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Dreizehntes Kapitel. Baxter Dawes

Bald nachdem Paul mit Clara im Theater gewesen war, saß er mit ein paar Freunden in der ›Punschbowle‹ beim Abendtrunk, als Dawes hereinkam. Claras Gatte wurde fett; die Lider über seinen braunen Augen wurden lose; sein Fleisch verlor seine gesunde Festigkeit. Augenscheinlich war er auf dem absteigenden Ast. Nach einem Zerwürfnis mit seiner Schwester war er in eine billigere Wohnung gezogen. Seine Geliebte hatte ihn um einen Mann verlassen, der sie heiraten wollte. Eine Nacht hatte er im Gefängnis gesessen, weil er sich in der Betrunkenheit geprügelt hatte, und es gab auch noch eine dunkle Wettgeschichte, an der er beteiligt war.

Paul und er waren erklärte Feinde, und doch bestand zwischen ihnen jenes sonderbare Gefühl von Vertrautheit, als ständen sie sich insgeheim sehr nahe, das zuweilen zwischen zwei Leuten vorkommt, wenn sie auch nie miteinander gesprochen haben. Paul dachte oft an Baxter Dawes, wünschte oft, ihm näher zu kommen und gut Freund mit ihm zu werden. Er wußte, Dawes dächte ebenfalls oft an ihn, und daß der Mann durch ein oder das andere Band zu ihm hingezogen werde. Und doch sahen sie sich nie anders als in Feindschaft an.

Als höherem Angestellten bei Jordan kam es Paul zu, Dawes etwas zu trinken anzubieten.

»Was möchten Sie?« fragte er ihn.

»Nischt von so 'nem Bleichgesicht wie Sie!« erwiderte der Mann.

Paul wandte sich mit einem leichten, verächtlichen Achselzucken von ihm weg, das äußerst aufreizend war.

»Die Aristokratie«, fuhr er fort, »ist in Wirklichkeit eine militärische Einrichtung. Nehmen Sie mal Deutschland. Das hat Tausende von Aristokraten, deren einzige Daseinsmöglichkeit das Heer ist. Sie sind blutarm, und das Leben geht todlangsam. Deshalb hoffen sie auf Krieg. Sie betrachten den Krieg nur als Möglichkeit zum Weiterkommen. Bis es Krieg gibt, sind sie müßige Nichtsnutze. Gibt es Krieg, sind sie die Führer und Befehlshaber. Da haben Sie's also – die sehnen sich nach Krieg!«

Er war als Sprecher im Wirtshaus nicht beliebt, weil er zu rasch und überheblich war. Er reizte die Älteren durch sein selbstbewußtes Auftreten und seine unbedingte Sicherheit. Sie hörten ihm schweigend zu und waren nicht betrübt, wenn er fertig war.

Dawes unterbrach des jungen Mannes Redeflut durch eine laute, höhnische Frage:

»Haben Sie das alles neulich abends im Theater gelernt?«

Paul sah ihn an: ihre Augen trafen sich. Nun wußte er, Dawes hatte ihn mit Clara aus dem Theater kommen sehen.

»Wieso, was ist das mit dem Theater?« fragte einer von Pauls Gefährten, froh darüber, dem jungen Burschen einen Rippenstoß versetzen zu können und was Schmackhaftes witternd.

»Oh, der da in 'nem Schwalbenschwanz, richtig wie'n Stutzer!« höhnte Dawes, mit einem verächtlichen Kopfnicken zu Paul hinüber.

»Das wird ja immer hübscher,« sagte ihr gemeinsamer Freund. »Torte und so?«

»Torte, bei Gott!« sagte Dawes.

»Weiter; laß mal hören!« rief der gemeinsame Freund. »Du hasts ja schon,« sagte Dawes, »un ich glaube, Morellchen hat se auch gehabt und so.«

»Na, ich will mich doch bumfiedeln lassen,« sagte der gemeinsame Freund. »Un 'ne richtige Torte wars?«

»Torte, Gottsverdimmi – jawoll!«

»Woher weißt du denn das?«

»Oh,« sagte Dawes, »ich denke doch, er ist die Nacht über ,...«

Nun gabs ein gründliches Gelächter auf Pauls Kosten.

»Aber wer war sie denn? Kennst du sie denn?« fragte der gemeinschaftliche Freund.

»Sollt ich doch meinen,« sagte Dawes.

Das verursachte einen neuen Lachausbruch.

»Denn spucks aus,« sagte der gemeinsame Freund.

Dawes schüttelte den Kopf und nahm einen Schluck Bier.

»Ist 'n Wunder, daß ers nicht schon selbst ausgequatscht hat,« sagte er. »Er wird wohl bald anfangen, damit zu prahlen.«

»Na los, Paul,« sagte der andere; »das nützt dir nichts. Gesteh es man lieber.«

»Gestehen, was denn? Daß ich zufällig eine befreundete Dame mit ins Theater genommen habe?«

»Oh, schön, wenns ganz in der Ordnung war, dann sag uns doch, wie sie hieß, Bengel,« sagte der gemeinschaftliche Freund.

»Sie war mal ganz in der Ordnung,« sagte Dawes.

Paul war wütend. Dawes strich sich höhnisch seinen goldigen Schnurrbart mit den Fingern.

»Schlag mich ,...! Eine von der Sorte?« sagte der andere. »Paul, mein Junge, ich bin ganz baff über dich. Und du kennst sie, Baxter?«

»Na ja, so 'n bißchen!«

Er zwinkerte den andern zu.

»Na ja,« sagte Paul, »denn will ich mal gehen!«

Der gemeinsame Freund legte ihm eine zurückhaltende Hand auf die Schulter.

»Ne,« sagte er, »so leicht kommst du nicht davon, mein Junge. Wir verlangen einen vollständigen Bericht über diese Geschichte.«

»Dann laßt ihn euch doch von Dawes geben!« sagte er.

»Du solltest doch keine Angst vor deinen eigenen Geschichten haben, Mann,« sagte der Freund.

Da machte Dawes eine Bemerkung, die Paul veranlaßte, ihm ein halbes Glas Bier ins Gesicht zu gießen.

»Oh, Herr Morel!« rief das Schankmädchen und klingelte nach dem ›Rausschmeißer‹.

Dawes spuckte und stürzte auf den jungen Mann zu. In dem Augenblick aber trat ein stämmiger Bursche mit aufgerollten Hemdärmeln und eng über den Hüften sitzenden Hosen dazwischen.

»Na, nu man los,« sagte er und schob Dawes seinen Brustkasten entgegen.

»Komm raus!« rief Dawes.

Paul lehnte blaß und zitternd gegen die Messingschranken des Schanktisches. Er haßte Dawes und wünschte, es möge irgendwas ihn im selben Augenblick vernichten; und gleichzeitig dachte er wieder bei einem Blick auf die nasse Stirn des Mannes, er sehe doch recht leiderfüllt aus. Er rührte sich nicht.

»Komm raus, du ,...« sagte Dawes.

»Nun ists genug, Dawes,« rief das Schankmädchen nachdrücklich.

»Nu kommen Se,« sagte der ›Rausschmeißer‹ mit eindringlicher Güte, »nu machen Se man lieber weg.«

Und indem er Dawes ganz allmählich von seiner Nachbarschaft absonderte, drängte er ihn auf die Tür zu.

»Das ist der kleine Saufaus, der angefangen hat!« rief Dawes halb eingeschüchtert und wies auf Paul Morel.

»Wieso, was für Geschichten, Herr Dawes!« sagte das Schankmädchen. »Sie wissen ganz gut, Sie sinds die ganze Zeit über gewesen.«

Immer wieder schob ihm der ›Rausschmeißer‹ seinen Brustkasten entgegen, schob immer wieder nach, bis er ihn im Eingang hatte und Dawes draußen auf den Stufen stand; dann drehte er sich um.

»Na schön,« sagte er und nickte seinem Nebenbuhler zu. Paul hatte eine merkwürdige Empfindung von Mitleid, fast von Zuneigung für den Mann, gemischt mit heftigem Haß. Die farbige Tür klappte zu; im Schankraum herrschte Schweigen.

»Geschieht ihm ganz recht!« sagte das Schankmädchen.

»Ist aber auch eklig, so 'n Glas Bier in die Augen zu kriegen,« meinte der Freund.

»Ich sag Ihnen, ich freu mich, daß ers gekriegt hat,« sagte das Schankmädchen. »Wollen Sie noch eins, Herr Morel?«

Fragend hielt sie Pauls Glas in die Höhe. Er nickte.

»Das is 'n Kerl, der macht sich aus nischt was, der Baxter Dawes,« sagte einer.

»Puh! der?« sagte das Schankmädchen. »Ein Großmaul ist er, der, und die taugen nie viel. Ich mag lieber einen, der 'n bißchen nett plaudert, so 'n richtigen Teufelskerl!«

»Na, Paul, mein Junge,« meinte der gemeinsame Freund, »nun mußt du dich wohl 'ne Zeitlang etwas in acht nehmen.«

»Sie brauchen ihm ja bloß keine Gelegenheit zu geben, das ist alles,« sagte das Schankmädchen.

»Kannst du boxen?« fragte einer der Freunde.

»Keine Spur,« antwortete er, immer noch sehr weiß.

»Ich könnte dir so einen oder zwei Kniffe zeigen,« sagte der Freund.

»Danke, ich hab keine Zeit.«

Und damit nahm er Abschied.

»Gehen Sie mit ihm, Herr Jenkinson,« flüsterte das Schankmädchen Herrn Jenkinson zu und gab ihm einen Wink.

Der Mann nickte, nahm seinen Hut, sagte »Gute Nacht zusammen!« sehr herzlich und folgte Paul, indem er ihm zurief:

»'nen Augenblick, Alter. Du und ich gehen ja wohl denselben Weg, glaube ich.«

»Herr Morel mag so was nicht,« sagte das Schankmädchen; »Sie sollen mal sehen, den kriegen wir nicht mehr oft hierher. Tut mir leid; er ist so 'n netter Gesellschafter. Und Baxter Dawes sollten sie man einsperren, das würde ihm guttun.«

Paul wäre lieber gestorben, als daß seine Mutter etwas von dieser Geschichte erfahren hätte. Er litt Folterqualen vor Erniedrigung und Selbstanklagen. Es gab ein gut Teil in seinem Leben, wovon er seiner Mutter notwendigerweise nie sprechen konnte. Er besaß ein Leben, das ihr ganz fern stand – sein geschlechtliches. Den Rest besaß sie immer noch. Aber er fühlte, er müsse ihr einen Teil verheimlichen, und das schmerzte ihn. Es stand ein gewisses Schweigen zwischen ihnen, und er fühlte, durch dies Schweigen müsse er sich gegen sie verteidigen; er fühlte sich von ihr verurteilt. Dann wieder haßte er sie und zerrte an seinen Fesseln. Sein Leben wollte sich von ihr freimachen. Es war wie ein Kreis, in dem das Leben immer wieder in sich selbst zurücklief und nicht weiterkam. Sie hatte ihn geboren, hatte ihn geliebt, gestützt, und seine Liebe wandte sich wieder zu ihr zurück, so daß er nicht die Freiheit gewinnen konnte, sein eigenes Leben weiter zu entwickeln, wirklich eine andere Frau zu lieben. Unwissentlich leistete er um diese Zeit seiner Mutter Einfluß Widerstand. Er erzählte ihr nichts mehr; es lag etwas Entfremdendes zwischen ihnen.

Clara war froh, beinahe seiner gewiß. Sie fühlte, sie hatte ihn endlich für sich gewonnen; und dann kam wieder die Ungewißheit. Er erzählte ihr scherzend von der Geschichte mit ihrem Manne. Ihre Farbe hob sich, ihre grauen Augen blitzten.

»So ist er aufs Haar,« rief sie, »richtig wie so 'n Seebär. Der paßt gar nicht unter anständige Leute.

»Und doch hast du ihn geheiratet,« sagte er.

Es brachte sie in Wut, daß er sie hieran erinnerte.

»Ja, das hab ich!« rief sie. »Aber wie konnte ich das wissen!«

»Ich meine, er hätte ganz nett werden können,« sagte er.

»Du meinst, ich hätte ihn zu dem gemacht, was er ist!« rief sie aus.

»O nein! das hat er selbst getan. Aber er hat etwas an sich ,...«

Clara sah ihren Liebhaber genau an. Es lag etwas in ihm, was sie haßte, eine Art unzusammenhängender Prüfungssucht ihr gegenüber, eine Kälte, die ihre Weibesseele gegen ihn verhärtete.

»Und was wirst du nun tun?«

»Wieso?«

»Na, mit Baxter.«

»Da kann ich doch gar nichts tun, nicht wahr?« erwiderte er.

»Du kannst dich doch mit ihm schlagen, Wenns drauf ankommt, sollte ich denken?« sagte sie.

»Nein; ich habe keine Ahnung, was die ›Faust‹ bedeutet. Das ist spaßhaft. Die meisten Männer haben es im Gefühl, die Faust zu ballen und zuzuschlagen. Bei mir ist das nicht so. Ich brauche ein Messer oder eine Pistole oder so was zum Kämpfen.«

»Dann solltest du lieber etwas bei dir tragen,« sagte sie.

»Ne,« lachte er; »ich bin nicht dolchioso.«

»Er wird dir aber was tun. Du kennst ihn nicht.«

»Na schön,« sagte er, »wollen mal sehen.«

»Und du läßt ihn einfach?«

»Vielleicht, wenn ich nicht anders kann.«

»Und wenn er dich totschlägt?« sagte sie.

»Das würde mir leid tun, um ihn und um mich.«

Einen Augenblick war Clara still.

»Du machst mich wirklich ärgerlich!« rief sie aus.

»Das ist nichts Neues,« lachte er.

»Aber warum bist du so albern? Du kennst ihn noch nicht.«

»Will ich auch gar nicht.«

»Ja, aber du läßt andere Leute doch nicht einfach mit dir machen, was sie wollen?«

»Was soll ich denn tun?« erwiderte er lachend.

»Ich würde einen Revolver bei mir tragen,« sagte sie. »Ich bin sicher, er ist gefährlich.«

»Da könnt ich mir die Finger mit wegputzen,« sagte er.

»Nein; aber willst du's nicht lieber doch?« bat sie.

»Nein.«

»Gar nichts?«

»Nein.«

»Und er soll dich ,...«

»Ja.«

»Ein Narr bist du!«

»Tatsache!«

Sie biß sich auf die Zähne vor Ärger.

»Schütteln könnte ich dich!« rief sie, zitternd vor Leidenschaft.

»Warum denn?«

»So 'n Kerl wie den mit dir machen zu lassen, was er will.«

»Dann kannst du ja wieder zu ihm gehen, wenn er Sieger bleibt,« sagte er.

»Soll ich dich hassen?« fragte sie.

»Na, ich meine ja nur,« sagte er.

»Und du behauptest, du liebtest mich!« rief sie leise und verbittert.

»Soll ich ihn denn dir zu Gefallen totschlagen?« sagte er. »Aber wenn ichs nun täte, sieh doch nur mal, wie er mich dann in der Gewalt hätte.«

»Hältst du mich für verrückt!« rief sie.

»Durchaus nicht. Aber du verstehst mich nicht, meine Liebste.«

Es entstand eine Pause zwischen ihnen.

»Aber du solltest dich nicht der Gefahr aussetzen,« bat sie.

Er zuckte die Achseln.

»›Wessen Leben rein, sonder Fehl noch Makel,
Der braucht weder Speer noch Bogen des Mauren,
Auch den Köcher nicht, der voll von vergifteten Pfeilen,‹«

führte er an.

Sie sah ihn prüfend an.

»Ich wollte, ich könnte dich verstehen,« sagte sie.

»Da ist bloß nichts zu verstehen,« lachte er.

Sie senkte nachdenklich den Kopf.

Er sah Dawes ein paar Tage lang nicht; dann prallte er eines Morgens, als er aus der Strickerei nach oben rannte, beinahe mit dem untersetzten Metallarbeiter zusammen.

»Was zum ,...« rief der Schmied.

»Tut mir leid!« sagte Paul und ging weiter.

»Tut mir leid!« höhnte Dawes.

Paul pfiff leichthin ›Steck mir mang de Mächens‹.

»Ich werd dir dein Pfeifen schon beibringen, du Hansdampf,« sagte er.

Der andere beachtete ihn gar nicht.

»Jetzt sollen Sie mir Rede stehen für die Geschichte neulich abends.«

Paul ging zu seinem Tisch in der Ecke und blätterte in seiner Eingangsliste herum.

»Geh mal hin und sag Fanny, ich möchte den Auftrag Nummer 097, rasch!« sagte er zu seinem Jungen.

Dawes stand groß und drohend in der Tür und sah dem jungen Manne von oben auf den Kopf.

»Sechs und fünf ist elf und sieben sind achtzehn,« zählte Paul laut zusammen.

»Und hören Sie wohl, Sie da!« sagte Dawes.

»Fünf und neun Pence!« er schrieb eine Zahl hin. »Was ist?« sagte er.

»Ich werd Ihnen schon zeigen, was ist,« sagte der Schmied.

Der andere fuhr mit dem lauten Zusammenzählen seiner Zahlen fort.

»Du kriechendes kleines ,..., du wagst ja gar nicht, mir ins Gesicht zu sehen.«

Paul griff rasch nach seinem schweren Lineal. Dawes fuhr zurück. Der junge Mann zog ein paar Linien in seiner Liste. Der Ältere war wütend.

»Warte man, bis ich dir mal auf den Kopf komme, wo, is ganz schnuppe, denn mach ich aber Hackepeter aus dir, du kleines Schwein!«

»Schön,« sagte Paul.

Hier fuhr der Schmied wuchtig aus der Tür hervor. Grade in demselben Augenblick piepte eine schrille Pfeife. Paul trat ans Sprachrohr.

»Ja!« sagte er und horchte dann hinein. »Ah – ja!« Er horchte, dann lachte er. »Ich komme gleich. Ich habe grade einen Besucher hier.«

Dawes entnahm aus seinem Tone, daß er zu Clara gesprochen hatte. Er trat auf ihn zu.

»Du kleiner Teufel!« sagte er. »Ich werd dich besuchen, in zwei Minuten! Meinst du, ich ließe dich Knirps hier noch weiter so herumspuken?«

Die Gehilfen im Laden sahen auf. Pauls Laufjunge erschien mit irgend etwas Weißem.

»Fanny sagt, Sie hättens auch schon gestern abend haben können, wenn Sie es sie nur hätten wissen lassen,« sagte er.

»Schön,« sagte Paul und sah sich den Strumpf an. »Mach ihn in Ordnung.«

Dawes stand gänzlich übersehen da, hilflos in seiner Wut. Morel drehte sich um.

»Verzeihen Sie einen Augenblick,« sagte er zu Dawes und war im Begriff, die Treppe hinunterzulaufen.

»Bei Gott, ich werd deinen Galopp schon stoppen!« brüllte der Schmied und packte ihn beim Arm. Rasch drehte er sich um.

»He! He!« rief der Laufbursche vor Angst.

Thomas Jordan kam aus seinem kleinen Glasverschlag hervor und durch den Laden gerannt.

»Was ist los? was ist los?« sagte er mit seiner scharfen Altenmannsstimme.

»Ich wollte grade mal abrechnen mit diesem kleinen ,..., das ist alles,« sagte Dawes ganz außer sich.

»Was meinen Sie damit?« schnappte Thomas Jordan.

»Was ich sage,« sagte Dawes, aber etwas unentschlossen.

Morel lehnte sich beschämt gegen den Ladentisch, halb grinsend.

»Was soll das alles?« schnappte Thomas Jordan.

»Könnte 's nicht sagen,« sagte Paul, den Kopf schüttelnd und die Achseln zuckend.

»Könntste nich, könntste nich!« schrie Dawes, sein wütendes hübsches Gesicht vorstoßend und die Faust ballend.

»Sind Sie nun fertig?« fragte der alte Mann, dazwischentretend. »Machen Sie sich an Ihre Arbeit und kommen Sie nicht schon am Morgen bezecht her.«

Dawes wandte seine gewaltige Masse langsam ihm zu.

»Bezecht!« sagte er. »Wer ist bezecht? Ich bin nicht bezechter als Sie!«

»Den Vers haben wir schon öfter gehört,« schnappte der alte Mann. »Nun scheren Sie sich weg, und fix. Hier mit Ihren Ruppigkeiten herzukommen.«

Der Schmied sah verachtungsvoll auf seinen Brotherrn nieder. Seine großen, schmierigen und doch für seine Arbeit so gut passenden Hände zuckten unaufhörlich. Paul erinnerte sich, sie wären die Hände von Claras Gatten, und ein Blitz des Hasses durchfuhr ihn.

»Machen Sie, daß Sie wegkommen, ehe Sie rausgeschmissen werden!« schnappte Thomas Jordan.

»Wieso, wer will mich hier rausschmeißen?« sagte Dawes und begann zu grinsen.

Herr Jordan fuhr auf, trat auf den Schmied zu, ihn zurückscheuchend, und schob seine kleine, dicke Gestalt dem Manne mit den Worten entgegen:

»Raus aus meinem Hause – raus!«

Er packte Dawes mit festem Griff.

»Laß los!« sagte der Schmied, und ein Ruck seines Ellbogens ließ den kleinen Geschäftsmann rückwärts stolpern.

Ehe ihm jemand zu Hilfe kommen konnte, war Thomas Jordan auf die leicht sich öffnende selbstschließende Tür zugeflogen. Sie gab nach und ließ ihn das halbe Dutzend Stufen in Fannys Arbeitsraum hinunterkrachen. Eine Sekunde lang war alles betäubt; dann liefen Männer und Weiber hinunter. Dawes blieb einen Augenblick mit einem bitteren Blick auf den Vorgang stehen, dann ging er.

Thomas Jordan war sehr erschreckt und zerschrammt, aber sonst nicht verletzt. Er war jedoch außer sich vor Wut. Er entließ Dawes aus seiner Stellung und verklagte ihn wegen Körperverletzung.

In der Verhandlung hatte Paul sein Zeugnis abzugeben. Auf die Frage nach dem Beginn des Auftritts sagte er:

»Dawes nahm Veranlassung, Frau Dawes und mich zu beleidigen, weil ich sie eines Abends ins Theater begleitet hatte; dafür habe ich ihn mit Bier begossen, und er wollte sich nun rächen.«

» Cherchez la femme!« lächelte der Richter.

Die Sache wurde abgewiesen, nachdem der Untersuchungsrichter Dawes noch gesagt hatte, er halte ihn für ein Stinktier.

»Sie haben die ganze Sache verdorben,« schnappte Herr Jordan nach Paul.

»Ich glaube doch nicht,« sagte er. »Außerdem, Sie wollten ihn doch gar nicht wirklich verurteilt haben, nicht?«

»Weshalb hätte ich denn wohl die Sache angefangen?«

»Ja,« sagte Paul, »es sollte mir leidtun, wenn ich was Verkehrtes gesagt hätte.«

Clara war ebenfalls sehr böse.

»Weshalb brauchte denn mein Name auch noch mit dahineingezerrt werden?« sagte sie.

»Besser es offen auszusprechen als darüber flüstern zu lassen.«

»Es war doch ganz und gar unnötig,« erklärte sie.

»Deshalb gehts uns doch nicht schlechter,« sagte er gleichgültig.

»Dir vielleicht nicht,« sagte sie.

»Und dir?« fragte er.

»Ich hätte gar nicht erwähnt zu werden brauchen.«

»Tut mir leid,« sagte er; es klang aber nicht so.

Er sagte leichtherzig zu sich: ›Sie wird schon wieder herumkommen.‹ Und sie tats.

Er erzählte seiner Mutter von Herrn Jordans Fall und der Untersuchung gegen Dawes. Frau Morel beobachtete ihn sorgfältig.

»Und was hältst du von alledem?« fragte sie ihn.

»Ich halte ihn für einen Narren,« sagte er.

Aber nichtsdestoweniger war ihm doch recht unbehaglich.

»Hast du jemals bedacht, wo dies ein Ende nehmen soll?« sagte seine Mutter.

»Nein,« antwortete er; »die Dinge regeln sich schon von selbst.«

»Das tun sie, aber für gewöhnlich auf eine Art und Weise, die einem nicht lieb ist,« sagte seine Mutter.

»Und denn muß man sich eben damit abfinden,« sagte er.

»Du wirst sehen, das Sich-damit-Abfinden wird dir nicht so leicht werden, wie du denkst,« sagte sie. Er fuhr fort, rasch an seiner Zeichnung weiter zu arbeiten.

»Hast du sie jemals um ihre Meinung gefragt?« sagte sie endlich.

»Worüber?«

»Über dich und über die ganze Sache.«

»Ich kümmere mich nicht drum, was sie über mich denkt. Sie ist fürchterlich in mich verliebt, aber es geht nicht sehr tief.«

»Aber genau so tief wie dein Gefühl für sie.«

Neugierig sah er zu seiner Mutter auf.

»Ja,« sagte er. »Weißt du, Mutter, ich glaube, es muß da irgendwas mit mir los sein, daß ich gar nicht richtig lieben kann. Wenn sie da ist, habe ich sie lieb, in der Regel. Zuweilen, wenn ich sie einfach grade als die Frau ansehe, dann habe ich sie lieb, Mutter; aber wenn sie dann redet und ihr Urteil abgibt, dann höre ich oft gar nicht hin.«

»Und doch hat sie ebensoviel Verstand wie Miriam.«

»Vielleicht; und ich habe sie auch lieber als Miriam. Aber warum können sie mich nicht halten?«

Die letzte Frage war fast einer Klage gleich. Seine Mutter wandte das Gesicht ab, sie saß und blickte durchs Zimmer, sehr ruhig, ernst, mit so etwas wie Entsagung.

»Aber heiraten möchtest du Clara nicht?« sagte sie.

»Nein; zuerst hätte ich es vielleicht getan. Aber warum – warum mag ich weder sie noch eine andere heiraten? Mir ist manchmal, als täte ich meinen Weibern Unrecht, Mutter.«

»Tätest ihnen Unrecht, wieso, mein Junge?«

»Ich weiß nicht.«

In wahrer Verzweiflung fuhr er mit seiner Malerei fort; sie hatte grade den wunden Punkt seines Kummers getroffen.

»Und mit dem Nicht-heiraten-mögen, dazu hast du noch viel Zeit,« sagte seine Mutter.

»Aber nein, Mutter. Ich liebe Clara ja, und ich liebte auch Miriam; aber mich ihnen in der Ehe hingeben könnte ich nicht. Ich könnte ihnen nicht angehören. Es scheint, sie möchten mich gern haben, und ich kann mich ihnen nie geben.«

»Du hast die Richtige noch nicht gefunden.«

»Und solange du lebst, werde ich auch nie die Richtige finden,« sagte er.

Sie war sehr ruhig. Sie begann sich jetzt müde zu fühlen, als wäre es mit ihr aus.

»Wollen mal sehen, mein Junge,« sagte sie.

Das Gefühl, die Dinge liefen im Kreise, machte ihn verrückt.

Clara war in der Tat leidenschaftlich in ihn verliebt, und er in sie, soweit es sich um Leidenschaft handelte. Tagsüber vergaß er sie recht oft. Sie arbeitete im gleichen Gebäude mit ihm, aber er wurde sie nicht gewahr. Er war tätig, und ihr Dasein war ihm gleichgültig. Aber sie hatte die ganze Zeit über, die sie in der Strickerei verbrachte, beständig das Gefühl, er sei dort oben, ein körperliches Gefühl seiner Person im gleichen Gebäude. Jeden Augenblick erwartete sie, ihn durch die Tür kommen zu sehen, und kam er, so war es ihr ein Schreck. Aber er war oft kurz und abgerissen mit ihr. Er gab ihr seine Aufträge in dienstlicher Art und Weise und hielt sie sich vom Leibe. Was ihr noch an Sinnen geblieben war, lauschte auf ihn. Sie wagte nicht, ihn mißzuverstehen oder etwas zu vergessen, aber es war Grausamkeit für sie. Sie wünschte seine Brust zu berühren. Sie wußte genau, wie seine Brust unter der Weste gestaltet war, und sie wünschte sie zu berühren. Es machte sie wahnsinnig, seine Stimme gedankenlos Befehle betreffs der Arbeit geben zu hören. Sie wünschte die Hülle zu durchbrechen, die gleichgültige Hülle von Geschäftlichkeit zu zerschmettern, die ihn mit ihrer Härte verdeckte, wieder zu dem Manne zu gelangen; aber sie war bange, und ehe sie noch zur leisesten Berührung mit seiner Wärme gelangte, war er wieder fort, und sie härmte sich um ihn.

Er wußte, jeden Abend, an dem sie ihn nicht sähe, wäre sie traurig, und so schenkte er ihr einen guten Teil seiner Zeit. Oft waren die Tage ihr ein Jammer, aber die Abende und Nächte waren gewöhnlich für sie beide Glückseligkeit. Dann waren sie stumm. Stundenlang saßen sie zusammen oder gingen miteinander durch die Dunkelheit und sagten nur ein paar bedeutungslose Worte. Aber er hielt ihre Hand in der seinen, und ihr Busen ließ seine Wärme in seiner Brust und ließ ihn sich gesund fühlen.

Eines Abends gingen sie am Wasserweg entlang, und irgend etwas beunruhigte ihn. Sie wußte, sie hatte ihn nicht in Besitz. Die ganze Zeit über pfiff er leise und unaufhörlich vor sich hin. Sie hörte zu im Gefühl, mehr aus seinem Pfeifen als aus seinen Worten entnehmen zu können. Es war eine traurige, freudlose Weise – eine Weise, die sie empfinden ließ, er beabsichtige nicht bei ihr zu bleiben. Sie gingen in Schweigen weiter. Als sie an die Drehbrücke kamen, setzte er sich auf den großen Drehbaum und sah nach den Sternen im Wasser. Er war weit weg von ihr. Sie hatte nachgedacht.

»Willst du immer bei Jordan bleiben?« fragte sie.

»Nein,« antwortete er, ohne zu überlegen. »Nein; ich will aus Nottingham weg und ins Ausland – bald.«

»Ins Ausland! Warum denn das?«

»Weiß nich! Ich habe keine Ruhe.«

»Aber was willst du denn anfangen?«

»Zuerst muß ich ständige Zeichenarbeit finden, und so was wie eine Art Ausverkauf für meine Bilder,« sagte er. »Ich komme allmählich vorwärts. Das weiß ich.«

»Und wann meinst du, wirst du gehen?«

»Ich weiß nicht. Es wird auch wohl nicht auf lange sein, solange meine Mutter da ist.«

»Die könntest du nicht verlassen?«

»Nicht auf lange.«

Sie sah nach den Sternen in dem schwarzen Wasser. Sie lagen sehr weiß und starrend da. Es war ihr eine Todesqual zu wissen, er werde sie verlassen, aber es war fast auch Todesqual, ihn hier bei sich zu haben.

»Und wenn du einen hübschen Posten Geld gemacht hast, was würdest du dann tun?« fragte sie.

»In irgendein nettes Häuschen in der Nähe von London ziehen mit meiner Mutter.«

»Ich sehe.«

Nun trat eine lange Pause ein.

»Ich könnte ja immer noch kommen und dich besuchen,« sagte er. »Ich weiß nicht. Frag mich nicht, was ich anfangen würde; ich weiß nicht.«

Wieder Schweigen. Die Sterne zitterten und brachen sich im Wasser. Ein Windhauch kam. Plötzlich trat er zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter.

»Frag mich nicht wegen der Zukunft,« sagte er kläglich. »Ich weiß nichts. Bleib bei mir jetzt, willst du, einerlei wie es wird?«

Und sie schloß ihn in ihre Arme. Schließlich war sie doch eine verheiratete Frau und besaß kein Anrecht selbst auf das, was er ihr gab. Er hatte sie bitter nötig. Sie hielt ihn in ihren Armen, und er war elend. Sie hüllte ihn ein mit ihrer Wärme, tröstete ihn, liebte ihn. Nur an den Augenblick wollte sie denken.

Nach einer Weile hob er den Kopf, als wollte er etwas sagen.

»Clara,« sagte er angestrengt.

Leidenschaftlich preßte sie ihn an sich, bog seinen Kopf mit ihren Händen an ihre Brust. Sie konnte das Leid in seiner Stimme nicht ertragen. Sie war in ihrer Seele bange. Alles hätte er von ihr haben können – alles; aber sie wollte es nicht wissen. Sie fühlte, das könne sie nicht ertragen. Sie wünschte, daß er Linderung bei ihr finde – Linderung. Sie blieb stehen, hielt ihn umschlungen und liebkoste ihn, und er war ihr ein unbekanntes Etwas – beinahe etwas Unheimliches. Sie wünschte ihm Linderung zu bringen bis zur Vergessenheit.

Und bald brach der Kampf in seiner Seele nieder, und er vergaß. Aber nun war Clara nicht mehr für ihn da, nur ein Weib, warm, etwas, das er liebte und fast verehrte, hier in der Dunkelheit. Aber das war nicht Clara, und sie unterwarf sich dem. Der nackte Hunger, die Unvermeidlichkeit seiner Liebe zu ihr, etwas Starkes und Blindes und Unbarmherziges in seiner Ursprünglichkeit machten ihr die Stunde fast zu einer furchtbaren. Sie wußte, wie unbeugsam und einsam er war, und sie fühlte, es war groß, daß er zu ihr kam; und sie nahm ihn einfach hin, weil seine Not größer war als sie oder er, und ihre Seele wurde still in ihrem Innern. Sie tat dies für ihn in seiner Not, und sollte er sie auch verlassen, denn sie liebte ihn.

Die ganze Zeit über kreischten die Kiebitze im Felde. Als er wieder zu sich kam, wunderte er sich, was da so nahe vor seinen Augen liege, gewölbt und stark vor Leben in der Dunkelheit, und welche Stimme da zu ihm spräche. Dann wurde es ihm klar, es sei das Gras, und der Kiebitz rufe. Die Wärme war Claras wogender Atem. Er hob den Kopf und sah ihr in die Augen. Sie waren dunkel und glänzend und seltsam, ein wildes, ursprüngliches Leben in seines starrend, ein fremdes, und doch ihn angehend; und vor Furcht beugte er sein Gesicht nieder auf ihren Hals. Was war sie? Ein starkes, fremdes, wildes Leben, das mit dem seinen in der Dunkelheit diese Stunde durchatmete. Alles um sie her war so viel größer als sie beide, daß es ihn verstummen ließ. Sie hatten sich gefunden und hatten in ihr Sichfinden die Stiche der mannigfaltigen Grashalme, den Schrei der Kiebitze, den Gang der Sterne eingeschlossen.

Als sie aufstanden, sahen sie andere Liebespaare drüben an der gegenüberliegenden Hecke sich entlangstehlen. Es kam ihnen ganz selbstverständlich vor, daß sie da waren; sie waren ein Bestandteil der Nacht.

Und nach einem solchen Abend waren sie immer sehr still, wenn sie erkannten, wie unermeßlich die Leidenschaft sei. Sie kamen sich sehr klein vor, ängstlich, kindlich, und verwundert, wie Adam und Eva, als sie ihre Unschuld verloren hatten und sich über die Gewaltigkeit der Kraft klar wurden, die sie aus dem Paradiese verjagte und durch die große Nacht und den großen Tag der Menschheit von dannen trieb. Für sie beide war es eine Weihe und eine Befriedigung. Ihr eigenes Nichts zu erkennen, die gewaltige Flut des Lebens zu begreifen, die sie mit sich führte, verlieh ihnen innere Ruhe. Wenn eine so große, gewaltige Macht sie überwältigen, sie ganz wesenseins mit sich machen konnte, so daß sie begriffen, sie waren nur winzige Bestandteile der riesenhaften Hubkraft, die jeden Grashalm zu seiner kleinen Höhe brachte, und jeden Baum, jedes Lebewesen, warum sich dann über sich selbst härmen? Sie konnten sich vom Leben dahintragen lassen, und sie empfanden eine Art Ruhe und Frieden, der eine im andern. Es war eine Bestätigung, die sie zusammen erlebt hatten. Die konnte nichts aus der Welt schaffen, nichts ihnen nehmen; es war fast ihr Glaube an das Leben.

Aber Clara fühlte sich nicht befriedigt. Etwas Großes war da, das wußte sie; etwas Großes umhüllte sie. Aber das hielt sie nicht. Am Morgen war es nicht mehr dasselbe. Sie hatten etwas erkannt, aber den Augenblick konnte sie nicht festhalten. Den wünschte sie sich wieder; sie wollte etwas Beständiges. Sie war nicht völlig klar geworden. Sie hatte geglaubt, er sei es gewesen, nach dem sie sich sehnte. Er war ihr nicht sicher. Das, was da zwischen ihnen bestanden hatte, möchte nie wiederkommen; er könnte sie verlassen. Sie hatte ihn nicht gefesselt; sie war nicht befriedigt. Dagewesen war sie, aber sie hatte den – das Etwas – sie wußte nicht was – wonach sie sich so wahnsinnig sehnte, nicht zu fassen gekriegt.

Am Morgen genoß er ungewohnten Frieden und war innerlich glücklich. Fast schien es, als habe er die Feuertaufe der Leidenschaft erhalten, und sie habe ihm Ruhe verschafft. Aber Clara war das nicht. Es war etwas, das sich mit ihrer Hilfe ereignete, aber sie war es nicht. Sie waren sich kaum näher gekommen. Es war, als hätten sie nur als blinde Werkzeuge einer großen Kraft gehandelt.

Als sie ihn an jenem Tage in der Werkstätte sah, schmolz ihr Herz wie ein feuriger Tropfen. Es war sein Leib, seine Brauen. Der feurige Tropfen wurde immer heißer in ihrer Brust; sie mußte ihn fassen. Er aber, sehr ruhig, sehr kleinlaut heute morgen, fuhr fort, seine Anordnungen zu treffen. Sie folgte ihm in den dunklen, häßlichen Keller und hob die Arme zu ihm empor. Er küßte sie, und das Feuer der Leidenschaft begann wieder in ihm aufzulodern. Es war jemand an der Tür. Er lief nach oben; sie ging wieder in ihren Arbeitsraum, sich wie im Halbschlaf vorwärtsbewegend.

Hierauf brannte das Feuer langsam nieder. Er fühlte mehr und mehr, seine Erfahrung sei eine unpersönliche gewesen und habe Clara nicht betroffen. Er liebte sie. Es lag eine große Zärtlichkeit über ihnen, wie nach einer starken Gemütsaufwallung, die sie gemeinsam durchgemacht hatten; aber sie war es nicht, die seine Seele aufrechterhalten konnte. Er hatte etwas von ihr verlangt, was sie nicht zu leisten vermochte.

Und sie war verrückt vor Sehnsucht nach ihm. Sie konnte ihn nicht ansehen, ohne ihn berühren zu wollen. Wenn er in der Werkstatt zu ihr über einen gewebten Strumpf sprach, ließ sie verstohlen ihre Hand über seine Seite fahren. Sie folgte ihm in den Keller um einen raschen Kuß; ihre Augen, immer stumm und sehnend, voll ungezügelter Leidenschaft, hielt sie stets auf ihn geheftet. Er wurde bange vor ihr, sie möchte sich zu offensichtlich vor den anderen Mädchen verraten. Unweigerlich wartete sie zur Essenszeit auf ihn, um sich von ihm küssen zu lassen, bevor sie wegging. Ihm kam es vor, als sei sie hilflos, beinahe eine Last für ihn, und das reizte ihn.

»Aber was mußt du dich denn eigentlich immer küssen und umarmen lassen?« sagte er. »Jedes Ding hat doch seine Zeit.«

Sie sah ihn an, und Haß trat in ihre Augen.

»Ich will dich also immer küssen?« sagte sie.

»Immer, selbst wenn ich komme, um dich nach deiner Arbeit zu fragen. Ich mag nichts mit Liebe zu tun haben, solange ich bei der Arbeit bin. Arbeit ist Arbeit ,...«

»Und was ist Liebe?« fragte sie. »Hat die ihre besonderen Stunden?«

»Ja; die arbeitsfreien.«

»Und du willst sie nach Herrn Jordans Feierabendzeit regeln?«

»Ja; und je nachdem ich frei bin von irgendwelcher Arbeit.«

»Dann soll sie also nur in der Freizeit bestehen?«

»Das ist es, und selbst dann noch nicht immer – nicht die schnäbelnde Art von Liebe.«

»Und das ist alles, was du von ihr hältst?«

»Das ist doch ganz genug.«

»Ich freue mich, daß du so denkst.«

Und sie blieb eine Zeitlang kalt gegen ihn – sie haßte ihn; und solange sie kalt und verachtungsvoll war, war er unruhig, bis sie ihm wieder vergeben hatte. Aber als sie dann aufs neue anfingen, kamen sie sich doch nicht näher. Er hielt sie fest, weil er sie nie befriedigen konnte.

Im Frühling gingen sie zusammen an die See. Sie hatten Zimmer in einem kleinen Hause dicht bei Theddlethorpe und lebten dort als Mann und Frau. Frau Radford ging zuweilen mit ihnen.

In Nottingham war es ganz bekannt, daß Paul Morel und Frau Dawes zusammen gingen; aber da nichts sehr Auffälliges vorfiel und Clara immer ein einsames Menschenkind gewesen war und er einen so schlichten und unschuldigen Eindruck machte, so kam nicht viel dabei heraus.

Er liebte die Lincolnshireküste, und sie liebte die See. Am frühen Morgen gingen sie oft zusammen zum Baden. Das Grau der Dämmerung, die weiten, einsamen Strecken Moorland, die noch in Winters Banden lagen, die Seewiesen mit ihrem üppigen Kräuterwuchs besaßen Kraft genug, seine Seele freudig zu machen. Wenn sie von ihrer Bohlenbrücke auf die Landstraße traten und ringsum über die eintönige Endlosigkeit der Ebene blickten, über das Land, das etwas dunkler als der Himmel war, über die See, die nur leise über die Sanddünen herübertönte, dann füllte sich sein Herz mit Kraft durch den erbarmungslosen Schwung des Lebens. Dann liebte sie ihn. Er war einsam und stark, und seine Augen hatten ein wundervolles Licht.

Sie schauerten zusammen vor Kälte; dann lief er mit ihr um die Wette die Landstraße hinab bis zu der grünen Rasenbrücke. Sie konnte gut laufen. Bald bekam sie dann Farbe, ihr Hals war bloß, ihre Augen glänzten. Er liebte sie in ihrer üppigen Schwere, und doch so rasch. Er selbst war leicht; sie lief los mit einem prächtigen Ansturm. Sie wurden warm und gingen Hand in Hand.

Eine leise Röte stieg am Himmel empor, der blasse Mond, schon halb hinunter zum Westen, versank in Bedeutungslosigkeit. Auf dem beschatteten Lande traten die Dinge ins Leben, Pflanzen mit großen Blättern wurden unterscheidbar. Sie kamen durch eine Scharte in den hohen, kalten Dünen an die Bucht. Stöhnend lag die lange Weite des Vorstrandes unter der Dämmerung und der See; das Meer war ein niedriger dunkler Streifen mit weißer Kante. Über der düsteren See wurde der Himmel rot. Rasch verbreitete sich das Feuer über die Wolken und zerstreute sie. Purpur entbrannte zu Rotgelb, Rotgelb zu stumpfem Gold, und in goldenem Glanze stieg die Sonne herauf und spielte feurig in kleinen Tropfen über die Wogen hin, als wäre dort eine entlanggegangen, und das Licht wäre aus ihrem Eimer übergespritzt, während sie dahinschritt.

Mit langen, heiseren Schlägen liefen die Brecher den Strand entlang. Winzige Möwen segelten wie Schaumflocken über dem Brandungsstrich. Ihr Schrei schien größer als sie selbst. Weit streckte sich die Küste hin und verschmolz mit dem Morgen, die büschelübersäten Dünen schienen mit der Bucht in die gleiche Ebene zu versinken. Winzig klein lag Mablethorpe zu ihrer Rechten. Ganz allein für sich hatten sie den ganzen weiten Küstenraum, die See, die aufsteigende Sonne, das schwache Geräusch des Wassers, den scharfen Möwenschrei.

Sie hatten eine warme Höhlung in den Dünen, wo der Wind nicht ankommen konnte. Er stand und sah über die See

»Es ist sehr schön,« sagte er.

»Nun werde bloß nicht erst gefühlvoll,« sagte sie.

Es reizte sie, ihn so dastehen zu sehen und nach der See herüberzuschauen, wie ein einsames, dichtendes Wesen. Er lachte. Sie zog sich rasch aus.

»Feine Wellen sind heute morgen,« sagte sie siegesfroh.

Sie schwamm besser als er; er stand untätig da und sah ihr zu.

»Kommst du nicht?« sagte sie.

»Im Augenblick,« antwortete er.

Sie hatte eine Haut wie weißer Samt und schwere Schultern. Ein leichter, von der See herüberkommender Wind fuhr ihr über den Leib und zauste ihr Haar.

Der Morgen war von einer entzückenden, durchsichtigen Goldfarbe. Schattenschleier schienen nach Nord und Süd davonzutreiben. Clara stand da, leicht unter der Berührung des Windes zusammenschauernd, und wand sich das Haar auf. Der Strandhafer hob sich hinter der nackten Weiße der Frau empor. Sie blickte nach der See hinüber und dann auf ihn. Er beobachtete sie mit dunklen Augen, die sie liebte und doch nicht verstand. Sie preßte ihre Brüste mit den Armen zusammen, sich krümmend und lachend.

»Uh, muß das heut kalt sein!« sagte sie.

Er beugte sich vor und küßte sie, hielt sie plötzlich eng umschlungen fest und küßte sie wieder. Sie stand und wartete. Er sah ihr in die Augen, dann weit weg über den bleichen Sand.

»Nun geh!« sagte er ruhig.

Sie schlang ihm die Arme um den Hals, zog ihn an sich, küßte ihn leidenschaftlich und ging mit den Worten:

»Aber du kommst auch?«

»Im Augenblick.«

Mühsam knetete sie durch den Sand, der weich war wie Samt. Er sah von den Dünen aus die große, blasse Weite sie umhüllen. Sie wurde immer kleiner, verlor jedes Verhältnis, schien nur noch wie ein großer, weißer, vorwärtsstrebender Vogel.

»Nicht viel mehr als ein weißer Kiesel am Strande, nicht viel mehr als eine über den Sand getriebene Schaumflocke,« sagte er bei sich.

Sehr langsam schien sie sich über den lauttönenden Vorstrand hinzubewegen. Noch indem er sie beobachtete, verlor er sie aus den Augen. Sie war vom Sonnenglanz verschluckt. Wieder sah er sie, einen winzigen weißen Flecken sich gegen den weißen, flüsternden Saum der See hin bewegend.

»Sieh, wie klein sie wird!« sagte er zu sich. »Sie ist weg wie ein Sandkorn am Strande – ein grade noch bestimmbarer Fleck, eine winzige weiße Schaumblase, fast ein Nichts in diesem Morgen. Warum verzehrt sie mich so ganz?«

Der Morgen war durch nichts mehr unterbrochen: sie war ins Wasser gegangen. Weit und breit nur der Strand, die Dünen mit ihrem blauen Strandhafer, das glänzende Wasser zu gewaltiger, ununterbrochener Einsamkeit verschmolzen.

»Was ist sie denn schließlich?« sagte er bei sich. »Hier ist der Morgen über der See, groß und ewig und schön; dort ist sie, sich grämend, immer unbefriedigt, und von der Dauer einer Schaumblase. Was bedeutet sie denn schließlich für mich? Sie steht für irgend etwas, wie eine Schaumblase für die See steht. Aber was ist sie? Aus ihr mache ich mir doch nichts.«

Dann, aufgeweckt durch seine unbewußten Gedanken, die so deutlich zu sprechen schienen, daß der ganze Morgen es hören konnte, zog er sich aus und rannte rasch den Strand hinab. Sie hatte ihn beobachtet. Ihr Arm blitzte ihm entgegen, sie hob sich mit einer Welle, ließ sich wieder sinken, ihre Schultern in einem Wirbel flüssigen Silbers. Er sprang durch die Brandung, und im Augenblick lag ihre Hand auf seiner Schulter.

Er war ein armseliger Schwimmer und konnte nicht lange im Wasser bleiben. Sie spielte voller Siegeslust um ihn herum und brüstete sich ihrer Überlegenheit, die er ihr mißgönnte. Tief und schön stand der Sonnenschein auf dem Wasser. Ein oder zwei Minuten lachten sie noch in die See hinaus, dann rannten sie wieder um die Wette nach den Dünen zurück.

Während sie sich unter schwerem Atmen abtrockneten, beobachtete er ihr lachendes, atemloses Gesicht, ihre glänzenden Schultern, ihre sich wiegenden Brüste, die ihn beängstigten, als sie sie abrieb, und dachte wiederum:

»Aber prachtvoll ist sie doch, und größer als selbst der Morgen und die See. Ist sie ,...? Ist sie ,...?

Als sie seine dunklen Augen auf sich geheftet sah, unterbrach sie ihr Abtrocknen mit einem Lachen.

»Was hast du denn zu sehen?« sagte sie.

»Dich,« antwortete er lachend.

Ihre Augen trafen die seinen, und im Augenblick küßte er ihre ›Gänsehaut‹schulter und dachte:

»Was ist sie? Was ist sie?«

Sie liebte ihn am Morgen. Es war etwas Losgelöstes, Hartes, Urwesenhaftes dann in seinen Küssen, als wäre er nur seines eigenen Willens sich bewußt, nicht im geringsten ihrer und ihrer Sehnsucht nach ihm.

Später am Tage ging er aus, um zu skizzieren.

»Geh du nur mit deiner Mutter nach Sutton,« sagte er zu ihr. »Ich bin so langweilig.«

Sie stand und sah ihn an. Er wußte, sie wünschte mit ihm zu kommen, aber er wollte lieber allein sein. Sie ließ ihn sich gefangen fühlen, wenn sie dabei war, als könne er nicht frei und tief Atem holen, als läge etwas auf ihm. Sie fühlte seinen Wunsch, frei von ihr zu sein.

Abends kam er dann wieder zu ihr. Sie gingen im Dunklen den Strand hinab und saßen dann ein Weilchen im Schutze der Dünen.

»Es kommt mir so vor,« sagte sie, während sie über die dunkle See hinausstarrten, auf der kein Licht zu erblicken war, »es kommt mir so vor, als liebtest du mich nur nachts als hättest du mich tagsüber gar nicht lieb.«

Er ließ den kalten Sand durch die Finger laufen und fühlte sich schuldig unter dieser Anklage.

»Die Nacht ist frei für dich,« erwiderte er. »Am Tage will ich für mich sein.«

»Aber warum?« sagte sie. »Warum, selbst jetzt, wo wir nur diese kurze Zeit hier sind?«

»Ich weiß nicht. Liebesspiele am Tage ersticken mich.«

»Aber es brauchen ja nicht immer gleich Liebesspiele zu sein.«

»Es ist aber immer so,« antwortete er, »wenn du und ich zusammen sind.«

Sie saß da und fühlte sich sehr bitter.

»Möchtest du mich jemals heiraten?« fragte er neugierig.

»Du mich denn?« erwiderte sie.

»Ja, ja; ich möchte zu gern, wir hätten Kinder,« antwortete er langsam.

Sie saß da mit vornübergebeugtem Kopfe und spielte mit dem Sand.

»Aber du möchtest dich nicht wirklich von Baxter scheiden lassen, nicht?« sagte er.

Es dauerte ein paar Minuten, bevor sie antwortete.

»Nein,« sagte sie, voller Überlegung; »ich glaube nicht.«

»Warum nicht?«

»Ich weiß nicht.«

»Kommts dir noch so vor, als gehörtest du zu ihm?«

»Nein; ich glaube nicht.«

»Was denn aber?«

»Ich glaube, er gehört zu mir,« erwiderte sie.

Er blieb ein paar Minuten lang stumm und lauschte auf den über die heisere, dunkle See dahinblasenden Wind.

»Und du hattest nie wirklich die Absicht, mir anzugehören?« sagte er.

»Doch, ich gehöre dir an,« antwortete sie.

»Nein,« sagte er; »du willst dich doch nicht scheiden lassen.«

Das war ein Knoten, den sie nicht lösen konnten, und so ließen sie ihn, nahmen mit, was sie konnten, und was sie nicht erreichen konnten, das übersahen sie.

»Ich glaube, du hast Baxter ruppig behandelt,« sagte er ein andermal.

Halb erwartete er, Clara würde ihm wie seine Mutter antworten: »Kümmere du dich um deine eigenen Angelegenheiten, und nicht so viel um die anderer Leute.« Aber sie nahm ihn ernst, fast zu seiner Überraschung.

»Wieso?« sagte sie.

»Ich vermute, du hieltest ihn für ein Maiglöckchen und pflanztest ihn daher in einen geeigneten Topf und behandeltest ihn entsprechend. Du hattest dir einmal in den Kopf gesetzt, er wäre ein Maiglöckchen, und nun nützte es ihm nicht, daß er bloß Hundspetersilie war. Das gabst du nicht zu.«

»Ich habe ihn mir wirklich nie als Maiglöckchen vorgestellt.«

»Du bildetest dir aber ein, er wäre etwas, was er nicht war. Das ist so Frauenart. Sie meinen, sie wüßten, was einem Manne gut tut, und dann sehen sie zu, daß er das bekommt; und ganz einerlei, ob er verhungert, laß ihn man sitzen und pfeifen nach dem, was ihm nottut, solange sie ihn nur haben und ihm geben, was ihrer Meinung nach für ihn gut ist.«

»Und wie machst du's?« fragte sie.

»Ich denke drüber nach, was ich wohl pfeifen soll,« lachte er. Und anstatt ihm eins an die Ohren zu geben, betrachtete sie ihn ernsthaft.

»Du meinst, ich wollte dir geben, was für dich gut ist?« fragte sie.

»Ich hoffe doch; aber die Liebe sollte einem eine Empfindung von Freiheit geben, nicht von Gefangenschaft. Miriam brachte mich zu dem Gefühl, als sei ich ein Esel, den sie an einen Pfahl gebunden hatte. Ich sollte auf ihrer Wiese weiden, und nirgendwo anders. Das ist ja zum Elendwerden!«

»Und würdest du denn eine Frau tun lassen, was sie will?«

»Ja; ich würde zusehen, daß es ihr Spaß macht, mich zu lieben. Tut sie's nicht – schön, ich halte sie nicht.«

»Wärst du so wundervoll, wie du sagst ,...,« erwiderte Clara.

»Dann wäre ich das Wundertier, das ich bin,« lachte er.

In dem Schweigen, das nun eintrat, lag gegenseitiger Haß, wenn sie auch beide lachten.

»Liebe ist mißgünstig,« sagte er.

»Und wer von uns beiden ist der Mißgünstigere?« fragte sie.

»Na, du doch selbstverständlich.«

So lief der Kampf zwischen ihnen weiter. Sie wußte, sie hätte ihn nie völlig besessen. Über einen Teil seines Wesens, einen sehr großen und bedeutenden, hatte sie beinahe Macht; aber sie versuchte diese auch gar nicht zu erlangen, oder auch nur sich darüber klar zu werden, worin sie bestünde. Und er wußte, daß sie in gewisser Hinsicht sich immer noch als Frau Dawes ansah. Sie liebte Dawes nicht, hatte ihn nie geliebt; aber sie glaubte, er liebe sie, er sei wenigstens von ihr abhängig. Sie empfand mit Hinsicht auf ihn eine gewisse Sicherheit, die sie bei Paul Morel nie empfunden hatte. Ihre Leidenschaft für den jungen Mann hatte ihre Seele ausgefüllt, ihr eine gewisse Befriedigung verursacht, sie von dem Mißtrauen gegen sich selbst befreit, dem Zweifel. Mochte sie sonst sein, was sie wollte, sie war innerlich sicher. Es war fast, als habe sie sich selbst gewonnen und stände nun klar und vollkommen da. Sie hatte ihre Bestätigung erhalten; aber nie glaubte sie, ihr Leben gehöre Paul Morel, oder das seine ihr. Sie würden sich am Ende trennen, und der Rest ihres Lebens würde ein Sehnen nach ihm sein. Aber jedenfalls wußte sie jetzt, daß sie ihrer selbst sicher war. Und das gleiche konnte auch von ihm gesagt werden. Zusammen hatten sie die Taufe des Lebens empfangen, jeder durch den andern; aber nun liefen ihre Sendungen verschiedene Wege. Wohin er zu gehen wünschte, dorthin konnte sie ihm nicht folgen. Früher oder später müßten sie auseinandergehen. Selbst wenn sie sich heirateten und einander treu blieben, würde er sie doch verlassen, allein weiterziehen müssen, und sie würde ihn nur zu pflegen haben, wenn er wieder heimkäme. Aber das war nicht möglich. Jeder von ihnen wünschte sich einen Gefährten, um mit ihm Seite an Seite dahinzuwandeln.

Clara war jetzt mit ihrer Mutter nach Mapperley Plains gezogen. Eines Abends, als sie und Paul die Woodborough Road entlanggingen, trafen sie Dawes. Morel erkannte etwas in der Haltung des ihnen entgegenkommenden Mannes wieder, aber er war im Augenblick so von seinen Gedanken in Anspruch genommen, daß nur sein Künstlerauge die Gestalt des Fremden beobachtete. Dann wandte er sich plötzlich mit einem Lachen zu Clara und sagte, indem er ihr die Hand auf die Schulter legte:

»Da gehen wir Seite an Seite, und doch unterhalte ich mich innerlich in London mit einem gewissen Orpen; und wo warst du?«

In demselben Augenblick ging Dawes an ihnen vorbei, so daß er Morel fast streifte. Der junge Mann sah hinüber, sah den Brand in den dunkelbraunen Augen, so voller Haß und doch so müde.

»Wer war das?« fragte er Clara.

»Das war Baxter,« erwiderte sie.

Paul nahm die Hand von ihrer Schulter und sah sich um; dann sah er wieder deutlich die Gestalt des sich ihm nähernden Mannes. Dawes ging noch ganz aufrecht, seine schönen Schultern zurückgebogen und das Gesicht erhoben; aber es lag ein verstohlener Blick in seinen Augen, der einem den Eindruck verursachte, als suche er unerkannt an allen ihm Begegnenden vorüberzukommen, und als sähe er sie argwöhnisch daraufhin an, was sie wohl von ihm dächten. Seine Hände schienen sich vergeblich verstecken zu wollen. Er trug altes Zeug, die Hosen waren an den Knien zerrissen, und das um den Hals geschlungene Taschentuch war schmutzig; aber die Mütze trug er immer noch herausfordernd auf einem Ohr. Clara fühlte sich schuldbewußt, als sie ihn sah. Es lag eine Müdigkeit und eine Verzweiflung auf seinem Gesicht, die sie ihn hassen ließ, weil sie ihr so weh taten.

»Er sieht düster aus,« sagte Paul.

Aber der Klang des Mitleids in seiner Stimme war ihr wie ein Vorwurf und ließ sie hart werden.

»Jetzt kommt seine wahre Gemeinheit durch,« antwortete sie.

»Hassest du ihn?« fragte er sie.

»Du redest«, sagte sie, »über die Grausamkeit der Frau; ich wünschte, du kenntest die Grausamkeit des Mannes in seiner rohen Kraft. Er weiß einfach gar nichts vom Dasein der Frau.«

»Ich auch nicht?« sagte er.

»Nein,« antwortete sie.

»Weiß ich nichts von deinem Dasein?«

»Von mir weißt du gar nichts,« sagte sie bitter – »von mir!«

»Nicht mehr, als Baxter wußte?« fragte er.

»Vielleicht noch nicht mal so viel.«

Er fühlte sich vor einem Rätsel, und hilflos und verärgert. Da ging sie unbekannt neben ihm her, obgleich sie miteinander solche Erfahrungen durchgemacht hatten.

»Aber du kennst mich recht gut,« sagte er.

Sie antwortete nicht.

»Hast du Baxter so gut wie mich gekannt?« fragte er.

»Das ließ er nicht zu,« sagte sie.

»Und habe ich mich von dir erkennen lassen?«

»Das wollt ihr Männer einen ja grade nicht. Ihr wollt uns euch nicht näherkommen lassen,« sagte sie.

»Und ich habe dich mir auch nicht näherkommen lassen?«

»Doch,« sagte sie langsam; »aber du bist mir nie nähergekommen. Du kannst nicht aus deiner Haut heraus, unmöglich. Baxter konnte das viel besser als du.«

Nachdenklich ging er weiter. Er war ärgerlich auf sie, weil sie Baxter ihm vorzog.

»Nun du Baxter nicht mehr hast, beginnst du ihn zu schätzen,« sagte er.

»Nein; ich kann jetzt nur erkennen, inwiefern er anders war als du.«

Aber er fühlte, sie habe etwas gegen ihn auf dem Herzen. Eines Abends, als sie über die Felder heimgingen, überraschte sie ihn mit der plötzlichen Frage:

»Meinst du, es ist das wert – das – das Geschlechtliche?«

»Die Betätigung der Liebe an sich?«

»Ja; ist dir die besonders wertvoll?«

»Aber wie kannst du davon absehen?« sagte er. »Es ist doch der Höhepunkt des Ganzen. Unsere ganze Vertraulichkeit gipfelt doch hierin.«

»Für mich nicht,« sagte sie.

Er war stumm. Ein Blitz des Hasses gegen sie flammte auf. Schließlich war sie selbst hier mit ihm unzufrieden, wo er glaubte, sie wären eins vom andern gänzlich erfüllt. Aber er glaubte ihr zu vollständig.

»Mir ist,« fuhr sie langsam fort, »als besäße ich dich gar nicht, als wärest du gar nicht da, oder als wäre ich es gar nicht, die du hinnimmst ,...«

»Wer denn?«

»Etwas dir Zukommendes. Es war so schön, daß ich gar nicht dran zu denken wage. Aber sehntest du dich wirklich nach mir, oder nach dem Etwas?«

Wieder fühlte er sich schuldig. Ließ er Clara ganz außer Ansatz und nahm in ihr einfach die Frau? Aber er hielt das doch nur für Haarspaltereien.

»Wenn ich Baxter hatte, gelegentlich einmal, dann war mir, als hätte ich ihn wirklich,« sagte sie.

»War das denn besser?« fragte er.

»Ja, ja; es war mehr das Ganze. Ich will aber nicht sagen, daß du mir nicht mehr gegeben hast, als er mir je gab.«

»Oder geben konnte.«

»Ja, vielleicht; aber dich selbst hast du mir nie gegeben.«

Ärgerlich runzelte er die Brauen.

»Ich brauche nur anzufangen, dir meine Liebe zu beweisen,« sagte er, »dann gehts mit mir los wie ein Blatt vor dem Wind.«

»Und mich läßt du dabei ganz außer acht,« sagte sie.

»Und dann ist es dir nichts?« fragte er, fast starr vor Kummer.

»Es ist schon etwas; und manchmal hast du mich auch mitgerissen – völlig – das weiß ich – und – deshalb verehre ich dich auch – aber ,...«

»›Aber‹ mich doch nicht immer,« sagte er, sie rasch küssend, da ein Feuerstrom ihn überflutete.

Sie unterwarf sich und war stumm.

Es war wirklich, wie er es gesagt hatte. In der Regel war seine Empfindung, sobald er erst einmal anfing, ihr seine Liebe zu beweisen, stark genug, um alles mit sich zu reißen – Verstand, Seele, Blut – in einem gewaltigen Schwunge, wie der Trent als Ganzes seine Wirbel und Verschlingungen dahinführt, geräuschlos. Allmählich ging die kleinliche Prüfsucht, gingen alle kleineren Empfindungen verloren, auch sein Denken schwand hin, alles wurde von der großen Flut mitgerissen. Er war gar nicht mehr ein mit Verstand begabter Mensch, er war nur noch ein großes Gefühl. Seine Hände waren wie lebende Wesen; seine Gliedmaßen, sein Leib, alles war Leben und Bewußtsein, gar nicht mehr seinem Willen Untertan, sondern selbständige Geschöpfe. Gleich ihm erschienen auch die kräftigen winterlichen Sterne stark vor Leben. Er und sie erbebten von demselben feurigen Pulse, und dieselbe Freude an der Kraft, die die Farnwedel vor seinen Augen steif werden ließ, hielt auch seinen Körper fest. Es war, als würden er und die Sterne und das dunkle Kraut und Clara alle miteinander in einer riesigen Flammenzunge emporgeleckt, die vorwärts und aufwärts strebte. Alles neben ihm fuhr voller Leben dahin; alles war still, vollkommen in sich, um ihn her. Diese wundervolle Stille in allen Dingen, die selbst von einem Überschwang an Leben mitgerissen wurde, schien ihm der Gipfelpunkt der Seligkeit.

Und in dem Bewußtsein, dies halte ihn bei ihr fest, vertraute Clara vollständig der Leidenschaft. Die jedoch begann häufig auszusetzen. Nicht oft erreichten sie jene Höhen wieder, von damals, als die Kiebitze gerufen hatten. Allmählich verdarb ihnen irgendwelche ganz gedankenlose Anstrengung ihren Liebesgenuß, oder selbst wenn sie prachtvolle Augenblicke durchlebten, so genossen sie sie getrennt, und nicht so befriedigend. So häufig schien er lediglich für sich davonzurennen; oft wurde es ihnen klar, es sei ein Mißgriff gewesen, nicht das, was sie ersehnt hatten. Er ging von ihr in der Erkenntnis, der heutige Abend habe nur einen kleinen Riß zwischen ihnen zustande gebracht. Ihre Liebe wurde gedankenloser, verlor ihren wundervollen Glanz. Allmählich begannen sie neue Hilfsmittel zu erfinden, um nur zu dem alten Gefühl von Befriedigung zu gelangen. Sie konnten sehr nahe dem Flusse weilen, in fast gefahrdrohender Nähe, so daß das schwarze Wasser nicht weit von seinem Gesicht dahinrann, und das verursachte ihnen einen kleinen Schauer; oder zuweilen liebten sie sich auch einmal in einer kleinen Höhlung unterhalb des Zaunes neben dem Pfade, auf dem hin und wieder Leute vorübergingen, am Rande der Stadt, und sie hörten Fußtritte herankommen, fühlten fast die Erschütterung durch die Schritte und hörten, was die Vorübergehenden sagten – merkwürdige kleine Äußerungen, die niemand hören sollte. Und nachher schämten sie sich beide recht, und diese Vorkommnisse verursachten eine Entfremdung zwischen ihnen. Er begann sie ein wenig zu verachten, als hätte sie das verdient!

Eines Abends verließ er sie, um über die Felder nach der Daybrook-Haltestelle zu gehen. Es war sehr dunkel und neigte zu Schnee, obgleich der Frühling schon weit vorgeschritten war. Morel hatte nicht viel Zeit; er sauste vorwärts. Die Stadt hört beinahe wie abgerissen am Rande einer steilen Senkung auf; hier stehen die Häuser mit ihren gelben Lichtern unmittelbar gegen die Dunkelheit. Er kletterte über den Übergang und fiel rasch wieder in die Niederung der Felder. Auf dem Schweinskopfhofe glimmte ein Fenster warm durch den Obstgarten. Paul sah sich um. Hinter ihm standen die Häuser am Rande der Senkung schwarz gegen den Himmel und starrten merkwürdig wie wilde Tiere mit ihren gelben Augen in die Dunkelheit hernieder. Die Stadt war es, die dunkel und grob erschien, wie sie so die Wolken ihm im Rücken anstierte. Unter den Weiden am Hofteiche rührte sich irgendein Geschöpf. Es war zu dunkel, um irgend etwas erkennen zu können.

Er war dicht an den nächsten Übergang gelangt, bevor er eine dunkle Gestalt sich dagegen lehnen sah. Der Mann bewegte sich zur Seite.

»Guten Abend!« sagte er.

»Guten Abend!« antwortete Morel ohne Acht.

»Paul Morel?« sagte der Mann.

Da wußte er, es war Dawes. Der Mann vertrat ihm den Weg.

»Nun hab ich dich, nicht?« sagte er plump.

»Ich verpasse meinen Zug,« sagte Paul.

Von Dawes' Gesicht konnte er nichts erkennen. Dem Manne schienen die Zähne zu schnattern, während er sprach.

»Jetzt sollst du's von mir kriegen,« sagte Dawes.

Morel versuchte vorwärts zu gelangen; der andere trat vor ihn hin.

»Willst du deinen Mantel ausziehen, oder willst du dich in ihm hinlegen?« sagte er.

Paul war bange, der Mann wäre verrückt.

»Ich kann aber nicht boxen,« sagte er.

»Na, denn schön,« sagte Dawes, und ehe der Jüngere auch nur eine Ahnung hatte, was vorging, stolperte er bereits durch einen heftigen Schlag ins Gesicht zurück.

Die ganze Nacht wurde nun schwarz. Er riß sich Überzieher und Rock ab und schleuderte, indem er einem Schlage auswich, diese Kleidungsstücke Dawes über. Dieser fluchte fürchterlich. Morel war jetzt beweglich in seinen Hemdärmeln und voller Wut. Er fühlte, wie sich sein ganzer Körper wie eine Kralle aus ihrer Scheide befreite. Boxen konnte er nicht, also wollte er seinen Verstand gebrauchen. Der andere wurde ihm nun besser erkennbar; besonders konnte er seine Hemdbrust erkennen. Dawes stolperte über Pauls Mantel und kam dann wieder vorgestürzt. Dem jungen Manne blutete der Mund. Er starb vor Begierde, dem andern an den Mund zu kommen, und der Wunsch wurde qualvoll durch seine Stärke. Rasch trat er wieder über den Übergang, und als Dawes hinter ihm herkam, brachte er blitzgleich einen Schlag auf des andern Mund an. Er zitterte vor Vergnügen. Dawes kam langsam vorwärts, unter Ausspucken. Paul wurde ängstlich; er wandte sich nach dem Durchgang zurück. Plötzlich fuhr aus dem Nichts ein ungeheurer Schlag gegen sein Ohr, der ihn hilflos zurückfallen ließ. Er hörte Dawes schwer ächzen, wie ein wildes Tier; dann traf ein Fußtritt sein Knie, der ihm solche Schmerzen verursachte, daß er wieder hochkam und ganz blindlings seinen Gegner glatt unterlief. Er fühlte Schläge und Tritte, aber sie schmerzten nicht. Er hing an dem Größeren wie eine Wildkatze, bis Dawes schließlich mit einem Krach hinfiel, da er seine Geistesgegenwart verloren hatte. Paul fiel mit ihm. Rein gefühlsmäßig brachte er die Hände an seines Gegners Hals, und ehe Dawes sich in seiner Wut und Todesqual von ihm befreien konnte, hatte er seine Hände in dessen Halstuch verschlungen und grub seine Knöchel dem andern in die Kehle. Es war reines Gefühl, ohne Verstand oder Nachdenken. Sein Körper, hart und wundervoll, klammerte sich an den ringenden Körper des andern; keine Muskel in ihm gab nach. Er war gänzlich bewußtlos, nur sein Körper hatte es auf sich genommen, diesen andern zu töten. Für sich besaß er weder Verstand noch Gefühl. Hart an den Gegner gepreßt lag er da, sein Körper preßte sich dem einen Zwecke an, den andern zu erwürgen, genau im rechten Augenblick seinen Bemühungen Widerstand zu leisten, mit dem genau richtigen Aufwand von Kraft, schweigend, gespannt, unabänderlich, allmählich seine Knöchel immer tiefer einpressend, je wilder und wütender er die Bemühungen des andern werden fühlte. Strammer und strammer dehnte sich sein Körper, wie eine Schraube allmählich ihren Druck vermehrt, bis irgend etwas bricht.

Dann mit einem Male ließ er nach, voller Verwunderung und böser Ahnung. Dawes hatte nachgegeben. Morel fühlte seinen Körper brennen vor Schmerz, als ihm klar wurde, was er beginne; er war ganz verstört. Plötzlich erneuerten sich Dawes Bemühungen in einem wütenden Angriff. Pauls Hände wurden losgerissen, aus dem Halstuch gezerrt, in dem sie sich verschlungen hatten, und er selbst hilflos beiseite geschleudert. Er hörte das grauenhafte Geräusch des Ächzens des andern, aber er lag ganz betäubt; dann, noch in dieser Betäubung fühlte er des andern Fußtritte und verlor die Besinnung.

Wie ein Tier vor Schmerzen grunzend stieß Dawes den ausgestreckten Körper seines Gegners mit den Füßen. Plötzlich kreischte zwei Felderbreiten entfernt die Pfeife eines Zuges. Er drehte sich um und stierte argwöhnisch hinüber. Was kam da? Er sah die Lichter des Zuges sich durch sein Gesichtsfeld hinziehen. Es kam ihm vor, als näherten sich Leute. Er machte sich über die Felder davon nach Nottingham hinein, und während er so dahinschritt, fühlte er undeutlich an seinem einen Fuß die Stelle, wo dieser Fuß gegen die Knochen des Burschen gestoßen war. Der Stoß schien einen Widerhall in ihm zu finden; er ging schneller, um dem zu entrinnen.

Morel kam allmählich wieder zu sich. Er wußte, wo er war und was sich zugetragen hatte, aber er mochte sich nicht rühren. Er lag ganz still, und kleine Schneeflöckchen kitzelten ihm das Gesicht. Es war schön, so ganz still zu liegen. Die Zeit ging hin. Schneeflocken waren es, die ihn immer wieder aufweckten, wenn er gar nicht aufgeweckt werden wollte. Zuletzt trat sein Wille wieder in Tätigkeit.

»Ich darf hier nicht liegenbleiben,«sagte er; »das ist albern.«

Aber er rührte sich noch nicht.

»Ich sagte doch, ich wollte aufstehen,« wiederholte er sich; »warum tue ichs denn nicht?«

Und es dauerte immer noch eine Weile, ehe er sich so weit zusammengerafft hatte, um sich zu rühren; dann kam er allmählich hoch. Die Schmerzen machten ihn elend und schwindlig, aber sein Gehirn war ganz klar. Taumelnd suchte er nach seinem Mantel und Rock und zog sie wieder an, wobei er sich den Mantel bis an die Ohren zuknöpfte. Es dauerte eine ganze Zeit, bis er seine Mütze fand. Er wußte nicht, ob sein Gesicht noch blutete. Blind vor sich hingehend, bei jedem Schritt ganz elend vor Schmerz, ging er bis zum Teiche zurück und wusch sich Gesicht und Hände. Das eisige Wasser tat ihm weh, aber es half mit, ihn ins Bewußtsein zurückzubringen. Er krabbelte den Hügel wieder hinan zu seiner Elektrischen. Er wünschte zu seiner Mutter zu kommen – er mußte zu seiner Mutter – das war sein blinder Vorsatz. Er verbarg sein Gesicht so gut ers konnte und kämpfte sich qualvoll weiter. Fortwährend schien der Boden unter seinen Schritten wegzufallen, und ihm war, als falle er jedesmal mit einem Gefühl von Ekel durch den Raum; so kämpfte er sich durch diesen albdruckgleichen Nachhauseweg.

Alle waren schon im Bette. Er sah sich an. Sein Gesicht war verfärbt und blutbeschmiert, fast wie ein Totengesicht. Er wusch es und ging zu Bett. Die Nacht ging unter Fieberträumen hin. Am Morgen fand er seine Mutter, ihn anschauend. Ihre blauen Augen – die waren alles, was er zu sehen wünschte. Sie war da; er war in ihren Händen.

»Es ist nichts, Mutter,« sagte er. »Baxter Dawes war es.«

»Sag mir, wo es dir wehtut,« sagte sie ruhig.

»Ich weiß nicht, meine Schulter. Sag, es wäre ein Radunfall gewesen, Mutter.«

Er konnte den Arm nicht bewegen. Da kam auch schon Minnie, das kleine Dienstmädchen, mit frischem Tee nach oben.

»Ihre Mutter hat mich fast zu Tode erschreckt – ist ohnmächtig,« sagte sie.

Er fühlte, das könne er nicht ertragen. Seine Mutter pflegte ihn; er erzählte ihr alles.

»Und nun würde ich mit ihnen allen Schluß machen,« sagte sie ruhig.

»Das will ich auch, Mutter.«

Sie deckte ihn zu.

»Und nun denk nicht mehr dran,« sagte sie; »versuche jetzt zu schlafen. Der Doktor ist vor elf nicht hier.«

Die eine Schulter war ausgerenkt, und am zweiten Tage setzte eine hitzige Luftröhrenentzündung ein. Seine Mutter war jetzt blaß wie der Tod und sehr dünn. Sie pflegte dazusitzen und ihn anzusehen, dann wieder weg in den leeren Raum. Es lag etwas zwischen ihnen, das keiner zu erwähnen wagte. Clara kam, um ihn zu besuchen. Nachher sagte er zu seiner Mutter:

»Sie macht mich müde, Mutter.«

»Ja; ich wollte, sie käme nicht wieder,« erwiderte Frau Morel.

An einem andern Tage kam Miriam; aber sie erschien ihm fast wie eine Fremde.

»Weißt du, Mutter, ich mache mir nichts mehr aus ihnen,« sagte er.

»Ich fürchte, nein, mein Junge,« erwiderte sie traurig.

Es wurde überall als ein Radunfall ausgegeben. Bald war er wieder imstande zu arbeiten; aber nun nagte ein ständiges Elend ihm am Herzen. Er ging zu Clara, aber es schien ihm niemand da zu sein. Er konnte nicht arbeiten. Er und seine Mutter schienen einander aus dem Wege zu gehen. Es lag ein Geheimnis zwischen ihnen, das sie nicht ertragen konnten. Er wurde das nicht so gewahr. Er wußte nur, sein Leben wäre anscheinend nicht mehr so ausgeglichen, als müsse es in Stücke zerschellen.

Clara wußte nicht, was mit ihm los war. Sie bemerkte wohl, daß er sie gar nicht gewahr zu werden schien. Selbst wenn er zu ihr kam, schien er sie gar nicht gewahr zu werden; er war immer irgendwo anders. Sie fühlte, wie sie nach ihm griff, und er war anderswo. Das quälte sie, und so quälte sie ihn. Einen Monat lang hielt sie ihn sich zuweilen vom Leibe. Er haßte sie beinahe und wurde doch gegen seinen Willen zu ihr getrieben. Er bewegte sich meistens in Gesellschaft von Männern, war stets im ›George‹ oder dem ›Weißen Pferd‹ zu finden. Seine Mutter war krank, abwesend, ruhig, wie ein Schatten. Er hatte Angst vor irgend etwas; er wagte sie nicht anzusehen. Ihre Augen schienen dunkler zu werden, ihr Gesicht wächserner; sie schleppte sich aber doch noch an ihre Arbeit.

Pfingsten, sagte er, er wolle mit seinem Freunde Newton auf vier Tage nach Blackpool gehen. Dieser war ein großer, lustiger Bursche, der gelegentlich auch wohl mal über die Stränge schlagen konnte. Paul meinte, seine Mutter sollte nach Sheffield gehen und eine Woche bei Annie bleiben, die dort lebte. Vielleicht würde die Abwechselung ihr gut tun. Frau Morel besuchte einen Frauenarzt in Nottingham. Der sagte, ihr Herz und ihre Verdauung seien nicht in Ordnung. Sie stimmte zu, nach Sheffield gehen zu wollen, obgleich sie es nicht gern tat; aber jetzt wollte sie alles tun, was ihr Sohn von ihr verlangte. Paul sagte, er würde sie am fünften Tage besuchen und mit ihr in Sheffield bleiben, bis sein Urlaub zu Ende wäre. So wurde es abgemacht.

Fröhlich zogen die beiden jungen Leute nach Blackpool los. Frau Morel war ganz lebhaft, als Paul sie küßte und von ihr ging. Erst einmal am Bahnhof, vergaß er alles. Vier Tage waren nun blank – keine Ängste, kein Gedanke. Die beiden jungen Leute wollten sich lediglich einen vergnügten Tag machen. Paul war wie jeder andere. Nichts blieb von ihm übrig – keine Clara, keine Miriam, keine Mutter, um die er sich grämte. Er schrieb ihnen allen, seiner Mutter lange Briefe; aber die Briefe waren fröhlich und brachten sie zum Lachen. Er genoß schöne Tage, wie junge Leute das an einem Ort wie Blackpool immer tun. Und unter dem Ganzen lag für sie ein Schatten.

Paul war sehr vergnügt, ja aufgeregt bei dem Gedanken, mit seiner Mutter zusammen noch in Sheffield zu bleiben. Newton sollte den Tag mit ihnen verbringen. Ihr Zug hatte Verspätung. Scherzend, lachend, die Pfeifen zwischen den Zähnen schwenkten die jungen Leute ihre Handtasche auf die Elektrische. Paul hatte seiner Mutter einen echten Spitzenkragen gekauft, den er sie gern tragen sehen wollte, damit er sie mit ihm necken könne.

Annie lebte in einem hübschen Häuschen und hatte ein kleines Dienstmädchen. Lustig rannte Paul die Stufen empor. Er erwartete, seine Mutter lachend auf dem Vorplatz zu sehen; aber Annie öffnete ihm. Sie schien ihm wie geistesabwesend. Eine Sekunde blieb er in Bestürzung stehen. Anne reichte ihm ihre Backe zum Kuß.

»Ist Mutter krank?« sagte er.

»Ja; es geht ihr nicht sehr gut. Reg sie nicht auf.«

»Liegt sie zu Bett?«

»Ja.«

Und dann kam jenes sonderbare Gefühl über ihn, als sei aller Sonnenschein aus seinem Leben fort, und alles liege im Schatten. Er ließ seine Tasche fallen und flog nach oben. Zögernd öffnete er die Tür. Seine Mutter saß aufrecht im Bett in einem Morgenrock von der Farbe alter Rosen. Sie sah ihn an, fast als schäme sie sich, flehend, demütig. Er bemerkte ihr aschenfarbiges Aussehen.

»Mutter!« sagte er.

»Ich dachte, du kämest schon gar nicht mehr,« antwortete sie lustig.

Aber er konnte nur neben ihrem Bett in die Knie fallen, und das Gesicht in ihrer Decke vergrabend, schluchzte er in Todesqualen die Worte hervor:

»Mutter – Mutter – Mutter!«

Langsam strich sie ihm mit ihrer dünnen Hand übers Haar. »Weine nicht,« sagte sie. »Weine nicht, es ist nichts ,...«

Langsam strich sie ihm über das Haar. Im tiefsten Innern aufgerüttelt, weinte er, und die Tränen schmerzten ihn in jeder Fiber seines Körpers. Plötzlich hielt er inne, wagte aber nicht, das Gesicht aus der Bettdecke emporzuheben.

»Du kommst so spät. Wo bist du gewesen?« fragte seine Mutter.

»Der Zug hatte Verspätung,« erwiderte er, erstickt durch das Laken.

»Ja; die elende Zentralbahn! Ist Newton mitgekommen?«

»Ja.«

»Ihr seid sicher hungrig, und sie haben euch was zu essen aufgehoben.«

Mit einem Ruck sah er zu ihr auf.

»Was ist es, Mutter?« fragte er rauh.

Sie wandte die Augen weg, als sie ihm antwortete:

»Nur 'ne kleine Schwellung, mein Junge. Du brauchst dich nicht zu beunruhigen. Es ist schon ,... der Klumpen war schon ,... eine ganze lange Zeit da.«

Wieder stiegen ihm die Tränen hoch. Sein Verstand war kalt und hart, aber sein Leib weinte.

»Wo?« sagte er.

Sie legte die Hand auf die Seite.

»Hier. Aber du weißt doch, sie können solche Geschwülste jetzt ausbrennen.«

Völlig betäubt und hilflos stand er da, wie ein Kind. Er glaubte, vielleicht wäre es so, wie sie sagte. Ja; er versicherte sich, es sei so. Aber die ganze Zeit über wußten sein Blut und sein Leib doch genau, was es war. Er setzte sich aufs Bett und faßte ihre Hand. Sie hatte nie mehr als den einen Ring getragen – ihren Trauring.

»Wann wurde es denn so jämmerlich mit dir?« fragte er.

»Gestern fing es an,« antwortete sie unterwürfig.

»Schmerzen!«

»Ja; aber nicht mehr, als ich zu Hause auch oft gehabt habe. Ich glaube, Doktor Ansell ist ein Bangemacher.«

»Du hättest nicht alleine reisen dürfen,« sagte er, mehr zu sich selber als zu ihr.

Sie schwiegen ein Weilchen.

»Nun geh hin und iß,« sagte sie. »Du mußt ja hungrig sein.«

»Hast du schon gegessen?«

»Ja; eine wundervolle Seezunge hatte ich. Annie ist so gut gegen mich.«

Sie unterhielten sich noch eine kleine Weile, dann ging er hinunter. Er war sehr blaß und angegriffen. Newton saß in kläglichem Mitleid da.

Nach dem Essen ging er in die Spülküche, um Annie beim Aufwaschen zu helfen. Das kleine Dienstmädchen war auf einem Besorgungsgang.

»Ist es wirklich eine Geschwulst?« fragte er.

Annie begann aufs neue zu weinen.

»Die Schmerzen, die sie gestern hatte – nie habe ich jemand so leiden sehen!« rief sie. »Wie ein Wahnsinniger rannte Leonhart zu Doktor Ansell, und als sie im Bette war, sagte sie zu mir: ›Annie, sieh mal diesen Klumpen hier in meiner Seite. Soll mich mal wundern, was das ist?‹ Und da sah ich hin und dachte, ich sollte hinschlagen. Paul, so wahr ich hier stehe, es ist ein Klumpen so dick wie meine beiden Fäuste. Ich sagte: ›Guter Gott, Mutter, wann hast du das gekriegt?‹ ›Wieso, Kind, das ist schon lange da,‹ sagte sie. Ich dachte, ich sollte sterben, Paul, wirklich. Sie hat diese Schmerzen zu Hause schon monatelang gehabt, und niemand hat nach ihr gesehen.«

Wieder stiegen ihm die Tränen in die Augen, aber plötzlich versiegten sie.

»Sie hat aber doch immer den Doktor in Nottingham besucht, und mir hat sie nie was gesagt,« sagte er.

»Wenn ich zu Hause gewesen wäre, ich hätte es auch von selbst gesehen,« sagte Annie.

Er kam sich vor wie jemand, der durch Unwirklichkeiten dahinschreitet. Am Nachmittag ging er, um den Arzt aufzusuchen. Dieser war ein scharfsinniger, liebenswürdiger Mann.

»Aber was ist es?« fragte er.

Der Arzt sah den jungen Mann an und verschränkte dann die Finger.

»Mag sein, nur eine große Geschwulst, die sich im Zellgewebe gebildet hat,« sagte er langsam, »und die wir vielleicht zum Verschwinden bringen können.«

»Können Sie nicht operieren?« fragte Paul.

»Da nicht,« erwiderte der Arzt.

»Sind Sie sicher?«

»Vollkommen!«

Paul dachte einen Augenblick nach.

»Sind Sie sicher, es ist eine Geschwulst?« fragte er. »Warum hat Doktor Jameson in Nottingham nie etwas davon bemerkt? Sie ist wochenlang zu ihm gegangen, und er hat sie auf Herz und Magen behandelt.«

»Frau Morel hat Doktor Jameson nie etwas von dieser Geschwulst gesagt,« meinte der Arzt.

»Und wissen Sie, daß es eine Geschwulst ist?«

»Nein, sicher bin ich mir nicht.«

»Was könnte es denn sonst sein? Sie haben meine Schwester gefragt, ob Krebs in uns steckte. Könnte es Krebs sein?«

»Das weiß ich nicht.«

»Und was werden Sie unternehmen?«

»Ich möchte sie zusammen mit Doktor Jameson untersuchen.«

»Dann tun Sie das.«

»Das müssen Sie ins Werk setzen. Seine Rechnung, von Nottingham hierher zu kommen, wird nicht unter zehn Guineen sein.«

»Wann möchten Sie, daß er kommt?«

»Ich komme heute abend vor, und dann wollen wir das besprechen.«

Paul ging weg, sich auf die Lippen beißend.

Zum Tee könnte seine Mutter hinunterkommen, hatte der Arzt gesagt. Der Sohn ging hinauf, um ihr zu helfen. Sie trug den altrosenfarbenen Morgenrock, den Leonhart Annie geschenkt hatte, und war, mit etwas Farbe im Gesicht, wieder ganz jung.

»Ganz reizend siehst du dadrin aus,« sagte er.

»Ja; sie machen mich so fein, ich kenne mich selbst kaum wieder,« sagte sie.

Sowie sie aufstand, um hinunter zu gehen, schwand ihre Farbe. Paul half ihr, indem er sie halb trug. Oben an der Treppe war sie schon in Ohnmacht gefallen. Er hob sie auf und trug sie rasch hinunter; hier legte er sie auf ein Ruhebett. Sie war leicht und gebrechlich. Ihr Gesicht sah aus, als wäre sie schon tot, die blauen Lippen fest geschlossen. Ihre Augen öffneten sich – ihre blauen, nie trügenden Augen –, und sie sah ihn flehend an, fast als bäte sie ihn um Verzeihung. Er hielt ihr etwas Branntwein an die Lippen. Aber der Mund wollte sich nicht öffnen. Die ganze Zeit über beobachtete sie ihn liebevoll. Er tat ihr nur zu leid. Unaufhörlich rannen ihm die Tränen übers Gesicht, aber kein Muskel bewegte sich. Er war sehr bemüht, ihr ein wenig Branntwein zwischen die Lippen zu bringen. Bald war sie imstande, einen Teelöffel voll zu schlucken. Sie lehnte sich zurück, so müde. Fortwährend rannen ihm die Tränen übers Gesicht.

»Aber«, ächzte sie, »es wird schon vorübergehen. Weine nicht!«

»Tu ich ja gar nicht,« sagte er.

Nach einer Weile ging es ihr wieder besser. Er kniete neben ihrem Ruhebette nieder. Sie sahen sich einander in die Augen.

»Ich wollte, du nähmst es dir nicht so zu Herzen,« sagte sie.

»Nein, Mutter. Nun mußt du ganz stille sein, und dann wirst du bald ganz wieder besser.«

Aber er war weiß bis an die Lippen, und ihre Augen verstanden sich, als sie sich einander ansahen. Ihre Augen waren so blau – so ein wundervolles Vergißmeinnichtblau! Ihm war, hätten sie nur eine andere Farbe gehabt, er hätte es besser aushalten können. Sein Herz schien sich ihm langsam aus der Brust zu reißen. Da kniete er nieder und hielt ihre Hand, und keins sagte ein Wort. Dann kam Annie herein.

»Gehts dir nun gut?« murmelte sie ihrer Mutter ängstlich zu.

»Gewiß,« sagte Frau Morel.

Paul setzte sich und erzählte ihr von Blackpool. Sie war neugierig.

Ein oder zwei Tage später ging er in Nottingham zu Doktor Jameson, um mit ihm eine Untersuchung zu verabreden. Paul besaß tatsächlich keinen Pfennig auf der ganzen Welt. Aber er konnte sich was borgen.

Seine Mutter war für gewöhnlich Sonnabendmorgens zur öffentlichen Sprechstunde gegangen, wo sie den Arzt für eine nur sehr geringe Summe sehen konnte. Ihr Sohn ging am gleichen Tage. Der Warteraum war voller armer Frauen, die geduldig auf den Bänken an der Wand entlang dasaßen. Paul dachte an seine Mutter, wie sie in ihrem kleinen schwarzen Kleide ebenso dagesessen hätte. Der Arzt kam spät. Die Frauen sahen recht verängstigt aus. Paul fragte die diensttuende Schwester, ob er den Arzt gleich nach seinem Eintreffen sprechen könne. Das wurde abgemacht. Die an den Wänden rund um das Zimmer sitzenden geduldig wartenden Frauen sahen den jungen Mann neugierig an.

Endlich kam der Arzt. Er war etwa vierzig, sah gut aus, mit gebräunter Haut. Seine Frau war ihm gestorben, und er, der sie sehr geliebt hatte, hatte sich besonders auf Frauenleiden geworfen. Paul nannte ihm seinen und seiner Mutter Namen. Der Arzt erinnerte sich nicht.

»Nummer sechsundvierzig M.,« sagte die Schwester; und der Arzt schlug den Fall in seinem Buche nach.

»Sie hat da einen dicken Klumpen, der wohl eine Geschwulst sein könnte,« sagte Paul. »Aber Doktor Ansell wollte Ihnen schreiben.«

»Ah ja!« rief der Arzt und zog einen Brief aus der Tasche. Er war sehr freundlich, sehr gefällig, geschäftig, gütig. Er wollte am nächsten Tag nach Sheffield kommen.

»Was ist Ihr Vater?« fragte er.

»Kohlenbergmann,« erwiderte Paul.

»Da gehts nicht besonders, nehme ich an?«

»Das – das ist meine Sorge,« sagte Paul.

»Und Sie?« lächelte der Arzt.

»Ich bin Gehilfe in Jordans Gerätewerkstatt.«

»Ah – nach Sheffield zu fahren!« sagte er, die Fingerspitzen zusammenlegend und lächelnden Auges. »Acht Guineen?«

»Danke Ihnen!« sagte Paul, errötend und aufstehend. »Und Sie kommen morgen?«

»Morgen – Sonntag? Ja. Können Sie mir sagen, wann ungefähr nachmittags ein Zug geht?«

»Auf der Zentrallinie geht einer um vier Uhr fünfzehn.«

»Und kann ich irgendwie da zum Hause hinaufkommen? Muß ich zu Fuße gehen?« Der Arzt lächelte.

»Da ist eine Elektrische,« sagte Paul, »die West-Park-Bahn.«

Der Arzt schrieb sich das auf.

»Danke Ihnen,« sagte er und gab ihm die Hand.

Paul ging wieder nach Hause, um seinen Vater zu sehen, der unter Minnies Obhut zu Hause gelassen war. Morel wurde jetzt sehr grau. Paul fand ihn beim Umgraben im Garten. Er hatte ihm einen Brief geschrieben. Er gab dem Vater die Hand.

»Hallo, Sohn! Da biste also an Land?« sagte der Vater.

»Ja,« erwiderte der Sohn. »Aber ich fahre heute nacht wieder zurück.«

»Willste, wahrhaftig,« rief der Bergmann. »Un haste wat jejessen?«

»Nein.«

»So siehste aus,« sagte Morel. »Immer deinen eigenen Weg.«

Dem Vater war bange davor, seine Frau zu erwähnen. Die beiden gingen hinein. Paul aß in Schweigen; sein Vater, mit erdigen Händen und aufgerollten Hemdsärmeln, saß ihm gegenüber in seinem Lehnstuhl und sah ihn an.

»Na, un wie is se?« fragte der Bergmann schließlich mit leiser Stimme.

»Sie kann aufsitzen; zum Tee darf sie heruntergebracht werden,« sagte Paul.

»Was 'n Segen!« rief Morel. »Denn hoff ick doch, werrn wir se bald wieder zu Hause haben. Und wat sagte der Nottingham-Dokter?«

»Er kommt morgen, um sie zu untersuchen.«

»Wahrhaftig! Det kost 'n scheenet Jeld, sollt ick meinen!«

»Acht Guineen.«

»Acht Guineen!« Der Bergmann sagte das atemlos. »Na, irgendwo missen wir det schon herkriejen.«

»Ich kann das bezahlen,« sagte Paul.

Für eine Zeitlang herrschte Schweigen zwischen ihnen.

»Sie sagt, sie hoffe, du würdest gut mit Minnie fertig,« sagte Paul.

»Ja, ick bin schonst in Ordnung, ick wollte bloß, sie wär't ooch,« antwortete Morel. »Minnie is 'n jutes kleenes Mächen, mit ihr gutes Herze!« Er saß trübe da.

»Um halb vier muß ich weg,« sagte Paul.

»Dat is 'ne Rennerei for dir, Junge! Acht Guineen! Un wenn meinste, kann se wieder so weit fahren?«

»Wir müssen sehen, was der Arzt morgen sagt,« sagte Paul.

Morel seufzte tief. Das Haus schien merkwürdig leer, und Paul dachte, sein Vater sähe verlassen, verloren und alt aus.

»Nächste Woche mußt du mal hin und sie besuchen, Vater,« sagte er.

»Ick hoffe doch, denn wird se woll zu Hause sein.«

»Wenn nicht,« sagte Paul, »dann mußt du hin.«

»Ick wees nich, wo ick det Jeld herkriejen soll,« sagte Morel.

»Und ich werde dir schreiben, was der Arzt sagt,« sagte Paul.

»Aber du schreibst so, det ick et nich ausmachen kann,« sagte Morel.

»Schön, ich will ganz einfach schreiben.«

Morel zu bitten ihm zu antworten hatte keinen Zweck, denn er konnte kaum soviel wie seinen Namen schreiben.

Der Arzt kam. Leonhart hatte es für seine Pflicht gehalten, ihn mit einem Wagen abzuholen. Die Untersuchung dauerte nicht lange, Annie, Arthur, Paul und Leonhart warteten angsterfüllt im Wohnzimmer. Die Ärzte kamen herunter, Paul sah sie rasch an. Er hatte nie Hoffnung gehabt, außer wenn er sich selbst täuschen wollte.

»Es kann eine Geschwulst sein,« sagte Doktor Jameson. »Wir müssen abwarten.«

»Und wenn es das ist,« sagte Annie, »können Sie sie dann zum Abschwellen bringen?«

»Wahrscheinlich,« sagte der Arzt.

Paul legte achteinhalb Pfund auf den Tisch. Der Arzt zählte sie nach, nahm ein Zweischillingstück aus seiner Börse und legte es hin.

»Danke!« sagte er. »Es tut mir leid, daß Frau Morel so krank ist. Aber wir müssen sehen, was wir machen können.«

»Eine Operation kann nicht stattfinden?« sagte Paul.

Der Arzt schüttelte den Kopf.

»Nein,« sagte er; »und selbst wenn das der Fall wäre, würde ihr Herz sie nicht aushalten.«

»Ist ihr Herz bedenklich?« fragte Paul.

»Ja; Sie müssen sehr vorsichtig mit ihr sein.«

»Sehr bedenklich?«

»Nein – äh – nein, nein! Nur seien Sie vorsichtig.«

Und der Arzt war weg.

Dann trug Paul seine Mutter hinunter. Sie lag schlaff da, wie ein Kind. Aber als er auf der Treppe war, schlang sie ihre Arme fest um seinen Hals.

»Ich bin so bange vor diesen biestigen Treppen,« sagte sie.

Und er hatte auch Angst. Das nächste Mal wollte er Leonhart es tun lassen. Er fühlte, er könne sie nicht tragen.

»Er meint, es ist bloß 'ne Geschwulst,« rief Annie ihrer Mutter entgegen. »Und er glaubt, er kann sie wegbringen.«

»Das wußte ich ja,« erwiderte Frau Morel voller Geringschätzung.

Sie tat, als merkte sie gar nicht, daß Paul das Zimmer verlassen hatte. Er saß in der Küche und rauchte. Dann bemühte er sich, etwas graue Asche von seinem Rock abzuklopfen. Er sah wieder hin. Es war eins von seiner Mutter grauen Haaren. Es war so lang. Er hielt es in die Höhe, und es schwebte in den Rauchfang. Er ließ es fliegen. Das lange Haar schwebte in die Finsternis des Rauchfangs hinauf und war fort.

Am nächsten Tag küßte er sie, bevor er wieder an die Arbeit ging. Es war sehr früh am Morgen, und sie waren allein.

»Du grämst dich doch nicht, mein Junge!« sagte sie.

»Nein, Mutter.«

»Nein; das wäre auch albern. Und nimm dich selber in acht.«

»Ja,« antwortete er. Dann sagte er nach einer Weile: »Und soll ich nächsten Sonnabend wiederkommen und Vater mitbringen?«

»Ich vermute, er möchte gerne kommen,« erwiderte sie. »Jedenfalls, wenn ers möchte, dann mußt du ihn dabei lassen.«

Er küßte sie wieder und strich ihr das Haar aus den Schläfen, sanft, zärtlich, als wäre er ihr Liebhaber.

»Kommst du nicht zu spät?« murmelte sie.

»Ich gehe schon,« sagte er ganz leise.

Trotzdem saß er noch ein paar Minuten und strich ihr ihr graues und braunes Haar aus den Schläfen.

»Und du wirst dich doch nicht verschlechtern, Mutter?«

»Nein, mein Sohn.«

»Versprichst du's mir?«

»Ja; es soll mir nicht schlechter gehen.«

Er küßte sie, hielt sie einen Augenblick in den Armen und war weg. Durch den sonnigen frühen Morgen rannte er zum Bahnhof, den ganzen Weg hinunter weinend; weswegen wußte er nicht. Und ihre blauen Augen waren weit aufgerissen, während sie an ihn dachte.

Am Nachmittag unternahm er einen Gang mit Clara. Sie saßen in einem kleinen Gehölz, wo Glockenblumen standen. Er nahm ihre Hand.

»Du sollst mal sehen,« sagte er zu Clara, »sie wird nie wieder besser.«

»Ach, das weißt du doch nicht!« erwiderte diese.

»Doch,« sagte er.

Wie einer Eingebung folgend schloß sie ihn an ihre Brust.

»Versuche es zu vergessen, Liebster,« sagte sie; »versuche es zu vergessen.«

»Ich wills versuchen,« antwortete er.

Da war ihre warme Brust für ihn; ihre Hände lagen in seinem Haar. Das war tröstlich, und er hielt seine Arme um sie. Aber vergessen tat er nicht. Er sprach nur mit Clara von etwas anderem. Und so war es immer. Sobald sie die Qual kommen fühlte, dann rief sie ihm zu:

»Denk nicht dran, Paul! Denk nicht dran, mein Liebling!«

Und sie schloß ihn an ihre Brust, wiegte ihn und tröstete ihn wie ein Kind. So legte er seine Sorgen um ihretwillen beiseite, um sie gleich wieder hervorzuholen, sowie er allein war.

Die ganze Zeit über weinte er im Umhergehen gedankenlos vor sich hin. Sein Geist, seine Hände waren geschäftig. Er weinte und wußte nicht warum. Es war sein Blut, das weinte. Er war grade so gut allein, ob er nun mit Clara zusammen war oder mit seinen Freunden im ›Weißen Roß‹. Nur er und dieser Druck in seinem Innern, das war das einzige, das Bestand hatte. Zuweilen las er. Er mußte seinen Geist in Tätigkeit halten. Und Clara war eine Möglichkeit, seinen Geist zu beschäftigen.

Am Sonnabend fuhr Walter Morel nach Sheffield. Er gab eine unglückliche Gestalt ab und sah aus, als gehörte er niemand an. Paul lief nach oben.

»Vater ist da,« sagte er, als er seine Mutter küßte.

»Ja?« antwortete sie müde.

Ziemlich furchtsam trat der alte Bergmann ins Schlafzimmer. »Wie finde ick dir denn, mein Mächen?« sagte er, auf sie zugehend und sie in hastiger, furchtsamer Weise küssend.

»Na, es geht so so,« erwiderte sie.

»Ick sehe schon,« sagte er. Er stand da und blickte auf sie nieder. Dann wischte er sich die Augen mit dem Taschentuch.

Hilflos, als gehöre er zu niemand, sah er aus.

»Bist du ganz gut zurechtgekommen?« fragte seine Frau ihn ziemlich müde, als strenge es sie an, zu ihm zu sprechen.

»Ja,« antwortete er. »Se is mal 'n bißken zurick, hin un wieder, wie mans ja erwarten muß.«

»Hat sie dein Essen immer fertig?« fragte Frau Morel.

»Na, een –oder zweemal Hab ick se'n bißken anbrillen missen,« sagte er.

»Du mußt auch nach ihr rufen, wenn sie nicht fertig ist. Sie muß immer alles bis zur letzten Minute aufschieben.«

Sie gab ihm noch ein paar Aufträge. Er saß da und sah sie an, fast als wäre sie eine Fremde, vor der er ungeschickt und demütig war, als habe er seine Geistesgegenwart verloren und möchte weglaufen. Dies Gefühl, daß er weglaufen möchte, daß er wie auf Nadeln sitze, sich aus dieser so ungemütlichen Lage zu drücken, daß er aber des besseren Aussehens halber dableiben müsse, machte seine Gegenwart so unbehaglich. Vor Jammergefühl zog er die Augenbrauen in die Höhe und ballte die Fäuste auf den Knien, so unbeholfen fühlte er sich in Gegenwart eines großen Unglücks.

Frau Morel änderte sich nicht mehr. Sie blieb zwei Monate lang in Sheffield. Wenn überhaupt, so ging es ihr zum Schlusse schlechter. Aber sie sehnte sich nach Hause. Annie hatte ihre Kinder. Frau Morel wollte nach Hause. So holten sie einen Motorwagen von Nottingham – denn sie war zu krank, um mit dem Zuge zu fahren –, und dann fuhr sie durch den Sonnenschein. Es war grade im August; alles war strahlendhell und warm. Unter dem blauen Himmel konnten sie alle sehen, sie sei eine Sterbende. Und doch war sie fröhlicher, als sie seit Wochen gewesen war. Alle lachten und redeten sie.

»Annie!« rief sie. »Da sah ich eben eine Eidechse über den Stein laufen!«

Ihre Augen waren so rasch; sie war noch so voller Leben.

Morel wußte, daß sie käme. Er hatte die Vordertür offen. Jedermann ging auf den Zehenspitzen. Die halbe Straße war draußen. Sie hörten das Geräusch des großen Motorwagens. Lächelnd fuhr Frau Morel durch die Straße zu ihrem Hause hinab.

»Und sieh doch bloß, wie sie alle herauskommen, um mich zu sehen!« sagte sie. »Aber ich glaube, ich hätte es auch so gemacht. Wie gehts, Frau Matthews? Wie gehts, Frau Harrison?«

Keine von ihnen konnte es hören, aber sie sahen sie lächelnd ihnen zunicken. Und alle sahen sie den Tod auf ihrem Gesicht, sagten sie. Es war ein großes Ereignis für die Straße.

Morel wollte sie hineintragen, aber er war zu alt. Arthur nahm sie hoch, als wäre sie ein Kind. Sie setzten sie beim Herde in einen großen tiefen Stuhl, wo ihr Schaukelstuhl zu stehen pflegte. Als sie ausgepackt und hingesetzt war und ein wenig Branntwein getrunken hatte, sah sie durchs Zimmer.

»Glaub nicht, ich möchte dein Haus nicht leiden, Annie,« sagte sie; »aber es ist zu nett, wieder im eigenen Hause zu sein.«

Und Morel antwortete gedämpft:

»Det is et, mein Mächen, det is et.«

Und Minnie, das putzige kleine Dienstmädchen, sagte:

»Un wir sind so froh, Ihnen wieder zu haben.«

Ein entzückender Busch gelber Sonnenblumen stand im Garten.

Sie sah aus dem Fenster.

»Da sind meine Sonnenblumen!« sagte sie.


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