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XXIV. Bemerkungen zu Lockes Versuch über den menschlichen Verstand

In dem, was Herr Locke über den menschlichen Verstand und über die Erziehung gesagt hat, finde ich so viel Zeichen eines ungewöhnlichen Scharfsinns, und zugleich halte ich den Gegenstand für so wichtig, daß ich die Zeit, die ich auf eine so nutzbringende Lektüre verwandte, für nicht übel angebracht erachtete, um so mehr, da ich selbst viel über die Grundlagen unserer Erkenntnis nachgedacht habe. Dies bewog mich, einige von den Bemerkungen niederzuschreiben, die mir bei der Lektüre des Versuchs über den Verstand aufgestoßen sind. Keine Untersuchung ist wichtiger als diese, da sie der Schlüssel zu allen übrigen ist. Lockes berühmtes Werk: An essay concerning human understanding in four books war 1690 in London erschienen; das Nähere über diese Bemerkungen Leibnizens ist bereits in der Bibliographischen Übersicht (S. 237) mitgeteilt worden. Zum Verständnis des Ganzen dürfte noch zu bemerken sein, daß Idee hier stets den einzelnen höhern Begriff, Prinzip aber die Verbindung solcher Begriffe, also einen höhern Grundsatz bezeichnet.

Das erste Buch betrifft hauptsächlich die Prinzipien; die man für mit uns geboren ausgibt. Herr Locke läßt dieselben ebensowenig gelten wie die angeborenen Ideen. Ohne Zweifel hat er schwerwiegende Gründe gehabt, in dieser Hinsicht den gewöhnlichen Vorurteilen entgegenzutreten, denn man mißbraucht die Worte Ideen und Prinzipien im höchsten Grade. Die gewöhnlichen Philosophen schaffen sich Prinzipien nach ihrem Belieben, und die Cartesianer, die sich einer größern Genauigkeit befleißigen, machen sich nichtsdestoweniger eine Schutzwehr aus den angeblichen Ideen der Ausdehnung, des Stoffes und der Seele, indem sie sich dadurch von der Notwendigkeit zu befreien suchen, ihre Aufstellungen zu beweisen. Sie tun dies unter dem Vorwande, daß diejenigen, welche über die Ideen nachdenken, darin den nämlichen Inhalt finden werden wie sie, d. h., daß die, welche sich an ihre Art zu denken gewöhnen, dieselben Vorurteile annehmen werden, was allerdings zutrifft. Meiner Meinung nach darf man aber kein anderes ursprüngliches Prinzip annehmen als die Erfahrungen und den Satz der Identität oder, was dasselbe ist, des Widerspruchs, der ein ursprünglicher ist, da es sonst keinen Unterschied zwischen wahr und falsch geben, und weil alle Untersuchungen von vornherein aufhören würden, wenn es gleichgültig wäre, ob man ja oder nein sagte. Sobald man also logische Betrachtungen anstellen will, kann man nicht umhin, dies Prinzip vorauszusetzen. Leibniz stellt hier zwei Prinzipien als Grundlage aller Erkenntnis auf: die Erfahrung (in der allerdings Wahrnehmen und Denken schon verbunden sind) und den Widerspruch oder Widerstreit. Das Prinzip des Widerspruchs ist bereits von Aristoteles aufgestellt worden (Kateg. Kap. 6) und wird in der Logik durch die Formel ausgedrückt: Ein Ding kann nicht zugleich sein und nicht sein (impossibile est, idem simul esse et non esse). Die Bezeichnung als Satz der Identität verdankt es einer andern, bei den Scholastikern üblichen Formel: Was ist, ist (quicquid est, est). Im weitern Verlaufe nimmt Leibniz indessen neben diesen beiden Prinzipien noch ursprüngliche Ideen an, »deren Möglichkeit nicht beweisbar ist« und die dem Vermögen nach in der menschlichen Seele enthalten sein sollen, läßt aber Art, Anzahl und Kennzeichen dieser Ideen völlig im dunkeln, so daß sich nichts Näheres darüber bestimmen läßt.

Alle andern Wahrheiten sind beweislich, und ich schätze die Methode Euklids sehr hoch, der, ohne bei dem stehenzubleiben, was man durch die angeblichen Ideen für genügend dargetan halten mochte, vielmehr bewiesen hat, daß in einem Dreieck eine Seite immer kleiner ist als die beiden andern zusammengenommen. Indessen hat Euklid mit Recht einige Grundsätze für zugestanden angesehen, nicht weil sie wirklich ursprünglich und unbeweisbar waren, sondern weil er nur aufgehalten worden wäre, wenn er erst nach einer genauen Erörterung der Prinzipien zu den Schlußsätzen hätte übergehen wollen. Daher hat er es für genügend erachtet, wenn er die Beweise bis auf jene kleine Anzahl von Grundsätzen durchführe, so daß man behaupten darf, sind diese wahr, so ist alles, was er sagt, ebenfalls wahr. Er hat andern die Sorge überlassen, diese Prinzipien zu beweisen, die übrigens schon durch die Erfahrung gerechtfertigt werden; damit aber begnügt man sich bei diesen Dingen nicht, und deshalb haben Apollonius, Proclus und andere sich der Mühe unterzogen, einige der Axiome des Euklid zu beweisen. Diese Methode muß von den Philosophen nachgeahmt werden, damit man endlich zu einigen Feststellungen gelangt, sollten diese auch nur provisorische in der eben angegebenen Weise sein.

Was die Ideen anlangt, so habe ich einige Erläuterungen darüber in einer kleinen Schrift gegeben, die den Titel führt: Meditationes de cognitione, veritate et ideis. Betrachtungen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen. (Man sehe Nr. XXIII.) Ich wünschte wohl, daß Herr Locke dieselbe zu Gesicht bekommen und geprüft hätte, denn ich lasse mich gern belehren, und nichts ist der Weiterentwicklung unserer Gedanken förderlicher als die Betrachtungen und Bemerkungen verdienstvoller Männer, wenn dieselben mit Achtsamkeit und Aufrichtigkeit gemacht werden. Hier will ich nur bemerken, daß die wahren oder wirklichen Ideen die sind, von denen man gewiß weiß, daß ihre Verwirklichung möglich ist; die andern sind zweifelhaft oder im Falle ihre Unmöglichkeit erwiesen wird – chimärisch. Die Möglichkeit der Ideen aber wird sowohl a priori durch Beweise, wobei man sich der Möglichkeit anderer einfacherer Ideen bedient, wie a posteriori durch die Erfahrung dargetan, denn das, was ist, muß auch möglich sein. Die ursprünglichen Ideen aber sind die, deren Möglichkeit nicht beweisbar ist und die in Wahrheit nichts anderes sind als die Eigenschaften Gottes. Insofern sie nämlich als Formen von Ewigkeit her im Verstande Gottes bestanden haben.

Was die Frage anbetrifft, ob es mit uns erschaffene Ideen und Wahrheiten gibt, so finde ich weder für die Anfänge noch für die Ausübung der Kunst zu denken eine Entscheidung derselben unbedingt notwendig. Mögen sie uns nun sämtlich von außen zukommen oder mögen sie von uns selbst ausgehen, man wird immer richtig schließen, wenn man das darüber von mir Gesagte festhält und mit Ordnung und ohne Voreingenommenheit verfährt.

Die Frage nach dem Ursprung unserer Ideen und unserer Grundsätze gehört nicht zu den Vorfragen in der Philosophie, und man muß schon große Fortschritte gemacht haben, um sie richtig zu lösen. Indessen glaube ich sagen zu dürfen, daß unsere Ideen, selbst die von den sinnlichen Dingen, aus unserm eigenen Innern kommen, wie man aus dem schließen kann, was ich über die Natur und den Verkehr zwischen den Substanzen veröffentlicht habe und was man Verbindung der Seele mit dem Körper nennt; denn ich habe gefunden, daß man diese Dinge nicht richtig aufgefaßt hatte. Ich bin in keiner Weise für die tabula rasa Leere Tafel. des Aristoteles und finde vielmehr etwas Begründetes in dem, was Platon die Erinnerung nannte. Aristoteles hatte in seinem Buche von der Seele (Buch III, Kap. 4, § 11) die Vernunft (νοῦς) mit einer leeren Tafel verglichen, die erst die Erfahrung mit Schriftzeichen bedeckt, und Locke hatte sich diesen Vergleich angeeignet; indessen darf dieser Ausspruch des Aristoteles nicht im strengen Sinne genommen werden, denn er anerkennt ebenfalls Prinzipien (ἀϱχαὶ), die dem Geiste als solchem eigen sind und ungefähr den in Anm. 189 erwähnten ursprünglichen Ideen Leibnizens entsprechen. Nach Platon dagegen stammen die Ideen, mit denen das vernünftige Denken sich beschäftigt, von einer wirklichen Anschauung in einem vorirdischen Leben her, deren der Mensch sich auf Erden dunkel erinnert, so daß er sich die Gegenstände derselben mit Hilfe der dialektischen Tätigkeit des Geistes wieder ins Bewußtsein zu rufen vermag. Diese Ideen liegen also Platon zufolge dem Vermögen nach in uns als subjektive Abbilder der wirklichen Dinge einer andern Welt, und vermittelst des dialektischen Philosophierens bringt der Mensch sie sich wieder zum Bewußtsein. Dabei ist aber Platon weit davon entfernt, eine solche unbedingte Spontaneität des Vorstellens anzunehmen, wie Leibniz in seinem Neuen System usw. tut. Es ist sogar noch etwas mehr vorhanden, denn wir haben nicht bloß eine Erinnerung von allen unsern vergangenen Gedanken, sondern auch ein Vorgefühl von allen unsern zukünftigen Gedanken. Allerdings ist dasselbe verworren und gestattet keine Unterscheidung der einzelnen Gedanken, ungefähr wie man, wenn man das Rauschen des Meeres vernimmt, zwar das Geräusch aller einzelnen Wellen hört, die das Gesamtgeräusch bilden, ohne jedoch eine Woge von der andern zu unterscheiden. Auch ist es, wie ich auseinandergesetzt habe, in einem gewissen Sinne richtig, daß nicht bloß unsere Ideen, sondern auch unsere Empfindungen unserm eigenen Vermögen entspringen und daß die Seele unabhängiger ist, als man meint, obgleich es immer wahr bleibt, daß nichts in ihr vorgeht, was nicht bestimmt wäre.

Hinsichtlich des zweiten Buches, das auf das Besondere der Ideen eingeht, muß ich gestehen, daß die Gründe Herrn Lockes für seine Behauptung, daß die Seele bisweilen gar nichts denkt, mir nicht überzeugend erscheinen, wenn er nicht etwa bloß die Vorstellungen Gedanken nennt, die erheblich genug sind, um unterschieden und festgehalten werden zu können. Meiner Meinung nach ist die Seele und selbst der Körper niemals ohne Tätigkeit und die Seele niemals ohne irgendwelche Vorstellung. Sogar im Schlafe hat man eine dunkle und verworrene Empfindung von dem Orte, an welchem man sich befindet, und von andern Dingen. Würde dies aber auch nicht durch die Erfahrung bestätigt, so gibt es doch meines Erachtens einen Beweis dafür. Ebenso kann man ja auch durch die Erfahrung nicht unbedingt dartun, ob es kein Leeres im Raume und keine Ruhe im Stoffe gebe. Und doch scheinen mir diese Art von Fragen durch Beweis entschieden, so gut wie Herrn Locke.

Ich lasse den Unterschied gelten, den er mit vielem Rechte zwischen dem Stoff und dem Raume macht. Was aber das Leere anlangt, so haben verschiedene tüchtige Leute daran geglaubt. Auch Herr Locke gehört zu diesen, und ich selbst war beinahe davon überzeugt, bin aber schon seit langem davon zurückgekommen, und auch der unvergleichliche Herr Huygens, der ebenfalls für das Leere und die Atome war, begann über meine Gegengründe nachzudenken, wie seine Briefe bezeugen können. Der von der Bewegung hergenommene Beweis für das Leere, dessen Herr Locke sich bedient, setzt voraus, daß der Körper ursprünglich hart und aus einer gewissen Anzahl unbiegsamer Teile zusammengesetzt ist, denn in diesem Falle könnte allerdings, welche Zahl von Atomen man auch annähme, ohne das Leere keine Bewegung statthaben. Allein alle Teile des Stoffs sind teilbar und biegsam. Zur Erleichterung des Verständnisses führen wir zu diesem Abschnitt die folgende Stelle aus den Neuen Versuchen über den menschlichen Verstand (Buch II, Kap. 13, § 23, Erdmann, S. 241) an: »Wäre freilich die Welt mit harten Körperchen angefüllt, die sich weder biegen noch teilen ließen, so wie man z. B. die Atome darstellt, so könnte es allerdings keine Bewegung geben. In Wahrheit gibt es indessen keine ursprüngliche Härte: vielmehr ist im Gegenteil die Flüssigkeit ursprünglich und teilen sich die Körper nach Bedürfnis, da nichts vorhanden ist, was sie daran hindert.« Unter Biegsamkeit oder Flüssigkeit (fluidité) ist also hier die Eigenschaft der Körper zu verstehen, infolge deren dieselben bei einwirkendem Druck eine Verschiebung ihrer Teile oder auch wohl eine Verringerung ihres Umfangs zulassen, und diese Eigenschaft erklärt der Philosoph an anderer Stelle daraus, daß die Körper Lücken enthalten, die mit andern Substanzen gefüllt sind, welche dann durch den Druck ausgetrieben werden und eine Verringerung des Umfangs eines Körpers und damit die Bewegung ermöglichen, ohne daß das Leere erforderlich wäre.

Noch einige andere Dinge in diesem zweiten Buche fesseln meine Aufmerksamkeit; so z. B., wenn es im 17. Kapitel heißt, die Unendlichkeit dürfe nur dem Raume, der Zeit und den Zahlen beigelegt werden. Ich glaube mit Herrn Locke, daß man strenggenommen behaupten kann, es gebe keinen Raum, keine Zeit und keine Zahl, die unendlich sei, sondern daß nur feststeht, daß, so groß immerhin ein Raum, eine Zeit oder eine Zahl sei, es doch stets noch eine größere gibt und so ohne Ende fort, und daß demnach das wahrhafte Unendliche sich nicht in einem aus Teilen zusammengesetzten Ganzen findet. Indessen findet es sich doch anderswo, nämlich im Absoluten, das ohne Teile ist, aber Einfluß auf die zusammengesetzten Dinge hat, weil diese sich aus der Begrenzung des Absoluten ergeben. Da also das positive Unendliche nichts anderes ist als das Absolute, so kann man behaupten, daß es in diesem Sinne eine positive Vorstellung des Unendlichen gibt, die älter ist als die des Endlichen. Wenn man übrigens auch ein zusammengesetztes Unendliches verwirft, so bestreitet man darum doch nicht das, was die Mathematiker und namentlich der ausgezeichnete Herr Newton de Seriebus infinitis Von den unendlichen Reihen.beweisen. Klarer ergibt sich der Begriff des Absoluten aus folgender Stelle der Neuen Versuche (Buch II, Kap. 14, § 27, Erdmann, S. 242): »Man darf im Grunde genommen behaupten, daß in der Natur der Dinge die Vorstellung des Absoluten der Vorstellung der Grenzen, die man hinzufügt, vorhergeht. Wir werden der ersten Vorstellung aber erst inne, wenn wir mit dem beginnen, was begrenzt ist und uns in die Sinne fällt.« Das heißt also mit andern Worten: das Absolute ist der eigentliche Grundinhalt des Verstandes (dies Wort hier im Sinne des Kantischen Ausdrucks Vernunft gebraucht), und erst durch Begrenzung und Beschränkung dieses Inhalts gelangen wir zu den besondern Begriffen. Erst indem wir uns aber dieser Begriffe als solcher Einschränkung und Begrenzungen der Idee des Absoluten bewußt werden, gelangen wir zur Vorstellung desselben selbst. Leibniz stimmt hier mit Spinoza überein, demzufolge jede Determination eine Negation, nämlich eben des Absoluten ist.

Was das im 30. Kapitel de Ideis adaequatis Über die adäquaten Ideen. Gesagte anlangt, so darf man allerdings den Ausdrücken die Bedeutung beilegen, die man passend findet. Ohne daher die von Herrn Locke angenommene Bedeutung zu tadeln, nehme ich meinerseits bei den Ideen eine Stufenfolge an, der gemäß ich eine Idee eine adäquate nenne, bei der nichts mehr zu erklären bleibt. Da nun aber alle Ideen von den sinnlichen Eigenschaften, wie vom Lichte, von der Farbe, von der Wärme, nicht von dieser Beschaffenheit sind, so zähle ich sie nicht zu den adäquaten; auch erkennen wir ja deren Wirklichkeit oder Möglichkeit weder durch sie selbst noch a priori, sondern nur durch die Erfahrung.

Auch im dritten Buche, wo von den Worten oder Ausdrücken gehandelt wird, finden sich viele vortreffliche Aussprüche. Allerdings kann nicht alles definiert werden und haben die sinnfälligen Eigenschaften keine Nominal-Definition, so daß man sie in diesem Sinne ursprüngliche nennen kann, dessenungeachtet aber können sie eine Real-Definition erhalten. Den Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Definitionen habe ich in der obengenannten Abhandlung dargelegt. Die Nominal-Definition erklärt den Namen durch die Merkmale des Dinges, die Real-Definition aber zeigt a priori die Möglichkeit des Definierten. Im übrigen stimme ich der Lehre des Herrn Locke von der Beweisbarkeit der moralischen Wahrheiten vollkommen bei.

Das vierte und letzte Buch, das von der Erkenntnis der Wahrheit handelt, zeigt den Nutzen des vorher Gesagten. Ich finde darin wie in den vorhergehenden Büchern eine große Anzahl von trefflichen Betrachtungen. Wollte man aber Bemerkungen dazu machen, so würde das ein Buch ergeben, so groß wie das Werk selbst. Mir scheinen hier die Axiome etwas weniger berücksichtigt zu sein, als sie verdienen – augenscheinlich aus dem Grunde, weil man, mit Ausnahme der mathematischen, für gewöhnlich kaum Axiome findet, die probehaltig und von Bedeutung sind, ein Mangel, dem ich abzuhelfen versucht habe. Ich unterschätze die identischen Sätze nicht und habe gefunden, daß sie selbst bei der Analyse von großem Nutzen sind. Es ist sehr richtig, daß wir unser Dasein durch unmittelbare Anschauung, das Dasein Gottes aber durch Beweisführung kennen, und daß eine Stoffmasse, deren Teile keine Vorstellungen haben, auch kein denkendes Ganzes bilden kann. Auch unterschätze ich den vor einigen Jahrhunderten von Anselm aufgestellten Beweis nicht, der dartut, daß das vollkommene Wesen existieren muß, obschon ich einen Mangel an diesem Beweise finde: daß er nämlich die Möglichkeit des vollkommenen Wesens voraussetzt. Denn wird auch noch dieser eine Punkt bewiesen, so wird der ganze Beweis vollständig erbracht sein. Der anselmische oder ontologische Beweis für das Dasein Gottes ist bereits in Anm. 182 erörtert worden. Leibniz gab später dem kosmologischen den Vorzug und nahm ihn auch in der Theodizee zur Grundlage.

Was die Erkenntnis der übrigen Dinge anlangt, so sagt Herr Locke sehr richtig, daß die Erfahrung allein nicht hinreicht, um in der Physik weiterzukommen. Ein scharfblickender Geist wird aus einigen ziemlich alltäglichen Erfahrungen mehr Folgerungen ziehen, als ein anderer aus den seltensten und trefflichsten Erfahrungen ziehen kann, abgesehen davon, daß es eine Kunst gibt, Versuche anzustellen und sozusagen die Natur zu befragen. Indessen kann man in den Einzelheiten der Physik allerdings nur nach Maßgabe der gewonnenen Erfahrungen vorschreiten.

Herr Locke teilt die Meinung mehrerer tüchtiger Männer, denen zufolge die logische Form von geringem Nutzen ist. Ich möchte halb und halb anderer Ansicht sein und habe oft gefunden, daß die Fehlschlüsse, selbst in der Mathematik, eigentlich Vergehen gegen die Form sind. Herr Huygens hat dieselbe Bemerkung gemacht. Es ließe sich viel darüber sagen, und verschiedene vortreffliche Dinge werden unterschätzt, weil man nicht den Gebrauch von ihnen macht, zu dem sie befähigt sind. Wir sind geneigt, das zu verachten, was man in der Schule gelernt hat, und allerdings lernen wir darin sehr viel unnütze Dinge. Es ist indessen gut, die Verrichtung della Crusca Leibniz spielt mit diesem etwas affektierten Ausdruck auf die bekannte Akademie an, die sich die Reinigung der italienischen Sprache zum Ziele gemacht hatte. vorzunehmen, d. h., das Gute vom Schlechten zu trennen. Herr Locke vermag dies so gut wie irgendein anderer, und überdies gibt er uns bemerkenswerte Gedanken seiner eigenen Erfindung. Er macht nicht bloß Versuche, sondern auch Umwandlungen durch das gute Material, das er hinzufügt. Wenn er fortfahren wollte, das Publikum damit zu beschenken, so würden wir ihm dafür sehr zu Dank verpflichtet sein.


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