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Sherlock Holmes und Wilson saßen rechts und links vom Kamin und streckten die Füße nach einem behaglichen Koksfeuer aus.
Holmes' Pfeife, eine kurze Pfeife aus Birkenholz mit silbernem Mundstück, erlosch. Er leerte die Asche aus, stopfte die Pfeife von neuem, zündete sie an, schlug die Schöße seines Hausrockes über die Knie und sog aus seiner Pfeife lange Züge, die er sich als Rauchringe bis zur Decke zu blasen bemühte.
Wilson sah ihn an. Er sah ihn an wie ein Hund, der auf dem Teppich gekrümmt liegt, seinen Herrn anschaut, mit runden Augen, ohne mit der Wimper zu zucken, mit Augen, die auf nichts anderes warten als auf einen Wink des Herrn. Wollte der Meister das Schweigen brechen? Wollte er ihm das Geheimnis dessen offenbaren, was er soeben träumte, und ihn in das Königreich seiner Gedanken einlassen, dessen Eintritt Wilson verwehrt schien?
Holmes schwieg noch immer.
Wilson riskierte ein Wort.
»Die Zeiten sind ruhig, wir haben keine harte Nuß zu knacken.«
Holmes schwieg immer hartnäckiger. Aber seine Rauchringe wurden immer besser, und ganz anders, als Wilson vermeinte, empfand er die große Genugtuung, die uns jene kleinen Erfolge der Eigenliebe in den Stunden geben, wo das Gehirn völlig leer ist von Gedanken.
Wilson stand entmutigt auf und näherte sich dem Fenster.
Die traurige Straße dehnte sich zwischen den düsteren Fassaden der Häuser unter einem schwarzen Himmel, von dem ein stürmischer, schlimmer Regen herniederfiel. Ein Cab kam vorüber und wieder eins. Wilson schrieb ihre Nummern in sein Notizbuch. Kann man wissen?
»Halt,« rief er, »der Briefträger!«
Der Mann trat in Begleitung eines Dieners ein.
»Zwei eingeschriebene Briefe ... Bitte zu unterschreiben.«
Holmes unterzeichnete den Schein, geleitete den Mann bis zur Tür und kam, indem er einen der Briefe aufbrach, wieder zurück.
»Sie sehen ja so glückselig aus«, bemerkte Wilson.
»Dieser Brief enthält einen sehr interessanten Vorschlag. Sie sehnten sich ja wieder nach einer Affäre. Hier ist eine. Lesen Sie ...« Wilson las:
Geehrter Herr!
Ich möchte von Ihrer Erfahrung Hilfe erbitten. Ich bin das Opfer eines bedeutenden Diebstahls geworden, und die Untersuchungen haben bisher noch zu keinem Resultat geführt.
Ich sende Ihnen mit gleicher Post eine Anzahl Zeitungen, die Sie über die Angelegenheit unterrichten werden, und wenn Sie dieselbe weiter verfolgen wollen, so stelle ich Ihnen mein Haus zur Verfügung und bitte Sie, den beiliegenden und von mir unterzeichneten Scheck mit der Summe auszufüllen, die Sie für Ihre vorläufigen Bemühungen festsetzen wollen.
Haben Sie die Güte, mir Ihre Antwort zu telegraphieren, und genehmigen Sie den Ausdruck meiner vorzüglichen Hochachtung.
Baron Victor von Imblevalle,
Rue Murillo 18.
»Hehe,« rief Holmes, »das fängt ja wunderbar an ... Eine kleine Reise nach Paris, mein Gott, warum nicht? Seit meinem berühmten Duell mit Arsène Lupin bin ich nicht wieder dort gewesen. Ich werde gar nicht böse sein, die Hauptstadt der Welt unter etwas ruhigeren Verhältnissen wiederzusehen.«
Er zerriß den Scheck in vier Stücke, und während Wilson, dessen von Lupin damals in Paris verletzter Arm die alte Beweglichkeit nicht wiedererlangt hatte, gegen Paris bittere Worte aussprach, öffnete er den zweiten Umschlag.
Alsbald machte er eine heftige Bewegung, eine Falte zeigte sich während des Lesens auf seiner Stirn, er zerknitterte das Papier und warf es heftig auf den Parkettfußboden.
»Was? Was ist denn?« rief Wilson beunruhigt.
Er hob die Papierkugel auf, faltete sie auseinander und las mit wachsendem Staunen:
Lieber Meister!
Sie wissen, wie sehr ich Sie bewundere, und wie ich mich für Ihr Renommee interessiere. Folgen Sie mir und beschäftigen Sie sich nicht mit der Angelegenheit, in der man Sie um Hilfe ersucht. Ihr Eingreifen würde sehr viel Unglück stiften, all Ihre Bemühungen würden nur zu einem kläglichen Resultat führen, und Sie müßten öffentlich Ihr Fiasko eingestehen.
Von dem aufrichtigen Wunsche erfüllt, Ihnen eine solche Demütigung zu ersparen, beschwöre ich Sie bei unserer Freundschaft, ruhig in Ihrer warmen Herdecke zu bleiben.
Mit den besten Grüßen an Herrn Wilson und Sie, lieber Meister, bleibe ich in achtungsvoller Ergebenheit Ihr
Arsène Lupin.
»Arsène Lupin!« wiederholte Wilson verwirrt.
Holmes begann mit den Fäusten auf den Tisch zu schlagen.
»Aber das wird mir jetzt zu dumm mit diesem Kerl! Macht sich über mich lustig wie über einen Lausbuben! Das öffentliche Eingeständnis meines Fiaskos? Habe ich ihn nicht gezwungen, den blauen Diamanten herauszugeben?«
»Er hat Furcht«, schmeichelte Wilson.
»Sie reden Dummheiten. Arsène Lupin hat nie Furcht gehabt, und der beste Beweis dafür ist, daß er mich herausfordert.«
»Wie kann er nur Kenntnis von dem Briefe haben, den uns der Baron von Imblevalle schickt?«
»Was weiß ich? Sie richten blödsinnige Fragen an mich, mein Lieber.«
»Ich dachte ... ich meinte ...«
»Daß ich ein Hexenmeister bin, was?«
»Nein, aber ich habe Sie solche Wunder verrichten sehen.«
»Niemand tut Wunder ... ich so wenig wie irgendein anderer. Ich überlege, ich folgere, ich ziehe Schlüsse, aber ich rate nicht. Nur die Dummköpfe raten.«
Wilson nahm die bescheidene Haltung eines geschlagenen Hundes an, und um kein Dummkopf zu sein, bemühte er sich nicht zu erraten, warum jetzt Holmes mit erregten Schritten im Zimmer auf und ab ging. Nachdem aber Holmes seinem Diener geklingelt und ihn beauftragt hatte, seinen Koffer zu packen, glaubte Wilson, da es sich hier um eine materielle Tatsache handelte, das Recht zu haben, zu überlegen, zu folgern und den Schluß zu ziehen, daß der Meister verreisen wolle.
Dieselbe Denkoperation gestattete ihm als Mann, der keinen Irrtum fürchtet, zu behaupten:
»Sherlock, Sie fahren nach Paris.«
»Und Sie fahren dahin, mehr um auf die Herausforderung Lupins zu antworten, als um dem Baron von Imblevalle gefällig zu sein.«
»Möglich.«
»Sherlock, ich begleite Sie.«
»Ach, ach, alter Freund,« rief Holmes, indem er seinen Spaziergang unterbrach, »Sie haben also keine Furcht, daß Ihr linker Arm das Schicksal Ihres rechten Armes teilen wird?«
»Was kann mir passieren?«
»Potztausend, sind Sie mutig! Wir wollen diesem Herrn zeigen, daß er vielleicht unrecht tat, uns mit solcher Frechheit den Handschuh hinzuwerfen. Schnell, Wilson, wir treffen uns am nächsten Zuge.«
»Ohne die Zeitungen abzuwarten, deren Sendung Ihnen der Baron ankündigt?«
»Wozu das?«
»Soll ich ein Telegramm senden?«
»Nicht nötig. Arsène Lupin könnte meine Ankunft erfahren. Das möchte ich nicht. Dieses Mal, Wilson, heißt's mit verdeckten Karten spielen.«
*
Am Nachmittag schifften sich die beiden Freunde in Dover ein. Die Überfahrt war ausgezeichnet. Im Blitzzuge Calais–Paris schlief Holmes drei Stunden einen tiefen Schlaf, während Wilson an der Tür des Wagenabteils Wache hielt und schweifenden Blickes nachdachte.
Holmes erwachte froh und heiter. Die Aussicht auf einen neuen Kampf mit Arsène Lupin entzückte ihn, und er rieb sich die Hände mit der zufriedenen Miene eines Mannes, der sich auf frohe Stunden vorbereitet.
»Endlich«, rief Wilson, »kann man wieder warm werden.«
Und er rieb sich die Hände mit zufriedener Miene.
Auf dem Bahnhof nahm Holmes die Plaids, und, gefolgt von Wilson, der die Koffer trug, gab er die Billetts ab und verließ froh den Bahnhof.
»Schönes Wetter, Wilson, Sonnenschein ... Paris feiert unser Wiedersehen.«
»Was für eine Menschenmenge.«
»Desto besser. Wir riskieren nicht, bemerkt zu werden. Niemand wird uns mitten in solchem Gedränge erkennen.«
»Herr Holmes, nicht wahr?«
Er blieb sprachlos stehen. Wer zum Teufel konnte ihn beim Namen nennen?
Eine Frauensperson ging neben ihm her, ein junges Mädchen, dessen sehr einfache Kleidung die vornehme Gestalt noch mehr hervorhob, und deren hübsches Gesicht einen unruhigen und schmerzlichen Ausdruck hatte.
Sie wiederholte:
»Sie sind doch Herr Holmes?«
Da er ebenso aus Verlegenheit als aus gewohnter Vorsicht schwieg, sagte sie zum dritten Male:
»Ich habe doch die Ehre, mit Herrn Holmes zu reden?«
»Was wollen Sie von mir?« sagte er ziemlich grob, da er an ein zweifelhaftes Abenteuer glaubte.
Sie stellte sich vor ihn hin.
»Hören Sie mich an, mein Herr, es ist sehr ernst; ich weiß, daß Sie nach der Rue Murillo gehen?«
»Was sagen Sie?«
»Ich weiß ... ich weiß ... Rue Murillo Nummer 18. Nein, Sie sollen nicht ... Sie dürfen nicht dahin gehen ... ich versichere Ihnen, Sie würden es bereuen. Wenn ich Ihnen das sage, so glauben Sie ja nicht, daß ich dabei interessiert bin. Es geschieht aus Klugheit und aus Gewissenhaftigkeit.«
Er versuchte, an ihr vorbeizukommen, sie drang in ihn:
»Oh, ich bitte Sie, seien Sie nicht eigensinnig ... Ach, könnte ich Sie doch nur überzeugen! Schauen Sie in mein Inneres, blicken Sie mir in die Augen ... sie sind ehrlich ... sie sagen die Wahrheit.«
Sie schaute ihn verwirrt an mit ihren schönen und klaren Augen, in denen sich die Seele selbst zu spiegeln schien. Wilson bewegte den Kopf.
»Die junge Dame sieht sehr ehrlich aus.«
»Ja,« flehte sie, »man soll Vertrauen haben ...«
»Ich habe Vertrauen«, erwiderte Wilson.
»Oh, wie mich das freut! Und Ihr Freund auch, nicht wahr? Ich fühl's ... ich bin dessen sicher. Oh, welch ein Glück! Dann kann noch alles gut werden! ... Ach, es war doch eine gute Idee von mir! ... In zwanzig Minuten geht ein Zug nach Calais ... den müssen Sie nehmen ... Schnell, folgen Sie mir ... das Glück ist auf der anderen Seite ... Sie haben keine Zeit, die ...«
Sie versuchte ihn mit fortzuziehen. Holmes ergriff ihren Arm, und mit möglichst sanfter Stimme sagte er:
»Verzeihen Sie, Fräulein, wenn ich Ihren Wunsch nicht erfüllen kann, aber ich gebe nichts auf, was ich einmal unternommen habe.«
»Ich bitte Sie inständig ... inständig bitte ich Sie ... Ach, wenn Sie nur begreifen wollten.«
Er ließ sie stehen und entfernte sich rasch.
Wilson sagte zu dem jungen Mädchen:
»Seien Sie guten Mutes ... er wird die Sache zu Ende führen ... Es ist noch niemals etwas gescheitert.«
Darauf holte er Holmes eiligst ein.
Sherlock Holmes – Arsène Lupin
Diese in großen schwarzen Lettern geschriebenen Worte fielen ihnen bei den ersten Schritten in die Augen. Sie gingen näher. Eine ganze Reihe wandelnder Reklamemänner ging einer hinter dem anderen, indem sie mit schweren, eisenbeschlagenen Stöcken den Takt auf das Trottoir schlugen; auf dem Rücken trugen sie riesengroße Plakate:
Der Match Sherlock Holmes – Arsène Lupin. Ankunft des englischen Champions. Der große Detektiv befaßt sich mit dem Geheimnis der Rue Murillo. Man lese die Einzelheiten im »Echo de Paris«.
Wilson wiegte den Kopf.
»Was sagen Sie, Sherlock? Und da glaubten wir, inkognito zu arbeiten. Ich würde mich nicht wundern, wenn die Republikanische Garde uns in der Rue Murillo erwartete und wir mit Toasten und Champagner offiziell bewillkommnet würden.«
»Wenn Sie anfangen, geistreich zu werden, so zählen Sie für zwei«, knurrte Holmes.
Er ging auf einen der Männer los in der festen Absicht, ihn in seine gewaltigen Hände zu nehmen und ihn mitsamt seinem Plakat in Stücke zu zerreißen. Die Menge scharte sich um die Anzeigen. Man scherzte und lachte.
Indem er seinen Zornanfall unterdrückte, sagte er zu dem Manne:
»Wann hat man Sie gemietet?«
»Heut früh.«
»Und wann habt ihr euren Umzug begonnen?«
»Vor einer Stunde.«
»Aber die Anzeigen waren doch bereit?«
»Aber natürlich ... Als wir heut morgen auf die Agentur kamen, waren sie schon da.«
So hatte also Arsène Lupin doch vorausgesehen, daß er, Holmes, die Schlacht annehmen würde. Ja, noch mehr, der Brief Lupins bewies, daß er diese Schlacht wünschte, und daß es ganz in seiner Absicht lag, sich noch einmal mit seinem Rivalen zu messen. Warum? Welcher Grund konnte ihn zum Wiederbeginn des Kampfes treiben?
Holmes schwankte einen Augenblick. Lupin mußte sich wahrhaftig seines Sieges sehr sicher fühlen, um mit solcher Frechheit aufzutreten. Und hieß es nicht in die Falle gehen, wenn man so auf den ersten Ruf herbeilief?
»Vorwärts, Wilson! Kutscher, Rue Murillo 18!« rief er mit wiedererwachender Energie.
Und mit zorngeschwollenen Adern, mit geballten Fäusten, wie wenn es einen Boxkampf gelte, sprang er in seinen Wagen.
*
Die Rue Murillo ist von prächtigen Privathäusern umsäumt, deren Hinterfront auf den Park Monceau hinausgeht. Eins der schönsten dieser Wohnhäuser ist die Nummer 18, und der Baron von Imblevalle, der es mit Frau und Kindern bewohnt, hat es als Künstler und Millionär höchst verschwenderisch ausgestattet. Vor dem Hause liegt die Auffahrt, welche rechts und links die Dienerwohnungen begrenzen.
Nachdem sie geläutet, durchschritten die beiden Engländer den Vorhof und wurden von einem Kammerdiener in Empfang genommen, der sie in einen kleinen, an der anderen Fassade gelegenen Salon führte.
Sie nahmen Platz und betrachteten mit schnellen Blicken die kostbaren Gegenstände, die dieses Boudoir füllten.
»Hübsche Sachen«, murmelte Wilson. »Geschmack und Phantasie ... Man kann daraus schließen, daß die, welche die Muße hatten, diese Gegenstände aufzustöbern, Leute in einem gewissen Alter ... etwa von fünfzig Jahren, sind ...«
Er vollendete den Satz nicht. Die Tür hatte sich geöffnet, und Herr von Imblevalle und seine Gattin traten ein.
Im Gegensatz zu den Mutmaßungen Wilsons waren es ganz junge Leute von sehr lebhaften Gesten und Worten. Sie überboten sich an Höflichkeiten.
»Es ist sehr nett von Ihnen, daß Sie sich die Umstände gemacht haben! Fast freuen wir uns über den gehabten Verlust, da er uns das Vergnügen verschafft ...«
Wie entzückend doch diese Franzosen sind, dachte Wilson, der vor keiner tiefsinnigen Beobachtung zurückschreckte.
»Doch Zeit ist Geld,« rief der Baron, »besonders die Ihrige, Herr Holmes. Also gerade aufs Ziel los. Was halten Sie von der Sache? Hoffen Sie damit fertig zu werden?«
»Um damit fertig zu werden, müßte ich sie erst kennenlernen.«
»Nein, und ich bitte Sie, mir die Dinge haarklein zu erzählen, ohne etwas auszulassen. Worum handelt es sich?«
»Um einen Diebstahl.«
»Wann fand er statt?«
»Letzten Sonnabend,« sagte der Baron, »in der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag.«
»Also vor sechs Tagen. Bitte nur weiter zu erzählen.«
»Zuerst muß ich bemerken, daß meine Frau und ich eine Lebensweise führen, die uns wenig zum Ausgehen veranlaßt. Die Erziehung unserer Kinder, einige Empfänge, die Verschönerung unseres Heims, das ist unser Dasein, und fast alle unsere Abende bringen wir in diesem Raume zu, der das Boudoir meiner Frau ist, und wo wir einige Kunstgegenstände angesammelt haben. Sonnabend abend nun, gegen elf Uhr, schaltete ich das elektrische Licht aus, und meine Frau und ich zogen uns wie gewöhnlich in unser Zimmer zurück.«
»Das wo liegt?«
»Hier nebenan, die Tür, die Sie sehen, führt hinein. Am folgenden Tage, also am Sonntag, stand ich zeitig auf. Da Susanne, meine Frau, noch schlief, ging ich ganz leise, um sie nicht zu wecken, in das Boudoir. Wie erstaunt aber war ich, als ich das Fenster offen sah, das wir am Abend zuvor geschlossen hatten.«
»Ein Diener ...«
»Hier kommt niemand morgens hinein, bevor wir geläutet haben. Außerdem bin ich so vorsichtig, immer den Riegel dieser zweiten Tür vorzuschieben, die mit dem Vorzimmer in Verbindung steht. Das Fenster war also von außen geöffnet worden. Übrigens hatte ich einen Beweis dafür: die zweite Scheibe des rechten Fensters war in der Nähe des Riegels herausgeschnitten.«
»Und dieses Fenster?«
»Dieses Fenster, wie Sie sich überzeugen können, geht auf eine kleine, von einem steinernen Balkon umgebene Terrasse hinaus. Wir sind hier im ersten Stock, und Sie sehen den Garten, der hinter dem Hause liegt, und das Gitter, das ihn vom Park Monceau trennt. Es steht also mit Sicherheit fest, daß der Mann aus dem Park Monceau kam, das Gitter mittels einer Leiter überstiegen hat und auf die Terrasse geklettert ist.«
»Es steht mit Sicherheit fest, sagen Sie?«
»Man hat auf jeder Seite des Gitters in der weichen Erde der Beete Spuren von den Füßen der Leiter gefunden, und dieselben beiden Löcher befanden sich auch unten an der Terrasse. Außerdem zeigt der Balkon zwei leichte Kratzer, die offenbar durch Berührung mit der Leiter entstanden sind.«
»Ist der Park Monceau des Nachts nicht geschlossen?«
»Geschlossen nicht; jedoch befindet sich auf dem Grundstück Nummer 14 ein Haus im Bau. Von dort war es leicht einzudringen.«
Sherlock Holmes überlegte einige Augenblicke und sagte:
»Um auf den Diebstahl zurückzukommen: Er soll also in dem Raume stattgefunden haben, wo wir uns befinden?«
»Ja, es hing hier zwischen dieser Mutter Gottes aus dem zwölften Jahrhundert und diesem Tabernakel aus ziseliertem Silber eine kleine Judenlampe. Sie ist verschwunden.«
»Und das ist alles?«
»Das ist alles.«
»So! ... Und was verstehen Sie unter einer Judenlampe?«
»Es sind kupferne Lampen, deren man sich ehemals bediente, und die aus einem Stiel und einem Gefäß bestehen, worein man das Öl tat. Von dem Gefäß gingen zwei oder mehr Brenner aus, die zur Aufnahme der Dochte bestimmt waren.«
»Also Gegenstände ohne großen Wert?«
»Allerdings ohne großen Wert. Doch die unserige enthielt ein Versteck, in dem wir ein prächtiges altes Kleinod zu verbergen pflegten, eine goldene Chimära, eingefaßt von Rubinen und Smaragden, die einen sehr hohen Wert besaß.«
»Warum pflegten Sie das zu tun?«
»Du lieber Gott, das kann ich Ihnen nicht so genau sagen. Vielleicht war es die simple Freude, ein Versteck dieser Art zu benutzen.«
»Niemand.«
»Mit Ausnahme natürlich des Diebes der Chimära,« wandte Holmes ein, »sonst hätte er sich kaum die Mühe genommen, die jüdische Lampe zu stehlen.«
»Natürlich; aber wie konnte er ihn kennen, da wir selbst erst durch Zufall auf den geheimen Mechanismus der Lampe gekommen waren.«
»Derselbe Zufall konnte ihn irgend jemand anderem ... einem Bedienten ... einem Vertrauten des Hauses offenbaren. Doch fahren wir fort. Die Polizei ist benachrichtigt worden?«
»Gewiß. Der Untersuchungsrichter hat eine Untersuchung veranstaltet. Die Detektivberichterstatter bei den großen Zeitungen ebenfalls. Doch wie ich Ihnen bereits schrieb, scheint das Rätsel nicht die mindeste Aussicht auf Lösung zu haben.«
Holmes erhob sich, ging zum Fenster, prüfte das Fenster, die Terrasse, den Balkon, nahm seine Lupe, um die beiden Kratzer in dem Gestein zu studieren, und bat Herrn von Imblevalle, ihn in den Garten zu führen.
Draußen setzte sich Holmes einfach auf einen Korbstuhl und betrachtete von dort aus wie ein Träumer das Dach des Hauses. Dann schritt er plötzlich auf zwei kleine Holzkistchen zu, mit denen man, um ihre genaue Spur zu erhalten, die durch die Leiter am Fuß der Terrasse verursachten Löcher bedeckt hatte. Er nahm die Kistchen weg, kniete auf dem Boden nieder und untersuchte mit krummem Rücken und mit der Nase zwanzig Zentimeter vom Boden entfernt, wobei er Maß nahm. Das nämliche tat er längs des Gitters.
Damit beendete er seine Nachforschungen vorläufig.
Beide kehrten ins Boudoir zurück, wo Frau von Imblevalle sie erwartete. Holmes schwieg eine Weile, dann sagte er:
»Von Beginn Ihrer Erzählung an, Herr Baron, war ich von der wahrhaft simplen Art des Eingriffes überrascht. Eine Leiter aufstellen, eine Scheibe durchschneiden, irgend etwas nehmen und dann fortgehen, nein, so etwas geht nicht so leicht. Das ist zu klar, zu einfach.«
»Und Sie folgern daraus?«
»Ich folgere daraus, daß der Diebstahl der jüdischen Lampe unter Leitung Arsène Lupins vollzogen wurde.«
»Arsène Lupins?« rief der Baron.
»Ja, aber ohne seine eigene Beteiligung, und ohne daß ein Fremder hier in das Haus kam ... Ein Diener wird vielleicht aus seiner Mansarde auf die Terrasse hinabgestiegen sein, möglicherweise an der Gosse entlang, die ich im Garten bemerkte.«
»Aber was für Beweise haben Sie dafür?«
»Arsène Lupin wäre nicht mit leeren Händen aus dem Boudoir gegangen.«
»Mit leeren Händen? Und die Lampe?«
»Daß er die Lampe nahm, hätte ihn nicht verhindert, auch diese mit Diamanten reich besetzte Tabatiere oder dieses Kollier aus alten Opalen zu nehmen. Es genügten dazu höchstens zwei Griffe. Wenn er sie nicht machte, so konnte er es eben nicht.«
»Aber die entdeckten Spuren?«
»Komödie! Inszenierung, um den Verdacht abzulenken.«
»Die Abschürfungen an der Balustrade?«
»Lüge! Sie wurden mit Sandpapier gemacht; hier sind noch einige Stückchen von diesem Papier, die ich aufgelesen habe.«
»Die von der Leiter hinterlassenen Eindrücke?«
»Possen! Prüfen Sie die beiden rechteckigen Löcher am Fuße der Terrasse und die beiden Löcher längs des Gitters. Ihre Form ist ähnlich, aber während sie hier parallel stehen, sind sie es dort nicht. Messen Sie die Entfernung, welche jedes Loch von dem anderen trennt: die Distanz ändert sich nach dem Orte. Am Fuße der Terrasse beträgt sie 23 Zentimeter, längs des Gitters 28 Zentimeter.«
»Und Sie schließen daraus?«
»Da ihre Form dieselbe ist, schließe ich daraus, daß die vier Löcher einzig und allein mit dem Ende eines entsprechend geschnittenen Stückes Holz hergestellt wurden.«
»Das beste Argument wäre das Stück Holz selbst.«
»Hier ist es,« sagte Holmes, »ich habe es im Garten unter einem Lorbeerbaumkasten aufgehoben.«
Der Baron verbeugte sich. Vor vierzig Minuten hatte der Engländer die Schwelle dieser Tür überschritten, und nichts mehr blieb bestehen von all dem, was man auf Grund wahrscheinlicher Tatsachen angenommen hatte. Die Wirklichkeit, eine andere Wirklichkeit enthüllte sich, die auf weit soliderer Grundlage gebaut war, nämlich auf den Folgerungen Sherlock Holmes.
»Die Anklage, die Sie gegen unser Personal schleudern, ist sehr schwer«, sagte die Baronin. »Unsere Domestiken sind lauter alte Diener der Familie, und keiner von ihnen ist fähig, uns zu verraten.«
»Wenn keiner von ihnen Sie verraten hat, wie erklären Sie sich dann, daß ich diesen Brief hier an demselben Tage und mit derselben Post erhalten konnte wie den, den Sie mir schrieben?«
Er reichte der Baronin den Brief Arsène Lupins.
Frau von Imblevalle war starr.
»Arsène Lupin ... wie konnte der wissen?«
»Sie haben niemandem von Ihrem Briefe Mitteilung gemacht?«
»Niemandem,« sagte der Baron, »die Idee kam uns gestern abend bei Tisch.«
»In Gegenwart der Domestiken?«
»Nein, nur unsere beiden Kinder waren da ... und dann noch ... nein, Sophie und Henriette waren nicht am Tisch, nicht wahr, Susanne?«
Frau von Imblevalle überlegte und sagte:
»In der Tat, sie waren schon wieder beim Fräulein.«
»Was für ein Fräulein?« fragte Holmes.
»Bei der Gouvernante Fräulein Alice Demun.«
»Diese Person speist nicht mit Ihnen?«
»Nein, man serviert ihr besonders in ihrem Zimmer.«
Wilson hatte eine Idee.
»Der an meinen Freund Sherlock Holmes geschriebene Brief wurde zur Post gegeben?«
»Natürlich.«
»Wer brachte ihn denn hin?«
»Dominik, mein Kammerdiener, den ich seit zwanzig Jahren habe«, antwortete der Baron. »Jede Untersuchung nach dieser Richtung hieße nur Zeit verlieren.«
»Man verliert nie seine Zeit, wenn man sucht«, sagte weisheitsvoll Wilson.
Damit war die erste Untersuchung beendet. Holmes bat um die Erlaubnis, sich zurückzuziehen.
Eine Stunde später sah er beim Diner Sophie und Henriette, die beiden Kinder der Imblevalles, zwei hübsche Mädchen von acht und sechs Jahren. Man sprach wenig. Holmes antwortete auf die Liebenswürdigkeiten des Barons und seiner Frau in so brummiger Weise, daß sie lieber schwiegen. Man servierte den Kaffee; Holmes goß den Inhalt seiner Tasse hinunter und erhob sich.
In diesem Augenblick trat ein Diener ein, der ihm eine telegraphische Nachricht überbrachte. Er öffnete und las:
Sende Ihnen meine enthusiastische Bewunderung. Die innerhalb so kurzer Zeit von Ihnen erzielten Resultate sind verblüffend. Ich bin ganz verwirrt. Arsène Lupin.
Er machte eine ärgerliche Bewegung und zeigte die Depesche dem Baron.
»Glauben Sie nun endlich, daß Ihre Wände Augen und Ohren haben?«
»Das verstehe ich nicht«, murmelte Herr von Imblevalle verdutzt.
»Ich auch nicht. Was ich aber verstehe, ist, daß man hier keine Bewegung macht; die nicht von ihm bemerkt wird. Kein Wort wird gesprochen, das er nicht hört.«
*
An jenem Abend legte sich Wilson mit dem ruhigen Gewissen eines Mannes zu Bett, der seine Pflicht erfüllte, und der nichts anderes zu tun hat als einzuschlafen. Daher schlief er sehr schnell ein, und er hatte schöne Träume, worin er Lupin allein verfolgte und sich anschickte, ihn eigenhändig zu verhaften. Diese Empfindung war so lebhaft, daß er davon erwachte.
Jemand streifte sein Bett. Er ergriff seinen Revolver.
»Noch eine Bewegung, Lupin, und ich schieße.«
»Teufel, was sind Sie für ein Draufgänger, alter Kamerad.«
»Ach so, Sie sind es, Holmes. Bedürfen Sie meiner?«
»Ja, ich brauche Ihre Augen. Stehen Sie auf ...«
Er führte ihn ans Fenster.
»Sehen Sie ... auf der anderen Seite des Gitters ...«
»Im Park?«
»Ja, sehen Sie nichts?«
»Ich sehe nichts.«
»Doch, Sie sehen etwas.«
»Ach, allerdings einen Schatten ... sogar zwei ...«
»Nicht wahr? Am Gitter ... Da, jetzt bewegen sie sich ... Verlieren wir keine Zeit.«
Tastend, indem sie sich an der Rampe festhielten, stiegen sie die Treppe hinab und kamen in einen Raum, der auf den Garten hinausging. Durch die Scheiben der Tür bemerkten sie an demselben Platze zwei Silhouetten.
»Sonderbar,« sagte Holmes, »mir ist, als hörte ich Geräusch im Hause.«
»Im Hause? Unmöglich. Alles schläft.«
»Dennoch, hören Sie nur.«
In diesem Augenblick ertönte vom Gitter her ein leiser Pfiff, und sie bemerkten einen schwachen Lichtschein, der vom Hause her zu kommen schien.
»Die Imblevalles müssen Licht gemacht haben,« flüsterte Holmes, »das über unserem Zimmer gelegene Zimmer ist das ihrige.«
»Wahrscheinlich sind sie es, die wir gehört haben«, sagte Wilson. »Vielleicht schauen sie gerade auf das Gitter.«
Da, noch ein zweiter, noch leiserer Pfiff.
»Ich verstehe nicht, ich verstehe nicht«, sagte ärgerlich Holmes.
»Ich auch nicht«, gestand Wilson.
Holmes drehte den Schlüssel der Tür um, zog den Riegel auf und stieß sacht an den Türflügel. Ein dritter und etwas andersartiger Pfiff ertönte. Über ihrem Kopfe wurde das Geräusch lauter und heftiger.
»Man möchte eher glauben, es sei auf der Terrasse des Boudoirs«, flüsterte Holmes.
Er steckte den Kopf durch den geöffneten Türspalt, zog ihn aber sogleich fluchend zurück. Nun schaute auch Wilson hinaus. Ganz dicht bei ihnen war eine Leiter an die Mauerwand gelehnt und an den Balkon der Terrasse gestützt.
»Donnerwetter,« sagte Holmes, »es ist jemand im Boudoir!« Das war es, was man hörte. »Schnell, nehmen wir die Leiter fort.«
Doch in demselben Augenblick glitt eine Gestalt von oben nach unten, die Leiter wurde fortgenommen, und der Mann, der sie trug, lief eiligst auf das Gitter zu, wo seine Komplicen ihn erwarteten. Mit einem Satze hatten Holmes und Wilson sich hinter ihm her gemacht. Sie holten den Mann ein, als er die Leiter gerade an das Gitter lehnte. Von der anderen Seite her fielen zwei Schüsse.
»Verwundet?« rief Holmes.
»Nein«, antwortete Wilson.
Er packte den Mann und versuchte ihn kampfunfähig zu machen. Doch der Mann drehte sich um, umschlang ihn mit dem einen Arme, und mit der anderen Hand stieß er ihm ein Messer mitten in die Brust. Wilson ächzte, wankte und fiel.
»Verflucht!« schrie Holmes. »Wenn man ihn getötet hat, so töte ich auch.«
Er legte Wilson auf den Rasen und stürzte auf die Leiter zu. Zu spät ... Der Mann hatte bereits die Leiter erklettert, war von seinen Komplicen in Empfang genommen worden und entfloh nun im Dunkel.
»Wilson, Wilson, es ist doch nichts Ernstes? Wie? Nur ein leichter Kratzer.«
Die Türen des Hotels wurden heftig aufgerissen. Zuerst kam Herr von Imblevalle, darauf kamen Bediente mit Kerzen.
»Was! Was gibt es!« rief der Baron. »Ist Herr Wilson verwundet?«
»Nichts, eine leichte Schramme«, wiederholte Holmes, der sich selbst etwas vorzumachen suchte.
Das Blut floß reichlich, und das Gesicht war aschfahl.
Zwanzig Minuten später konstatierte der Arzt, daß die Spitze des Messers vier Millimeter vom Herzen entfernt steckengeblieben war.
»Vier Millimeter vom Herzen! Dieser Wilson hat immer Glück gehabt!« meinte Holmes fast neidisch.
»Glück ... Glück ...« murmelte der Doktor.
»Ach, bei seiner robusten Konstitution wird er es bald überwunden haben.«
»Ja, sechs Wochen im Bett liegen und zwei Monate Rekonvaleszenz.«
»Nichts weiter?«
»Nein, wenn keine Komplikationen eintreten.«
Vollständig beruhigt ging Holmes zum Baron ins Boudoir. Diesmal war der geheimnisvolle Besucher minder vorsichtig zu Werke gegangen. Schamlos hatte er die Hand auf die reich mit Diamanten besetzte Tabatiere, auf das Kollier aus Opalen und im allgemeinen auf alles gelegt, was in den Taschen eines ehrlichen Zimmerdiebes Platz hatte.
Das Fenster war geöffnet worden und eine der Scheiben sauber herausgeschnitten, und die Untersuchung am lichten Tage zeigte, nachdem festgestellt war, daß die Leiter vom Neubau herrührte, welchen Weg man genommen hatte.
»Kurz und gut,« sagte Imblevalle mit einer gewissen Ironie, »das ist die genaue Wiederholung des Diebstahls der jüdischen Lampe.«
»Ja, wenn man die Annahme der Polizei gelten läßt.«
»Lassen Sie sie denn immer noch nicht gelten? Erschüttert denn nicht dieser zweite Diebstahl Ihre Auffassung von dem ersten?«
»Er bestätigt sie, mein Herr.«
»Ist's glaublich! Sie haben den unwiderleglichen Beweis, daß der Einbruch diese Nacht von jemand außer dem Hause gemacht wurde, und bleiben dabei, daß die jüdische Lampe von jemand aus unserer Umgebung gestohlen worden sei?«
»Von jemand, der in diesem Hause wohnt.«
»Wie erklären Sie sich dann ...?«
»Ich erkläre nichts, mein Herr, ich konstatiere zwei Tatsachen, die miteinander nur scheinbar in Verbindung stehen, ich beurteile sie jede für sich und suche das Band, das sie vereinigt.«
Seine Überzeugung war so fest, seine Handlungsweise war auf so wichtigen Motiven gegründet, daß der Baron sich verbeugte.
»Gut, so wollen wir den Kommissar benachrichtigen ...«
»Um keinen Preis!« schrie lebhaft der Engländer. »Um keinen Preis! Ich will mich erst an diese Leute wenden, wenn ich sie brauche.«
»Aber die Schüsse? ...«
»Macht nichts.«
»Ihr Freund? ...«
»Mein Freund ist bloß verwundet .... Sorgen Sie dafür, daß der Doktor schweigt. Ich übernehme alle Verantwortung gegenüber dem Gericht.«
*
Zwei Tage vergingen ohne bemerkenswerte Vorfälle. Holmes gab sich der Angelegenheit mit peinlicher Sorgfalt und einem Ehrgeiz hin, welcher durch die Erinnerung an den kühnen Einbruch, der unter seinen Augen und während seiner Anwesenheit verübt worden war, nur noch mehr angestachelt wurde. Unermüdlich durchsuchte er das Haus und den Garten, unterhielt sich mit den Domestiken und verweilte oft und lange in der Küche und im Pferdestall. Obwohl er nichts entdeckte, verlor er doch nicht den Mut.
Ich werde schon was finden, und zwar hier, dachte er. Ich brauche nicht, wie bei der Affäre mit der blonden Dame, auf Abenteuer auszugehen und auf mir unbekannten Wegen ein Ziel zu erreichen, von dem ich nichts weiß. Diesmal befinde ich mich mitten auf dem Schlachtfelde. Der Feind ist nicht bloß der unfaßbare und unsichtbare Lupin, sondern der Komplice aus Fleisch und Blut, der innerhalb dieses Hauses lebt und sich bewegt. Das allerkleinste Detail, und ich habe einen Anhaltspunkt.
Dieses Detail, aus dem er solche Schlüsse ziehen sollte, und zwar mit so wunderbarer Geschicklichkeit, daß man die Geschichte mit der jüdischen Lampe als den glänzendsten Beweis seines Polizeigenies betrachten kann, dieses Detail wurde ihm durch Zufall geliefert.
Am Nachmittag des dritten Tages, als er in das kleine, über dem Boudoir gelegene Zimmer eintrat, das den Kindern als Arbeitsraum diente, traf er Henriette, die jüngere der beiden Schwestern, an. Sie suchte ihre Schere.
»Weißt du,« sagte sie zu Holmes, »ich mache auch solche Papiere wie das, das du neulich abend bekommen hast.«
»Neulich abend?«
»Ja, nach dem Abendbrot. Du hast ein Papier mit Streifen darauf bekommen ... eine Depesche, weißt du ... Ich mache auch welche.«
Sie ging hinaus. Für jeden anderen hätten diese Worte nichts bedeutet als das nichtssagende Geschwätz eines Kindes, und selbst Holmes hörte nur mit halbem Ohre hin und setzte seine Inspektion fort. Doch plötzlich lief er hinter dem Kinde her, dessen Redereien ihn auf einmal frappierten. Er holte es oben auf der Treppe ein und sagte:
»Also du leimst auch Streifen auf Papier?«
Henriette erklärte sehr stolz:
»Ich schneide auch Worte aus und klebe sie auf.«
»Und wer hat dir das niedliche Spiel gezeigt?«
»Das Fräulein .... meine Gouvernante ... Ich habe ihr zugesehen, wie sie es machte. Sie schneidet Wörter aus den Zeitungen aus und klebt sie auf ...«
»Und was macht sie damit?«
»Depeschen und Briefe, die schickt sie fort.«
Sherlock Holmes ging wieder in das Arbeitszimmer. Diese Mitteilung beschäftigte ihn sehr, und er bemühte sich, die nötigen Folgerungen daraus zu ziehen.
Ein ganzes Paket Zeitungen lag auf dem Kamin. Er entfaltete sie und bemerkte tatsächlich, daß Gruppen von Wörtern oder ganze Zeilen fehlten, die sehr sauber herausgeschnitten waren. Aber er brauchte nur die vorhergehenden oder folgenden Worte zu lesen, um festzustellen, daß sie offenbar ganz aufs Geratewohl von Henriette herausgeschnitten waren. Es war möglich, daß es in dem Stoß Zeitungen eine gab, die das Fräulein selbst ausgeschnitten hatte. Aber wie diese herausfinden?
Mechanisch blätterte Sherlock in den Schulbüchern, die auf dem Tische lagen, dann in anderen, die auf den Regalbrettern standen. Plötzlich stieß er einen Laut der Freude aus. In einer Ecke des Regales hatte er unter alten zerfetzten Heften ein Kinderalbum gefunden, ein mit Bildern geschmücktes Alphabet, und auf einer der Seiten des Albums eine leere Stelle entdeckt.
Er sah genauer zu. Es waren die Namen der Wochentage. Montag, Dienstag, Mittwoch usw., das Wort Sonnabend fehlte. Nun hatte der Lampendiebstahl in einer Sonnabendnacht stattgefunden.
Sherlock hatte jenes kleine Herzklopfen, das sich bei ihm immer einstellte, wenn er an den Knoten einer Intrige rührte. Solche Annäherung an die Wahrheit, solche Erregung durch Gewißheit täuschte ihn niemals.
Fieberhaft und zuversichtlich durchblätterte er das Album. Etwas weiter wartete seiner eine neue Überraschung.
Es war das eine aus großen Buchstaben bestehende Seite, denen einige Reihen Ziffern folgten.
Neun von den Buchstaben und drei von den Ziffern waren sorgfältig entfernt worden.
Holmes schrieb sie in sein Notizbuch in der Reihenfolge, die sie eingenommen hatten, und erhielt das folgende Resultat:
CDEHNOPRZ – 237 –
»Verdammt noch eins!« murmelte er. »Das besagt nicht viel auf den ersten Blick.«
Konnte man, indem man die Buchstaben durcheinandermengte, und zwar alle, ein oder zwei vollständige Worte bilden?
Holmes versuchte es vergebens.
Eine einzige Lösung drängte sich ihm auf, die ihm immer wieder in den Bleistift kam, und die ihm schließlich die richtige schien. Einerseits, weil sie der Logik der Tatsachen entsprach, und andererseits, weil sie mit den allgemeinen Umständen übereinstimmte.
Da die Seite des Albums jeden Buchstaben des Alphabets nur einmal enthielt, war es wahrscheinlich, war es sogar gewiß, daß man sich unvollständigen Wörtern gegenüber befand, die erst vervollständigt worden waren durch Buchstaben, die man anderen Seiten entnommen hatte. Unter dieser Voraussetzung, und wenn sonst kein Irrtum vorlag, hieß das Rätsel folgendermaßen:
REPOND.Z – CH – 237.
Das erste Wort war klar: Répondez, indem das e fehlte, weil der Buchstabe e, der schon verwendet war, nicht mehr zur Verfügung stand.
Was das zweite unvollständige Wort anbetraf, so bildete es unzweifelhaft zusammen mit der Zahl 237 die Adresse, die der Absender des Briefes dem Empfänger gab. Man schlug zunächst vor, den Tag auf Sonnabend festzusetzen, und erbat eine Antwort unter der Adresse CH 237.
Oder CH 237 war eine postlagernde Chiffre, oder die Buchstaben CH gehörten zu einem unvollständigen Wort. Holmes durchblätterte das Album, kein Ausschnitt hatte auf den folgenden Seiten stattgefunden. Man mußte sich also bis auf weiteres an die gefundene Erklärung halten.
»Das ist nett, nicht wahr?«
Henriette war zurückgekommen. Er antwortete:
»Gewiß, sehr nett. Aber hast du kein anderes Papier? .... Oder vielleicht bereits ausgeschnittene Worte, die ich aufkleben könnte?«
»Papier? .... Nein ... Und dann würde Fräulein auch nicht damit zufrieden sein.«
»Fräulein?«
»Ja, die hat schon geschimpft.«
»Warum?«
»Weil ich Ihnen etwas gesagt habe ... weil sie sagt, man soll niemals etwas von denen sagen, die man gern hat.«
»Du hast vollständig recht.«
Henriette schien von seiner Billigung dermaßen entzückt, daß sie aus einem kleinen, an ihr Kleid gesteckten Leinwandsäckchen einige Läppchen, drei Knöpfe, zwei Stücke Zucker und schließlich ein viereckiges Papier herauszog, das sie ihm hinhielt.
»Laß sehen, ich geh' es dir schon wieder.«
Es war eine Fiakernummer, die Nummer 8279.
»Woher hast du diese Nummer?«
»Sie ist aus ihrem Portemonnaie gefallen.«
»Wann?«
»Sonntag bei der Messe, als sie Kupfer für den Klingelbeutel suchte.«
»Sehr gut. Und jetzt will ich dir auch sagen, wie du keine Schelte bekommst. Erzähl' Mademoiselle nicht, daß du mich gesehen hast.«
Holmes suchte Herrn von Imblevalle auf und befragte ihn kurz und bündig über Mademoiselle.
Der Baron gab sich einen Ruck.
»Alice Demun! Was glauben Sie denn ... das ist unmöglich.«
»Wie lange ist sie in Ihrem Hause?«
»Erst ein Jahr, aber ich kenne keine ruhigere Person und keinen Menschen, zu dem ich mehr Vertrauen hätte.«
»Wie kommt es, daß ich ihrer noch nicht ansichtig wurde?«
»Sie ist auf zwei Tage verreist.«
»Und gegenwärtig?«
»Seit ihrer Rückkehr hat sie am Krankenbette Ihres Freundes die Pflege übernehmen wollen. Sie besitzt alle Eigenschaften einer Krankenpflegerin ... ist sanft ... zuvorkommend ... Herr Wilson scheint ganz bezaubert von ihr.«
»Ah«, rief Holmes, der ganz versäumt hatte, sich nach seinem alten Kameraden zu erkundigen.
Er überlegte, dann erkundigte er sich:
»Und sie ist am Sonntagmorgen ausgegangen?«
»Am Tage nach dem Diebstahl?«
Der Baron rief seine Frau herbei und richtete an sie die Frage. Diese antwortete:
»Mademoiselle ist wie gewöhnlich mit den Kindern zur Elfuhrmesse gegangen.«
»Und vorher?«
»Vorher? Nein ... oder vielmehr ... ja, ich war über den Diebstahl so bestürzt! ... Doch erinnere ich mich, daß sie mich am Tage zuvor um die Erlaubnis gebeten hatte, am Sonntagmorgen auszugehen ... um eine Kusine auf der Durchreise durch Paris zu sprechen, glaube ich. Aber ich hoffe doch nicht, daß Sie sie im Verdacht haben?«
»O nein ... Aber ich möchte sie gern sehen.«
Er ging hinauf in Wilsons Zimmer. Eine Frau, ganz grau wie eine Krankenpflegerin gekleidet, hatte sich über den Kranken gebeugt und gab ihm zu trinken. Als sie sich umdrehte, erkannte Holmes das junge Mädchen, das ihn am Nordbahnhofe angesprochen hatte.
*
Nicht die geringste Auseinandersetzung fand zwischen ihnen statt. Alice Demun lächelte sanft mit reizend ernsten Augen und zeigte keinerlei Verlegenheit. Der Engländer wollte sprechen, murmelte einige Silben und schwieg. Darauf ging sie wieder an ihre Beschäftigung, hantierte sanft unter dem erstaunten Blicke Holmes', stellte Medizinflaschen zurecht, wickelte Leinwandstreifen und schaute ihn wiederum mit ihrem hellen Lächeln an.
Er machte auf den Hacken kehrt, stieg die Treppe hinab, bestellte im Hofe das Automobil des Herrn Imblevalle, setzte sich hinein und ließ sich nach Levallois ins Wagendepot fahren, dessen Adresse auf dem ihm von dem Kinde übergebenen Fiakerzettel bezeichnet war. Der Kutscher Dupret, der die Nummer 8279 am Sonntagvormittag gefahren hatte, war nicht da. Holmes schickte das Automobil nach Hause und wartete bis zur Stunde der Ablösung.
Der Kutscher Dupret erzählte, daß er in der Tat in der Umgebung des Parkes Monceau eine junge, schwarzgekleidete Dame aufgeladen hätte, die einen dichten Schleier trug und sehr erregt geschienen hätte.
»Sie trug ein Paket?«
»Ja, ein ziemlich längliches Paket.«
»Und Sie haben sie wohin gefahren?«
»Nach der Avenue des Ternes, bis zur Ecke der Place Saint-Ferdinand. Sie blieb dort etwa zehn Minuten und ist dann wieder nach dem Park Monceau zurückgekehrt.«
»Sie würden das Haus der Avenue des Ternes wiedererkennen?«
»Natürlich. Soll ich Sie hinfahren?«
»Sofort. Doch zunächst fahren Sie mich zum Quai des Orfèvres 36.«
Auf der Polizeipräfektur hatte er das Glück, alsbald den Oberinspektor Ganimard zu treffen.
»Herr Ganimard, sind Sie frei?«
»Wenn es sich um Lupin handelt, nein.«
»Es handelt sich um Lupin.«
»Da rühre ich mich nicht von der Stelle.«
»Wie? Sie verzichten darauf ...«
»Ich verzichte auf das Unmögliche. Ich bin eines so ungleichen Kampfes müde, worin wir sicher sind, zu unterliegen. Das ist feig, das ist absurd, alles, was Sie wollen ... Ich kehre mich nicht daran. Lupin ist stärker als wir; folglich muß man sich vor ihm beugen.«
»Ich beuge mich nicht.«
»Er wird Sie beugen wie alle anderen.«
»Nun, so gibt's ein Schauspiel, das Ihnen ja nur Vergnügen machen kann.«
»Ach ja, das ist wahr«, sagte Ganimard naiv. »Und da Sie noch nicht Ihre Portion Prügel bekommen haben, so wollen wir hingehen.«
Alle beide stiegen in die Droschke. Auf ihr Geheiß hielt der Kutscher ein wenig vor dem Hause auf der anderen Seite der Avenue vor einem kleinen Café, auf dessen Terrassen sie zwischen Lorbeer- und Oleanderbäumen Platz nahmen. Der Tag neigte sich seinem Ende zu.
»Kellner,« rief Holmes, »Was zum Schreiben.«
Er schrieb, dann rief er den Kellner wieder.
»Tragen Sie diesen Brief zum Portier des gegenüberliegenden Hauses. Es ist dies offenbar der Mann mit der Mütze, der unter der Einfahrt raucht.«
Der Portier kam herbei, und, nachdem Ganimard sich als Oberinspektor legitimiert hatte, fragte Holmes, ob am Sonntagmorgen eine junge Dame in Schwarz gekommen wäre.
»In Schwarz? Ja, gegen neun Uhr – die immer in den zweiten Stock geht.«
»Sie sehen sie öfter?«
»Nein, aber seit einiger Zeit häufiger als sonst ... seit den letzten zwei Wochen fast täglich.«
»Und seit Sonntag?«
»Nur einmal ... ausgenommen heute.«
»Wie? Sie ist gekommen?«
»Sie ist da.«
»Sie ist da?«
»Seit etwa zehn Minuten. Ihr Wagen wartet wie gewöhnlich auf der Place Saint-Ferdinand. Ich bin ihr unter der Einfahrt begegnet.
Es wohnen zwei Leute dort, eine Modistin Fräulein Langeais und ein Herr, der seit einem Monat unter dem Namen Bresson zwei möblierte Zimmer gemietet hat.«
»Warum sagen Sie unter dem Namen?«
»Ich denke mir halt, es ist ein angenommener Name. Meine Frau macht die Bedienung: na, er hat nicht zwei Hemden mit demselben Zeichen.«
»Wie lebt er?«
»Oh, fast immer auswärts. Er kommt oft drei Tage nicht nach Hause.«
»Ist er in der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag nach Hause gekommen?«
»In der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag? Da muß ich erst einmal nachdenken ... ja, Sonnabend abend ist er nach Hause gekommen und hat sich nicht gerührt.«
»Und was ist das für ein Mensch?«
»Das kann ich wirklich nicht sagen. Er ist so verschieden, er ist groß, er ist klein, er ist dick, er ist schmächtig ... brünett und blond ... Ich erkenne ihn nicht immer.«
Ganimard und Holmes sahen sich an.
»Er ist's,« flüsterte der Inspektor, »er ist es sicher.«
Der alte Polizeimann war einen Augenblick erregt, was sich in einem Gähnen und einem Krampf in den Fäusten bemerkbar machte.
Sogar Holmes, der sich weit mehr beherrschte, bekam Herzklopfen.
»Achtung,« sagte der Portier, »das ist die junge Dame.«
In der Tat erschien das Fräulein auf der Türschwelle und ging über den Platz.
»Und das ist Herr Bresson.«
»Bresson? Welcher?«
»Der, der ein Paket unterm Arm trägt.«
»Aber er befaßt sich ja gar nicht mit dem jungen Mädchen, sie geht allein zum Wagen.«
»Ja, zusammen habe ich sie nie gesehen.«
Die beiden Polizeileute hatten sich eiligst erhoben. Im Schein der Straßenlaternen erkannten sie die Silhouette Lupins, der sich in der dem Platze entgegengesetzten Richtung entfernte.
»Wem wollen Sie lieber folgen?« fragte Ganimard.
»Ihm natürlich. Er ist das große Wild.«
»Dann gehe ich dem Fräulein nach«, schlug Ganimard vor.
»Nein, nein«, sagte lebhaft der Engländer, der Ganimard nichts von der Sache verraten wollte. »Das Fräulein weiß ich schon zu finden, bleiben Sie bei mir.«
In gebührender Entfernung, und indem sie sich das Gedränge der Passanten an den Zeitungskiosken zunutze machten, gingen sie an Lupins Verfolgung. Die Verfolgung war übrigens eine leichte, denn er drehte sich nicht um und ging schnell, wobei er mit dem rechten Bein leicht hinkte, was allerdings nur ein geübter Beobachter bemerken konnte.
»Er tut, als ob er lahm wäre«, sagte Ganimard. »Ach, wenn man doch zwei oder drei Polizisten träfe und auf den Kerl losgehen könnte! Er wird uns noch davonlaufen.«
Doch kein Polizist zeigte sich, bevor sie an die Porte des Ternes kamen, und, nachdem man einmal die Linie der Fortifikationen überschritten hatte, durften sie keine Hilfe mehr leisten.
»Trennen wir uns,« sagte Holmes, »der Ort ist einsam.«
Es war der Boulevard Viktor Hugo. Jeder von ihnen benutzte ein Trottoir und ging längs der Baumreihen vorwärts.
So schritten sie zwanzig Minuten lang, bis Lupin sich nach links wandte und am Ufer der Seine weiterging. Dort bemerkten sie, wie er zum Fluß hinabging. Er blieb dort einige Sekunden, ohne daß sie erkennen konnten, was er da machte. Dann kam er die Böschung wieder herauf und ging weiter. Lupin schritt vor ihnen. Er hatte kein Paket mehr.
Wie er sich nun entfernte, trat ein anderes Individuum aus einer Hausnische heraus und schlich sich durch die Bäume.
Holmes sagte leise:
»Es sieht so aus, als folgte er ihm auch.«
»Ja, das ist mir gleich so vorgekommen.«
Die Jagd begann von neuem, war aber kompliziert durch die Anwesenheit des Individuums. Lupin nahm denselben Weg zurück, ging abermals durch die Porte des Ternes und begab sich wieder in das Haus an der Place Saint-Ferdinand.
Der Portier schloß zu, als Ganimard erschien.
»Sie haben ihn gesehen, nicht wahr?«
»Ja, ich drehte eben das Gas auf der Treppe ab; er hat seine Tür zugeriegelt.«
»Ist niemand bei ihm?«
»Niemand ... kein Dienstbote ... er speist außerhalb.«
»Es gibt keine Hintertreppe?«
»Nein.«
Ganimard sagte zu Holmes:
»Das einfachste ist, ich postiere mich vor Lupins Tür, während Sie den Polizeikommissar von der Rue Demours holen. Ich gebe Ihnen eine Zeile mit.«
Holmes entgegnete:
»Und wenn er inzwischen entwischt?«
»Ich bleibe ja hier!«
»Einer gegen einen! Der Kampf ist ungleich mit ihm!«
»Ich kann ja doch nicht in seine Wohnung eindringen. Dazu habe ich kein Recht, besonders des Nachts.«
Holmes zuckte mit den Schultern.
»Haben Sie erst einmal Lupin arretiert, so wird man Sie nicht wegen der Umstände schikanieren, unter denen die Verhaftung stattfand. Übrigens, was ist denn? Es handelt sich doch bloß um ein Klingeln. Dann werden wir ja sehen, was geschieht.«
Sie gingen hinauf. Links vom Treppenflur befand sich eine zweiflügelige Tür. Ganimard läutete. Kein Geräusch. Er läutete wieder. Niemand.
»Gehen wir hinein«, flüsterte Holmes.
»Ja, gehen wir.«
Sie blieben aber nach einer Weile unentschlossen stehen. Wie Leute, die vor einer entscheidenden Tat schwanken, fürchteten sie das Handeln, und es erschien ihnen plötzlich unmöglich, daß Lupin dort wäre, so in ihrer Nähe, nur durch eine zerbrechliche Wand von ihnen getrennt, die ein Faustschlag zerschmettern konnte. Sie kannten beide diese diabolische Persönlichkeit zu gut, um anzunehmen, daß er sich auf so dumme Weise fassen ließe. Durch angrenzende Häuser, durch einen rechtzeitig vorgesehenen Ausgang war er wahrscheinlich wiederum entwichen, und man würde gewiß nur Lupins Schatten ergreifen.
Ein Schauer überlief sie. Kaum hörbarer Lärm, der von der anderen Seite der Tür kam, hatte leicht die Stille gestreift. Sie hatten jetzt den Eindruck, ja die Gewißheit, daß er dennoch da wäre, nur durch die dünne Holzwand von ihnen getrennt, daß er sie hörte und verstände.
Was tun? Die Situation war gefährlich. Trotz ihres kalten Blutes waren die alten routinierten Polizeileute in solcher Aufregung, daß sie die Schläge ihres Herzens zu verspüren meinten.
Mit einem Augenzwinkern fragte Ganimard Holmes um Rat. Dann schlug er heftig mit der Faust an die Tür.
Jetzt hörte man ein Geräusch von Schritten, das sich nicht mehr zu verbergen suchte.
Ganimard stemmte sich gegen die Tür. Holmes half energisch mit dem Druck seiner Schulter nach, und alle beide stürmten hinein.
Auf einmal machten sie halt. Ein Schuß krachte in dem Zimmer nebenan. Dann noch einer, und man hörte, wie ein Körper zu Boden fiel.
Als sie eintraten, sahen sie den Mann mit dem Gesicht nach dem Marmor des Kamins daliegen. Er zuckte noch. Der Revolver glitt ihm aus der Hand.
Ganimard bückte sich und drehte den Kopf des Toten. Er war mit Blut bedeckt, das aus zwei Wunden in der Wange und in der Schläfe rann.
»Er ist unkenntlich«, flüsterte er.
»Verdammt,« rief Holmes, »das ist er ja gar nicht.«
»Wieso wissen Sie das? Sie haben ihn ja noch gar nicht angesehen?«
Der Engländer spottete:
»Glauben Sie, daß Arsène Lupin der Mensch ist, der sich tötet?«
»Wir meinten ihn aber doch draußen zu erkennen.«
»Wir glaubten es, weil wir es glauben wollten. Wir sind von diesem Manne wie besessen.«
»Dann ist es einer seiner Komplicen.«
»Die Komplicen Arsène Lupins töten sich auch nicht.«
»Wer ist es sonst?«
Sie untersuchten den Leichnam. In einer Tasche fand Sherlock Holmes ein leeres Portefeuille, in der anderen fand Ganimard einige Goldstücke. In der Wäsche kein Merkzeichen, an der Kleidung auch nicht.
In dem Gepäck – es bestand aus einem großen und zwei kleinen Koffern – war weiter nichts als Reiseeffekten. Auf dem Kamin lag ein Stoß Zeitungen. Ganimard machte sie auf. Alle sprachen von dem Diebstahl der jüdischen Lampe.
Als eine Stunde später Ganimard und Holmes sich zurückzogen, wußten sie weiter nichts von der merkwürdigen Persönlichkeit, als daß ihr Einschreiten zu einem Selbstmord geführt hatte.
Wer war es? Warum hatte er sich getötet? Auf welche Weise stand er mit der Affäre von der jüdischen Lampe in Verbindung?
Wer war es, der bei seinem Spaziergang hinter ihm hergegangen war? Soviel Fragen, soviel Rätsel.
*
Sherlock Holmes legte sich in sehr schlechter Laune zu Bett. Bei seinem Erwachen empfing er folgende Rohrpostkarte:
Arsène Lupin gibt sich die Ehre, Sie von seinem tragischen Tode in der Person des Herrn Bresson zu benachrichtigen, und bittet Sie, seiner Trauerfeier, seinem Leichenzuge und seiner Beerdigung beizuwohnen, die Donnerstag, den 25. Juni, auf Staatskosten stattfinden wird.
»Sehen Sie, alter Kamerad!« sagte Holmes zu Wilson, indem er mit Arsène Lupins Depesche fuchtelte, »das Auge dieses Satankerles ruht beständig auf mir. Keiner meiner geheimsten Gedanken entgeht ihm. Ich handle wie ein Schauspieler, von dem jeder Schritt durch eine sorgfältige Inszenierung geregelt ist, der soundso geht und soundso spricht, weil ein höherer Wille es wollte. Verstehen Sie, Wilson?«
Wilson würde sicherlich verstanden haben, wenn er nicht den tiefen Schlaf eines Mannes geschlafen hätte, dessen Temperatur zwischen 40 und 41° schwankt. Doch ob er ihn hörte oder nicht, war für Holmes ganz einerlei. Er fuhr fort:
»Ich muß meine ganze Energie zusammennehmen und alle meine Kräfte, um nicht mutlos zu werden. Zum Glück sind für mich all diese kleinen Foppereien lauter Nadelstiche, die mich anspornen. Wenn der Schmerz nachgelassen und die Wunde der Eigenliebe sich wieder geschlossen hat, dann sage ich schließlich: Amüsiere dich nur, mein Lieber. Früher oder später wirst du dich schon selbst verraten! Denn sehen Sie, Wilson, am Ende ist es doch Lupin, der mit seiner ersten Depesche und durch die Gedanken, die er der kleinen Henriette suggeriert hat, mir das Geheimnis seiner Korrespondenz mit Alice Demun verriet. Dieses dürfen Sie nicht vergessen, alter Kamerad.«
Auf die Gefahr hin, den alten Kameraden aufzuwecken, ging er mit dröhnenden Schritten im Zimmer auf und ab.
»Im Grunde genommen geht es ja ganz gut, und wenn die Pfade, denen ich folgen muß, ein wenig dunkel sind, so fange ich doch schon an, mich ein bißchen zurechtzufinden. Zunächst muß ich mir Gewißheit über diesen Bresson verschaffen. Ganimard und ich haben ein Rendezvous am Ufer der Seine, da, wo Bresson sein Paket fortgeworfen hat, und die Rolle des Herrn wird uns bald bekannt sein. Alles übrige ist eine Partie, die zwischen Alice Demun und mir gespielt werden muß. Der Gegner ist nicht allzu gefährlich, was, Wilson? Meinen Sie nicht auch, daß ich binnen kurzem die Phrase des Albums wissen werde, sowie die Bedeutung der beiden Buchstaben C und H? Denn darauf kommt alles an, Wilson.«
Das junge Mädchen trat in diesem Augenblick herein, und als sie den gestikulierenden Holmes bemerkte, sagte sie anmutig zu ihm:
»Herr Holmes, ich werde Sie noch schelten, wenn Sie mir meinen Kranken aufwecken. Es ist nicht hübsch von Ihnen, wenn Sie ihn stören. Der Doktor verlangt absolute Ruhe.«
Er betrachtete sie wortlos und war wie am ersten Tage über ihre unerklärliche Ruhe erstaunt.
»Was haben Sie mich nur immer anzuschauen, Herr Holmes? Oder etwa nicht? Aber ja ... Mir scheint, Sie haben einen Hintergedanken ... Welchen? Ich bitte, antworten Sie.«
Sie fragte ihn mit ihrem ganz offenen Gesicht, mit ihren naiven Augen, mit ihrem lächelnden Munde, mit ihrer ganzen Haltung, mit ihren gefalteten Händen, mit ihrer leichten, nach vorn geneigten Büste. Es lag so viel Unschuld in ihr, daß der Engländer darüber zornig wurde. Er näherte sich ihr und sagte leise:
»Bresson hat sich gestern abend getötet!«
Sie wiederholte, ohne ihn scheinbar zu verstehen:
»Bresson hat sich gestern abend getötet ...«
In der Tat trübte kein Zucken ihr Gesicht; nichts verriet die Bemühung zur Lüge.
»Sie waren schon benachrichtigt,« sagte er erregt zu ihr, »... sonst würden Sie zum mindesten gezittert haben ... Ah, Sie sind stärker, als ich geglaubt habe ... Aber wozu verstellen Sie sich nur?«
Er nahm das illustrierte Album, das er soeben vom benachbarten Tisch aufgehoben hatte, und schlug die Stelle mit der ausgerissenen Seite auf.
»Können Sie mir sagen, in welcher Reihenfolge man die Buchstaben stellen muß, die hier fehlen, um den genauen Wortlaut des Briefchens zu erhalten, das Sie vier Tage vor dem Diebstahl der Judenlampe an Bresson geschickt haben?«
»In welcher Reihenfolge? ... Bresson? ... Diebstahl der Judenlampe? ...«
Sie wiederholte die Worte langsam, wie um ihren Sinn zu erfassen.
Er ließ nicht nach.
»Ja, hier sind die angewandten Buchstaben ... auf diesem Stück Papier ... Was schrieben Sie an Bresson?«
»Die angewandten Buchstaben? ... Was ich schrieb? ...«
Auf einmal lachte sie hell auf.
»Aha! Ich verstehe! Ich bin Mitschuldige am Diebstahl! Ein gewisser Herr Bresson hat die Judenlampe gestohlen und sich das Leben genommen. Und ich, ich bin die Freundin dieses Herrn. Oh, wie amüsant ist das!«
»Wen haben Sie denn gestern abend im zweiten Stock eines Hauses der Avenue des Ternes besucht?«
»Wen? Ja, meine Modistin, Fräulein Langeais. Sollte am Ende gar meine Modistin und mein Freund Herr Bresson ein und dieselbe Person sein?«
Trotz allem – Holmes zweifelte. Man kann sich derart verstellen, daß man der Reihe nach Schreck, Freude, Unruhe, alle Gefühle heuchelt; aber man kann keine Gleichgültigkeit heucheln, kein glückliches, sorgloses Lächeln.
Indessen, er sagte noch zu ihr:
»Ein letztes Wort: Warum haben Sie mich neulich abend am Nordbahnhof angeredet? Und warum haben Sie mich flehentlich gebeten, sofort wieder abzureisen und mich nicht mit dem Diebstahl zu befassen?«
»Ach, Sie sind aber wirklich zu neugierig, Herr Holmes!« sagte sie, immer lächelnd im natürlichsten Tone von der Welt. »Zur Strafe sollen Sie gar nichts erfahren und außerdem den Kranken pflegen, während ich zum Apotheker gehe ... ein eiliges Rezept ... ich gehe.«
Und sie ging.
»Ich bin reingefallen«, murmelte Holmes. »Ich habe nicht nur von ihr nichts herausbekommen, sondern habe mich noch obendrein verraten.«
Er erinnerte sich an die Affäre mit dem blauen Diamanten und an das Verhör, dem er Klothilde Destange unterzogen hatte. War ihm nicht die blonde Dame mit derselben Heiterkeit entgegengetreten? Und stand er nicht wiederum einem jener Wesen gegenüber, die unter dem Schutze Arsène Lupins, unter der direkten Macht seines Einflusses in der Herzensangst der Gefahr die erstaunlichste Ruhe bewahren?
»Holmes ... Holmes ...«
Er näherte sich Wilson, der ihn rief, und beugte sich über ihn.
»Was ist's, alter Kamerad? Tut etwas weh?«
Wilson bewegte die Lippen, ohne antworten zu können. Endlich, nach großen Anstrengungen, stammelte er: »Nein, Holmes ... sie ist es nicht ... unmöglich, daß sie es ist.«
»Was Sie mir da erzählen! Und ich sage Ihnen, daß sie es doch ist. Nur gegenüber einer Kreatur Lupins, einem von ihm abgerichteten und angelernten Geschöpfe kann ich den Kopf verlieren und so dumm handeln ... Die da kennt die ganze Geschichte des Albums ... Ich wette, bevor eine Stunde vergeht, ist Lupin benachrichtigt. Eine Stunde? Was sage ich, sofort! Der Apotheker, das eilige Rezept ... leeres Gerede!«
Er verschwand eiligst, ging die Avenue de Messine herunter und bemerkte, wie Fräulein Demun in eine Apotheke trat. Zehn Minuten später kam sie mit Flaschen und Fläschchen, die in weißes Papier eingewickelt waren, wieder heraus. Als sie nun die Avenue wieder zurückging, wurde sie von einem Manne angesprochen, der ihr mit der Mütze in der Hand und demütigen Blickes folgte, wie wenn er ein Almosen verlangte. Sie blieb stehen, schenkte ihm etwas und ging dann wieder ihres Weges.
»Sie hat mit ihm gesprochen«, sagte der Engländer.
Es war nicht sowohl eine Gewißheit als eine starke Ahnung, was ihn veranlaßte, seine Taktik zu ändern. Er gab das junge Mädchen auf und verfolgte die Spur des falschen Bettlers.
So gingen sie, der eine hinter dem anderen, bis zur Place Saint-Ferdinand, und der Mensch schlich sich lange um Bressons Haus herum, blickte manchmal nach den Fenstern des zweiten Stockes hinauf und beobachtete die Leute, die ins Haus gingen.
Nach einer Stunde stieg er auf das Deck einer Trambahn, der in der Richtung nach Neuilly fuhr. Holmes stieg gleichfalls auf und setzte sich hinter das Individuum, und zwar ein wenig weiter nach der Treppe als dieses und neben einen Herrn, den die geöffneten Blätter seiner Zeitung verbargen. Draußen bei den Forts senkte sich die Zeitung, Holmes erkannte Ganimard, und Ganimard sagte ihm, indem er auf das Individuum deutete, ins Ohr:
»Das ist der Mann von gestern, der hinter Bresson herging. Vor einer Stunde trieb er sich auf dem Platz herum.«
»Nichts Neues bezüglich Bresson?« fragte Holmes.
»Doch, ein Brief ist heute morgen an seine Adresse gekommen.«
»Heut morgen? Also ist er gestern zur Post gegeben worden, bevor der Absender von Bressons Tod wußte.«
»Ganz recht. Er befindet sich in den Händen des Untersuchungsrichters. Aber ich habe mir den Wortlaut gemerkt:
»Er läßt sich auf keine Transaktion ein. Er will alles, die erste Sache sowohl als diejenigen der zweiten Affäre. Wenn nicht, handelt er.«
»Und keine Namensunterzeichnung«, fügte Ganimard hinzu. »Wie Sie sehen, werden uns die paar Zeilen nicht viel nützen.«
»Ich bin durchaus nicht Ihrer Meinung, Herr Ganimard, diese paar Zeilen halte ich im Gegenteil für sehr interessant.«
»Ja, wieso denn, mein Gott?«
»Aus ganz persönlichen Gründen«, antwortete Holmes mit der Ungeniertheit, die er seinem Kollegen gegenüber zu bekunden pflegte.
Die Trambahn hielt in der Rue de Chateau an der Endstation. Das Individuum stieg aus und ging ruhig seines Weges.
Holmes folgte ihm so nahe, daß Ganimard erschrak.
»Dreht er sich um, sind wir verraten.«
»Er wird sich jetzt nicht umdrehen.«
»Woher wissen Sie das?«
»Er ist ein Komplice Arsène Lupins, und der Umstand, daß ein Komplice Lupins so mit den Händen in den Hosentaschen geht, zeigt zunächst, daß er sich verfolgt weiß, und zweitens, daß er nichts fürchtet.«
»Wir sind aber doch so dicht hinter ihm.«
»Nicht dicht genug, daß er uns nicht jeden Augenblick durch die Finger gehen könnte. Er ist seiner zu sicher.«
»Das wollen wir doch einmal sehen! Da unten an der Tür jenes Cafés sind zwei Polizeibeamte zu Rad. Wenn ich sie kommen und den Menschen anreden lasse, so möchte ich wissen, wie er uns durch die Finger gehen sollte.«
»Der Mensch scheint sich über diese Eventualität nicht sehr aufzuregen. Er fragt sie eben selbst.«
»Verdammt noch eins,« rief Ganimard, »der hat Geistesgegenwart.«
Das Individuum war tatsächlich auf die beiden Beamten zugegangen, und zwar in dem Augenblick, wo diese ihre Zweiräder bestiegen. Er sagte einige Worte zu ihnen, schwang sich darauf auf ein drittes Rad, das an der Mauer des Cafés lehnte, und entfernte sich eilends mit den beiden Beamten.
Der Engländer platzte heraus:
»Na, hatte ich's vorausgesagt? Eins, zwei, drei entwischt! Und mit wessen Hilfe? Mit zweien Ihrer Kollegen, Herr Ganimard. Ha, er macht's gut, der Arsène Lupin! Hat Polizeibeamte zu Rade in seinem Solde! Hatte ich's Ihnen nicht gesagt, daß der Mensch sich viel zu ruhig benahm?«
»Aber was sollte ich denn tun?« rief Ganimard ärgerlich. »Lachen kann jeder.«
»Schon gut, schon gut, ärgern Sie sich nicht. Man wird sich schon revanchieren. Zunächst brauchen wir Verstärkung.«
»Folenfant erwartet mich am Ende der Straße nach Neuilly.«
»Nun gut, holen Sie ihn im Vorbeigehen ab, und kommen Sie dann wieder zu mir.«
Ganimard entfernte sich, während Holmes die Spuren der Fahrräder verfolgte, die auf dem Staube der Landstraße um so leichter zu erkennen waren, als zwei von den Maschinen gestreifte Pneumatiks hatten. Er bemerkte bald, daß diese Spuren zum Ufer der Seine führten, und daß die drei Männer nach derselben Richtung gefahren waren, die Bresson am vergangenen Abend eingeschlagen hatte. So kam er an den Zaun, hinter dem er sich mit Ganimard verborgen hatte, und etwas weiter konstatierte er eine Vermengung der gestreiften Linien, was ihm bewies, daß man an diesem Orte haltgemacht hatte. Gerade gegenüber befand sich eine kleine Landzunge, die in die Seine hineinreichte und an deren Spitze eine alte Barke lag.
Dort mußte Bresson sein Paket weggeworfen oder vielmehr fallen gelassen haben. Holmes stieg die Böschung hinab und sah, daß, da die Böschung sich sehr sanft senkte und das Wasser des Flusses seicht war, er das Paket leicht wiederfinden würde, falls die drei Männer ihm nicht bereits zuvorgekommen waren.
»Nein, nein,« sagte er sich, »sie haben dazu keine Zeit gehabt, ... höchstens eine Viertelstunde ... und doch, warum sind sie dahin gegangen?«
Ein Schiffer war in der Barke. Holmes fragte ihn:
»Haben Sie nicht drei Männer zu Rad bemerkt?«
Der Fischer machte eine verneinende Bewegung.
Der Engländer blieb dabei:
»Aber ja ... drei Männer ... Sie haben eben kaum zwei Schritt von Ihnen gestanden ...«
Der Fischer nahm sein Angelzeug unter den Arm, zog aus seiner Tasche ein Notizbuch, schrieb auf eine Seite etwas, riß sie heraus und gab sie Holmes.
Ein Schauer schüttelte den Engländer. Auf den ersten Blick sah er mitten auf dem Blatt, das er in der Hand hielt, die Reihenfolge der herausgerissenen Buchstaben des Albums:
CDEHNOPRZEO – 237.
*
Heiß brannte die Sonne auf den Fluß nieder. Der Mann hatte unter der breiten Krempe seines Strohhutes seine Beschäftigung wieder aufgenommen. Sein Rock und seine Weste lagen neben ihm. Er angelte aufmerksam, während der Korkschwimmer seiner Leine auf der Wasserfläche hin und her schwamm.
Es verging wohl eine Minute, eine Minute feierlichen und schrecklichen Schweigens.
Ist er es? dachte Holmes mit fast schmerzlicher Angst.
Und plötzlich kam ihm die Einleuchtung:
Er ist's! Er ist's! Er allein ist imstande, ohne ein Zeichen von Unruhe zu bleiben, ohne zu fürchten, was nun kommen wird ... Und wer sonst konnte um die Geschichte des Albums wissen? Alice hat ihn durch ihren Boten benachrichtigt.
Auf einmal merkte der Engländer, wie seine Hand, seine eigene Hand, den Kolben seines Revolvers gefaßt hatte und wie seine Augen sich auf den Rücken des Individuums ein wenig unterhalb des Nackens richteten. Eine Bewegung, und das ganze Drama wickelte sich ab, das Leben des seltsamen Abenteurers war kläglich beendet.
Der Fischer rührte sich nicht.
Holmes umklammerte nervös seine Waffe mit der wilden Lust zu schießen und ein Ende zu machen. Aber gleichzeitig schreckte er vor einer Handlung zurück, die seiner Natur widerstrebte. Der Tod war gewiß. Alles würde aus sein.
Ha, dachte er, möchte er nur aufstehen, möchte er sich nur verteidigen ... wenn nicht, um so schlimmer für ihn ... Eine Sekunde noch ... und ich schieße.
Das Geräusch von Schritten ließ ihn den Kopf wenden, und er bemerkte Ganimard, der in Begleitung von Polizeiinspektoren vorbeikam.
Da änderte er plötzlich seine Absicht, nahm einen Anlauf, sprang mit einem Satz in die Barke, deren Strick durch den kräftigen Stoß zerriß, stürzte sich auf den Mann und umfaßte ihn mit beiden Armen. Alle beide fielen auf den Boden des Kahnes.
»Und jetzt? ...« rief Lupin, indem er sich mit ihm herumbalgte, »was beweist das? Wenn der eine von uns den anderen kampfunfähig gemacht haben wird, was hat er davon! Sie wissen nicht, was Sie mit mir, ich nicht, was ich mit Ihnen anfangen soll. Wir werden hier wie die Tröpfe liegenbleiben ...«
Die beiden Ruder fielen ins Wasser. Die Barke glitt die Strömung entlang, Rufe ertönten vom Ufer her, und Lupin fuhr fort:
»Was sind das für Geschichten, edler Herr! Haben Sie denn den Verstand verloren? ... Solche Dummheiten in Ihrem Alter! Und ein großer Bengel wie Sie! Pfui, wie gemein.«
Es gelang ihm, sich freizumachen.
Wütend, zu allem entschlossen, fuhr Holmes mit der Hand in seine Tasche. Er stieß einen Fluch aus. Lupin hatte ihm seinen Revolver genommen.
Da warf er sich auf die Knie und versuchte eines der Ruder zu erfassen, um ans Ufer zu kommen, während Lupin das andere zu ergreifen suchte, um wieder in die Strömung zu gelangen.
Mag er's bekommen ... oder nicht bekommen, dachte Lupin. Daran ist nicht viel gelegen ... »Wenn Sie Ihr Ruder haben, hindere ich Sie, es zu gebrauchen ... Und Sie ebenso mich. So geht's halt im Leben, man bemüht sich, zu handeln ... Ohne den geringsten Grund, denn immer entscheidet das Schicksal ... da, Sie sehen ja das Schicksal, ... es entscheidet sich für seinen alten Lupin ... Sieg! Die Strömung ist mir günstig!«
In der Tat zeigte das Boot das Bestreben, sich zu entfernen.
»Nehmen Sie sich in acht«, schrie Lupin.
Jemand am Ufer feuerte einen Revolver ab. Er senkte den Kopf, ein Knall ertönte, ein bißchen Wasser spritzte dicht bei ihnen auf. Lupin fing laut an zu lachen.
»Gott verzeih mir, das ist Freund Ganimard! ... Das ist aber sehr schlimm, was Sie da tun, Ganimard. Sie haben nur das Recht, in der Notwehr zu schießen. Macht Sie denn der arme Arsène so wild, daß Sie alle Ihre Pflichten vergessen? ... Aha, da tut er's noch einmal ... Sie Unglücklicher, Sie werden meinen lieben Meister noch treffen.«
Er stellte sich kerzengrade in die Barke auf und deckte Holmes mit seinem Leibe.
»Gut, jetzt bin ich zufrieden. Hier, Ganimard, zielen Sie nur mitten auf mein Herz ... höher ... links ... Wieder gefehlt ... Ungeschickter Tölpel! ... Noch einmal? ... Ja, Sie zittern, Ganimard? ... Eins, zwei, drei ... Wieder gefehlt! Donnerwetter, gibt euch denn die Regierung Kinderspielzeug als Pistolen?«
Er langte einen großen Revolver hervor und schoß, ohne zu zielen. Der Inspektor faßte mit der Hand nach seinem Hute: eine Kugel hatte ihn durchlöchert.
»Was sagen Sie dazu, Ganimard? Das kommt aus einer guten Fabrik. Salutieren Sie, meine Herren, das ist der Revolver meines edlen Freundes, Meister Holmes.«
Und mit einer Armbewegung schleuderte er die Waffe Ganimard zu Füßen. Holmes konnte sich nicht enthalten, lächelnd zu bewundern. Welch ein überschäumendes Leben! Und wie er sich zu amüsieren schien! Man hätte meinen können, daß die Sensation der Gefahr ihm eine physische Freude machte, und daß das Dasein für diesen außerordentlichen Mann keinen anderen Zweck hätte, als Gefahren aufzusuchen, die wieder zu beschwören ihm Vergnügen bereitete.
Auf jeder Seite des Flusses sammelten sich Menschen an, und Ganimard und seine Leute verfolgten das Fahrzeug, das sich, sanft von der Strömung getrieben, mitten auf dem Flusse schaukelte. Das bedeutete mit mathematischer Gewißheit die unvermeidliche Gefangennahme.
»Gestehen Sie, Meister,« rief Lupin, indem er sich nach dem Engländer umdrehte, »Sie würden nicht für alles Gold Transvaals Ihren Platz hergeben. Sie befinden sich eben in der ersten Fauteuilreihe! – Aber zunächst und vor allem der Prolog, worauf wir sofort zum fünften Akte, der Gefangennahme oder Flucht Arsène Lupins übergehen werden. Also, lieber Meister, ich habe eine Frage an Sie zu richten. Und bitte Sie, zur Vermeidung aller Zweideutigkeiten darauf mit einem Ja oder Nein zu antworten. Verzichten Sie darauf, sich mit dieser Affäre zu befassen? Es ist noch Zeit, und ich kann noch wieder gutmachen, was Sie Schlimmes angerichtet haben. Später werde ich es nicht mehr können. Sind Sie einverstanden?«
»Nein.«
Lupin verzog das Gesicht. Ersichtlich ärgerte er sich über diesen Eigensinn. Er fuhr fort:
»Ich bestehe darauf. Mehr noch Ihret- als meinetwegen bestehe ich darauf, weil ich überzeugt bin, daß Sie der erste sein werden, der Ihre Einmischung bedauert. Also zum letzten Male: Ja oder Nein?«
»Nein.«
Lupin bückte sich, nahm einige von den Planken des Bodens weg und führte fünf Minuten lang eine Arbeit aus, deren Natur Holmes nicht zu erkennen vermochte. Dann erhob er sich wieder, setzte sich neben den Engländer und hielt folgende Ansprache an ihn:
»Ich glaube, Meister, wir sind aus gleichen Gründen ans Ufer dieses Flusses gekommen, nämlich, um den Gegenstand wieder aufzufischen, dessen sich Bresson entledigt hat. Ich für meinen Teil hatte einigen Kameraden ein Rendezvous gegeben, und war gerade daran – mein ganzes Kostüm beweist es –, eine kleine Forschung in den Tiefen der Seine anzustellen, als mir meine Freunde Ihr Kommen meldeten. Ich gestehe Ihnen übrigens, daß ich darüber nicht erstaunt war, denn ich kann sagen, ich war von Stunde zu Stunde von den Fortschritten Ihrer Untersuchung benachrichtigt. Das ist ja so einfach! Sobald in der Rue Murillo das Geringste vorgeht, was mich interessieren kann, dann schnell ein Telephon anläuten, und ich bin auf dem laufenden. Sie begreifen, daß unter solchen Umständen ...«
Er hielt inne. Die Planke, die er entfernt hatte, hob sich jetzt, und ringsum sickerte das Wasser in kleinen Strahlen herein.
»Teufel, ich weiß nicht, was ich da getan habe, aber ich habe Grund zu glauben, daß in dieser kleinen Barke ein kleines Leck ist. Haben Sie keine Furcht, Meister?«
Holmes zuckte mit den Schultern. Lupin fuhr fort:
»Sie werden also begreifen, daß unter solchen Umständen, und da ich im voraus wußte, daß Sie den Kampf um so eifriger suchen würden, als ich mich bemühte, ihn zu vermeiden, es mir noch angenehmer war, Sie zu einer Partie einzuladen, deren Ausgang für mich gewiß ist, da ich alle Trümpfe in Händen habe. Und so habe ich unserem Zusammenstoß ein möglichst großes Aussehen geben wollen, damit Ihre Niederlage allgemein bekannt würde, und nicht wieder so eine Gräfin Crozon oder so ein Baron Imblevalle in Versuchung käme, Ihre Hilfe gegen mich in Anspruch zu nehmen. Ersehen Sie daraus übrigens, lieber Meister ...«
Er unterbrach sich abermals, und, indem er sich seiner halbgeschlossenen Hände als Augengläser bediente, beobachtete er die Ufer.
»Donnerwetter, sie haben ein herrliches Boot gechartert, ein wahres Kriegsschiff, und nun rudern sie mit aller Gewalt los. Binnen fünf Minuten werden sie uns eingeholt haben, und ich bin verloren. Herr Holmes, einen Rat: Sie werfen sich auf mich, fesseln mich und liefern mich der Gerechtigkeit meines Landes aus ... Gefällt Ihnen dieses Programm? ... Unter der Voraussetzung natürlich, daß wir bis dahin keinen Schiffbruch erlitten haben, in welchem Falle uns nichts anderes übrigbliebe, als unser Testament zu machen. Wie denken Sie darüber?«
Ihre Blicke kreuzten sich.
Jetzt erklärte sich Holmes Lupins Manöver von vorhin: er hatte ein Loch in den Boden der Barke gebohrt. Unaufhörlich drang das Wasser ein.
Es stieg bis an die Sohlen ihrer Schuhe. Es bedeckte ihre Füße; sie machten keine Bewegung.
Es ging ihnen bis über die Knöchel; der Engländer nahm seinen Tabaksbeutel heraus, rollte sich eine Zigarette und zündete sie an.
Lupin fuhr fort:
»Ersehen Sie daraus, lieber Meister, nichts anderes als das bescheidene Eingeständnis meiner Ohnmacht Ihnen gegenüber. Wenn ich nur solche Schlachten von Ihnen annehme, wo der Sieg mir sicher ist, und solche vermeide, wo ich nicht selbst den Kampfplatz gewählt habe, so bedeutet das, daß ich mich vor Ihnen beuge. Es besagt, daß ich Holmes als den einzigen Feind anerkenne, den ich zu fürchten habe, und daß ich unruhig bin, solange er meinen Weg kreuzt. Das, lieber Meister, wollte ich Ihnen sagen, da das Schicksal mir die Ehre einer Unterhaltung mit Ihnen gestattet. Ich bedauere nur eines, nämlich, daß diese Unterhaltung stattfindet, während wir ein Fußbad nehmen ... eine Situation, die, ich gebe es zu, der Würde entbehrt ... Was sagte ich, ein Fußbad? ... schon mehr ein Sitzbad.«
Das Wasser kam tatsächlich schon bis zur Bank, worauf sie saßen, und die Barke sank mehr und mehr. Holmes, unerschütterlich die Zigarette zwischen den Lippen, schien in die Betrachtung des Himmels versunken. Um nichts in der Welt hätte er gegenüber diesem von Gefahren umgebenen, von der Menge umringten, von der Meute der Polizei gehetzten Manne, der trotzdem seine gute Laune nicht verlor, um nichts in der Welt hätte er ihm gegenüber die geringste Aufregung zeigen wollen.
Sie schienen beide sagen zu wollen: Warum regt man sich über solche Nichtigkeiten auf? Passiert es nicht alle Tage, daß einer im Flusse ertrinkt? Sind das Ereignisse, die soviel Aufmerksamkeit verdienen? Und indem so der eine plauderte, der andere träumte, verbargen beide unter der Maske der Gleichgültigkeit die schreckliche Nervenanspannung ihres Stolzes.
Eine Minute noch, und sie würden ins Wasser sinken.
»Das Wesentliche ist,« sagte Lupin, »zu wissen, ob wir vor oder nach der Ankunft der Kämpen der Gerechtigkeit ins Wasser sinken werden. Darauf kommt alles an. Der Schiffbruch selbst ist nicht mehr fraglich. Meister, es ist die feierliche Stunde des Testaments. Ich vermache all mein Vermögen dem englischen Bürger Sherlock Holmes mit der Verpflichtung, daß er ... Mein Gott, wie schnell sie herankommen, die Kämpen der Gerechtigkeit! Ah, die braven Leute! Ein Vergnügen, ihnen zuzuschauen. Welche Exaktheit in der Handhabung der Ruder! Sieh da den Brigadier Folenfant. Bravo! Die Idee mit dem Kriegsschiff ist ausgezeichnet! Ich werde Sie Ihren Vorgesetzten empfehlen, Brigadier Folenfant ... Wünschen Sie die Medaille? Einverstanden ... abgemacht. Und wo ist denn Ihr Kamerad Dieuzy? Am linken Ufer, nicht wahr? Mitten unter etwa hundert Menschen? ... Wenn ich mich also aus dem Schiffbruch rette, so werde ich auf der Linken von Dieuzy und seinen Leuten, und rechts von Ganimard und der Bevölkerung von Neuilly in Empfang genommen. Widerwärtiges Dilemma ...«
Es entstand ein Strudel. Die Barke drehte sich um sich selbst, und Holmes mußte sich am Ruderring festhalten.
»Meister,« sagte Lupin, »ich flehe Sie an, ziehen Sie Ihren Rock aus. Sie werden leichter schwimmen können. Nein? Sie wollen nicht? Dann ziehe ich auch meinen wieder an.«
Er streifte seinen Rock über. Knöpfte ihn fest zu wie Holmes Rock und seufzte:
»Was sind Sie doch für ein eigensinniger Mensch! Und wie schade, daß Sie sich in eine Angelegenheit verbohrt haben ... worin Sie ja allerdings einen Beweis Ihrer Fähigkeiten, aber doch so ganz vergeblich zeigen! Ja wirklich, Sie vergeuden Ihr schönes Talent.«
»Herr Lupin,« sagte endlich Holmes, seiner Stummheit müde, »Sie reden viel zuviel und sündigen oft durch ein Übermaß von Vertrauen und Leichtsinn.«
»Ein schwerer Vorwurf.«
»So haben Sie mir eben, ohne es zu wissen, eine Auskunft gegeben, die ich suchte.«
»Wie? Sie suchten eine Auskunft und sagten es mir nicht?«
»Ich brauche niemand. In drei Stunden werde ich des Rätsels Lösung Herrn und Frau von Imblevalle übergeben. Das ist die einzige Antwort, die ...«
Er vollendete seinen Satz nicht. Die Barke war plötzlich gekentert und hatte sie beide mitgezogen. Sie tauchte bald kieloben wieder auf. Ein großes Geschrei auf beiden Ufern entstand, dann trat ein angstvolles Schweigen ein. Darauf gab's ein neues Geschrei: einer der Schiffbrüchigen war wieder zum Vorschein gekommen.
Es war Sherlock Holmes.
Ein ausgezeichneter Schwimmer, kam er mit kräftigen Armbewegungen auf Folenfants Kahn zu.
»Nur Mut, Herr Holmes,« schrie der Brigadier, »wir sind ja da ... Nicht schwach werden ... Ihn wird man nachher suchen ... Nur vorwärts, wir haben ihn schon ... Noch eine kleine Anstrengung, Herr Holmes ... Greifen Sie nach dem Strick.«
Der Engländer faßte den Strick, den man ihm reichte. Doch während er an Bord gezogen wurde, fragte ihn eine Stimme:
»Des Rätsels Lösung, liebster Meister, ja, die sollen Sie haben. Ich wundere mich sogar, daß Sie sie noch nicht haben ... Und dann? Was soll sie Ihnen? Gerade dann wird die Schlacht für Sie verloren sein.«
Rittlings auf dem Kiel, den er soeben redend erklettert hatte, saß jetzt Arsène Lupin sehr bequem und setzte unter feierlichen Gesten seine Ansprache fort, als ob er seinen Partner noch zu überzeugen hoffte.
»Begreifen Sie doch, lieber Meister, es ist nichts zu machen, absolut nichts ... Sie befinden sich in der bedauernswerten Lage eines Herrn, der ...«
Folenfant legte auf ihn an. »Ergeben Sie sich, Lupin.«
»Sie sind ein Tolpatsch, Brigadier Folenfant, Sie haben mich mitten in einem Satze unterbrochen ... Ich sagte also ...«
»Ergeben Sie sich, Lupin.«
»Ja, zum Donnerwetter, Brigadier Folenfant, man ergibt sich doch erst, wenn man in Gefahr ist. Sie glauben doch hoffentlich nicht, daß ich in der geringsten Gefahr schwebe.«
»Zum letzten Male, Lupin, fordere ich Sie auf, sich zu ergeben.«
»Brigadier Folenfant, Sie haben keineswegs die Absicht, mich zu töten. Höchstens mich zu verwunden, weil Sie fürchten, ich entwische noch jetzt. Wenn nun aber zufällig die Wunde tödlich wäre? Denken Sie bloß an Ihre Gewissensbisse, Unglückseliger! An Ihr ruheloses Alter!«
Der Schuß knallte.
Lupin wankte, hielt sich einen Augenblick am Wrack fest, ließ es dann los und verschwand.
*
Es war genau drei Uhr, als sich diese Ereignisse zutrugen. Um sechs Uhr pünktlich, wie er es angekündigt hatte, trat Sherlock Holmes in einem zu kurzen Beinkleid und zu engem Rock, die er beide von einem Gastwirt in Neuilly geliehen hatte, mit einer Schildmütze und einem Flanellhemd in das Boudoir der Rue Murillo, nachdem er zuvor Herrn und Frau von Imblevalle hatte sagen lassen, daß er eine Rücksprache wünsche.
Sie fanden ihn mit großen Schritten auf und ab gehend. In seinem sonderbaren Aufzuge kam er ihnen so komisch vor, daß sie ihre Lachlust kaum verbergen konnten. Nachdenklich und mit gebeugtem Rücken bewegte er sich automatisch zwischen der Tür und dem Fenster, zwischen dem Fenster und der Tür einher, wobei er jedesmal dieselbe Anzahl Schritte machte und jedesmal in derselben Richtung auf dem Hacken sich umdrehte.
Nun blieb er stehen, nahm ein Nippesstück in die Hand, besah es gedankenlos und spazierte weiter.
Endlich, indem er sich vor die Imblevalles hinpflanzte, fragte er:
»Ist das Fräulein da?«
»Ja, im Garten mit den Kindern.«
»Herr Baron, da dies unser letztes Gespräch sein wird, so möchte ich, daß Fräulein Demun zugegen wäre.«
»Haben Sie denn durchaus ...«
»Nur ein wenig Geduld, mein Herr. Die Wahrheit wird klar aus den Tatsachen hervorgehen, die ich Ihnen mit der allergrößten Genauigkeit darlegen will.«
»Gut, Susanne, willst du?«
Frau von Imblevalle erhob sich und kam gleich darauf mit Alice Demun wieder. Das junge Mädchen, das etwas blasser als sonst war, blieb, an einen Tisch gelehnt, stehen und fragte nicht einmal, warum man sie gerufen habe.
Holmes schien sie nicht zu bemerken, und, indem er sich ohne weiteres an Herrn von Imblevalle wandte, sagte er in einem Tone, der jeden Einwand ausschloß:
»Nach mehrtägiger Untersuchung, Herr Baron, und obwohl einige Vorkommnisse meine Meinung etwas geändert haben, will ich Ihnen wiederholen, was ich Ihnen gleich in der ersten Stunde sagte: die jüdische Lampe ist von jemand gestohlen worden, der in diesem Hause wohnt.«
»Der Name des Schuldigen?«
»Ich kenne ihn.«
»Die Beweise?«
»Die, welche ich besitze, werden genügen, um ihn geständig zu machen.«
»Es genügt nicht, daß er gesteht, wir wollen wiederhaben, was ...«
»Die jüdische Lampe? Sie ist in meinem Besitz.«
»Das Opalhalsband? Die Tabatiere?«
»Das Opalhalsband, die Tabatiere, kurz, alles, was Ihnen beim zweiten Male entwendet wurde, ist in meinem Besitz.«
Holmes liebte solche Theatereffekte und diesen ein wenig trockenen Ton, worin er seine Siege meldete.
Tatsächlich schienen der Baron und seine Frau starr, und die schweigende Neugierde, womit sie ihn betrachteten, war das beste Lob.
Er berichtete hierauf genau, was er während dieser drei Tage gemacht hatte. Er sprach von der Entdeckung des Albums, schrieb auf ein Stück Papier den aus den herausgeschnittenen Buchstaben gebildeten Satz, erzählte darauf von Bressons Gang an das Ufer der Seine, von dem Selbstmorde des Abenteurers und schließlich von seinem Kampfe mit Lupin, vom Kentern der Barke und Lupins Verschwinden.
Als er fertig war, sagte der Baron leise:
»Sie brauchen uns bloß noch den Namen des Schuldigen zu nennen. Wen also klagen Sie an?«
»Ich beschuldige die Person, die die Buchstaben aus dem Alphabet herausgeschnitten und mittels dieser Buchstaben mit Arsène Lupin korrespondiert hat.«
»Wieso wissen Sie, daß der Korrespondent dieser Person Arsène Lupin ist?«
»Von ihm selbst.«
Er reichte ein durchnäßtes und zerknittertes Stück Papier hin. Es war die Seite, die Lupin aus seinem Notizbuch herausgerissen und worauf er den Satz geschrieben hatte.
»Und bedenken Sie,« bemerkte Holmes mit Genugtuung, »daß ihn nichts zwang, mir dieses Blatt zu geben und sich mir erkennbar zu machen. Es war einfach ein übermütiger Streich von ihm, der mich aufklärte.«
»Der Sie aufklärte ...« sagte der Baron. »Ja, ich sehe noch immer nicht ...«
Holmes fuhr mit dem Bleistift über die Buchstaben und die Chiffre:
CDEHNOPRZEO – 237.
»Nun ja,« sagte Herr von Imblevalle, »das ist die Formel, die Sie uns eben gezeigt haben.«
»Nein, wenn Sie diese Formel nach allen Richtungen um und umgedreht haben, hätten Sie ebenso wie ich auf den ersten Blick merken müssen, daß es nicht die ursprüngliche ist.«
»Wieso denn?«
»Sie hat zwei Buchstaben mehr, ein E und ein O.«
»In der Tat, das hatte ich nicht bemerkt.«
»Bringen Sie diese beiden Buchstaben mit dem C und dem H in Verbindung, die noch übrigbleiben, wenn Sie das Wort répondez bilden, und Sie werden finden, daß das einzig mögliche Wort ECHO ist.«
»Das bedeutet?«
»Das bedeutet ›Echo de France‹, Lupins Zeitung, sein offizielles Organ, dem er immer seine Mitteilungen macht: ›Antworten Sie im 'Echo de France' unter den Vermischten Anzeigen, Nummer 237.‹ So lautete des Rätsels Lösung, die ich solange suchte, und die Lupin die Güte hatte, mir zu liefern. Ich komme eben aus dem Büro des ›Echo de France‹.«
»Und haben dort was gefunden?«
»Die ausführliche Geschichte der Beziehungen Lupins zu seinen Komplicen.«
Holmes legte sieben Zeitungen auf dem Tisch aus, in denen er auf der je vierten Seite die folgenden sieben Zeilen zeigte:
»Und das nennen Sie eine ausführliche Geschichte?«
»Du lieber Gott, ja. Wenn Sie mir nur ein wenig Aufmerksamkeit schenken, werden Sie gleich meiner Meinung sein. Zunächst erbittet eine Dame unter der Chiffre 540 Arsène Lupins Protektion, worauf Lupin eine Erklärung verlangt. Die Dame antwortet, daß sie unter der Herrschaft eines Feindes sitzt – gemeint ist ohne Zweifel Bresson –, und daß sie verloren ist, wenn er ihr nicht zu Hilfe kommt. Lupin ist noch mißtrauisch, wagt noch nicht, mit der Unbekannten persönlich zusammenzutreffen, verlangt ihre Adresse und verspricht eine Untersuchung. Die Dame zögert vier Tage lang – bitte, vergleichen Sie die Daten – und gibt schließlich unter dem Drange der Ereignisse, und durch Bressons Drohungen eingeschüchtert, den Namen ihrer Straße an: Murillo. Am folgenden Tage annonciert Arsène Lupin, daß er um drei Uhr im Park Monceau sein wird und bittet die Unbekannte, ein Veilchenbukett als Erkennungszeichen zu tragen. Darauf eine Unterbrechung von acht Tagen in der Korrespondenz, Lupin und die Dame brauchen nicht mehr durch die Zeitung miteinander zu korrespondieren: sie sehen sich und schreiben sich direkt. Der Plan wird entworfen: Um den Forderungen Bressons nachzugeben, soll die Dame die Judenlampe stehlen. Bleibt noch der Tag festzusetzen. Die Dame, die vorsichtshalber mittels ausgeschnittener Buchstaben korrespondiert, entscheidet sich für Sonnabend und fügt hinzu: ›Antworten Sie Echo 237.‹ Lupin antwortet, daß er einverstanden ist, und daß er außerdem Sonntag früh im Park sein wird. Am Sonntag in der Frühe hat der Diebstahl stattgefunden.«
»In der Tat, Glied reiht sich an Glied,« bestätigte der Baron, »und die Geschichte ist vollständig.«
»Also der Diebstahl hat stattgefunden. Die Dame geht am Sonntagmorgen aus, berichtet Lupin, was sie getan hat und bringt Bresson die Judenlampe. Es passiert dann alles, wie Lupin es vorausgesehen hat. Das Gericht, durch ein geöffnetes Fenster, durch vier Löcher in der Erde und zwei Abschürfungen am Balkon irregeführt, nimmt einen gewaltsamen Einbruch an. Die Dame ist beruhigt.«
»Gut,« sagte der Baron, »ich lasse die so sehr logische Erklärung gelten. Wie steht es aber dann mit dem zweiten Diebstahl ...?«
»Der zweite Diebstahl wurde durch den ersten veranlaßt. Da die Zeitungen erzählt hatten, auf welche Art die Judenlampe verschwunden war, so kam irgend jemand auf die Idee, den Eingriff zu wiederholen und sich dessen zu bemächtigen, was man liegengelassen hatte. Und diesmal war es kein fingierter, sondern ein tatsächlicher Diebstahl mit wirklichem Einbruch usw.«
»Lupin natürlich ...«
»Nein, so dumm geht Lupin nicht zu Werke. Lupin schießt nicht auf die Leute um nichts und wieder nichts.«
»Wer ist es sonst?«
»Zweifellos Bresson, und zwar ohne Wissen der Dame, an der er eine Erpressung verübt hatte. Bresson ist hier eingedrungen. Ihn habe ich verfolgt, er hat meinen armen Wilson verwundet.«
»Sind Sie dessen auch sicher?«
»Absolut. Ein Komplice Bressons hat ihm gestern vor dem Selbstmord einen Brief geschrieben, der beweist, daß zwischen diesem Komplicen und Lupin Verhandlungen stattgefunden haben wegen der Rückgabe aller in Ihrem Hause gestohlenen Gegenstände. Lupin fordert alles: die erste Sache – nämlich die jüdische Lampe – wie die der zweiten Affäre. Außerdem überwachte er Bresson. Als dieser sich gestern abend ans Ufer der Seine begab, ging ein Genosse Lupins ebenso wie wir hinter ihm her.«
»Was wollte Bresson am Ufer der Seine?«
»Da er von den Fortschritten meiner Untersuchung benachrichtigt worden war ...«
»Durch wen benachrichtigt?«
»Durch dieselbe Dame, die mit Recht fürchtete, daß die Entdeckung der Judenlampe auch die Entdeckung ihres Abenteuers zur Folge haben würde. Also Bresson tut alles, was ihn kompromittieren kann, in ein Paket und legt es an einen Ort, wo er es, wenn die Gefahr vorüber ist, wieder holen kann. Bei der Rückkehr, wo ihm Ganimard und ich auf der Spur sind, und weil er wahrscheinlich noch andere Schandtaten auf dem Gewissen hat, verliert er den Kopf und tötet sich.«
»Was war in dem Paket?«
»Die jüdische Lampe und andere Raritäten.«
»Also sind sie doch nicht in Ihrem Besitz?«
»Gleich nach dem Verschwinden Lupins habe ich das mir aufgezwungene Bad zunutze gemacht und mich an die von Bresson ausgesuchte Stelle führen lassen. Daselbst habe ich in Wäsche und Wachsleinwand eingewickelt gefunden, was man Ihnen gestohlen hat. Hier auf dem Tische liegt es.«
Ohne ein Wort zu sprechen, zerschnitt der Baron die Bindfäden, zerriß die durchweichte Leinwand, zog die Lampe heraus, drehte an einer Schraube unter dem Fuße, klappte mit beiden Händen das Gefäß auseinander und fand die goldene, mit Rubinen und Smaragden besetzte Chimära.
Sie war unversehrt.
*
Es lag in diesem anscheinend so natürlichen Vorgang, der ja nur in der einfachen Darstellung von Tatsachen bestand, etwas grausam Tragisches, nämlich die direkte unwiderrufliche Anklage, die Holmes in aller Form mit jedem einzelnen Wort gegen das junge Mädchen schleuderte. Und dazu kam noch das beängstigende Schweigen Alice Demuns.
Während dieser langen, dieser grausamen Häufung von kleinen Beweisen, von denen immer einer sich zum anderen fügte, hatte kein Zucken der Empörung oder der Furcht die Heiterkeit ihres hellen Blickes getrübt. Was dachte sie? Und vor allem, was würde sie in der feierlichen Minute sagen, wo sie würde antworten, wo sie sich würde verteidigen und den eisernen Ring zerbrechen müssen, womit Sherlock Holmes sie so geschickt umschmiedete?
Dieser Augenblick war nun gekommen, und das junge Mädchen schwieg.
»Reden Sie! Reden Sie doch!« schrie Herr von Imblevalle.
Sie sprach kein Wort.
Er drang in sie:
»Ein Wort könnte Sie rechtfertigen ... Ein Wort der Empörung, und ich würde Ihnen glauben.«
Dieses Wort, sie sprach es nicht.
Der Baron ging erregt im Zimmer auf und ab, fragte sie von neuem und wandte sich dann an Holmes:
»Nein und abermals nein, mein Herr! Ich kann nicht glauben, daß es wahr ist! Dieses Verbrechen steht im Widerspruch mit allem, was ich von ihr weiß, mit allem, was ich von ihr seit Jahr und Tag sehe.«
Er legte seine Hand auf die Schulter des Engländers.
»Und sind Sie denn selbst absolut und unwiderruflich sicher, daß Sie sich nicht täuschen?«
Holmes zauderte wie jemand, den man unvermutet angreift, und der nicht sofort antworten kann. Dann aber sagte er lächelnd:
»Die einzige Person, die ich beschuldige, konnte vermöge der Stellung, die sie bei Ihnen einnimmt, wissen, daß die Judenlampe jenes prachtvolle Kleinod umschloß.«
»Ich will es nicht glauben«, murmelte der Baron.
»Fragen Sie sie selbst.«
Das war in der Tat das einzige, was er in seinem blinden Vertrauen zu dem jungen Mädchen noch nicht versucht hatte. Er konnte sich indessen nicht länger den klar redenden Tatsachen entziehen.
Er näherte sich ihr, und indem er seine Augen in die ihrigen bohrte:
»Sind Sie es, Fräulein? Haben Sie das Kleinod genommen? Haben Sie mit Arsène Lupin korrespondiert und den Diebstahl verheimlicht?«
»Ja, Herr Baron.«
Sie senkte nicht das Haupt. Ihr Gesicht drückte weder Scham noch Verlegenheit aus.
»Ist's möglich! ...« murmelte Imblevalle, »ich hätte nie geglaubt ... Sie sind die letzte, der ich es zugetraut hätte ... Wie haben Sie das angestellt, Unglückliche?«
Sie sagte:
»Ich habe getan, was Herr Holmes erzählt hat. In der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag bin ich in das Boudoir hinuntergegangen, habe die Lampe genommen und sie am Morgen ... jenem Manne gebracht.«
»Aber nein,« wandte der Baron ein, »was Sie da erzählen, ist unmöglich.«
»Unmöglich? Wieso?«
»Weil ich am Morgen die Tür des Boudoirs noch verriegelt fand.«
Sie errötete, verlor die Fassung und sah Holmes an, als ob sie von ihm einen Rat erbäte.
Noch mehr als durch den Einwand des Barons schien Holmes von der Verlegenheit Alice Demuns überrascht. Hatte sie also nichts zu erwidern? War das Geständnis, das seine Erklärung von dem Diebstahl der jüdischen Lampe bestätigte, eine Lüge, welche durch die Prüfung der Tatsachen alsbald wieder zerstört wurde?
Der Baron fuhr fort:
»Diese Tür war geschlossen. Ich behaupte, daß ich den Riegel so fand, wie ich ihn am Abend zuvor zugeschoben hatte. Wären Sie durch diese Tür gegangen, wie Sie es behaupten, so hätte jemand Ihnen von innen, also vom Boudoir oder Schlafzimmer aus, öffnen müssen. Nun war aber niemand in diesen beiden Räumen ... Niemand außer meiner Frau und mir.«
Holmes beugte sich schnell und bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen, um seine Röte zu verbergen.
Etwas hatte wie ein Blitz plötzlich vor ihm aufgeleuchtet, und er empfand es als eine unangenehme Blendung. Es entschleierte sich ihm alles gleich einer dunklen Landschaft, von der jäh die Nacht weicht: Alice Demun war unschuldig.
Alice Demun war unschuldig. Das war ihm jetzt eine zuverlässige, verblüffende Wahrheit, und darin fand er gleichzeitig die Erklärung für die Peinlichkeit, die es ihm vom ersten Tage an bereitete, gegen das junge Mädchen die schreckliche Anklage zu schleudern. Er war jetzt ein Wissender. Es bedurfte nur einer Handbewegung, um auf der Stelle den unwiderleglichen Beweis zu haben.
Er hob den Kopf, und nach einigen Sekunden schaute er möglichst unbefangen Frau von Imblevalle an.
Sie war blaß, von jener ungewohnten Blässe, die einen plötzlich in den unerbittlichen Stunden des Lebens überkommt. Ihre Hände, die sie zu verbergen suchte, zitterten unmerklich.
Noch einen Augenblick, dachte Holmes, und sie verrät sich.
Er stellte sich zwischen sie und ihren Mann in der festen Absicht, die schreckliche Gefahr abzuwenden, die durch sein Versehen diesen Mann und diese Frau bedrohte. Aber als er jetzt den Baron anschaute, erbebte er bis ins Herz hinein. Dieselbe plötzliche Offenbarung, die ihn durch ihre Helligkeit geblendet hatte, erleuchtete jetzt Herrn von Imblevalle. Derselbe Denkprozeß ging jetzt im Hirn des Ehemannes vor. Er begriff jetzt ebenfalls. Er wurde sehend.
Verzweifelt bäumte sich Alice Demun gegen die unerbittliche Wahrheit.
»Sie haben recht, Herr Baron, ich hatte mich geirrt. Ich bin in der Tat nicht durch diese Tür gegangen, ich bin durchs Vestibül und den Garten gekommen und mittels einer Leiter ...«
Ein letzter hingebungsvoller Versuch ... Jedoch ein vergeblicher! Die Worte klangen falsch. Die Stimme war unsicher, und das sanfte Geschöpf hatte nicht mehr die hellen Augen und die unschuldsvolle Miene. Sie senkte das Haupt, sie war besiegt.
Das Schweigen war furchtbar. Frau von Imblevalle wartete aschfahl, unbeweglich vor Angst und Schreck. Der Baron schien sich noch zu wehren, als ob er nicht an den Zusammenbruch seines Glückes glauben wollte.
Endlich stammelte er:
»Sprich! Erkläre dich! ...«
»Ich habe dir nichts zu sagen, mein armer Freund«, hauchte sie leise und mit schmerzlich verzogenem Gesicht.
»Und Sie ... Fräulein?«
»Sie hat mich retten wollen ... aus Anhänglichkeit ... aus Liebe hat sie sich selbst beschuldigt ...«
»Hat dich retten wollen? Wovor? Vor wem?«
»Vor jenem Manne.«
»Bresson?«
»Ja, ich war es, die er bedrohte. Ich habe ihn bei einer Freundin kennengelernt ... und habe die Torheit begangen, ihn anzuhören ... Ach, es ist nichts etwa, was du nicht verzeihen könntest ... aber ich habe ihm doch zwei Briefe geschrieben ..., Briefe, die du sehen sollst ..., ich habe sie teuer zurückerkauft ... Du weißt jetzt wie ... Ach, hab' Mitleid mit mir ... ich habe soviel geweint.«
»Du? Du, Susanne?«
Er erhob sich mit geballten Fäusten, bereit, sie zu schlagen, sie umzubringen ... Doch seine Arme senkten sich, und er murmelte wiederum:
»Du, Susanne? ... Du? ... Ist's möglich?«
In kurzen, abgehackten Worten erzählte sie ihm das herzzerreißende und an sich banale Abenteuer, ihr furchtbares Erwachen angesichts der Gemeinheit des Menschen, ihre Gewissensbisse, ihre Bestürzung, und sie sprach auch davon, wie wunderbar sich Alice benommen habe, als sie den Grund ihrer Verzweiflung ahnte, wie sie ihr ein Geständnis abgerungen und an Lupin geschrieben habe, und wie sie die Geschichte mit dem Diebstahl in Szene setzte, um sie aus den Klauen Bressons zu retten.
»Du, Susanne? Du?« wiederholte Imblevalle, gebeugt, zerschmettert. »... Wie konntest du nur ... wie konntest du nur das tun?«
*
Am Abend des nämlichen Tages glitt der Dampfer »London«, der den Personenverkehr zwischen Calais und Dover vermittelte, sanft über das unbewegliche Wasser. Die Nacht war mild und dunkel. Friedliche Wolken mußten über dem Schiffe lagern, und leichte Nebelschleier trennten es von dem unendlichen Raume, worin das weiße Mondlicht und die blinkenden Sterne schimmern mußten.
Die meisten Passagiere hatten die Kabinen und die Salons aufgesucht. Nur einige wenige promenierten auf der Brücke oder schlummerten unter dicken Decken in behaglichen rocking-chairs. Hier und da sah man Zigarren glimmen, und man hörte vermischt mit dem sanften Brausen des Windes das Gemurmel von Stimmen, die in der großen feierlichen Stille nicht laut zu werden wagten.
Einer der Passagiere, der mit festen Schritten an Bord herumpromenierte, blieb plötzlich neben einer auf einer Bank ausgestreckten Person stehen, betrachtete sie aufmerksam, und, als diese Person sich bewegte, sagte er zu ihr:
»Ich glaubte, Sie schliefen, Fräulein Alice.«
»Nein, nein, Herr Holmes, ich habe keine Lust zu schlafen. Ich muß an so vieles denken.«
»Ist es indiskret, zu fragen, woran?«
»Ich dachte an Frau von Imblevalle. Sie muß so traurig sein. Ihr Leben ist verloren.«
»Nicht doch, nicht doch,« sagte er lebhaft, »ihre Irrung ist nicht von der Art derer, die man nicht verzeiht. Herr von Imblevalle wird jene Schwäche vergessen. Bereits als wir abreisten, urteilte er weniger hart darüber.«
»Vielleicht ... Aber das Vergessen wird lange dauern ... und sie leidet.«
»Sie lieben sie sehr?«
»Sehr. Das hat mir die Kraft verliehen, zu lächeln, als ich vor Furcht zitterte, und Ihnen ins Gesicht zu schauen, als ich am liebsten vor Ihren Blicken geflohen wäre.«
»Sie sind unglücklich, sie verlassen zu müssen?«
»Sehr unglücklich. Ich habe weder Verwandte noch Freunde ... Ich habe nur sie.«
»Sie werden Freunde haben,« sagte der Engländer, dem ihr Kummer naheging, »ich verspreche es Ihnen. Ich habe Beziehungen ... viel Einfluß ... ich versichere Sie, daß Sie Ihre Lage nicht zu bedauern haben werden.«
»Vielleicht, aber Frau von Imblevalle wird nicht mehr um mich sein.«
Andere Worte wechselten sie nicht. Sherlock Holmes ging noch ein paarmal auf dem Deck auf und ab, dann kam er zurück und setzte sich neben seine Reisegefährtin.
Der Nebelschleier zerriß, und die Wolken schienen sich vom Himmel entfernen zu wollen. Sterne flimmerten.
Holmes zog seine Pfeife aus der Tiefe seines Radmantels, stopfte sie und rieb nacheinander vier Streichhölzer, ohne sie anzünden zu können. Da er keine anderen bei sich hatte, erhob er sich und sagte zu einem Herrn, der in der Nähe saß:
»Würden Sie mir vielleicht etwas Feuer gestatten?«
Der Herr öffnete eine Schachtel Zündhölzer. Alsbald schlug eine Flamme auf, und bei ihrem Scheine gewahrte Holmes Arsène Lupin.
Wäre nicht der Engländer ein ganz klein wenig, fast unmerklich zurückgewichen, so hätte Lupin annehmen können, seine Anwesenheit an Bord wäre Holmes bekannt; so sehr blieb dieser Herr über sich, und mit solcher Ungezwungenheit reichte er dem Gegner die Hand.
»Immer bei guter Gesundheit, Herr Lupin?«
»Bravo«, rief Lupin, dem eine solche Selbstbeherrschung einen Ausruf der Bewunderung entlockte.
»Bravo? ... Wieso?«
»Wieso? Sie sahen mich wie ein Gespenst vor Ihnen erscheinen, nachdem Sie meinem Untergang in der Seine beigewohnt haben, und aus Stolz, aus einem wundersamen Stolz, den ich einen spezifisch britannischen nennen möchte, machen Sie keine Bewegung des Staunens, sagen Sie kein Wort der Überraschung! Wahrhaftig, ich wiederhole es, das ist bewunderungswürdig. Bravo.«
»Es ist nicht bewunderungswürdig. Die Art, wie Sie von der Barke fielen, sagte mir, daß Sie freiwillig fielen und von der Kugel des Brigadiers nicht getroffen waren.«
»Und Sie sind fortgegangen, ohne zu wissen, was aus mir wurde?«
»Was aus Ihnen werden würde, wußte ich. Fünfhundert Menschen in der Ausdehnung von einem Kilometer standen an beiden Ufern. Sobald Sie dem Tode entgingen, war Ihre Gefangennahme sicher.«
»Und dennoch bin ich hier.«
»Herr Lupin, es gibt zwei Menschen auf der Welt, von denen mich nichts wundert: der eine bin ich, der andere sind Sie.«
Der Friede war geschlossen.
Wenn auch Holmes in seinen Unternehmungen gegen Arsène Lupin keinen vollen Erfolg erzielt hatte, wenn Lupin auch für ihn der exzeptionelle Gegner blieb, den endgültig zu fassen er verzichten mußte, wenn dieser im Verlauf der Ereignisse immer die Oberhand behielt, so hatte der Engländer doch vermöge seiner furchtbaren Beharrlichkeit die jüdische Lampe wiedergefunden, wie er gleichfalls den blauen Diamanten wiedergefunden hatte. Vielleicht war dieses Mal der Erfolg weniger glänzend, besonders in Hinsicht auf das Publikum, da ja Holmes verpflichtet war, die Umstände zu verschweigen, unter denen die jüdische Lampe entdeckt worden war, und da er tun mußte, als wüßte er den Namen des Schuldigen nicht. Aber zwischen Mann und Mann, zwischen Lupin und Holmes, zwischen dem Polizisten und dem Zimmerdieb gab es eigentlich weder einen Sieger noch einen Besiegten. Jeder von ihnen konnte sich gleicher Siege rühmen.
Sie plauderten also als höfliche Gegner, die die Waffen fortgelegt haben und einander nach ihrem wahren Werte zu schätzen wissen.
Auf Holmes' Ersuchen erzählte Lupin sein Entkommen.
»Wenn man«, sagte er, »es ein Entkommen nennen kann. Es war so einfach. Meine Freunde wachten, denn man hatte sich ein Rendezvous gegeben, um die jüdische Lampe wieder herauszufischen. Daher habe ich, nachdem ich eine gute halbe Stunde mich unter dem umgekehrten Kiel der Barke versteckt gehalten, den Augenblick benutzt, wo Folenfant und seine Leute meine Leiche an den Ufern suchten, und bin dann wieder auf das Wrack geklettert. Meine Freunde hatten nichts weiter zu tun, als mich beim Vorüberkommen in ihr Benzinboot aufzunehmen und unter den verblüfften Augen der fünfhundert Neugierigen sowie Ganimards und Folenfants sich aus dem Staube zu machen.«
»Sehr nett,« rief Holmes, »ganz ausgezeichnet ... Und jetzt haben Sie in England zu tun?«
»Ja, einige Geschäfte zu regeln. Doch ich vergaß: Herr Imblevalle?«
»Weiß alles.«
»Ach, lieber Meister, hatte ich es nicht gleich gesagt! Das Unglück ist jetzt nicht wieder gutzumachen. Wär's nicht besser gewesen, mich auf eigene Faust handeln zu lassen? Noch ein oder zwei Tage, und ich nahm Bresson die Judenlampe und die anderen Kostbarkeiten wieder ab, schickte sie an Imblevalle zurück, und die beiden braven Leute würden in Frieden weiter miteinander zusammengelebt haben. Anstatt dessen ...«
»Anstatt dessen«, spottete Holmes, »habe ich die Karten gemischt, um Zwietracht in eine von Ihnen protegierte Familie zu tragen.«
»Mein Gott, ja! Ich protegierte sie! Muß man denn immer stehlen, die Leute zum Narren haben und Schlechtes tun?«
»So tun Sie also auch Gutes?«
»Wenn ich Zeit habe. Und dann macht es mir auch Spaß. Ich finde es außerordentlich drollig, wenn ich mitten unter den Abenteuern, die mich beschäftigen, der gute Genius sein kann, der rettend zu Hilfe kommt, während Sie der böse Genius sind, der Verzweiflung und Tränen bringt.«
»Tränen! Tränen!« protestierte der Engländer.
»Gewiß, die Ehe Imblevalles ist zerstört, und Alice Demun weint.«
»Sie konnte nicht bleiben ... Ganimard hätte sie schließlich entdeckt ... und dann wäre man auch auf Frau von Imblevalle gekommen.«
»Ganz Ihrer Meinung, Meister. Aber durch wessen Schuld?«
Zwei Männer gingen an ihnen vorüber. Holmes sagte zu Lupin mit einer leicht zitternden Stimme:
»Wissen Sie auch, wer diese Gentlemen sind?«
»Ich glaubte, den Kapitän des Schiffes zu erkennen.«
»Und der andere?«
»Ich weiß nicht.«
»Herr Austin Gilett. Austin Gilett nimmt in England eine Stellung ein, die der Dudouis', Ihres Chefs der Sicherheitspolizei, entspricht.«
»Ah, welch glücklicher Zufall! Würden Sie so liebenswürdig sein, mich vorzustellen? Dudouis gehört zu meinen guten Freunden, und ich wäre froh, wenn ich dasselbe auch von Austin Gilett sagen könnte.«
Die beiden Gentlemen tauchten wieder auf.
»Und wenn ich Sie nun beim Wort nähme, Herr Lupin?« sagte Holmes aufstehend.
Er hatte Arsène Lupin am Handgelenk gefaßt und umklammerte es mit eiserner Faust.
»Warum drücken Sie so stark, Meister? Ich bin ja bereit, Ihnen zu folgen.«
Er ließ sich auch in der Tat ohne den geringsten Widerstand fortziehen. Die beiden Gentlemen gingen weiter.
Holmes verdoppelte seine Schritte. Seine Nägel drangen in Lupins Fleisch.
»Vorwärts ... vorwärts,« stieß er dumpf in einer fieberhaften Eile hervor, »um alles so schnell als möglich zu ordnen ... Vorwärts! Immer schneller!«
Doch plötzlich machte er halt. Alice Demun war ihnen gefolgt.
»Was tun Sie, Fräulein! Vergebens! ... Bleiben Sie zurück!«
Lupin antwortete an ihrer Stelle:
»Sie wollen gütigst bemerken, Meister, daß das Fräulein nicht aus freien Stücken kommt. Ich drücke mit ähnlicher Energie ihr Handgelenk, wie Sie das meine.«
»Warum?«
»Ja, ich möchte sie durchaus ebenfalls vorstellen; ihre Rolle in der Geschichte der jüdischen Lampe ist noch wichtiger als meine. Komplicin Arsène Lupins, Komplicin Bressons, wird sie auch das Abenteuer der Baronin von Imblevalle erzählen müssen, was das Gericht außerordentlich interessieren dürfte ... Und damit dürften Sie Ihren wohltätigen Einfluß bis zur äußersten Grenze getrieben haben, edelmütiger Holmes.«
Der Engländer hatte das Handgelenk seines Gefangenen losgelassen. Lupin gab das Fräulein frei.
Sie standen sich einige Sekunden unbeweglich gegenüber. Dann suchte Holmes seine Bank auf und setzte sich. Auch Lupin und das junge Mädchen nahmen ihre Plätze wieder ein.
*
Lange dauerte das Schweigen. Dann sagte Lupin:
»Sehen Sie, Meister, was wir auch tun mögen, wir werden nie von demselben Ufer sein. Sie stammen von der einen Seite des Kanals, ich von der anderen. Man kann sich begrüßen, sich die Hand reichen, sich ein bißchen mitsammen unterhalten, aber immer ist der Kanal da. Sie werden immer Sherlock Holmes, der Detektiv, sein, und ich immer Arsène Lupin, der Missetäter. Immer wird Sherlock Holmes mehr oder minder freiwillig, mit mehr oder minder Geschicklichkeit seinem Detektivinstinkt gehorchen, der darin besteht, hinter dem Zimmerdieb her zu sein und ihn womöglich ins Loch zu bringen. Und immer wird Arsène Lupin so konsequent sein in seinem Zimmerdiebgewissen, die Faust des Detektivs zu meiden und sich über ihn, wenn's angeht, lustig zu machen. Und diesmal geht's an! Hahaha!«
Er platzte heraus. Es war ein höhnisches, grausames, häßliches Lachen.
Dann aber wieder ernst, bückte er sich zu dem jungen Mädchen hinab.
»Seien Sie sicher, Fräulein, daß ich Sie selbst im äußersten Falle nicht verraten haben würde. Arsène Lupin verrät niemals, besonders diejenigen nicht, die er liebt und bewundert. Und Sie gestatten mir wohl, Ihnen zu sagen, daß ich das tapfere und gute Mädchen, das Sie sind, liebe und bewundere.«
Er zog aus seinem Portefeuille eine Visitenkarte, riß sie entzwei, reichte dem jungen Mädchen die eine Hälfte und sagte bewegten und ehrerbietigen Tones:
»Sollten die Bemühungen des Herrn Holmes vergeblich sein, Fräulein, so sprechen Sie bei Lady Strongborough vor. Sie werden leicht ihr gegenwärtiges Domizil finden, und geben Sie ihr diese halbe Karte mit den beiden Worten: ›Treues Gedenken‹. Lady Strongborough wird hingebend sein wie eine Schwester.«
»Danke,« sagte das junge Mädchen, »ich werde morgen zu der Dame gehen.«
»Und jetzt, Meister,« rief Lupin im zufriedenen Tone eines Mannes, der seine Pflicht getan hat, »wünsche ich Ihnen eine gute Nacht. Wir haben noch eine Stunde Überfahrt. Ich benutze sie.«
Er streckte sich lang aus und kreuzte die Hände unter seinem Hinterkopf.
Der Streifen der Küste löste sich vom dunklen Horizont. Passagiere kamen herauf. Das Deck füllte sich mit Menschen. Austin Gilett ging in Begleitung zweier Leute vorüber, in denen Holmes Agenten der englischen Polizei erkannte.
Lupin auf seiner Bank schlief ...