit den Liquidat[oren] ist entbrannt. In Moskau und in Charkow haben die Parteiler gesiegt.
Haben Sie den »Lutsch« gesehen, und halten Sie ihn überhaupt? Haben die aber ihre Karten gefälscht und sich als die »Gutmütigen« aufgespielt! »Lutsch« – die Zeitung der Liquidatoren in Petersburg.
Ich habe die Anzeige betreffs des »Krugosor« gesehen. Ist das Ihr Unternehmen, oder sind Sie dort nur Gast?
Ich drücke Ihnen kräftig die Hand und wünsche Ihnen vor allem Gesundheit. An M. F. einen Gruß.
Ihr LENIN.
47. Ulica Lubomirskiego. Krakau.
[23. Dez. 1912]. Der Brief ist nicht datiert. Das Datum ist jedoch genau nach dem Inhalt festzustellen. Nr. 187 der »Prawda« erschien am 7. Dezember 1912, alten Stils. In Krakau konnte sie erst am 10. Dezember alten Stils, d. h. am 23. Dezember neuen Stils eintreffen.
Teurer A. M.!
Lange habe ich keine Nachricht mehr von Ihnen. Wie geht es? Sind Sie gesund?
Heute erhielt ich Nr. 187 der »Prawda« mit dem Abonnement für 1913. Die Lage der Zeitung ist schwierig: nach dem sommerlichen Sturz des Absatzes geht der Aufstieg sehr langsam, und es bleibt ein Defizit. Vorübergehend sind sogar die Zahlungen an zwei ständige Mitarbeiter eingestellt und unsere Lage überaus erschwert worden.
Wir beabsichtigen, unter den Arbeitern eine verstärkte Agitation zugunsten des Abonnements zu betreiben, um mit dem erhaltenen Gelde die Zeitung zu festigen und zu erweitern, sonst bleibt nach Beginn der Duma gar kein Platz mehr für die Aufsätze übrig.
Hoffentlich beteiligen auch Sie sich an der Agitation zugunsten des Abonnements, um die Zeitung wieder hoch zu bringen. In welcher Form aber? Wenn Sie ein Märchen oder sonst etwas Passendes haben – so wäre eine diesbezügliche Anzeige eine sehr gute Agitation. Wenn nicht – so geben Sie Ihr briefliches Versprechen ab, in allernächster Zeit, und zwar im Jahre 1913, etwas einzusenden. Schließlich wären ein paar Zeilen eines Briefes von Ihnen an die Arbeiter über die Wichtigkeit einer aktiven Unterstützung (durch Abonnements, Verbreitung, Kollekten) der Arbeiterzeitung auch eine ausgezeichnete Agitation. Mit M. Gorkis Genehmigung wurde in Nr. 1 (205) der »Prawda«, vom 1. Januar 1913, ein Abschnitt aus der Erzählung »Die große Liebe« abgedruckt. Diese Erzählung erschien im Sammelbuch »Bila Kwitka« (»Die weiße Blume«).
Schreiben Sie bitte das eine oder das andere – direkt an die Redaktion der »Prawda« (Jamskaja 2, St.-Petersburg), oder hierher an mich. Ulijanow. (47. Lubomirskiego. Krakau).
Krieg wird es wahrscheinlich nicht geben, und vorläufig bleiben wir hier, um den erbitterten Haß der Polen gegen den Zarismus »auszunutzen«. Die »Ausnutzung« bestand darin, daß die an Emigranten gewöhnte Krakauer Administration (Krakau war das Zentrum der polnischen Emigranten, die vor den Verfolgungen des Zarismus flohen; in Krakau lebten ungefähr 4000 Emigranten) den ständigen russischen Besuchern Wladimir Iljitschs keine besonderen Hindernisse in den Weg legte. Übrigens wurde Lenin 1914, sofort bei Beginn des Krieges von der Provinzadministration verhaftet.
Die Liquidatoren richten jetzt einen Angriff gegen revolutionäre Streiks! So weit sind sie also schon. Man spricht von einem Streik und einer Demonstration am 9. Januar. Wladimir Iljitsch drückt sich aus konspirativen Erwägungen unklar aus. Die Partei bereitete zum 9. Januar 1913 Streiks und Manifestationen vor.
Von Arbeiterdelegierten sind zum ersten Male seit drei [2., 3., 4.] Dumas alle sechs Deputierten der Hauptgouvernements auf Seiten der Partei. Wenn auch schwer, so geht die Sache doch vorwärts.
Haben Sie die »Verteidigung« von Ropschin in den »Sawjety«, im Namen der »Freiheit des Gedankens und der Kritik« (in der Antwort auf den Brief von Natansohn & Co. an die Redaktion) gesehen? Ropschin-Sawinkows Roman »Das, was nie war« erschien in den »Sawjety«, – einer von den Sozial-Revolutionären, mit Tschernow an der Spitze, geleiteten Zeitschrift. Der offenkundig abtrünnige Charakter des Romans rief in den Spalten der »Sawjety« selbst einen Protestbrief seitens der Sozial-Revolutionäre linker Orientierung, mit M. A. Nathansohn an der Spitze, an die Redaktion hervor (»Sawjety«, Nr. 8, November 1912). Übrigens trat in derselben Nummer der »Sawjety« die Redaktion dieser Zeitschrift mit einer Verteidigung Ropschins an die Öffentlichkeit. Das ist ja schlimmer als alles Liquidatorentum – ein verwickeltes, feiges, geschicktes und nichtsdestoweniger systematisches Renegatentum!
Wir kämpfen »gegen den Strom« … Für die revolutionäre Agitation unter den Massen muß man jetzt gegen sehr viele »Auch-Revolutionäre« kämpfen … In den Arbeitermassen ist die revolutionäre Stimmung zweifellos da, aber die neue demokratische Intelligenz (und auch die Arbeiterintelligenz darunter) mit einer revolutionären Ideologie wächst langsam heran, bleibt zurück, holt uns vorläufig noch nicht ein.
Herzlichsten Gruß!
Schreiben Sie mir ein paar Worte.
Ihr LENIN.
P. S. – An M. F. einen Gruß! Sie läßt auch ganz und gar nichts mehr von sich hören …
21. Jan. 13.
Teurer A. M.!
Der Genosse, der Ihnen diesen Brief übermitteln wird, ist der jetzt in Wien lebende Trojanowski. Er und seine Frau machen sich jetzt energisch an die »Prosweschtschenije« er hat einen kleinen Happen Geld zusammengebracht, und wir hoffen, daß dank ihrer Energie und Hilfe es uns gelingen wird, ein kleines marxistisches Journälchen gegen die liquidatorischen Renegaten zu begründen. Ich denke, auch Sie werden der »Prosweschtschenije« Ihre Beihilfe nicht verweigern? »Prosweschtschenije« – eine bolschewistische Zeitschrift, die im Dezember 1911 in Petersburg, an Stelle der verbotenen »Mysl« zu erscheinen begann. An der Begründung dieser Zeitschrift nahmen der damals in Wien lebende A. A. Trojanowski und Helene Feodorowna Rosmirowitsch großen Anteil.
Ihr LENIN.
P. S. – Hoffentlich haben Sie meinen langen Brief über die Vorwärtsler erhalten? Dieser Brief steht dem Institute nicht zur Verfügung. Aber wie sind Sie denn in den »Lutsch« geraten??? Doch nicht im Gefolge der Deputierten? Die sind ja einfach in die Falle gegangen und werden vermutlich bald wieder hinausgelangen. »Lutsch« – eine legale Petersburger Zeitung der Menschewisten, die sie gegen die bolschewistische »Prawda« begründeten. Sie begann im September 1912 herauszukommen. In Nr. 78, vom 18. Dezember 1912, waren in der Zahl der Mitarbeiter auch die Deputierten der IV. Reichsduma, die Bolschewisten A. Badajew, G. Petrowski, F. Samoilow und N. Schagow aufgeführt. Die bolschewistischen Deputierten traten nach einem Monat aus der Zahl der Mitarbeiter des »Lutsch« aus, indem sie erklärten, daß sie mit der liquidatorischen Richtung der Zeitung nicht einverstanden wären. Der Brief der Deputierten bezüglich ihres Austritts aus der Zeitung wurde in Nr. 24 des »Lutsch«, vom 30. Januar 1913, veröffentlicht.
[Januar 1913] Der Brief ist nicht datiert. Das ungefähre Datum wurde nach seinem Inhalt festgestellt.
Teurer A. M.!
Dagegen, daß Sie meinen Brief an Tich[onow] A. N. Tichonow, einer von A. M. Gorkis Freunden. Welchen von Wladimir Iljitschs Briefen A. M. Gorki Tichonow übersenden wollte, ist uns unbekannt. senden, habe ich selbstverständlich nichts einzuwenden.
Lunatsch[arski]s Feuilleton »Zwischen Furcht und Hoffnung« hat nach Ihrer Erzählung mein Interesse geweckt. »Furcht und Hoffnung, ein Weihnachtsgespräch.« – Erzählung. Erschienen in der »Kijewskaja Mysl« (»Der Kiewer Gedanke«), Nr. 357, vom 25. Dezember 1912. Könnten Sie es mir nicht zusenden, wenn Sie es nicht brauchen? Ich werde es auf Wunsch pünktlich zurücksenden.
Die Kollekte für die Moskauer Zeitung hat uns sehr gefreut. Die Kollekte für die Moskauer Zeitung, d. h. für die Begründung einer bolschewistischen Zeitung in Moskau, begann in der »Prawda«, Nr. 176 vom 24. November 1912. In dieser Nummer rückte die Gruppe der »Moskauer Arbeiter« einen Aufsatz ein mit dem Aufruf, eine Geldannahmestelle für den Fonds einer Arbeiterzeitung in Moskau zu eröffnen. Der Aufsatz wurde mit der Überschrift »Eine Arbeiterzeitung in Moskau« veröffentlicht. Indessen konnte die Moskauer Zeitung »Nasch Putj« (»Unser Weg«) erst am Sonntag, den 25. August (7. September) 1913 erscheinen. Diese Angelegenheit wird unser Dreigespann der Deputierten des Moskauer Bezirks in die Hand nehmen: Malinowski, Schagow und Ssamoilow. Das ist schon abgemacht. Aber es ist Vorsicht notwendig: ohne die »Prawda« befestigt zu haben, darf man keine Moskauer Zeitung in Angriff nehmen. Wir hegen den Plan der Begründung einer »Moskowskaja Prawda«.
Schreiben Sie bitte an Tichonow, er möge nur mit Badajew und Malinowski sprechen, mit diesen aber auf jeden Fall.
Besonders haben mich in Ihrem Briefe die Worte gefreut: »Aus allen Plänen und Tendenzen der russischen Intelligenz geht mit aller Deutlichkeit hervor, daß der sozialistische Gedanke durchwachsen ist von verschiedenen, in der Wurzel ihm feindseligen Strömungen: da findet sich Mystik, Metaphysik, Opportunismus, Reformismus, Nachwehen des Narodnitschestwo. Alle diese Strömungen sind um so gefährlicher, als sie äußerst unbestimmt sind und, da sie kein eigenes Sprachrohr besitzen, sich nicht mit gehöriger Klarheit definieren lassen können.«
Ich unterstreiche die mich am meisten begeisternden Worte. Das ist es ja gerade: »in der Wurzel feindselig«, und das um so mehr, weil sie unbestimmt sind. Da fragen Sie nach Stepanow (J. J.) Was ist aus ihm geworden (dabei war er ein braver Bursche, fleißig, tüchtig usw.) während der Epoche des Zerfalls und der Schwankungen? (1908-1911.) Er wollte uns mit den Vorwärtslern aussöhnen. Das heißt aber, daß er selbst schwankend war.
Er schrieb mir Briefe, daß man unter die demokratische Revolution in Rußland einen Strich machen müßte, daß es bei uns auf österreichische Weise ohne Revolution gehen würde. Ich habe ihn für diese Abgeschmacktheiten einen Liquidatoren geschimpft. Er hat's mir übel genommen. Und später platzte Larin in der Presse mit seinen Ideen heraus. S. Larins (damals ein extremer Liquidator) Aufsatz in der Zeitschrift »Djelo Shisjni« (»Das Werk des Lebens«), Jahrgang 1911: »Rechtsum kehrt«, in Nr. 1, vom 22. Januar, und Nr. 2, vom 2. März. Noch ausgeprägter entwickelte Larin seinen Gedanken in dem Aufsatz »Wege des Aufbaus«, Nr. 5, vom 31. Mai, und Nr. 6, vom 25. Juni.
Jetzt schreibt Stepanow ostentativ nicht für uns, sondern für Roschkows Zeitung »Nowaja Sibirj« in Irkutsk. Und wissen Sie, was Roschkow für eine neue »Strömung« entdeckt hat? Haben Sie seinen Aufsatz in »Nascha Sarja« vom Jahre 1911 und meine Antwort in der »Swesda« gelesen? »Nowaja Sibirj« (»Das Neue Sibirien«) kam vom 6. Dezember 1912 bis zum 1. Februar 1913 alten Stils heraus. Der Aufsatz von N. Roschkow, der mit den Bolschewisten gebrochen hatte, erschien in »Nascha Sarja« (»Unsere Morgenröte«), Nr. 9-10, Jahrgang 1911, und war betitelt: »Rußlands gegenwärtige Lage und die Grundaufgabe der Arbeiterbewegung in diesem Augenblick«. Lenins Antwort, betitelt: »Das Manifest der liberalen Arbeiterpartei«, stand in der »Swesda«, Nr. 32, vom 3. Dezember 1911. Roschkow beantwortete das »Manifest der liberalen Arbeiterpartei« in »Nascha Sarja«, Nr. 5, Jahrgang 1912, mit dem Artikel »Gegen zwei Fronten«. Auch Roschkow versteift sich in seinem Opportunismus. Und Stepanow? Allah mag aus ihm klug werden. Das ist's ja eben: eine »äußerst unbestimmte« und verwickelte Stellungnahme. Ich würde nie eine irgendwie selbständige Abteilung Stepanow jetzt anvertrauen: er könnte einen Sprung machen, ohne selber zu wissen wohin. Und doch könnte er wahrscheinlich ein nützlicher Mitarbeiter sein. Es ist einer von denen, die aus sich selber »nicht klug geworden sind.« Ihm die »Organisation« einer Abteilung zu übertragen, hieße sowohl ihn als auch die Abteilung dem sicheren Verderben weihen. Laut Mitteilungen des Gen. I. I. Stepanow, dem die ihn betreffende Stelle des Briefes mitgeteilt wurde, schrieb er (I. I. Stepanow) in der »Nowaja Sibirj« über Fragen der internationalen Politik und der westeuropäischen Arbeiterbewegung. Die liquidatorische Position Roschkows, die letzterer in »Nascha Sarja« einnahm, äußerte sich, nach Aussage I.I. Stepanows, in keiner Weise in der »Nowaja Sibirj«. Die damalige Stellungnahme I. I. Stepanows fand ihren Ausdruck in seinem umfangreichen Aufsatz über den »Imperialismus«, der 1913 in der »Prosweschtschenije« erschien, selbstredend mit Wladimir Iljitschs vollster Billigung.
Sie schreiben: »Es ist Zeit für uns, eine eigene Zeitschrift zu besitzen, aber wir haben nicht die genügende Menge gut miteinander eingearbeiteter Menschen dafür.«
Den zweiten Teil dieses Satzes lehne ich ab. Eine Zeitschrift würde eine genügende Menge Menschen zwingen, sich miteinander einzuarbeiten, eine Zeitschrift oder irgendein anderer Sammelpunkt.
Ein Sammelpunkt ist da, aber eine (dicke) Zeitschrift fehlt aus äußerlichen Gründen: es ist kein Geld da. Wäre Geld da, so bin ich sicher, wir könnten auch jetzt eine dicke Zeitschrift zuwege bringen, denn zu einem Grundstock von Mitarbeitern kann man gegen Bezahlung viele andere hinzuziehen, wenn man Themen verteilt und die Plätze anweist.
Solange kein Geld da ist, dürfen wir, meiner Ansicht nach, nicht nur Zukunftspläne machen, sondern müssen auch aufbauen, auf der Grundlage des Vorhandenen, das will besagen – auf der Grundlage der »Prosweschtschenije.« Das ist natürlich nur ein kleiner Fisch im Netz, aber erstens wächst ja alles Große aus dem Kleinen heraus. Zweitens ist ein kleines Fischchen besser als eine große Schabe.
Es ist Zeit, höchste Zeit, daß wir mit Proben anfangen, wenn wir »miteinander eingearbeitete Menschen« in großer Menge haben wollen.
»Es ist Zeit für uns, eine eigene Zeitschrift zu haben.« Ein Grundstock von Literaten ist da. Die Richtigkeit der Richtlinie wird durch die Erfahrung von 12 (oder sogar 20) Jahren bekräftigt, und durch die Erfahrung der letzten 6 Jahre erst recht. Um diesen Kern muß man sich sammeln, ihn ausführlicher herausarbeiten, aufziehen und erweitern. Mit dem Illegalen und der »Prawda« mußten wir anfangen. Aber uns dabei aufhalten wollen wir nicht. Und weil Sie nun schon gesagt haben, »es ist Zeit für uns, eine eigene Zeitschrift zu haben,« so gestatten Sie, daß ich Sie beim Worte fasse: entweder entwerfen Sie sogleich einen Plan zur Aufbringung von Geld für eine dicke Zeitschrift mit dem und dem Programm, mit der und der Redaktion, mit dem und dem Mitarbeiterbestand, oder fangen Sie an, nach demselben Plane, die » Prosweschtsch[enije]« zu erweitern.
Noch richtiger: nicht entweder – oder, sondern: – sowohl – als auch.
Ich warte auf Antwort. Aus Wien haben Sie wahrscheinlich bereits einen Brief über die » Prosweschtsch[enije]« erhalten. Es ist bestimmte Aussicht da, sie in verkleinerter Gestalt für 1913 sicherzustellen. Wenn Sie wollen, daß »wir unsere eigene Zeitschrift haben,« dann lassen Sie uns zusammen Hand mit anlegen.
Über die Daschnaks Die Daschnaks – Anhänger der armenischen nationalistischen Partei »Daschnakzutjun«. Was für ein »Gerücht« Gorki Lenin mitgeteilt hatte – ist unklar. habe ich nichts gehört. Aber ich halte das Gerücht für Unsinn. Es ist von der Regierung in Umlauf gebracht, die das türkische Armenien verschlingen möchte.
Die P. P. S. ist unzweifelhaft für Österreich und wird dafür kämpfen. P. P. S. – die Polnische Sozialistische Partei, die Partei Pilsudskys. Lenins Prophezeiung hat sich erfüllt: in dem imperialistischen Kriege trat die P. P. S. unter Pilsudskys Generalführung in die Reihen der österreichischen Armee ein. Ein Krieg zwischen Österreich und Rußland wäre eine für die Revolution (in ganz Ost-Europa) sehr nützliche Sache, aber es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß Franz Joseph und Nikolascha uns dies Vergnügen machen werden.
Sie bitten um häufigere Information. Mit Vergnügen – geben Sie nur Antwort. Ich sende Ihnen (vorläufig geheim) den Beschluß unserer jüngstverflossenen Beratung (die, meiner Ansicht nach, sehr gut geraten ist und von Bedeutung sein wird). Es handelt sich hier um eine zu Anfang des Jahres 1913 stattgefundene Beratung der Bolschewisten, die aus konspirativen Erwägungen den Namen der »Februarberatung« erhielt, obwohl sie im Januar 1913 stattgefunden hatte.
Es heißt, Beschlüsse seien von allen Arten der Literatur die allerlangweiligste. Ich bin ein allzusehr in Beschlüsse verbissener Mensch. Schreiben Sie mir, inwieweit sie Ihnen lesbar scheinen, (besonders die über die revolut[ionären] Streiks und über die Liquidatoren).
Was hat das Gerücht von einer Amnestie Im Zusammenhange mit der 300jährigen Jubiläumsfeier des Hauses Romanow im Februar 1913 wurde eine Amnestie erwartet. Diese Amnestie wurde tatsächlich am 21. Februar 1913 bekanntgegeben. Sie betraf unter den politischen Verbrechern nur die Personen, die wegen Pressevergehens verurteilt worden waren. in Rußland Schlimmes aufgewirbelt? Ich weiß nichts davon. Schreiben Sie. N. K. läßt grüßen.
Mit kräftigem Händedruck.
Ihr LENIN.
[Anfang Februar 1913] Der Brief ist nicht datiert. Er fällt in die ersten Tage des Februar 1913.
Teurer A. M.!
Was ist denn das für ein schlechtes Betragen, Freundchen? Sie sind überarbeitet, übermüdet, haben Nervenschmerzen. Eine schöne Ordnung das! Auf Capri, noch dazu im Winter, wenn der Besucherstrom doch wahrscheinlich geringer ist, sollten Sie eine regelmäßige Lebensweise führen. Kommt es, weil Sie ohne Obhut sind, daß Sie sich so haben gehen lassen? Wirklich und wahrhaftig, das ist unrecht. Nehmen Sie sich zusammen und stellen Sie für sich ein strenges Regime auf, wirklich! Bei den jetzigen Zeiten krank zu sein ist ein ganz unzulässiges Ding. Haben Sie etwa angefangen nachts zu arbeiten? Als ich aber auf Capri war, hieß es, nur ich sei es, der Unordnung hereinbrächte, vor meiner Ankunft hätte man sich beizeiten schlafen gelegt. Sie müssen sich erholen und ein Regime einführen, unbedingt.
An Trojanowski und seine Frau werde ich betreffs ihres Wunsches, sie wiederzusehen, schreiben. Das wäre wirklich schön. Es sind gute Menschen. Bei der Arbeit haben wir sie noch nicht viel gesehen; aber alles, was wir bis jetzt von ihnen wissen, spricht zu ihren Gunsten. Auch haben sie Mittel. Sie könnten ihre Hand auftun und viel für die Zeitschrift tun. Die Trojanowskaja reist bald nach Rußland. E. F. Rosmirowitsch reiste nach der literarischen Amnestie vom 21. Februar mit einem Briefe von Nadeshda Konstantinowna (Krupskaja-Lenina) nach Rußland; in diesem Briefe wurde der Vorschlag gemacht, E. F. als Agenten des Z.K. zur Einberufung einer Konferenz (der sogenannten »Sommerkonferenz«) auszunutzen. Im Mai wurde E. F. verhaftet, und Nadeshda Konstantinownas Brief figurierte vor Gericht.
Ungemein hat es mich und uns alle gefreut, daß Sie sich an die »Prosweschtschenije« machen. Ich hatte schon – daß ich's Ihnen nur beichte – gedacht: sobald ich nur das kleine oder winzige Journälchen erwähne, wird A. M. sofort alle Lust vergehen. Ich tue Buße, aufrichtige Buße für solche Gedanken.
Das wäre wirklich ausgezeichnet, wenn wir nach und nach Belletristen heranziehen und die »Prosweschtschenije« vorwärts bringen! Ausgezeichnet! Der Leserkreis ist jetzt ein neuer, proletarischer – wir machen die Zeitschrift billig. – Sie lassen nur demokratische Belletristik herein, ohne Wehleidigkeit, ohne Renegatentum. Als Ergebnis des Briefwechsels zwischen Wladimir Iljitsch und A. M. Gorki wurde ab Februarheft (Nr. 2), Jahrgang 1911 der »Prosweschtschenije« eine belletristische Abteilung eingeführt, deren Redaktion Gorki übernahm. Eine diesbzgl. Mitteilung erschien in Nr. 50 der »Prawda« (1. März 1913).
Die Arbeiter wollen wir schon zusammenschließen. Und die Arbeiter sind jetzt brave Menschen. Unsere sechs Arbeiterdeputierten in der Duma fangen jetzt an, sich für die Arbeit
außerhalb der Duma so herauszumachen, daß es eine Lust ist. Hier werden die Leute eine Arbeiterpartei, eine echte, zusammenschließen! Nie hat man es in der dritten Duma dazu bringen können. Haben Sie im »Lutsch« (Nr. 24) den Brief der vier Deputierten über ihren Austritt gesehen?
In Nr. 24 des »Lutsch«, vom 30. Januar 1913, steht folgende Erklärung der Deputierten über ihren Austritt aus dem Kreise der Mitarbeiter des »Lutsch«: Eingesandt. – »Am 18. Dezember 1912 haben wir, im Einverständnis mit dem Wunsche der s.-d. Fraktion vom 15. XII das Anerbieten der Zeitung »Lutsch«, uns in den Kreis ihrer Mitarbeiter aufzunehmen, angenommen.
Seitdem ist mehr als ein Monat verstrichen. Während dieser ganzen Zeit ist der »Lutsch« ununterbrochen als erbitterter Gegner des Antiliquidatorentums aufgetreten. Seine Propaganda für eine »offene« Arbeiterpartei, seine Ausfälle gegen die illegale Presse betrachten wir, unter den gegenwärtigen Verhältnissen des russischen Lebens, als unzulässig und schädlich.
Da wir es für unmöglich erachten, die von dem »Lutsch« gepredigten liquidatorischen Anschauungen mit unseren Namen zu decken, bitten wir die Redaktion, uns aus der Zahl ihrer Mitarbeiter auszuschließen.
Mitglieder der Reichsduma, Vertreter der Arbeiter:
A. Badajew.
G. Petrowski.
W. Ssamoilow.
N. Schagow.« Ein famoser Brief, nicht?
Und in der »Prawda« – haben Sie gelesen? Alexinski schreibt – gut! und randaliert vorläufig nicht! Erstaunlich! Er hat ein Manifest eingesandt (warum er in die »Prawda« eingetreten ist). Man hat es nicht aufgenommen. Und doch randaliert er vorläufig nicht. Er – staun – lich! Die Beteiligung Alexinskis an der »Prawda« war eine rein zufällige Episode. Ein paar Wochen nach diesem Briefe Wladimir Iljitschs hörte die Mitarbeit Alexinskis in der »Prawda« auf. Bogdanow hingegen randaliert: in Nr. 24 der »Prawda« steht eine Erzdummheit drin. In Nr. 24 der »Prawda« (vom 30. Januar 1913) steht ein Brief A. Bogdanows an die Redaktion, in welchem er erklärt, daß er mit der »Prawda« in bezug auf die Durchführung der Petersburger Wahlkampagne für die IV. Reichsduma nicht einverstanden ist. Nein, mit dem ist nichts anzufangen! Ich habe seinen »Ingenieur Manny« gelesen. Immer derselbe Machismus-Idealismus, so versteckt, daß weder die Arbeiter, noch … die Redakteure in der »Prawda« etwas davon verstanden haben. Nein, dieser Machist ist hoffnungslos, ebenso wie Lunatscharski (für seinen Aufsatz – danke). Wenn man Lunatscharski in der Ästhetik ebenso von Bogdanow trennen könnte, wie Alexinski sich von ihm in der Politik zu trennen beginnt … ja, wenn und aber …
Hinsichtlich der Lehre über den Stoff und seine Struktur bin ich vollkommen mit Ihnen einverstanden, daß man darüber schreiben muß und daß es ein gutes Mittel ist gegen das »Gift, das die formlose russ[ische] Seele einsaugt.« Aber Sie tun unrecht daran, dieses Gift »Metaphysik« zu nennen. Es sollte Idealismus und Agnostizismus heißen.
Denn Metaphysik nennen ja die Machisten den Materialismus! Und gerade ist eine Menge der hervorragendsten modernen Physiker gelegentlich der »Wunder« des Radiums, der Elektronen usw. dabei, den lieben Gott – sowohl den allergröbsten als auch den allerfeinsten, als philosophischen Idealismus überall hineinzuschmuggeln.
Hinsichtlich des Nationalismus bin ich vollkommen Ihrer Meinung, daß man sich damit ernstlicher befassen müßte. Wir haben einen feinen Grusier hier, I. W. Stalin. Nach seiner Flucht aus Narym, dem Orte seiner Verschickung, verbrachte Gen. Stalin mehrere Wochen in Krakau und Wien, wo er an einem Aufsatz über die nationale Frage arbeitete. Sein Artikel »Die Nationale Frage und die Sozial-Demokratie« wurde zuerst in Nr. 3, 4 und 5 der »Prosweschtschenije«, Jahrgang 1911, abgedruckt und später mehreremal von Parteiverlagen nachgedruckt. der für die »Prosweschtschenije« einen großen Artikel schreibt, für den er alle österreichischen und andere Daten gesammelt hat. Wir wollen uns gründlich daran machen. Aber daß unsere Beschlüsse (ich schicke sie Ihnen im Druck) Es handelt sich hier um den Beschluß in der nationalen Frage, der zu Anfang 1913 (in der sogenannten »Februarberatung«) von den Bolschewisten in Krakau gefaßt wurde. Die Beschlüsse der Beratung erschienen als Broschüre, betitelt: »Nachrichten und Beschlüsse der Beratung des Zentralkomitees der russischen sozial-demokratischen Arbeiterpartei mit den Parteiarbeitern«. Der Beschluß steht im XIX. Bd. der Ges. Werke Lenins, S. 22-23, abgedruckt. »Federfuchserei, Kanzleiwust« sind – da geruhen Sie mit Ihrem Schelten unrecht zu haben. Nein. Das ist keine Federfuchserei. Hier und im Kaukasus haben die S.-D. unter den Grusiern, Armeniern, Tataren, Russen gemeinsam, in einer s.-d. Organisation über zehn Jahre lang gearbeitet. Das ist keine Phrase, sondern die proletarische Lösung der nationalen Frage. Die einzige Lösung. So war es auch in Riga: Russen, Letten, Litauer; es lösten sich nur die Separatisten – der »Bund« – los. Desgleichen in Wilna.
Es gibt zwei gute s.-d. Broschüren über die nationale Frage: von Strasser und von Pannekoek. Strasser. – »Der Arbeiter und die Nation.« – 1912. Soll ich sie Ihnen schicken? Wenn sie sich bei Ihnen finden sollten, wer könnte sie Ihnen aus dem Deutschen übersetzen?
Nein, solche Gemeinheit, wie in Österreich, wird es bei uns nicht geben. Wir lassen es nicht zu! Überdies gibt es hier mehr von unsereinem, von den Großrussen. Bei den Arbeitern lassen wir es nicht zum »österreichischen Geiste« kommen. Seit seiner Übersiedelung nach Krakau und besonders seit dem Balkankriege befaßte Wladimir Iljitsch sich speziell mit der nationalen Frage, der er auch früher schon eine Reihe von Aufsätzen gewidmet hatte. Seine Aufsätze dieser Periode sind in Bd. XIX seiner Ges. Werke enthalten.
Betreffs Pjatnitzki bin ich für das Gericht. Es handelte sich um irgendein unehrenhaftes Vergehen seitens Pjatnitzkis, das er sich in seiner Eigenschaft als Verlagsleiter des »Snanije,« unter dessen Teilhabern auch A. M. Gorki war, hatte zuschulden kommen lassen. Die Sache scheint nicht bis vor Gericht gekommen zu sein. Da brauchen keine Umstände gemacht zu werden. Sentimentalität wäre hier unverzeihlich. Die Sozialisten sind durchaus nicht gegen die Verwertung des Gerichts. Wir sind für die Ausnützung der Legalität. Marx und Bebel haben sich sogar wider ihre sozialistischen Gegner an das Gericht gewandt. Man muß wissen, wie das zu machen ist, aber gemacht muß es werden.
Pjatnitzki muß ohne weiteres verdonnert werden. Wenn Ihnen daraus ein Vorwurf gemacht werden sollte – spucken Sie denen, die das tun, ins Gesicht. Nur Heuchler werden Ihnen daraus einen Vorwurf machen. Pjatnitzki nachgeben, ihm das hingehen lassen aus Angst vor dem Gericht, wäre unverzeihlich.
Nun, ich habe unmäßig viel geschwatzt. Schreiben Sie, wie es mit der Gesundheit steht.
Ihr LENIN.
P. S. –
Wir kennen einen Petersburger Foma. Er ist jetzt in Narym. Foma aus dem Ural? Wir können uns nicht entsinnen. Auf dem Kongreß von 1907 war der Petersburger Foma. Der Petersburger Foma, Teilnehmer an dem Londoner Parteitag von 1907 ist A. P. Smirnow, gegenwärtig Volkskommissar für Landwirtschaft.
[10. März 1913] Der Brief ist nicht datiert. Das Datum wurde nach dem Inhalte genau festgestellt. Das »Manifest« wurde am 21. II. 1913 alten Stils veröffentlicht und konnte am 24. II. alten Stils, d. h. am 10. März 1913 neuen Stils, in Krakau sein.
Teurer A. M.!
Heute habe ich das »Manifest« gelesen … Das Manifest der Amnestie anläßlich der 300jährigen Jubiläumsfeier des Hauses Romanow.
Den Literaten scheint volle Amnestie gewährt zu sein. Sie müssen versuchen heimzukehren – Selbstverständlich, nachdem Sie erst in Erfahrung gebracht haben, ob man Ihnen wegen der »Schule« usw. nicht ein Bein stellen wird. Wahrscheinlich wird man Sie dafür nicht verantwortlich machen können.
Hoffentlich sehen Sie die Dinge nicht so an, daß die Amnestie nicht »angenommen« werden darf? Das wäre eine falsche Auffassung: ein Revolutionär wird heutzutage innerhalb Rußlands mehr ausrichten, und unsere Deputierten unterschreiben sogar das »feierl[iche] Versprechen.«
Bei Ihnen handelt es sich jedoch nicht um die Unterschrift, sondern um die Ausnutzung der Amnestie. Schreiben Sie mir, Ihre Meinung und Ihre Absichten. Sie werden doch wohl einen Abstecher hierher machen, wenn Sie fahren werden – es ist ja Ihr Weg!
Einem revolutionären Schriftsteller bietet die Möglichkeit, Rußland (das neue Rußland) zu durchstreifen – eine hundertfach bessere Gelegenheit, den Romanows & Co. einen tüchtigen Schlag zu versetzen …
Haben Sie meinen vorhergehenden Brief erhalten? Ich habe schon lange keine Nachricht. Sind Sie gesund?
Ihr LENIN.
P. S. – Haben Sie N. K.'s Nadeshda Konstantinowna Krupskaja (Lenina). Brief mit den Materialien erhalten?
[Anfang Mai 1913] Der Brief ist nicht datiert. Er gehört in die ersten Tage des Mai (n. St.) 1913.
Teurer A. M.!
Wie steht's mit einem Artikelchen oder einer Erzählung für das Maiheft der »Prosweschtschenije? Man schreibt mir von dort, daß man 10-15 Tausend herausgeben könnte (solche Sprünge machen wir!), wenn etwas von Ihnen da wäre. Schreiben Sie, ob etwas kommt. Im Maihefte der »Prosweschtschenije«, Jahrgang 1913, ist kein Beitrag von Gorki; im Juniheft ist Gorkis Erzählung »Der Diebstahl« abgedruckt. Darauf druckt die »Prawda« es ab, und so kommen 40 000 Leser dabei heraus. Ja … die Geschäfte der »Prosw[eschtschenije]« könnten gut gehen, denn es gibt, weiß der Teufel, keine einzige streng gehaltene Zeitschrift für Arbeiter, für S.-D., für die revolutionäre Demokratie – lauter ekelhafte Schlapphähne.
Wie steht es mit der Gesundheit? Haben Sie sich erholt, und werden Sie im Sommer ausruhen? Es ist wirklich und wahrhaftig notwendig für Sie, einmal ordentlich sich auszuruhen!
Bei mir gibt's Ungemach. Meine Frau ist an der Basedowschen Krankheit erkrankt. Die Nerven! Meine Nerven gehen auch ein bißchen mit mir durch. Wir sind den Sommer über in das Dorf Poronin, unweit von Zakopanie Das Dörfchen Poronin liegt mehrere Fahrtstunden von Krakau entfernt, am Fuße des Tatragebirges. In diesem Dörfchen verbrachten Wladimir Iljitsch, N. K. Krupskaja, G. Sinowjew, L. Kamenew, Inez Armand den Sommer 1913. Ebendaselbst wurden gemeinsame Besprechungen mit den aus Rußland kommenden Arbeitern organisiert. Nach Poronin kamen die bolschewistischen Deputierten der IV. Reichsduma. Ebenda fand vom 25. Oktober bis 1. November 1913 die »Sommerberatung der Bolschewisten«, mit Beteiligung des Z.K., der Duma-Sechs und einer Reihe von Vertretern örtlicher Organisationen, statt. gefahren. Meine Adresse: (Herrn Wl. Ulianow, Poronin, Galizien. Austria).
Die Gegend ist schön, gesund. Höhe ca. 700 Meter. Wie ist's, gedenken Sie nicht einen Ausflug hierher zu machen? Es werden interessante Arbeiter aus Rußland da sein. Zakopanie (7 Werst von uns entfernt) ist ein bekannter klimatischer Luftkurort.
»Haben Sie die »Fabeln« von Demjan Bedny gesehen? Ich will sie Ihnen schicken, wenn Sie sie noch nicht gesehen haben. Und wenn Sie sie gesehen haben, schreiben Sie, wie sie Ihnen gefallen.
Erhalten Sie auch die »Prawda« und den »Lutsch« regelmäßig? Unsere Sache schreitet – allem zum Trotz – vorwärts, und die Arbeiterpartei baut sich als eine revolutionäre, sozial-demokratische, gegen die liberalen Renegaten, die Liquidatoren, gerichtete Partei auf. Unsere Stunde schlägt auch noch einmal. Jetzt triumphieren wir anläßlich der Siege der Arbeiter in Petersburg über die Liquidatoren bei der Wahl der Leitung des neuen Metallarbeiterverbandes. Am 21. April 1913 drang bei den Wahlen in die Leitung des Petersburger Metallarbeiterverbandes die Bolschewistenliste mit A. S. Kisseliow an der Spitze durch.
»Ihr« Lunatscharski ist aber gut!! Sehr gut!! Maeterlinck soll »wissenschaftlichen Mystizismus« besitzen Es handelt sich um Lunatscharskis Feuilleton »Zwischen Furcht und Hoffnung« (Kijewskaja Mysl«, Nr. 357, 25. XII. 1912). … Oder sind etwa Lunatscharski und Bogdanow nicht mehr die Ihrigen?
Spaß beiseite. Bleiben Sie gesund, schreiben Sie zwei Worte. Ruhen Sie sich recht gut aus.
Ihr LENIN.
Ulianow. Austria, Poronin (Galizien).
P. S. – Wie haben Sie die Jubiläumsnummer der »Prawda« gefunden? Das genaue Datum der Jahresfeier der »Prawda« fällt auf den 22. April, aber im Jahre 1913 fiel der 22. April auf einen Montag; die Jubiläumsnummer der »Prawda« erschien daher am Dienstag, den 23. April.
[Mai 1913] Der Brief ist nicht datiert. Das ungefähre Datum: Mai 1913 – ist dem Inhalte nach festgestellt.
Teurer A. M.!
Vor langer, langer Zeit schrieb ich Ihnen aus Krakau – und keine Antwort.
Heute kam ein Brief aus Rußland, aus Odessa, daß Stark L. N. Stark – ein Bolschewist, Literat, Mitarbeiter der »Prosweschtschenije«, der sich damals auf Capri befand. – Gegenwärtig Vertreter der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken in Estland.(?) (aus Capri) sich wundere, warum ich dem Odessiten nichts davon mitgeteilt hätte, was ich durch Stark und durch Sie(!) über die odessitische bolschew[istische] Zeitung wisse!!
Was ist das für ein Mißverständnis, und woher stammt es?? Ich sagte dem Odessiten – schreiben Sie mir über die Odes[saer] bolschew[istische] Zeitung, über die ich nichts weiß. Und auch bis jetzt noch nichts weiß. Von welcher Zeitung hier die Rede ist, bleibt uns unbekannt. In Odessa erschien 1911 die legale sozial-demokratische Zeitung »Jasnaja Sarja« (»Die klare Morgenröte«), an der sich W. W. Worowski und A. K. Woronski beteiligten. Der Odessite schreibt, daß dort »Maliantowitsch der Jüngere« beteiligt sei. Das höre ich zum erstenmal. Was ist das für ein Maliantowitsch? Der »Nikititsch'sche?« »Der Nikititsch'sche«, d. h. mit Nikititsch im Zusammenhange stehende. »Nikititsch« ist das revolutionäre Pseudonym von L.-B. Krassin. Es konnte sich keinesfalls um P. N. Maliantowitsch, den Moskauer Advokaten, sondern nur um seinen Bruder, den Sozial-Demokraten Wladimir Nikolajewitsch Maliantowitsch, handeln, der von 1901-1907 in Odessa lebte. (ich kenne keinen einzigen Maliantowitsch persönlich). Ist es der Moskauer Advokat oder ein anderer?
Schreiben Sie mir, was Ihnen darüber bekannt ist. Man muß dies Mißverständnis entwirren.
Ich bin den Sommer über nach Poronin (unweit von Zakopane) übergesiedelt, um meine Frau behandeln zu lassen. Ich reise zum 27 April 13 mit ihr nach Bern zur Operation. Meine Adresse: Poronin (Galizien) Austria.
In Bern bleibe ich 2-3 Wochen. Dorthin kann man an mich per Adresse Herrn Schklowsky, 9, Falkenweg, 9, Bern (für Lenin) schreiben.
Wie geht es mit Ihrer Gesundheit? Haben Sie sich nach dem Frühjahr erholt? Ich wünsche Ihnen aus ganzer Seele Ruhe und gute Erholung.
Ihr LENIN.
[Juni 1913] Der Brief ist nicht datiert, gehört seinem Inhalte nach in den Juni 1913.
Teurer Al. Max.!
Heute erhielten wir einen Brief aus Petersburg, daß unser Plan bezüglich des Hierherkommens der s.-d. Deputierten (höchst konspirativ: es wurde beschlossen, daß nur Sie es erfahren dürfen) seiner Verwirklichung nahe ist. Außer den sechs Anhängern der »Prawda« ist, wie man schreibt, die Herreise von Tuliakow, Burjanow, Chaustow und sogar vielleicht Manjkow möglich. Tuliakow, Burjanow, Chaustow, Manjkow – Mitglieder der IV. Reichsduma, die nicht zur bolschewistischen Fraktion gehörten, jedoch zwischen Bolschewisten und Menschewisten schwankten. Ihre Reise nach Poronin kam nicht zustande. Die übrigen, in diesem Briefe erwähnten bolschewistischen Deputierten kamen im September nach Poronin und nahmen teil an der sogenannten »Sommerberatung des Zentral-Komitees der russischen sozialdemokratischen Arbeiterpartei mit den Parteiarbeitern.« Wahrscheinlich gelingt es, noch jemanden von den Arbeitern (nicht Deputierte) heranzuziehen. Schreiben Sie mir, bitte, ob Sie kommen können (für eine Reihe von Vorlesungen oder Kursen, wie Sie wollen) oder nicht? Es wäre so schön! 7 Km. weit von hier (mit der Bahn) liegt Zakopanie – ein sehr guter Kurort. Was das Reisegeld anbetrifft, so werden wir es aller Wahrscheinlichkeit nach (so schreibt man) aufbringen. Über Zakopanie als Kurort können wir das Nähere erfahren und es Ihnen mitteilen.
Wenn die Gesundheit es Ihnen erlaubt, kommen Sie doch auf kurze Zeit, wirklich! Nach London und nach der Schule auf Capri bekämen Sie noch andere Arbeiter zu sehen.
A. M. Gorki nahm an dem Londoner Parteitag 1907 als Gast teil. Die Schule auf Capri ist jene Schule, von der in Lenins Briefen vom Jahre 1908 die Rede ist. (S. Anmerkung 1 zu Brief 11).
Nach Poronin kam Gorki nicht.
Malinowski R. W. Malinowski – Deputierter der IV. Reichsduma, der sich später als Lockspitzel entpuppte. wollte zu Ihnen reisen, aber es gelang ihm nicht, er hatte keine Zeit. Sowohl er als auch alle Deputierten senden Ihnen einen herzlichen Gruß.
Ich warte auf Antwort.
Ihr LENIN.
Die Zeitungen sind voller Nachrichten über den »Konflikt« Der Konflikt zwischen der IV. Reichsduma und der Regierung.. Ich vermute, die »Prawda« Die Zeitung »Prawda« wurde tatsächlich mit Nr. 356, vom 5. Juli 1913, durch die Verfügung des St.-Petersburger Gerichtshofes verboten. wird man uns erwürgen. Das wird Maklakow N. A. Maklakow – damaliger Minister des Innern, auf dessen Betreiben hin die »Prawda« verboten wurde. so oder so, ohne die Duma, gegen die Duma oder sonst wie, aber er wird es durchsetzen!
Dann verlegen wir uns wieder auf die illegale Literatur, wir haben bloß kein Geld.
Wie ist's denn, hat der »Kaufmann« noch nicht angefangen, zu geben? Es ist Zeit. Höchste Zeit.
Adresse: Herrn Wl. Ulianow, Poronin (Galizien) Autriche.
25. Juli 1913.
Teurer A. M.!
Ich hatte immer vor, Ihnen zu schreiben, verschob es aber wieder wegen der Operation meiner Frau. Vorgestern war endlich die Operation, und es geht jetzt bereits der Besserung zu. Die Operation erwies sich als ziemlich schwierig – ich bin sehr froh, daß es uns gelungen ist, bei Kocher operieren zu lassen.
Jetzt das Geschäftliche. Sie schrieben, daß Sie im August in Berlin sein würden? Wann im August? Anfang oder Ende des Monats? Wir beabsichtigen, am 4. August von hier abzureisen. Wir haben Fahrkarten über Zürich – München – Wien und werden in allen diesen Städten Aufenthalt haben. (Es ist möglich, daß der Arzt uns am 4. noch nicht fortläßt – dann verschieben wir es noch.)
Könnten wir uns nicht irgendwo sehen? Es würde doch gewiß Ihr Weg sein, wenn Sie über Bern oder über Zürich oder über München reisten?
Wiedersehen müßten wir uns dringend. Das Verbot der » Prawda« schafft eine verteufelt schwierige Lage. Vielleicht könnten wir uns doch etwas ausdenken. Und dann könnten Sie in Berlin sehr viel für uns, d. h. für die » Prawda«, tun.
Daher bitte ich Sie sehr, mir sofort wenn auch nur ein paar Worte, zu schreiben, ob ein Wiedersehen zwischen uns hier oder an den erwähnten Orten Anfang Aug[ust] möglich ist. Sollte es unmöglich sein, so schreibe ich Ihnen dann ausführlicher über alle Geschäfte, namentlich über die Schule (der Verlust des Organisators hat uns verteufelt hineingelegt; wir suchen einen anderen).
Ich drücke Ihnen kräftig die Hand und wünsche Ihnen alles mögliche Gute, vor allem Gesundheit für die Reise. Also antworten Sie sofort!
Ihr LENIN.
Adresse: Herrn Ulianow, 4 Gesellschaftsstraße 4 (Svizzera). Bern.
30. Sept. 1913
Teurer A. M.!
Ich habe mich etwas mit der Antwort verspätet. Bitte um Entschuldigung. Wie ich mich in diesem verteufelten Bern und nachher geärgert habe!! Ich habe mir gedacht: wenn Sie in Verona sind (das Tel[egramm] von Ihnen betreffs Bebel war aus Verona) Ein Telegramm von A. M. Gorki »betreffs Bebel« steht dem Institute nicht zur Verfügung. Bezog es sich vielleicht auf Bebels Tod am 12. August 1913? – oder dies rätselhafte Rom …?? Ich hätte ja aus Bern nach Verona kommen können!! Und damals kam von Ihnen monatelang kein Wort …
Was Sie mir über Ihre Krankheit schreiben, beunruhigt mich schrecklich. Tun Sie auch recht daran, ohne ärztliche Behandlung auf Capri zu leben? Die Deutschen haben ausgezeichnete Sanatorien (z. B. in St. Blasien, unweit der Schweiz), wo Lungenkrankheiten kuriert und völlig auskuriert werden, man bringt es zu einer vollständigen Vernarbung, füttert die Patienten heraus, dann gewöhnt man sie systematisch an Kälte, härtet sie gegen Erkältungen ab und entläßt brauchbare, arbeitsfähige Menschen.
Und Sie wollen von Capri im Winter – nach Rußland????? Ich habe fürchterliche Angst, daß das Ihrer Gesundheit schadet und Ihrer Arbeitsfähigkeit Abbruch tun wird. Gibt es in diesem Italien erstklassige Ärzte??
Wirklich, fahren Sie doch einmal zu einem erstklassigen Arzte nach der Schweiz (ich kann Ihnen Namen und Adressen in Erfahrung bringen) oder nach D[eutschland] – befassen Sie sich an die 2 Monate ernstlich mit der Behandlung in einem guten Sanatorium. Denn Staatseigentum unnütz rauben – d. h. krank sein und seine Arbeitsfähigkeit untergraben – ist in jeder Beziehung unzulässig.
Ich habe (von dem Red[akteur] der »Prosw[eschtschenije]«, der Ladyschnikow gesehen hat), Der Redakteur der »Prosweschtschenije« – damit ist wahrscheinlich M. A. Saweljew gemeint. I. P. Ladyschnikow – ein Verleger, der in Berlin die Herausgabe russischer Bücher organisierte und zu Gorki in naher Beziehung stand. gehört, daß Sie mit der » Prawda« wegen deren Nüchternheit unzufrieden sind? Das stimmt. Aber dieser Fehler läßt sich nicht so leicht auf einmal beseitigen. Wir haben keine Leute. Mit großer Mühe haben wir es ein Jahr nach dem Beginn nur zu einer erträglichen Redaktion in Petersburg gebracht. (Ihren Brief an die »Prosw[eschtschenije]« habe ich übermittelt).
Schreiben Sie, was Sie für Pläne haben und wie es mit der Gesundheit steht. Ich bitte Sie inständig, sich ernstlich kurieren zu lassen – wirklich und wahrhaftig, es ist durchaus möglich, gesund zu werden, aber es einreißen zu lassen – wäre einfach gottlos und verbrecherisch.
Ihr LENIN.
P. S. – Wir hatten teils, teils werden wir noch nette Leute bei uns haben. Haben Sie auch »Nasch Putj« gesehen? »Nasch Putj« (»Unser Weg«), eine Moskauer bolschewistische Zeitung, die vom 25. August (7. September) bis zum 12./25. September 1913 erschien. Es kamen im ganzen 13 Nummern heraus. Wie finden Sie den Erfolg? Das ist nun schon die zweite Zeitung. Wir werden auch noch die dritte im Süden begründen.
Adresse: Ulianow. Poronin (Galizien), Austria. (Im Winter bin ich in Krakau: Lubomirskiego 51).
[Anfang Nov. 1913] Der Brief ist nicht datiert. Das ungefähre Datum wurde auf dem Wege des Vergleichs mit dem Post-Skriptum zu Brief Nr. 32 und mit Brief Nr. 33 festgestellt.
Teurer Alexej Maximowitsch!
Ich schicke Ihnen heute unter Kreuzband, eingeschrieben, den Anfang des in der »
Prosweschtschenije« erscheinenden Romanes. Wir denken, daß Sie nicht dagegen sein werden. Sollten Sie, wider Erwarten, dagegen sein, – so
telegraphieren Sie an die »Prosweschtschenije«:
»Woitinski zurücklegen« oder »Woitinskis Roman nicht aufnehmen.«
W. Woitinski (Pseudonym Sergej Petrow). In den Jahren 1905-1907 Agitator des Petersburger Bolschewisten-Komitees und Mitarbeiter an der bolschewistischen Presse. Im Jahre 1907 geriet er in einer bolschewistischen Sache ins Zuchthaus und wurde darauf verschickt. In der Verbannung schrieb er eine Reihe belletristischer Werke aus dem Leben der Revolution und der Gefängnisse. Im Jahre 1917 ging er zu den Menschewisten über und tritt seitdem als erbitterter Gegner des Bolschewismus an die Öffentlichkeit.
Im Aprilhefte der »Prosweschtschenije«, Jahrgang 1911, gelangte ein Abschnitt aus seiner Erzählung: »Wogen«, unter dem Titel: »Ein Lichtstrahl in der Nacht« zum Abdruck. Aus Brief Nr. 33 ist ersichtlich, daß A. M. Gorki sich
gegen die Aufnahme des Romans von Woitinski in die »Prosweschtschenije« äußerte. Daher ist es schwer, zu urteilen, ob in Wladimir Iljitschs Briefen von dem Manuskript der »Wogen« oder von irgendeinem anderen Manuskript Woitinskis die Rede ist.
Die Nachricht, daß Sie auf neue Art von »einem Bolschewisten«, wenn auch von einem gewesenen, behandelt werden, hat mich wirklich und wahrhaftig beunruhigt. Gott behüte uns vor Genossen als Ärzte überhaupt, vor bolschewistischen Ärzten im besonderen! Wirklich, in 99 Fällen von 100 sind Genossen als Ärzte »Esel«, wie mir einmal ein guter Arzt gesagt hat. Ich versichere Ihnen, daß man sich (außer in geringfügigen Fällen), nur von erstklassigen Berühmtheiten behandeln lassen sollte. Die Erfindungen eines Bolschewisten an sich auszuprobieren – das ist fürchterlich!! Es bleibt nur die Kontrolle der neapolitanischen Professoren … wenn diese Professoren wirklich tüchtig sind … Wissen Sie was? wenn Sie im Winter reisen werden, machen Sie auf jeden Fall einen Abstecher zu den erstklassigen Ärzten in der Schweiz und in Wien – es wäre unverzeihlich, wenn Sie das nicht tun würden. Wie geht es jetzt mit der Gesundheit?
Ihr N. LENIN.
P. S. – Unsere Geschäfte gehen nicht schlecht; in Petersburg schließen sich die Arbeiter in allen legalen Vereinigungen, darunter – in den Versicherungsvereinigungen, parteilich zusammen. Hier waren interessante und auch tüchtige Burschen.
Adresse: Wl. Ulianow. 51, Ulica Lubomirskiego., Krakow. Krakau (Galizien).
[14. Nov. 1913] Der Brief ist nicht datiert. Das Datum ergibt sich aus dem in diesem Briefe enthaltenen Hinweis auf die Zeitungen »Rjetsch« und »Neue Arbeiterzeitung« und aus der Tatsache, daß die Petersburger Zeitungen in Krakau am vierten Tage eintrafen.
Teurer A. M.!
Was machen Sie denn nun eigentlich? – Es ist ja geradezu entsetzlich!
Gestern las ich in der »Rjetsch« Ihre Antwort auf das »Geheul« wegen Dostojewsky und ich wollte mich schon freuen, heute aber trifft die »Liquidations«-Zeitung ein, in der ein Absatz Ihres Artikels abgedruckt ist, den es in der »Rjetsch« nicht gegeben hat.
In der Zeitung »Russkoje Slowo« vom 22. Sept./5. Okt. 1913 veröffentlichte Gorki einen Protest gegen die Inszenierung des gegenrevolutionären Romans »Dämonen« von Dostojewsky im Moskauer Künstlertheater. »Diese Vorstellung«, schrieb Gorki, »ist eine ästhetisch recht zweifelhafte und sozial unbedingt schädliche Idee«. Die liberale und reaktionäre Presse erhob über diesen Protest Gorkis einen großen Lärm (»Geheul«, wie sich Lenin ausdrückte), indem sie eine Reihe von Artikeln »für Dostojewsky« veröffentlichte. Gorki antwortete mit einem zweiten Artikel »Weiteres über die Karamasowiade«, der in Nr. 248 der Zeitung »Russkoje Slowo« am 27. Okt. (9. November) 1913 erschien.
In langen Auszügen, aber ohne den abschließenden Absatz, wurde Gorkis Antwort in der Zeitung »Rjetsch« am 28. Oktober (10. November) 1913 nachgedruckt. Am nächsten Tage wurde der ganze Artikel Gorkis, also auch der Schlußabsatz, den Wladimir Iljitsch in seinem Briefe vollständig zitiert, von der »Liquidations«-Zeitung »Neue Arbeiter-Zeitung« (Nr. 69 vom 29. Oktober/11. November l913) gebracht. Diese beiden nachgedruckten Artikel in der »Rjetsch« und in der »Neuen Arbeiter-Zeitung« hat Wladimir Iljitsch in seinem Brief gemeint.
Außer dem abschließenden Absatz, der in Lenins Brief vollständig wiedergegeben ist, beruft sich Wladimir Iljitsch auch noch auf folgende Sätze in Gorkis Artikeln:
»Ich kenne die Zerbrechlichkeit des russischen Charakters, ich kenne die weiche Wankelmütigkeit der russischen Seele und die Empfänglichkeit dieser verquälten, müden und verzweifelten Psyche für alle Art Infektionen …« »Genug der Selbstbespeiungen, die bei uns die Selbstkritik ersetzen; genug der gegenseitigen Ohrfeigen des sinnlosen Anarchismus und der Krämpfe.«
Der Eindruck, den Wladimir Iljitschs Brief gemacht hat, läßt sich danach beurteilen, daß A. M. Gorki 1916 bei dem Neudruck seiner Aufsätze (M. Gorki. Aufsätze aus den Jahren 1915-1916. VI. »Parus«, russisch.) den Schlußabsatz, der den »wilden« Angriff Lenins hervorgerufen hatte, wegließ.
Dieser Absatz lautet folgendermaßen:
»Die ›Gottsucherei‹ aber muß man eine Zeitlang (nur eine Zeitlang?) aufschieben – das ist eine zwecklose Beschäftigung: es hat keinen Zweck zu suchen, wenn es einem nicht gegeben ist. Wer nicht erntet, der säet nicht. Ihr habt keinen Gott, Ihr habt ihn noch (noch)! nicht geschaffen. Die Götter sucht man nicht – man schafft sie; das Leben wird nicht ausgedacht, man erzeugt es.«
Daraus geht also hervor, daß Sie nur »eine Zeitlang« gegen die »Gottsucherei« sind!! Daß Sie nur deshalb gegen die Gottsucherei sind, weil Sie sie durch eine Gotterschaffung ersetzen wollen!!
Nun, ist es denn nicht grauenhaft, was da bei Ihnen für eine Sache herauskommt??
Das Gottsuchen unterscheidet sich von dem Gotterschaffen oder von dem Gotterzeugen usw. keineswegs mehr, als ein gelber Teufel sich von einem blauen unterscheidet. Gegen das Gottsuchen sprechen, nicht um sich gegen alle Teufel und Götter auszusprechen, gegen jede ideologische Seuche – (jeder Gott ist eine Seuche und mag es der reinlichste, idealste, nicht gesuchte, sondern erschaffene Gott sein, das ist einerlei), sondern um einen blauen Teufel dem gelben vorzuziehen – das ist hundertmal schlimmer, als überhaupt nicht davon reden.
In den freiesten Ländern, in solchen Ländern, wo ein Aufruf »An die Demokratie, an das Volk, an die Öffentlichkeit und Wissenschaft« ganz unangebracht wäre, in solchen Ländern (Amerika, Schweiz usw.) macht man das Volk und die Arbeiter gerade mit der Idee eines reinlichen, geistigen, erst zu schaffenden Gottes auf das eifrigste stumpfsinnig. Gerade deshalb, weil jede religiöse Idee, jede Idee von jedem Gott, jedes Kokettieren sogar – unaussprechbare Gemeinheit ist, wird sie von der demokratischen Bourgeoisie besonders gern geduldet (oft sogar mit Wohlwollen aufgenommen), – gerade deshalb, weil es die gefährlichste Gemeinheit, die niederträchtigste »Infektion« ist. Millionen von Sünden, Schweinereien, Vergewaltigungen und Ansteckungen physischer Art werden von der Menge viel leichter entlarvt und sind daher weniger gefährlich als jene feine, vergeistigte, auf das beste mit »ideologischen Kostümen geschmückte Gottidee. Ein katholischer Pfaffe, der Mädchen vergewaltigt (von dem ich jetzt gerade zufällig in einer deutschen Zeitung las), ist für die »Demokratie« weit weniger gefährlich als ein Pfaffe ohne Meßgewand, ein Pfaffe ohne grobe Religion, ein ideeller und demokratischer Pfaffe, der die Erschaffung eines neuen Gottes predigt. Denn den ersten Pfaffen zu entlarven, ist leicht, es ist nicht schwer, ihn zu verurteilen und hinauszuwerfen – aber der zweite läßt sich nicht so einfach hinauswerfen – es ist tausendmal schwerer, ihn zu entlarven, und kein »zerbrechlicher und wankelmütiger« Kleinbürger wird sich bereit erklären, ihn zu verurteilen«.
Und Sie, der Sie die »Zerbrechlichkeit und weiche Wankelmütigkeit« (der russischen, warum der russischen? ist die italienische besser??) der kleinbürgerlichen Seele kennen, verwirren diese Seele mit einem Gift, das viel süßer und weit mehr mit Zuckerwerk und allerlei buntem Firlefanz verhüllt ist!!
Das ist wirklich entsetzlich.
Genug der »Selbstbespeiungen, die bei uns die Selbstkritik ersetzen«.
Und die Gotterschaffung – ist es nicht die übelste Art der Selbstbespeiung?? Jeder Mensch, der sich mit der Konstruktion eines Gottes beschäftigt oder auch nur eine solche Konstruktion zuläßt, bespeit sich auf die übelste Art, denn er beschäftigt sich statt mit dem »Tun« gerade mit der Selbstbetrachtung und der Selbstbespiegelung, wobei ein solcher Mensch die unsaubersten stupidesten, knechtischsten Züge oder Züglein seines »Ichs«, die er mit seinem Gotterschaffen zu vergöttern sucht, liebevoll »betrachtet«.
Vom sozialen Gesichtspunkte, nicht vom persönlichen, ist jede Gottschafferei nichts anderes als die liebevolle Selbstbetrachtung des stumpfsinnigen Kleinbürgertums, des zerbrechlichen Philisters, der träumerischen »selbstbespeienden« Kleinbourgeois, die »verzweifelt und müde« sind (wie Sie das sehr richtig von der Seele zu sagen geruhten – nur hätten Sie nicht von der »russischen«, sondern von der kleinbürgerlichen Seele sprechen müssen, denn die jüdische, italienische, englische ist nicht um ein Haar besser – sie alle sind des Teufels, gleich niederträchtig, überall ist das Kleinbürgertum gleich gemein, während das »demokratische Kleinbürgertum«, das sich mit ideologischer Verseuchung beschäftigt, dreifach gemein ist).
Ich lese mich in Ihren Artikel hinein und suche danach, wie dieser Fehler bei Ihnen entstehen konnte – ich bin ratlos. Was ist das? Sind es Reste Ihrer »Beichte«, die Sie selbst nicht mehr billigen?? Ihr Widerhall??
Oder etwas anderes – z. B. ein mißglückter Versuch, sich zum allgemeinen demokratischen Standpunkt hinabzubeugen, statt den proletarischen Standpunkt einzunehmen? Vielleicht wollten Sie, um ein Gespräch mit der »Demokratie im allgemeinen« zu ermöglichen, ein wenig (entschuldigen Sie den Ausdruck!) »zuzzeln«, wie man es mit Kindern zu tun pflegt? Vielleicht wollten Sie »zu populären Zwecken« diese oder jene Vorurteile des Kleinbürgers annehmen?
Aber das ist doch eine unrichtige Methode, unrichtig in jedem Sinne!
Ich sagte oben, daß in demokratischen Ländern ein Appellieren »an die Demokratie, an das Volk, an die Öffentlichkeit und Wissenschaft« von seiten eines proletarischen Schriftstellers durchaus unangebracht wäre. Nun, und bei uns in Rußland? Ein solcher Appell ist nicht ganz angebracht, denn er schmeichelt ebenfalls auf irgendeine Weise den kleinbürgerlichen Vorurteilen. Einen solchen Appell von dieser Nebelhaftigkeit würde bei uns sogar ein Isgojew aus der »Rußkaja Mysl« mit beiden Händen unterschreiben. A. Isgojew war Mitte der 90er Jahre ein Mitarbeiter von marxistischen Journalen. Später wurde er einer der konservativsten Publizisten der Kadettenpartei, Mitarbeiter vom »Wechi« und ständiger Mitarbeiter der »Russkaja Mysl« in jener Zeit, als diese Zeitschrift unter Leitung P. B. Struwes zum ausgesprochensten Organ der ideologischen Gegenrevolution und des bösartigsten Kampfes gegen die revolutionäre Bewegung wurde.
Warum soll man Parolen nehmen, die Sie zwar von denen Isgojews zu scheiden wissen, aber nicht der Leser?? Warum dem Leser eine demokratische Verschleierung auftischen, statt der klaren Unterscheidung von Kleinbürgern – der zerbrechlichen, kläglich wankelmütigen, ermüdeten,, verzweifelten, sich betrachtenden, gottbetrachtenden, gotterschaffenden, gottgewährenden, sich selbst bespeienden, blöd-anarchistischen (ein prachtvolles Wort!! usw. usw.) – und Proletariern (die es verstehen, nicht nur mit Worten mutig zu sein, die es verstehen, »Wissenschaft und Öffentlichkeit« der Bourgeoisie von ihrer eigenen, die bürgerliche Demokratie von der proletarischen zu unterscheiden)?
Warum tun Sie das?
Es kränkt einen verteufelt.
Ihr W. ULJANOW.
P. S. Wir haben den Roman eingeschrieben abgeschickt. Das Manuskript eines Romans von W. Woitinsky, den der Autor für das Journal »Aufklärung« eingeschickt hatte.
Haben Sie ihn erhalten?
P.P.S. Kurieren Sie sich so gut wie möglich, wirklich, damit man im Winter ohne Erkältungen reisen kann. (Im Winter ist es gefährlich.)
Ihr W. ULJANOW.
[15. Nov. 1913] Der Brief ist nicht datiert. Das Datum wurde durch Vergleichen mit Brief Nr. 32 festgestellt.
Teurer A. M.!
Ich habe den Roman Das Manuskript von W. Woitinskis Roman. S. Anmerkung 2 zu Brief Nr. 31. und Ihren Brief erhalten. Meiner Ansicht nach ist der Roman zurückzuhalten, da Sie nun einmal nicht dafür sind. Ich lege einen Brief von Kamenew bei, der den Roman gelesen hat (ich habe ihn noch nicht gelesen).
Wir wollen nach Petersburg schreiben, daß man ihn zurückhält.
Ich lege meinen gestrigen Brief hier bei: seien Sie nicht böse, daß ich wütend wurde. Vielleicht habe ich Sie nicht richtig verstanden? Vielleicht haben Sie »eine Zeitlang« zum Scherz hingeschrieben? Und über die Gotterschaffung haben Sie vielleicht auch nicht im Ernst geschrieben?? Es handelt sich hier um Brief Nr. 32.
Lassen Sie sich um Gotteswillen tüchtig behandeln.
Ihr LENIN.
[Dezember 1913] Das in der Leningrader öffentlichen Bibliothek vorhandene Originalmanuskript dieses Briefes von Wladimir Iljitsch beginnt mit einem Blatt, das mit der Zahl »5« vermerkt ist. Die ersten vier Blätter fehlen in der Bibliothek. Es ist möglich, daß Gorki, als er diesen Brief der Bibliothek übergab, dessen erste Seiten zurückbehalten hat. Wir bringen den erhaltenen Teil des Briefes nach einer photographischen Kopie des Originals zum Abdruck. Der Brief ist eine Antwort auf denjenigen Gorkis, der seinerseits durch Iljitschs Brief Nr. 32 hervorgerufen wurde.
. . . . . . . . . .
In der Frage nach Gott und allem, was damit zusammenhängt, kommt bei Ihnen ein Widerspruch heraus – derselbe, meiner Ansicht nach, auf den ich in unseren Gesprächen während unseres letzten Beisammenseins auf Capri hinwies: Sie haben mit den »Vorwärtslern« gebrochen (oder scheinen mit ihnen gebrochen zu haben), ohne die ideellen Grundlagen des »Vorwärtslertums« zu bemerken.
So auch jetzt. Sie sind »ärgerlich«, Sie »können nicht begreifen, wie der Ausdruck »eine Zeitlang« Der Ausdruck »eine Zeitlang« bezieht sich auf ein Zitat aus einem Aufsatz von Gorki, der von Wladimir Iljitsch in Brief Nr. 32 angeführt und analysiert wird. Ihnen entschlüpfen konnte«, – so schreiben Sie, und gleichzeitig verteidigen Sie die Idee von Gott und Gotterschaffung.
»Gott ist der Komplex jener von Rasse, Nation, Menschheit erschaffenen Ideen, die die sozialen Gefühle wecken und organisieren, mit dem Ziele, die Persönlichkeit mit der Gesellschaft zu vereinigen, den zoologischen Individualismus zu zügeln.«
Diese Theorie hängt offensichtlich mit der Theorie oder den Theorien von Bogdanow und Lunatscharski zusammen.
Und auch sie ist offensichtlich falsch und offensichtlich reaktionär. Nach dem Ebenbilde der christlichen Sozialisten (der schlimmsten Abart des »Sozialismus« und seiner schlimmsten Verzerrung), gebrauchen Sie ein Mittel, das (trotz Ihrer besten Absichten) den Hokus-Pokus des Popentums wiederholt: aus der Gott[heits]idee wird das ausgeschaltet, was ihr historisch und in der Lebenspraxis anhaftet (Teufelsspuk, Vorurteile, Heiligsprechung der Unwissenheit und Verschüchtertheit einserseits, der Leibeigenschaft und der Monarchie anderseits), wobei an Stelle der historischen und alltäglichen Realität in die Gott[heits]idee eine gutherzige, kleinbürgerliche Phrase hineingelegt wird (Gott = »die die sozialen Gefühle weckenden und organisierenden Ideen«).
Sie wollen damit etwas »Gutes und Schönes« sagen, auf die »Wahrheit – Gerechtigkeit« hinweisen und dergleichen mehr. Aber dieser Ihr frommer Wunsch bleibt Ihr persönliches Eigentum, ein subjektiver »unschuldiger Wunsch«. »Wenn Sie ihn einmal niedergeschrieben haben, dann dringt er in die Masse, und seine Bedeutung wird nicht durch Ihren frommen Wunsch, sondern durch die Wechselbeziehung zwischen den sozialen Kräften, durch die objektive Wechselbeziehung der Klassen bestimmt. Kraft dieser Wechselbeziehung erweist es sich (wider Ihren Willen und unabhängig von Ihrem Bewußtsein), erweist es sich, daß Sie die Idee der Klerikalen, der Purischkewitschs, N[ikolaus] II und der Herren Struve geschminkt und gezuckert wiedergegeben haben, denn tatsächlich hilft die Gott[heits]idee diesen Leuten, das Volk in Sklaverei zu halten. Indem Sie die Gott[heits]idee ausschmücken, schmücken Sie die Ketten, mit denen sie die unwissenden Arbeiter und Bauern fesseln. »Seht ihr wohl« – werden die Popen & Co. sagen – »was für eine schöne und tiefe Idee das ist (die Gott[heits]idee), daß sie sogar von » euren« Herren Demokraten, von den Führern anerkannt wird, – und wir (die Popen & Co.) dienen dieser Idee.«
Es ist nicht richtig, daß Gott der Komplex von Ideen ist, die die sozialen Gefühle wecken und organisieren. Das ist Bogdanowscher Idealismus, der den materiellen Ursprung der Ideen vertuschen will. Gott ist (historisch und praktisch) zu allererst ein Komplex von Ideen, die durch die stumpfsinnige Niedergedrücktheit des Menschen und die äußere Natur und die Klassenunterdrückung erzeugt wurden – von Ideen, die diese Niedergedrücktheit festigen, die den Klassenkampf einschläfern. Es gab eine Zeit in der Geschichte, da trotz eines solchen Ursprungs und einer solchen tatsächlichen Bedeutung der Gott[heits]idee der Kampf der Demokratie und des Proletariats in Gestalt des Kampfes einer religiösen Idee wider die andere vor sich ging.
Aber auch diese Zeit ist längst vorüber.
Jetzt ist, sowohl in Europa als auch in Rußland, jede, selbst die raffinierteste, die wohlgemeinteste Verteidigung oder Rechtfertigung der Gott[heits]idee – eine Rechtfertigung der Reaktion.
Ihre ganze Definition ist durch und durch reaktionär und bürgerlich. Gott – ein Komplex von Ideen, die »die sozialen Gefühle wecken und organisieren, mit dem Bestreben, die Persönlichkeit mit der Gesellschaft zu verbinden, den zoologischen Individualismus zu zügeln«.
Weshalb das reaktionär ist? Weil es die Idee der Popen und der Verfechter der Leibeigenschaft von der »Zügelung« der Zoologie ausschmückt.
In Wirklichkeit hat nicht die Gott[heits]idee den »zoologischen Individualismus« gezügelt; das tat sowohl die ursprüngliche Herde als auch die ursprüngliche Kommune. Die Gott[heits]idee hat die »sozialen Gefühle« immer eingeschläfert und abgestumpft und Lebendes durch Totes ersetzt, da sie immer die Idee einer Sklaverei (der schlimmsten, rettungslosen Sklaverei) war. Nie hat die Gott[heits]idee »die Persönlichkeit mit der Gesellschaft verbunden«, aber immer fesselte sie die unterdrückten Klassen durch den Glauben an die Göttlichkeit der Unterdrücker.
Bürgerlich ist Ihre Definition (und nicht wissenschaftlich, nicht historisch), weil sie mit undifferenzierten, allgemeinen, »robinsonhaften« Begriffen überhaupt – und nicht mit bestimmten Klassen einer bestimmten geschichtlichen Epoche operiert.
Eine Sache für sich ist die Gott[heits]idee bei einem Wilden, einem Syrjanan usw. (auch einem Halbwilden), eine andere Sache – bei Struve & Co. In beiden Fällen unterstützt die Klassenherrschaft diese Idee (und wird von dieser Idee unterstützt). Der »volkstümliche« Begriff vom lieben Gott und dem Göttlichen ist »volkstümlicher« Stumpfsinn, Verprügeltheit, Unwissenheit, genau dasselbe wie »die volkstümliche Vorstellung« vom Zaren, vom Waldteufel, vom Prügeln der Ehefrauen. Wie Sie die »volkstümliche Vorstellung« von Gott eine »demokratische« nennen können, ist mir absolut unverständlich.
Daß der philosophische Idealismus »immer nur die Interessen der Persönlichkeit im Auge hat«, das stimmt nicht. Hat Descartes im Vergleich zu Gassendi die Interessen der Persönlichkeit etwa mehr im Auge? Oder Fichte und Hegel verglichen mit Feuerbach?
Daß »die Gotterschaffung ein Prozeß weiterer Entwicklung und Ansammlung sozialer Momente im Individuum und in der Gesellschaft« sein soll, das ist einfach fürchterlich!! Wenn in Rußland Freiheit herrschte – die ganze Bourgeoisie würde Sie ja für solche Sachen, für diese Soziologie und Theologie von rein bürgerlichem Typus und Charakter auf den Schild heben.
Nun genug vorläufig – der Brief hat sich ohnedies in die Länge gezogen. Nochmals drücke ich Ihnen kräftig die Hand und wünsche Ihnen Gesundheit.
Anmerkungen als Fußnoten eingearbeitet. joe_ebc für Gutenberg-DE