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Vierter Abschnitt.
Der volkstümliche Glaube

Der volkstümliche Glaube ist der Inbegriff der volkstümlichen Weltanschauung. Er umspannt den Gesamtkreis aller der übersinnlichen Vorstellungen, die das Volk für wahr hält. Auf dieses Fürwahrhalten, auf das »nicht zweifeln an dem, das man nicht sieht«, kommt es an.

Überblicken wir einmal in großen Zügen das Inhaltliche des volkstümlichen Glaubens, so werden wir bald erkennen, daß er in zwei große Teile auseinander fällt. Der eine Teil deckt sich in seinen Anschauungen mit dem, was das Kirchentum und neuzeitliche Weltanschauung verkünden. Für die volkskundliche Forschung kommt er daher nicht in Betracht. Der andere Teil dagegen bildet gewissermaßen die Unterschicht des volkstümlichen Glaubens. Seine Lehrsätze sind, soweit sie naturdeutender Art sind, von der Wissenschaft längst überwunden. Sie finden von ihrer Seite keine Stütze mehr und stehen meist in scharfem Widerspruch mit ihr. Ähnlich steht es mit der Kirche. Auch sie lehnt diesen Teil des volkstümlichen Glaubens als sogenannten Aberglauben meist mit aller Schärfe ab, nur verhältnismäßig wenig von ihm duldet sie stillschweigend und sucht es allmählich ihren eigenen Anschauungen dienstbar zu machen.

Von Wissenschaft und Kirche gleichmäßig abgelehnt geht der Aberglaube nur leise im Volke um. Von Mund zu Mund und von Geschlecht zu Geschlecht wird er weitergegeben. Keine schriftliche Überlieferung sichert seinen Fortbestand. Und doch hat er eine erstaunliche Lebenskraft und in seinen einzelnen Glaubenssätzen vielfach eine Lebensdauer entwickelt, die die Forschung in längst vergangene Zeiten hinaufführen.

Was heute als Aberglaube sich versteckt und von manchem Eiferer verfolgt wird, das ist durchaus nicht immer in gleicher Weise gescholten worden. Im Gegenteil! Der Aberglaube umfaßt die trümmerhaften Reste von Welt- und Lebensanschauungen, die in vergangenen Zeiten einmal Gemeingut des ganzen Volkes gewesen sind. In ihm erblicken wir die letzten lebendigen Spuren von den verschiedenen Kulturwellen, die im Wandel der Zeiten über das Geistesleben des Volkes dahingegangen sind. Niederschläge altgermanischer Naturanschauung und Götterverehrung sind in ihm, wenn auch in verdunkelter und kaum mehr erkennbarer Form, haften geblieben. Durch das Christentum sind ihm die altorientalischen Vorstellungen von dem Gegensatz zwischen Gott und dem Teufel, der Welt des Guten und des Bösen zugeführt, und Reste der auf antiken Überlieferungen ruhenden Naturanschauung des Mittelalters leben heute noch in ihm fort.

Alle diese verschiedenen Kulturströme sind in dem Sammelbecken des Aberglaubens zusammengeflossen, haben sich dort miteinander vermischt und gegenseitig verändert. Neubildungen aller Art sind aus ihrer Verbindung entstanden, und die schaffende Phantasie des Volkes hat das Alte wie das Neue im gleichen Sinne weiter ausgestaltet. Was auf diese Weise sich allmählich zum Glaubensschatze des Volkes entwickelt hat, das ist in einer Unzahl von Sagen und Märchen und in einer fast noch größeren Menge abergläubischer Einzelvorstellungen niedergelegt. Sie alle zu einem großen Gesamtbilde zusammenzufassen, das kann hier unmöglich angestrebt werden. Wir müssen uns hier begnügen, nur einige der wichtigsten Züge daraus hervorzuheben.

Alle Arbeit des Volkes ist ursprünglich allein die Arbeit in der Natur. Das Leben in Wald und Feld, auf Fluß und Meer führt den Einzelnen nicht nur zu einer stets vermehrten Vertrautheit mit der Natur, sondern es stärkt in ihm auch den Glauben, aus den verschiedenen Naturerscheinungen auf künftiges Wetter und weitere Ernteaussichten schließen zu können. So singen in der Göttinger Gegend die Kinder bei eintretendem Regen im Sommer nicht nur: »Et regent, De leiwe God dei segent,« sondern der Landmann glaubt auch aus einzelnen Anzeichen bestimmte Schlüsse ziehen zu können. Ein mehrmals durch wärmeres Wetter unterbrochener Winter verheißt ihm eine gute Roggenernte: »Seben Winter gewet gauen Roggen«, und das Wogen, »dat Wulkern« des Korns legt er im gleichen Sinne aus. Ähnlich heißt es von den zwölf Tagen zwischen Weihnachten und den heiligen drei Königen: »Wenn in den Twölwen de Boaeme gaud böcket,« das heißt, wenn sie in den Zweigen heftig vom Winde aneinandergeschlagen werden, »sau gift et vele Owest.« Alle in diesem und im nächsten Abschnitt angeführten Beispiele und Zitate haben, wenn nichts anderes angegeben ist, auf den Göttingisch-Grubenhagenschen Volksglauben Bezug.

Es gibt eine große Reihe von Wetterregeln, die der Bauer sich auf diese Weise geschaffen hat. Wenn die Milchstraße sichtbar ist, so gilt es für ein Zeichen, daß das Wetter lange gut bleibt, dagegen kündet ein »Watersteren«, ein bei bedecktem Himmel plötzlich hervorblitzender und dann ebenso schnell wieder verschwindender Stern unsicheres Wetter und Regen an. Die federige Schichtwolke erscheint dem Bauer als »Regenbaum«. Hängen seine Zweige tief herab, so regnet es bald, stehen sie höher, so ist für die nächsten 24 Stunden noch kein Regen zu erwarten. Eine lange und schmale Wolke heißt »Windbesen« und verkündet bald eintretenden Wind; ein lichter Streifen am bewölkten Himmel, der »Windhâke«, läßt gutes Wetter erwarten.

Durch die Zeiten und Stunden des einzelnen Tages gibt es Wettervorzeichen. »Morgenrot Schlechtwetterbot, Abendrot Gutwetterbot« ist allgemein bekannt. Ein Frühregen oder ein am Morgen eintretendes Gewitter geht, wie man meint, bald vorüber, »En Morgengast de harbarget nicht.« In der Woche sind besonders der Sonntag und der Freitag Wettertage, vom Sonntag heißt es: »Wenn et regent under der Misse, regent et de ganze Wêke ôwer wisse,« und vom Freitag glaubt man, daß dann das Wetter sich ändere: »Fridag het sin eigen Weer.«

Im Laufe des Jahres gibt es einzelne Tage, deren Witterung vor allem beobachtet und dann für die kommende Zeit als vorbedeutend angesehen wird. Solange das Wetter vor dem 1. Mai gut ist, so lange ist es nach ihm schlecht; man sagt unter Hinweis auf das Quaken der Frösche, der »Rufharken«: »Sau lange de Rufharken vor Maidage raupet, sau lange mötet se na Maidage swigen.« Wenn es am 27. Juni, am »Sebensloeper« regnet, so regnet es 7 Wochen lang. Vom 28. Oktober, dem »Semendü«, dem Simon Juda-Tage, heißt es: »Semendü smit den Dreck mank de Lü.« Wenn im November das Wasser austritt, so wird es im Winter ebenfalls oft geschehen: »Wenn in'n Martensmând dat Water utgeit, sau geit et in'n Winter vêle ût«, und vom Martinitage, dem 10. November, selbst sagt man: »Wenn de Martensgôs up'n Ise steit, dat Kristkinneken in'n Drecke geit.«

Mögen diese Wetterregeln, die ein Teil des Volksglaubens geworden sind, in ihrer Verallgemeinerung nun richtig sein oder nicht, auf alle Fälle steckt ein Stück gesunder Naturbeobachtung in ihnen. Als Ganzes genommen zeigen sie, wie sorgfältig das Volk sich schon rein verstandesmäßig mit den einzelnen Naturerscheinungen auseinandersetzt. Die eigentlich schöpferischen Kräfte aber, die den Volksglauben befruchtet haben, liegen noch nicht einmal auf der verstandesmäßigen Seite der Naturbeobachtung, sie beruhen viel mehr in dem gefühlsmäßigen Nachempfinden der wechselnden Naturstimmungen bei Wind und Wetter, bei Regen und Gewitter, bei Sonnenschein und bei Nebeldunst, in dem Einfühlen in die Erscheinungsformen von Wald und Feld, von Quelle und Strom, von Feuer, Wasser, Luft und Erde.

Wo immer eine Naturkraft sich lebendig zeigt, da hat das Volk ihr nicht nur seinen Verstand, sondern vor allem auch seine glaubensfrohe Seele ahnungsvoll geöffnet. Es hat die Naturkräfte nicht als Begriffe für sich genommen, sondern als die Lebensäußerungen dahinter stehender überirdischer, geisterhafter oder göttlicher Persönlichkeiten, die es sich als in sich abgeschlossene Gestalten erträumte, und die es mit ganz bestimmten guten oder bösen, wohltätigen oder schädigenden Eigenschaften ausstattete.

Was in der Seele des einfachen Menschen vor sich geht, wenn er sich ganz den Einwirkungen der Naturstimmung überläßt, wenn er in seliger oder banger Ahnung glaubt in dem Leben der sichtbaren Natur das Wirken unsichtbarer überirdischer Gewalten erkennen zu müssen, das läßt sich kaum besser zum Ausdruck bringen, als es Annette von Droste-Hülshoff in dem Gedicht »Der Knabe im Moor« in dem Eingangsverse getan hat:

»O, schaurig ist's, über's Moor zu gehn,
Wenn es wimmelt vom Haiderauche,
Sich wie Phantome die Dünste drehn
Und die Ranke häkelt am Strauche,
Unter jedem Tritte ein Quellchen springt,
Wenn aus dem Spalte es zischt und singt –
O, schaurig ist's, über's Moor zu gehn,
Wenn das Röhricht knistert im Hauche!«

Aus diesem Gottahnen in der Natur sind dem Germanen seine Gottheiten entstanden, und durch sein Weiterwirken sind sie, freilich in veränderter Form, bis auf den heutigen Tag vielfach lebendig geblieben, auch da, wo der Glaube an den Christengott voll und rein die Herzen erfüllt. Es bevölkert sich die ganze Natur mit überirdischen Gewalten. In vielerlei Gestalt umschweben sie den Menschen, suchen ihm zu schaden oder zu nützen, halten sich vor ihm verborgen oder treten auch wohl in unmittelbaren persönlichen Verkehr mit ihm.

So glaubt das Volk auch heute noch, wenn nachts die Stürme des niederdeutschen Flachlandes das Strohdach umheulen, Wodans wilde Jagd mit Geheul und Hundsgebell durch die Lüfte schnauben zu hören. Wenn im Winter die Schneeflocken fliegen, so schüttelt Frau Holle, Wodans Gattin, ihre Betten, und wenn im Sommerwinde die fruchtverheißenden Wogen der Kornfelder »wulkern«, so sagt man: »de willen Swîne lâpet druppe,« wobei der Glaube an Frô's heiligen Eber, der die Felder befruchtet, nachzuklingen scheint. Wenn die Nebel über dem Wasser tanzen oder in leichten Schleiern über die Baumwipfel streichen, so sind es die Elfen, die ihr Spiel treiben. Die fliegenden Spinnweben im Herbst, die als Grasweben, Sommerfäden, fliegender Sommer, Altweibersommer oder auch als Marienfäden bezeichnet werden, erscheinen dem Volke als ein Gespinst von Elfinnen oder Zwergen, später auch der Jungfrau Maria. Ziehen sie im Herbst über die Felder, so sagt man in Holstein, die Metten haben gesponnen, und hält damit unbewußt die Erinnerung an die Schicksalsgöttinnen wach.

In Quellen und Gewässern wohnen die Wassergeister, die Nixen, männlichen und weiblichen Geschlechts. Der Niedersachse nennt die Weibchen auch »Watermöhmken«, für welche die »Mümmelchen« blühen, oder »Waterjungfern«, und wenn die Kinder im Spiele einen flachen Stein so über das Wasser werfen, daß er mehrere Male wieder von dem Wasserspiegel aufspringt, so heißen sie das: »'ne Wâterjunfer smîten.« In Flüssen, Teichen und Brunnen haust der »Hâkenkerel«, auch »Hâkemann« oder »Brunnemann« genannt, vor dem man die Kinder warnt, weil er sie, wenn sie sich dem Wasser zu sehr nähern, hineinzieht. Ein in Schifferkreisen weitbekannter Wassergeist ist der »Klabautermann«. Meist ist er der gute Geist des Schiffes. Es kommen aber auch die gegenteiligen Vorstellungen von ihm vor, wie denn z. B. in den Vierlanden die Kinder einen Abzählreim haben:

»Dar inn't grot Water,
Dar hust 'n Klabader.
Wer'n Klabader huln hört,
De wull bald sin Schipp verleert.
Een, twee, dree, Spring ut de Reeh!«

Neben den Wassergeistern stehen als Erdgeister die Zwerge und die Riesen. Die Zwerge wohnen in Erdhöhlen und unterirdischen Schächten, wo sie ihre Schätze bewachen. In Südhannover werden sie schlechthin »Maenneken«, auch »dat swarte« oder »dat fâle Maenneken« genannt, womit ihre kleine Gestalt zum Ausdruck kommt. Bald sind sie gütige Geister, bald häßlich und heimtückisch. Wenn das Brot beim Backen mißrät, so schreibt man das den Zwergen zu und nennt es »Quargesback«. Ähnlich spricht man von mißratenem Bier als »Quargesbrû«. Die Zwerge sind es, die die wohlgestalteten Kinder der Menschen wegholen und dafür ein Wechselkind, ein »Wesselbalg« unterschieben, ein mißgestaltetes dickköpfiges Zwergenkind. Besonders die ungetauften Kinder tauschen sie gern aus, weshalb man bei der Wöchnerin, solange das Kind noch ungetauft war, immer ein Licht brannte, auch das Kind möglichst nicht länger als drei Tage ungetauft ließ.

Den Zwergen ähnlich sind die Hausgeister, die Kobolde, die an heimlichen Stellen, im Gebälk des Daches ihren Sitz haben. Sie helfen den Bauern bei der Arbeit, füttern ihm sein Vieh, dreschen sein Getreide und bringen Glück und Geld ins Haus. Zu ihnen gehören in gewissem Sinne auch die »Alrüneken«, deren Glaube erst im Mittelalter entstanden sein kann. Sie sind nicht an das Haus gebunden, aber auch sie verleihen großen Reichtum, den sie meist durch den Schornstein zutragen.

Erdgeister wie die Zwerge sind auch die Riesen, die, von großer Gestalt und mit gewaltigen Kräften begabt, große Felsblöcke schleudern, übermenschliche Bauten ausführen, im Nu ein ganzes Kornfeld mähen und ähnliche Wunderarbeiten verrichten, übrigens aber meist roh und dumm sind und von den Menschen leicht überlistet werden.

Mit dem Riesenglauben hat sich seit christlicher Zeit der Teufelsglaube verbunden, und so kommt es, daß dieselben Geschichten bald von dem Teufel, bald von den Riesen erzählt werden. Der Teufel erscheint unter den verschiedensten Namen, bald nur als »Düwel«, bald als »Füerdrâke«, »Glûswans«, »Kleinhans«, »Langswans«, »Rüntchen«, »Stöpke«, »Teckelmucker« und ähnlich. Als »Füerdrâke« fährt der Teufel glühend durch die Lüfte und wirft den Menschen allerhand Dinge, die mit ihm in Verbindung stehen, durch den Schornstein zu. »Teckelmucker het wat ebrocht,« sagt das Volk in diesem Falle. Es brauchen das nicht immer schlechte Dinge zu sein, sondern auch Geld, Butter, Speck, Schinken und ähnliches. So oft auf seinem Fluge durch die Luft eine Sternschnuppe fällt, kehrt er bei einer Hexe ein. Wenn man ihn durch die Luft ziehen sieht, so muß man ihm »half part« zurufen, worauf er einen Teil seiner Last fallen läßt. Meist ist sein Erscheinen mit einem großen Lärm verbunden, ähnlich wie die Jagd des wilden Jägers, mit dem er sich hier berührt. So sagt man bei einem großen Gepolter oder Geschrei: »dat is ja en Lärm in'n Hûse, as wenn Stöpke regêrt.«

Auch bei den Teufelsgeschichten sieht man übrigens noch oft, wie Geisterglaube und Naturanschauung zusammenfließen, so wird der Name Stöpke, der sonst für den Teufel selbst gilt, in Südhannover auch für den Wirbelwind, in Westfalen für den über das Land hinziehenden Nebel verwandt.

Die Zahl der Teufelsgeschichten ist ungeheuer groß, ebenso die der sprüchwörtlichen Redensarten, die mit dem Teufel in Beziehung stehen, und wenn z. B. Johann Heinrich Voß in den Anmerkungen zu seinen Gedichten einmal schreibt: »Man sagt sprichwörtlich von schnell wechselndem Regen und Sonnenschein: ›Der Teufel bleicht seine Großmutter,‹ und von einem schwarzgelben Gesicht: ›Es lief dem Teufel aus der Bleiche,‹« so treffen diese Beispiele auch noch heute zu. Von den Beziehungen, in denen die Hexen mit dem Teufel stehen, werden wir noch zu reden haben. Eine besondere Macht über den Teufel haben die »Elbenfinger«, die Leute mit elf Fingern, da sie nach dem Volksglauben die Kraft haben, den Teufel zum Erscheinen zu zwingen.

Haben wir nun bisher von solchen Geistern gesprochen, die dem Menschen vor allem aus der Beobachtung der Natur entstanden sind, so wenden wir uns jetzt zu denen, die ihm aus den Erfahrungen des eigenen Lebens erwachsen. Insbesondere sind es der Traum und der Tod, die ihren Eindruck auf das Gemüt eines jeden, geschweige denn des einfachen Menschen nie verfehlen, und die im volkstümlichen Glaubensleben neue Geister haben erstehen lassen.

In mannigfachen Formen erscheint die menschliche Seele als Rauch oder Wind, als Schlange, Maus oder Kröte. Findet sie nach dem Tode keine Ruhe, so wird sie zum Gespenst, sie muß »wallen gân«. So muß nach dem Volksglauben die Seele des Selbstmörders »wallen gân«. Wer zu seinen Lebzeiten falsch gemessen, die Grenzsteine verrückt und die Grenze falsch beschworen, wer dem Nachbarn Land abgepflügt oder ihn sonst betrogen hat, der wird nach dem Tode zum »Stâkenklopper« oder zum »Landmêter« und muß als feuriges Gespenst mit einer glühenden Stange oder einer glühenden Kette in schwülen Sommernächten oder auch an Herbstabenden ruhelos durch die Feldmark streifen. Ähnlich wird das Irrlicht gedeutet. In manchen Gegenden muß die Seele des Grenzverrückers zum Irrlicht werden. Im Südhannoverschen heißt das Irrlicht »Anneke med der Lüchten«, ein Name, dem eine ähnliche Gespenstergeschichte zugrunde liegen muß.

Wie diese Gespenstergeschichten als etwas durchaus glaubwürdiges im Volke umgingen, und noch heute umgehen, dafür gibt, außer vielen anderen Beispielen, für die pommerschen Verhältnisse Thomas Kantzow einen lehrreichen Beleg, wenn er aus der Zeit um 1500 berichtet: »wie es George Kleiste bey der Diuenow begegnete, do er in der Nacht uber das Wasser fuhr und alsbalde alles finster wurt, daß er und seine Knechte nicht wüsten, wo hin aus und ein Stimm kam: ›hieher, hieher‹, da er nicht hin wollte. Darnach ein feuriger Mann kam und sich zum Wagen tätte und die Lehnunge angreif und so bey her lief und ummerzu grosser und grosser wurt, da ime doch nymands antwortete; dann Georg Kleist hets verboten. Und ein Hund lieff unter dem Wagen und gischete, als sollte er sterben. Die Länge, do nymands nichts sagte, ließ das Gespenst den Wagen gehen und echterte sich, und die Länge fuhr es auf und slug den Mantel von ein. Da sahe man ihme in den Leib hinein, Rippen und alles wie ein höllisch Feur; mit des verschwand er. Dis sagte man, daß es Georg Kleist geschehn wäre umb des willen, das er das Fegfeur nicht gläuben wollte. – Item Jacob Fleminge begegnete es so, daß er bey dem Strande zwuschen der Zweine und Diuenow auch reisete, und was finster; so warden den Knechten oben die Fuhrspiesse brennen; des erschraken sie alle und wollten das Feur abslagen, und flog das Feur auf den Wagen, da Flemingk auf fuhr, und lief ummeher. Des erschrack der Knab, der vor im Wagen saß, und fiel unter den Wagen, und mit des läuft auch ein Kugel der Flamme unter den Wagen. Des wurden die Knechte scheldig und stachen darnach und hetten den Knaben schyr erstochen, wann er nicht aufgeschrien hätte. Dieser Flemingk solle gesagt haben, ob noch ein Mensch im andern stecke, und wan er scheldig wurt, sagte er: ›Dir soll Ulck bestehen!‹«

Die Zahl der Gespenster ist sehr groß und vielseitig. Als Getreidegespenst erscheint die Kornmuhme, die Roggenmuhme oder das Kornweib, »Korenmoimeke« oder »Korenwîf« genannt. Vor ihr werden die Kinder gewarnt, um sie vom Hineingehen in die Kornfelder abzuhalten, und man sagt von ihr, daß sie die Kinder hasche und raube, wenn sie beim Blumenpflücken zu weit in die Kornfelder hineingehen. Sie erscheint als grauköpfige Alte mit zerrissenen Kleidern, und ganz ähnlich wie sie ist das Erbsenweib, »dat Arftenwîf«.

Als gespenstiger Hund, als »Slepetewe« springt der Geist dem Wanderer auf den Rücken und läßt sich von ihm tragen. Andere dringen in die Häuser der Menschen und lassen sich dort als Poltergeister nieder, so der weitbekannte »Butzemann«, der mit den Hörnern stoßend die Kinder schreckt. Von einem solchen Poltergeiste geben die Pommerania nach einem Bericht der Zeit um 1325 eine lehrreiche Schilderung, die wir hier folgen lassen: »Es soll ein Poltergeist, den die unsern Chimmeken nennen, auf dem Schlosse (zu Loitz) lange Jahr gewesen sein. Dem hat man alle Abend pflegen süße Milch hinsetzen, daß er sie die Nacht esse, und hat also keinen Schaden gethan. Wie aber die Mecklenburger das Schloß inne hätten, soll ein Küchenbube ihme die Milch genommen haben, und sie selbst ausgesoffen, und dem Geiste spöttische Worte gegeben. Dasselbe hat dem Geiste sehr verdrossen; und wie einmal der Koch früh aufgestanden, und der Bube Feuer machete, und der Koch hinging und wollte Fleisch holen, daß er beisetzte, hat der Geist mittlerweilen den Buben genommen, und in Stücken gehauen und in den großen ehrnen Grapen gesteckt, der mit heißem Wasser bei dem Feuer stundt. Und demnach, wie der Koch wiederkommen, hat der Chimmeke gelachet und gesaget, es wäre alle gahr, er sollte anrichten und essen. Do hat der Koch den Grapen gesehen, und Händ und Füße gefunden, und gesehen, daß er der Bube gewesen, und ist erschrocken; darnach sei der Geist weggezogen und habe sich nicht mehr vernehmen lassen. Es sei nun so oder nicht, dennoch ist es daselbst eine gemeine Sage, und man zeiget noch diesen Tag den Grapen, darin es soll geschehen sein.«

In solcher und ähnlicher Weise fühlt sich der Mann aus dem Volke ringsum von Geistern umgeben, von Geistern überall da, wo ein scheinbar unerklärliches Vorkommnis eine Deutung heischt, oder wo die erregte Vorstellungskraft dem Aberglauben ihre Bilder vorgaukelt. Dabei ist in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle der Grundgedanke der, daß die Seele eines Verstorbenen in irgendeiner Form ruhelos als Geist umgehen müsse. Der Eindruck des Todes hat dem Volke seine Geister entstehen lassen. Wie aber der Tod hier die Vorstellungskraft zu abergläubischen Neuschöpfungen angeregt hat, so tun es auch seine Brüder, der Schlaf und der Traum.

Es leuchtet ohne weiteres ein, daß die Erlebnisse des Traumes, in dem in gleicher Weise bekannte und fremdartige Gestalten mit dem Schlafenden Zwiegespräche zu halten scheinen, die Vorstellungen von den geheimen Wechselwirkungen von Mensch zu Mensch und von dem Geisterkreise zur Erdenwelt mächtig anregen mußten. In demselben, wenn nicht in erhöhtem Maße gilt das vom Alpdrücken. Wo es sich in Wirklichkeit um eine Atembeklemmung handelt, da glaubte man, daß ein Quälgeist, der Alp, auch Mahr, Mahrte, Schrättele oder Trut genannt, sich dem Schlafenden auf die Brust gesetzt und ihm den Atem geraubt habe. Man sah darin die Einwirkung übelgesinnter Menschen, die die Macht besäßen, ihre Mitmenschen als Alp zu drücken, und man glaubte auch ein Erkennungszeichen entdeckt zu haben, indem man solche Leute, deren Augenbrauen zusammengewachsen sind, für Mârten hielt.

Hier handelt es sich also um Menschen, denen die Kraft zugeschrieben wird, in verwandelter Gestalt Böses zu wirken, und dieser Glaube ist nun wieder zu allen möglichen neuen Formen ausgebaut. Weit verbreitet ist der Glaube an die Werwölfe, an Männer, die sich zeitweilig in Wölfe verwandeln können. Eine Abart von ihnen ist der besonders in Westfalen und in dem benachbarten Hessen begegnende »Böxenwolf«, der den Leuten ähnlich wie der schon erwähnte »Slepetewe« auf den Rücken springt und sich von ihnen tragen läßt.

Man sieht, von hier aus ist es nur ein Schritt zum Hexenglauben, zu jenem entsetzlichen Fluch, der Jahrhunderte lang auf den Frauen und Mädchen der europäischen Völker gelegen hat, und dessen schauerliche Macht auch heute noch viel größer ist, als mancher Aufgeklärte glauben möchte. Ein Weib wird zur Hexe, indem sie einen Bund mit dem Teufel schließt und Gott abschwört. Die Schwurformel heißt z. B. in der Gegend von Einbeck: »Ek löaewe an düsen nîen Pot un werswere ûsen Hergod.« Der Teufel verleiht den Hexen übernatürliche Kräfte. Mit ihm halten sie in der Walpurgisnacht, der »Wolpersnacht«, vom 30. April auf den l. Mai ihre Zusammenkünfte auf dem Brocken, dem Blocksberg, oder sonst einem hohen Berge. Die Hexen machen Ungewitter und Hagelschlag, schicken das Ungeziefer, schaden Menschen und Vieh, verschulden die Seuchen, nehmen den Kühen die Milch, sie können aus der Entfernung töten, Diebe bannen und vieles andere. So erzählt J. H. Voß in seinem Idyll »Der Riesenhügel«:

»Dort ist der Riese verscharrt, den einst tot zauberte Hela!
Sehet ihr hinter dem Wald' auf dem Berg ein altes Gemäuer?
Das war, sagt man, die Burg der berüchtigten Zauberin Hela,
Noch in der Heidenzeit, vor dem dreißigjährigen Kriege,
Die euch im Abbild fern tot zauberte, ohne Vergiftung.«

Es gibt mancherlei Zeichen, an denen man die Hexe erkennen kann, an Muttermalen, zusammengewachsenen Augenbrauen, fahler Hautfarbe, humpelndem Gange. Oder man hängt ein »Hexenkrût«, eine feinblättrige Pflanze wie z. B. den Baldrian, unter der Decke des Zimmers auf. Von dem Luftzuge im Zimmer sind ihre Blätter gewöhnlich in leiser Bewegung, hört aber bei dem Eintreten einer weiblichen Person die Bewegung auf, so erkennt man daran, daß es eine Hexe ist.

Kräuter dienen auch als Schutzmittel gegen die Hexen, z. B. der Dill und der Dost, der Waldmajoran. Ist etwas »bedillt«, mit Dill versehen, oder »bedust«, so werden die Hexen dadurch abgehalten. Daher sagt man:

»Dat is bedillt und bedust
Dat het de Hexe nich ewust.«

Neben den weiblichen Hexen stehen die Zauberer, die wie jene die Menschen und die Tiere »betaewern« oder auch sich in den harmloseren Künsten des Wahrsagens, des »warseggens«, aus der Hand, aus den Karten, aus dem Kaffeesatz und ähnlichem üben.

Wie von den Hexen, so gehen auch von den Zauberern eine Unmenge Geschichten im Volke um. So erzählen die Pommerania zum Jahre 1525 die folgende, die wir hier in gekürzter Form wiedergeben: »Die von Landsberg hätten neulich einen schwarzen Münnichen bekommen, der ihnen predigen sollte. Derselbe ging, wie ihre Art was, den Wulfstieg. So was ein Bürger zu Landsberg, der hieß Thewas Hase, der was halb lutherisch, und verdroß ihme des Münnichen Gaukelwerk. Und wie der Münnich einmal über die Brücke ging, und Thewes Hase bei ihme hinging, sagete Thewes Hase zu ihme: Wulf Heuchler, Wulf Heuchler! dann so pflag man gemeinlich zu der Zeit die Münniche und Pfaffen auszuschreien. Das verdroß den Münnichen sehr, und machte sich darnach unsichtlich und ging in Hasen Haus, und sahe, was da gekochet wurt, und nahm stets das beste Gerichte vom Feuer weg, daß nymants wußte wo es pleib. Darnach warf er mit Steinen und Stöcken im Haus, daß nymants darin pleiben türste, bisweilen wenn Hase mit seinem Weibe zu Bette ging, zündete er das Bettstroh an, und wenn sie wollten retten oder Feuer schreien, so hätte er es balde geleschet. Oft zündete er Hasen Haus an im Tage, und schweifte unsichtlich durch die Stadt, und schrey: Feuer, Feuer! und wenn das Volk zulief und wollte es retten, so leschete er's; und wurt derhalben eine große Angst in der Stadt, und gepot der Rat Hasen, daß er sollte mit Weib und Kint aus der Stadt ziehen. Und darüber verzuffete der gute Mann gar, und ging in eine gemeine Badstuben, und badete schyr den ganzen halben Tag, daß es jedermann sahe, daß ers aufs Verzuffen täte. Darumb trösteten sie ihne, und sagten, er solle aus dem Bade gehen, und sich selbst nicht verwahrlosen, und sagten ihme zu, daß sie wollten mit ihme heimgehen, ob sie könnten merken, was es wäre. Darunter was der Henker, der sich auf schwarze Kunst wohl verstundt. So sagte einer darunter: es könnte nicht wol müglich sein, daß es ein Geist wäre, dann wann es ein Geist wäre, dörfte er so viel Wunders nicht treiben, dann es könnte wol auf einmal Haus und Hof umbkehren: es müßte eigentlich Zauberei sein, daß es etwan ein alt Weib oder Gelehrter, die mit solchen Künsten umbgingen, müßten anrichten. Die Länge ging der Münnich die Stiege hinauf auf den Boden. So was Thewes Hase ein feiner reisiger Bürger gewest, daß er guten Harnisch hätte, der auf dem Boden hing. Den zog der Münnich an, und ging lange damit auf dem Boden, wie ein Küritzer. Und wie er nu genug damit gespalket hätte, wurt es die Länge still. So gingen die Leute auf den Boden und funden nichts anders wann Säukoth.

Auf den Abend ging der Münnich, wie er gewohnen was, in das Calandhaus, da alleine die Priester pflegen ihre Zeche zu halten. Do sagte ein Priester ungefährlich zu ihme: Herr Johann, wollt ihr nicht bald ausreiten? Denn man heißet es ausreiten, wann einer durch schwarze Kunst wohin schwebet. So nahm es der Münnich für Scherz an, und hätte es doch im Sinne, daß ers tun wollte, und sagte, er wollte seiner Nottorft nach wohin gehen. Und domit er ohne Vordacht wäre, so ließ er seine Kappe da, und ging in dem Unterrocke weg. [Der Mönch wird dann in einem Bürgerhause gefaßt], da der Rat hinkam und befahl ihne wegzusetzen. So bat der Münnich, man muchte ihme doch seine schwarze Kappen aus dem Calande holen, daß er sich im Torm damit decken möchte. Das riet aber der Henker abe und sagte, er wird eigentlich seine Zauberei darinne haben. Darumb lies der Rat die Kappe holen, und besuchten sie, und funden, daß er vorn an der Brust hätte vernehet einen Zettel mit Characteren, und Haar, und etzliche Kräutter, und ander seltsam Ding, welches die Zauberei was.« Dieser Mönch soll dann den Markgrafen Joachim in der schwarzen Kunst unterwiesen haben.

Von einem ähnlichen zauberkundigen Mönche erzählt Thom. Kantzow zum Jahre 1468 aus der Zeit der Belagerung von Uckermünde: »In dieser Belagerung war zu Uckermund aufm Schloß ein schwarz Augustiner Münnich, der tätte viel Schadens mit Schießen. Dann er konnte schwarze Kunst, daß er gemeinlich das treffete, was er wollte, wiewol es ihme in allen nicht gluckte. Deshalben do er auch ein mal auf des Marggrafen [von Brandenburg] Gezelt zielete und der Marggraf aß, schoß er ihme den Fisch und die Schusseln vorm Maule weg, welchs dann den Marggrafen nicht wenig erschreckte.«

Solche und ähnliche Geschichten von Zauberern und Schwarzkünstlern gingen, wie man sieht, früher im Volke um, und sie tun es noch heute. Meist sind Zauberer und Hexen dabei verbündet. Es kommt aber auch wiederholt das Gegenteil vor. So erzählt Joh. Heinr. Voß, der von Geburt ein Mecklenburger war, in den Anmerkungen zu seinen Idyllen: »Aus einem Mährchen, das ich in der Kindheit hörte, behielt ich dieses. Ein Zauberer, der vor einer Hexe entfloh, zog seine bezauberten Stiefel an, sagte: »Vor mir Tag und hinter mir Nacht!« und wandelte durch die Luft, neun Meilen nach jedem Schritt. Als ihn dennoch die Hexe auf ihren Pantoffeln einholte, entschlüpfte er ihr, immer umsonst, in mancherlei Truggestalten und zuletzt als ein stürmisches Meer, welches die Hexe austrank.«

Die geheimnisvollen Worte und Zaubermittel, mit denen Zauberer und Hexen ihre Künste verrichten, behalten sie gewöhnlich für sich. Das eine oder andere davon ist aber offenbar doch in etwas weitere Kreise gedrungen, und so gibt es manchen, von dem das Volk mit den Worten von Joh. Heinr. Voß aus der Idylle »De Geldhapers« sagen würde: »He versteit Di Mehr as Brod to äten, un fackelt nich mit dem Düwel.« Besonders sind es – in Niederdeutschland ebenso wie in allen deutschen Landen – die Schäfer, die als halbe Zauberkünstler, als Naturärzte und Wetterpropheten angesehen werden, wozu sie zum Teil durch ihre stete innige Beziehung zur Natur eine besondere Art von Beruf zu haben scheinen. Joh. Heinr. Voß sagt daher in »Der Riesenhügel« ganz richtig von ihnen:

»Ihr Schäfer da pfuscht doch gewöhnlich
Halb in das Hexengewerb', Herzspann zu vertreiben und Zahnweh,
Koller und Wirbel sogar, durch heimliche Schrift und Besprechung«.

Zunächst sind es allerlei Heilkräuter, »gaud Krût«, mit dem sie umgehen, aber es ist nicht das Kraut schlechthin, sondern es müssen manche geheimnisvolle Dinge dazu kommen. Das Kraut muß, wenn es heilkräftig sein soll, am Johannistage gepflückt sein. Oder es muß die um Weihnachten blühende Christwurzel sein, von der das Volk glaubt, daß sie als »Kristwörtel« in der Christnacht zwischen 11 und 12 Uhr hervorkomme, und die daher vielfach als abergläubisches Mittel gegen Krankheiten angewandt, namentlich den kranken Schweinen zu fressen gegeben wird. Bei der Verwendung anderer Mittel müssen wieder gewisse Zeiten, in denen sie gebraucht werden, innegehalten sein. So kann z. B. der »Sebenpüster«, der letzte von sieben in einer Familie geborenen Knaben, der nach dem Volksglauben die Gabe hat, ein krankes Auge durch Anblasen wieder gesund zu machen, diese Kraft nur zu bestimmten Zeiten ausüben.

An gewisse Tageszeiten, z. B. an Sonnenaufgang, sind auch zum Teil die reinen Besprechungen gebunden, an die das Volk noch fast allgemein glaubt. Die Kunst des Besprechens wird durch Murmeln von Besprechungsformeln ausgeübt. Diese dürfen von einem Manne nur einer Frau, von einer Frau nur einem Manne mitgeteilt werden, sonst verlieren sie ihre Kraft. Sie werden gegen Krankheiten aller Art, fließende Wunden, Leichdorne und sonst oft angewandt. Dabei sind dann noch allerlei Begleithandlungen nötig, um die Krankheit sicher zu vertreiben. Ein paar Beispiele aus der Gegend von Hamburg mögen das zeigen. Dort muß der Segen gegen Brustbeklemmung morgens vor Sonnenaufgang, ehe die Vögel wach werden, und indem man einen Kirschbaum mit den Händen umspannt, mit den Worten gesprochen werden: »Kirschboom, ick bä di! Hattspann und Reefkauken plagt mi. Kirschboom, ick bä di! Nimm mi dat aff! De erst Vagel, de över di henfliegt, driegt et in't Grav! Im Namen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes!«

Der Bannspruch bei der Rose muß stille – wie fast alle diese Sprüche ohne Amen am Ende – an drei Tagen hintereinander morgens, oder wie andere behaupten, besser noch abends gesprochen werden. Er lautet: »Ick still di de Ros vör de Isub, vör de graue, vör de wilde, vör de blaue, vör de Wehdat. Unse Herr Christ hätt nümmer Wehdat hatt, so sall di dütt ook nich wehdon. Im Namen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes!«

Bei Zahnschmerzen muß man mit abnehmendem Monde an einen Bach gehen, Wasser aus demselben in den Mund nehmen, ausspucken und leise sprechen: »Min Tähn wöllt mi verfulen. Nimm Woater in'n Mund Und spieg et op den Grund, So treckt de Wehdag af!«

Bei zunehmendem Monde werden die Warzen besprochen, unter Aufblicken zum Monde und Bestreichen der Warzen: »Ich bespräk di dine Wörken! Wat ik seh, nähm to, wat ick striek, nähm aff! Im Namen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes.« Die Warzen werden auch »ausgezählt«, oder mit einer frischen Fruchtschale, z. B. von Erbsen oder großen Bohnen, bestrichen, die dann eingegraben oder unter der Kuhkrippe versteckt wird. Wenn sie in ihrem Versteck verfault ist, sind auch die Warzen verschwunden.

Im Südhannoverschen sagt man außer »besprêken« auch »boiten«. Eine Besprechung vornehmen heißt »baute daun«. Unter Verwendung gewisser Kräuter – auch hier begegnet wieder der Dill – und unter dem Zeichen des Kreuzes werden dabei die Zauberformeln ausgesprochen, die Menschen und Tiere von einer Behexung, einer Krankheit, einem Fluch befreien sollen. So werden die Kühe, die das »Wambet« haben, einen Anfall von Wildheit, in dem sie an den Wänden emporspringen, erst besprochen, bevor sie als Heiltrank ein Glas Branntwein bekommen.

Das Besprechen dient aber nicht nur gegen Krankheiten und Behexungen. Man kann sich z. B. auch durch »Baute daun« unsichtbar machen. Ebenso wurde ein ausgebrochenes Schadenfeuer besprochen, wobei der Besprechende um das Feuer herum ging oder ritt. Auch das Wetter wurde besprochen. Eine Erinnerung daran hat sich vielleicht in einem Hamburger Kinderlied gegen den Regen erhalten, das folgendermaßen anfängt:

»Rägen, Rägen rusch'!
De König faert to Busch.
Laet den Rägen aevergaen,
Laet de Sunn wedderkamen.
Lewe Sünn kam wedder
Mit din golden Fedder,
Mit din golden Stralen
Beschien uns altomalen!«

Eine Menge Zauberhandlungen und Wahrsagekünste, die ursprünglich wohl nur zu den Kenntnissen von Zauberern und Hexen gehören, sind überhaupt in die breiten Volksschichten übergegangen. Daß man Teile von Leichen oder sonst Gegenstände, die mit Leichen in Berührung gekommen sind, zu Bann- und Zauberhandlungen verwendet, ist eine weitverbreitete Anschauung. In ähnlicher Richtung bewegt sich ein anderer Fall, der z. B. im Jahre 1730 von einer Frau in Bergedorf berichtet wird. Dieser war ein Hemd gestohlen und darauf hatte sie gesagt, »sie hätte noch von demselben Lein etwas, das wollte sie bei einem Toten in's Sarg legen und sollte der Dieb vergehen als der Sprok im Zaun, ja er sollte krumm und lahm werden.«

Weit verbreitet ist vor allem die Anschauung, daß man aus verschiedenen Ereignissen auf die Zukunft schließen könne. In diesem Sinne werden Sonnen- und Mondfinsternisse oder die Erscheinungen des Kometen, des »Notsterns« oder »Unglücksboen« ausgedeutet. Aber auch die gewöhnlichsten Dinge des täglichen Lebens gelten als Vorzeichen, als »Vorspauk«. Wenn das brennende Holz im Feuer knackt, sagt man: »Det füer kift« und hält es für ein Vorzeichen von Zank und Streit im Hause. Wenn der Docht des brennenden Lichtes eine wie ein Siegel aussehende Schnuppe bildet, so kündigt dieser sogenannte »Nösel« demjenigen, dem er zugekehrt ist, einen bald eintreffenden Brief an. Und so geht es in tausend Kleinigkeiten fort.

Wenn die Katze sich putzt, so bedeutet es, daß Besuch zu erwarten ist, wie denn auch J. H. Voß im »Siebzigsten Geburtstag« sagt:

»Seht, wie die Katz' auf dem Tritte des Tisches
Schnurrt, und das Pfötchen sich leckt, und Bart und Nacken sich putzet!
Das bedeutet ja Fremde, nach aller Vernünftigen Urteil!«

Wenn die Eule oder das Käuzchen, das »Likhaun«, ruft, so verkündet das einen bevorstehenden Todesfall. Dasselbe fürchtet man, wenn der Holzwurm tickt, oder wenn die Uhr stehen bleibt, oder wenn ein Spiegel zerschlagen wird. Man sucht in solchen Fällen das drohende Unheil dadurch »rückgängig« zu machen, daß man rückwärts die Treppe hinauf geht.

Besonders auskunftsreich sind die in den zwölf Nächten gemachten Beobachtungen. Da klopfen die Mädchen in der Neujahrsnacht an den Gänse- oder Hühnerstall. Antwortet der Gänserich oder der Hahn, so bekommen sie im nächsten Jahre einen Mann, andernfalls müssen sie noch weiter warten. Oder sie werfen den Schuh hinter sich, in der Richtung auf die Stubentür. Liegt er dann so, daß er die Spitze nach der Stube zukehrt, so ist das ein Zeichen, daß im kommenden Jahre der Bräutigam sich einstellen wird. Wieder eine andere Art schildert J. H. Voß in der Idylle »Die Bleicherin«:

»Vorige Neujahrsnacht, da es zwölf schlug, wankte sie rücklings,
Eine Deck' um den Kopf, hellweiß wie ein Spuk, aus der Haustür;
Sieh, und blank auf dem Giebel im Mondschein flimmte der Brautkranz.
Künftige Neujahrsnacht, wo der Mann nicht wehret den Ausgang,
Wird ihr blank von dem Giebel die Wieg herglänzen im Mondschein.«

Am 23. Februar, in der Matthiasnacht, wird des Nachts zwischen 11 und 12 Uhr von den unverheirateten Mädchen Blei durch einen Erbschlüssel in Wasser gegossen und aus den dabei entstehenden Figuren die Zukunft, besonders Stand und Art des künftigen Mannes erkannt. Ähnliche Fragen werden in der Andreasnacht (30. November) oder am Thomastage (21.Dezember) an die Zukunft gestellt.

Wie man nun in dieser Weise glaubt, zu gewissen Zeiten oder durch gewisse Handlungen Auskunft über das kommende Geschick erhalten zu können, so ist andererseits auch die Meinung verbreitet, daß es möglich ist, die Zukunft in der von dem Einzelnen gewünschten Richtung zu beeinflussen, insbesondere, daß man unerwünschte Ereignisse dadurch fernhalten könne, daß man das eine oder das andere zu tun unterläßt. So gibt es für den volkstümlichen Glauben eine Unmenge von Schutzvorschriften, die alle lauten: »Man soll nicht« – dies oder jenes tun.

Man soll von den Wochentagen nicht den Montag dazu wählen, um etwas Neues zu beginnen. »Mandag düert nich Weken lang«, sagt das Sprichwort. Der Montag ist ein Unglückstag. Man soll an diesem Tage nicht in die neue Wohnung einziehen, oder einen Dienst antreten, oder eine Leiche begraben, sonst kommt der Tote in die Hölle. Ebenso ist der Freitag ein Unglückstag, an dem man nie Geschäfte vornehmen soll. An diesem Tage soll man keine Reise antreten, nicht heiraten, nicht säen, den Dienst nicht antreten, keinen Toten begraben.

Bis in die unscheinbarsten Kleinigkeiten des täglichen Lebens reichen diese abergläubischen Schutzvorschriften hinein. Wenn man auf einer Wunde den Verband wechselt, so heißt es: »Smit das Plaster nich in't Füer, süst füert et up!« Man soll das Pflaster nicht ins Feuer werfen, sonst entsteht auf der Stelle, wo es gelegen hat, eine Entzündung. Man soll an keinem Kreuzwege seine Notdurft verrichten, sonst bekommt man ein Gerstenkorn auf das Auge. Man soll die unter den Flügeln der Gans liegenden vier oder sieben »Stridfedern« nicht mit in die Betten stopfen, sonst bekommt der, der in dem Bette schläft, bald Streit oder er stirbt bald. Man soll die neugekauften Hühner nicht einfach aus dem Hause in den Hof laufen lassen, sonst gewöhnen sie sich nicht an das Haus. Daher kommt dann die als »Strôbâte« bezeichnete Sitte, daß der Käufer die Hühner durch ein Hemd aus seinem Hause in den Hof fliegen läßt. Man soll, wenn man einen Vogel verspeist, nicht den Steiß, den »Stüt«, mitessen, weil man sonst nichts mehr verschweigen kann. So geht es in vielen Hunderten von vorbeugenden Einzelvorschriften fort.

Fast unerschöpflich ist die Fülle abergläubischer Vorstellungen, die das Leben des Volkes sonst noch durchziehen. Wir müssen uns hier mit nur wenigen Beispielen begnügen. So heißt es von gewissen Nächten, daß sich in ihnen alles Wasser auf Erden in Wein verwandele. In der Matthiasnacht z. B. soll das zwischen 11 und 12 Uhr geschöpfte Wasser alsbald zu Wein werden. Ebenso soll sich in der Osternacht zwischen 11 und 12 Uhr alles fließende Wasser auf eine Minute in Wein verwandeln. Wird das Wasser gerade in dieser Minute geschöpft, so bleibt es auch Wein.

Von der Sommersonnenwendnacht glauben die Fischer auf der Elbinsel Finkenwärder, daß dann jedes Wrack auf dem Grunde des Wassers sich wende, sich umdrehe oder zum mindesten durch die Kraft der umkehrenden Sonne eine andere Lage einnehme. Sie suchen deshalb gleich nach Johanni alle bekannten Wracks in der See ab, um die neu auftauchenden Ketten und Bolzen für sich zu bergen.

Einen sehr weiten Umfang hat der Glaube von verborgenen Schätzen, und die Schatzsagen sind sehr weit verbreitet. In Niederdeutschland wird der Schatz dabei vielfach in Form einer goldenen Wiege beschrieben, und die Stellen, wo man ihn vermutet, schließen sich oft an vorgeschichtliche Grabstellen an. Von Zeit zu Zeit kommt der Schatz nach dem Volksglauben an die Oberfläche, um sich zu sonnen, man sagt: »dat Geld sünnt sek«.

Buch von versunkenen Klöstern und Kirchen weiß das Volk zu erzählen, ja sogar von ganzen Städten, die der Erdboden oder das Meer verschlungen hat. Am bekanntesten ist in dieser Hinsicht die Sage von der versunkenen Stadt Vineta, von der Wilhelm Müller singt:

»Aus des Meeres tiefem, tiefem Grunde
Klingen Abendglocken dumpf und matt,
Uns zu geben wunderbare Kunde
von der schönen alten Wunderstadt.

In der Fluten Schoß hinabgesunken,
Blieben unten ihre Trümmer stehn;
Ihre Zinnen lassen goldne Funken
Wiederscheinend auf dem Spiegel sehn.

Und der Schiffer, der den Zauberschimmer
Einmal sah im hellen Abendrot,
Nach derselben Stelle schifft er immer,
Ob auch rings umher die Klippe droht.«

Das alles sind zum Teil sehr alte Vorstellungen, Sagen, die jahrhundertelang von Mund zu Mund gegangen sind. Aber man soll nicht glauben, daß nicht auch heute noch ähnliche Geschichten täglich aufs neue entstehen. So steht z. B. bei dem Forsthaus Dodau in Holstein ein großer Baum. Im Volksmunde heißt er die Bräutigams-Eiche. Wenn ein Mädchen – so sagt man – dreimal um ihn herumläuft, so bekommt es einen Bräutigam. Man sieht, diese Sage kann nicht älter sein als der Baum selbst. Wahrscheinlich aber ist sie erst in allerletzter Zeit entstanden in Anlehnung an die Tatsache, daß die Töchter des früheren Oberförsters unter dem Baume getraut sind.

An Schönheit und Reichtum können sich die volkstümlichen Geschichten, Sagen und Märchen Niederdeutschlands durchaus mit denen der übrigen deutschen Gaue messen. Es ist bekannt, daß dem Märchenschatz Pommerns die beiden geradezu als erstklassig zu bezeichnenden Märchen »Vom Fischer un siner Fru« und vom »Machandelboom« entstammen, die der Hamburger Maler Philipp Otto Runge zu den »Kinder- und Hausmärchen« der Gebrüder Grimm beigesteuert hat. Die reiche Sammlung der »Plattdeutschen Volksmärchen«, die Wilh. Wisser noch um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert an der holsteinischen Ostküste von Fehmarn über Plön bis in die Gegend von Lübeck sammeln konnte, hat uns aufs neue recht deutlich gezeigt, wie groß die Schätze sind, die auf diesem Gebiete noch heute täglich gehoben werden können.

Möchten doch alle diejenigen, die mit unserer Landbevölkerung im nächsten täglichen Verkehr stehen, voran die Geistlichen und Lehrer auf dem Lande, sich bemühen, auch diesen Schatz, der sich meist in dem zurückhaltenden Gemüt der Niederdeutschen scheu verbirgt und nur selten zum Sonnenlicht emporsteigt, nach Möglichkeit von dem Fluche der Vergessenheit zu erlösen. Dann wird sich je länger je mehr zeigen, daß er, von den Meisterhänden unserer treuen deutschen Altvorderen aus reinem lauteren Golde geschaffen und mit dem köstlichsten Zierrate versehen, ein Schmuckstück deutschen Lebens bildet, um das die Völker der Erde uns beneiden müssen.

Wie in all den Sagen, Sprüchen und Bräuchen des volkstümlichen Glaubens die Vorstellungen der christlichen Lehre mit dem ureigensten, zum Teil bis in heidnische Vorzeit zurückreichenden Empfinden des Volkes sich wundersam vermischen, das dürfte aus manchem der angeführten Beispiele hinreichend klar geworden sein. Rein christliche Gedanken selbständig zu verarbeiten und weiter zu entwickeln und sie damit noch tiefer in dem Boden des eigenen Glaubenslebens Wurzel schlagen zu lassen, dazu scheint sich der Niederdeutsche viel weniger berufen, vielleicht auch berechtigt zu fühlen, als der dem katholischen Kirchentum anhängende Oberdeutsche. Von plattdeutschen geistlichen Neuschöpfungen des Volkes im Sinne des protestantischen Kirchentums kann kaum die Rede sein.

Die tiefe innige Frömmigkeit und die aufrichtige Gottgläubigkeit des Niederdeutschen kommt aber, wenn sie sich auch meistens still in sich selbst verschließt, doch gelegentlich in reiner und schöner Form zum Ausdruck. Insbesondere ist das Kindergebet von jeher geeignet gewesen, christlich-kirchlichen Geist mit volkstümlicher Fassung zu vereinigen, Wie kindlich schlicht und doch von starker Glaubenszuversicht getragen ist z. B. das alte Kindergebet:

»'T Abends, wenn ick to Bedde gah, Veertein Engel nehm ick mit:
Twee to min Höten,
Twee to min Föten,
Twee to min linke Sid,
Twee to min rechte Sid,
Twee, de mi decken,
Twee, de mi wecken,
Twee, de mi den Weg wiest
In 't himmlische Paradies.
Paradies steit aapen,
Höll' is verslaaten,
Böse Fiend steiht drin bun'n.
Help Gott to'n selije Stun'n!
Amen!«

Gerade dieses Gebet hat eine sehr weite Verbreitung. Es findet sich vielfach in hochdeutscher Form vor. Die hier mitgeteilte Fassung stammt aus Lunden. Sie stellt sich insofern als eine Erweiterung einfacherer Formen dar, als hier die vier letzten Zeilen offenbar später angefügt sind. Wie Kinderreim und Volkslied zeigt nämlich auch das Kindergebet die Neigung, seine Gestalt dauernd zu ändern, zu kürzen oder zu verlängern, zwei zu einem zu verschmelzen, und so fort.

In sich einheitlich, selbständig und, soviel ich sehe, auch nur auf einen engeren Kreis beschränkt, ist das aus Norderdithmarschen bezeugte Gebet, mit dem wir diesen Abschnitt beschließen, wie das Kind seinen Tageslauf beschließt:

»Nu will ick toslapen,
Will mi op de leewe Gott verlaten,'
Wenn de bitter Dod kummt
Und will mi verslingen,
So kummt der leewe Gott
Un nimmt mi in sin goll'n Ringn.
Amen!«


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