Heinrich Laube
Reisenovellen - Band 5
Heinrich Laube

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Berliner Berühmtheiten

Die Linden sind eine der schönsten Straßen in Europa, der Cours in Marseille ist noch länger und wohl eben so breit, aber es fehlen ihm die stattlichen Häuser zu beiden Seiten; die Pariser Boulevards sind interessanter, aber sie sind nicht eine so imposante Straße; die große Petersburger Straße ist noch pallastschwerer, aber sie hat nicht den Reiz der Linden.

Wenn Ihr des Abends von der Charlottenburger Chaussée nach Berlin kommt, so habt ihr einen prächtigen Anblick und glaubt in eine tadellos vornehme, grandiose Stadt zu kommen. Es ist 276 warmer Frühling, die Bäume des Thiergartens, durch welchen mitten hindurch die Chaussée führt, duften und flüstern, mit seinen fünf hohen Passagen lockt das Brandenburger Thor, und weit hinauf zwischen den Oeffnungen sieht man innen die breite Stadt ziehn mit den hundert Gaslichtern.

Man tritt ein, der Pariser Platz empfängt uns: rückwärts läuft die weiße Heerstraße in den dunklen Wald hinein; vorwärts in sehr breiter Straße, die am Schluß des Pariser Platzes anhebt, zieht sich ein hoher vierfältiger Lindenkranz hinauf. Seine Mitte, über welcher die Zweige sich entgegen ranken, wandelt der müßige Spaziergänger, dicht daran auf jeder Seite unter dem dunkelsten Schatten sprengen die Reiter, weiter nach Außen kommt links und rechts die gepflasterte Fahrstraße, und endlich an den Häusern liegen die Steinplatten, über welche die geschäftige Menge hin und her trabt.

So stellen sich sieben Bäche und Ströme dar, von denen jeder seine eigne Menschenwelle führt, 277 das Gaslicht schimmert, der Mondesstrahl blitzt durch die Baumkronen, das Menschengewühl murmelt, die Pferde sprengen, die Wagen rasseln, still und vornehm sehen die stattlichen Häuser in die lange Flucht herab.

Zwei Hauptstraßen durchschneiden die Linden: die schweigende Wilhelmsstraße, breit und ruhig, wo Pallast an Pallast steht, von wo die großen, prächtigen Kutschen kommen, und weiter oben die geräuschvolle Friedrichsstraße, welche eine Stunde lang schnurgerade durch die ganze Friedrichsstadt läuft, und ein dichtes Fußgängergewühl unter die Linden gießt.

Wie Zauberlichter aus den Mythen des befreiten Jerusalems locken die unabsehbaren Gasflammen, welche in diese Straßen hinausirren.

Wo die Linden aufhören, beginnt der Opernplatz, der schönste Platz Berlins, einer der schönsten in der Welt. Oben, weit oben schließt ihn die hohe breite Schloßfaçade, tief unten hinter und über den Zweigen der Lindenbäume seht Ihr noch das 278 Brandenburger Thor und die einhersprengende Viktoria. Neben Euch das neue Palais des Prinzen Wilhelm, von dessen Firsten Adler in die Luft streben, das alte Prinz-Ferdinands-Palais, was jetzt Universität ist, von dessen Giebel keusche Statuen blicken, das Opernhaus mit dunklem Säulenportal, die dunkle Bronzegestalt Blüchers, das kleine Palais, worin der König wohnt, das Zeughaus mit seinen weißgrauen Kriegswappen auf dem Scheitel, welche Schlüter gebildet hat, die neue Hauptwache, vor ihr die schneeweißen Bildsäulen Bülow's und Scharnhorst's von Rauch, dahinter ein dunkles Wäldchen, aus welchem unsicher die Singakademie, Zelters Sitz, hervorblickt.

Das Alles überseht Ihr mit einer Wendung. Schreitet Ihr nun weiter dem Schlosse entgegen, wenige Schritte, so steht Ihr auf der breiten, breiten Schloßbrücke, über welche fünf Wagen neben einander fahren können, ohne die Fußgänger zu stören, vor Euch liegt der breite Platz am Schlosse, welcher Lustgarten heißt, das goldne Kreuz des Domes flimmert, die Wasser des Springbrunnens rauschen 279 in der Luft, das Museum mit seiner gebieterischen Säulenhalle, mit den springenden Rossen auf seinen Ecken, tritt stolz wie eine Erinnerung Griechenlands vor Euch, die steinernen Quais des Flusses, weithin mit leuchtenden Gebäuden besetzt, winken herauf, die Bauakademie, deren Erdgeschoß erleuchtende Bazars füllen, tritt nach der anderen Seite.

Laßt Euch hier die spätere Stunde der Nacht übereilen, der Menschenlärm schweigt, das Getreibe verliert sich in die Häuser, die Lichter verlöschen, aber im Mondesschimmer plätschert die hohe Fontaine fort, ein eintönig frisches Geräusch, was die Stille belebt, setzt Euch auf die hohe Treppe des Museums, wo die Träume erwachen an klassische Zeit und Kunst, das Kreuz der Christenheit ist dicht daneben, das Schloß der Monarchie ist gegenüber, die moderne Börse zehn Schritte von Eurer Linken, der Mondesstrahl ist weiß und silbern, wie er einst vor vielen tausend Jahren auf die erste Pyramide Aegyptens fiel – da kommt Euch die geschichtliche Frage und Betrachtung in langem, weißem Ta1are. 280 Wie ist das Alles so geworden? Wer hat's geschaffen? Was wird es noch sehen und werden? Welche Namen werden noch im Triumph einhergetragen sein durch diese Straßen, über diese Plätze?

Wie heißt der Gedanke, welcher dies Alles aus der öden Sandfläche emporgeschlagen hat? Berlin? Berlin ist ein Vorname von Preußen.

Und sollte dieser Gedanke Preußen ein ganz neuer Gedanke der Historie werden? An die bewegenden Denksprüche der Geschichte, zwischen denen es aufgewachsen, hat es sich gar nicht, oder nur ablehnend angeschlossen, der Reformation, die sein Pathentag wurde, hat es sich nicht bemächtigt, den dreißigjährigen Krieg hat es nicht ausgebrütet, Friedrich der Große hat eine eigene Idee extemporirt, gegen Napoleon, der ihm in's Leben griff, hat es einen entscheidenden Schlag geführt, um sich wiederum eigen zu erhalten, ablehnend, eigen hat es sich in den neueren Stürmen gefaßt, wird über Kurz oder Lang dieser eigne preußische Gedanke in europäische Geschichte heraustreten, die herkömmliche 281 Terminologie verläugnend, aus welcher die Welt nicht herauszufinden weiß?

Mondesnacht antworte!

Die Leute wissen ja nicht einmal den Berliner Witz einzuordnen, weil er nicht klassisch, nicht romantisch sei; ich greife ordnungslos nach den berühmten Namen Berlin's, und da ich noch auf der Treppe des Museums sitze, so ist der berühmteste, ein europäisch berühmter gleich zur Hand; der Mann welcher ihn trägt, wohnt dicht hinter dem Museum. Man kann auch überall mit ihm anfangen, da er in ganz Deutschland keinen Nebenbuhler hat, keinen Neid weckt, und ohne Opposition berühmt ist. Von einem einzigen Manne kann dies gesagt werden, und diesen einzigen meine ich – Humboldt.

Die Humboldt sind die modernen Dalberg, untadelhafte Kulturritter, denen bei allen Staatsaktionen der Ritterschlag geboten sein sollte. In jeder höheren Schule müßte wöchentlich einmal gerufen werden: Ist kein Humboldt da?

282 Es sind ihrer zwei; der Leib dessen, der schon in kühler Erde ruht, war Wilhelm's, des sogenannten Ministers, des Aelteren. Sie stammen beide aus Berlin. Wilhelm von Humboldt, Schillers Herzensfreund, ist vorzugsweise als Denker, als Staatsmann der äußeren Welt bekannt: er schrieb über Poesie und Sprachen, und das Herz und die Zunge der Menschheit waren seine Sorgen. Er besaß jene olympische Ruhe, Tag und Jahre lang still auf ein Wort, auf eine Fiber der Sprache oder des Gedankens zu blicken, um zu erlauschen, ob und wie sie sich bewege, er verfolgte eine Präposition durch Jahrhundert lange Häutung und Umpuppung bis in den Samenkern, er stand Schildwacht an den Wegscheiden aller Sprachen der Welt, um das Geheimniß der schöpferischen Kultur, der menschlichen Gemeinsamkeit und Möglichkeit zu ertappen. Ein Torso seines großen Gedankens, die Gottheit und den Menschen da zu finden, wo sie sich zuerst und, leider für uns! auch zuletzt begegnen, in der Sprache, ein 283 solcher Torso ist in seinem großen Buche »über die Kawi Sprache« zurückgeblieben.

Der großen Welt, die eben auch über Alles mitspricht, ist von den Namen Humboldt eben der Name bekannt, wie Herodot oder Newton als große Schriftsteller im Munde geführt werden, ohne daß man weiß, was sie geschrieben haben. Die politische Welt indessen, obwohl sie wenig Interesse für die Kawi Sprache hat, und nicht mit Bestimmtheit weiß, in welchem Welttheile sie gesprochen wird, kennt Wilhelm von Humboldt durch politische Aemter, welche er bekleidet hat. Er war Gesandter in Rom, war eine zeitlang Kultminister, und sonst als Staatsminister im Diplomatischen sehr thätig und bedeutend: auf dem kurzen Kongresse zu Prag, auf dem versuchten in Chatillon, beim Frieden zu Paris, beim Kongresse in Wien war er überall einer der ersten preußischen Vertreter. Die Befreiung vom französischen Joche lag ihm nahe am Herzen, er soll der Erste gewesen sein, der auf einen Widerstand Spaniens und auf große Folgen von dort aus 284 gerechnet habe. Man erzählt Abenteuerliches, was er unternommen, um gegen Napoleon zu werben: eine Dame besaß große Macht über einen wichtigen Staatsmann, die Dame sollte und durch sie der Staatsmann gewonnen werden. Humboldt und ein anderer berühmter Mann hatten es eingeleitet, in Mäntel gehüllt warteten sie auf der Straße den Erfolg ab, sie gingen auf und nieder, und sahen besorgt nach den lichten Fenstern, und fragten sich, ob die Liebenswürdigkeit des Weibes siegen werde.

In solcher menschlichen Romantik beschleicht man gern den abstrakten Denker. Einzelnheiten seines Lebens und seines Todes sind in den »Charakteristiken« beschrieben.

Hier handelt es sich mehr um den Lebenden, welcher unweit des Museums wohnt, um Alexander von Humboldt, der zur Unterscheidung meisthin »der berühmte Reisende« genannt wird; solch einen Ausdruck wissen die Journale zu schätzen.

Er hatte in Frankfurt und Göttingen studirt und machte im Jahre 1790 mit Forster die erste 285 Reise, die jetzt jeder gebildete Mensch nachmacht, nach dem Rheine, Holland und England. Aber er schrieb ein kleines Buch darüber, nicht wie Karl Geib über die Burgen und Sagen, sondern über die Basalte am Rheine, was weniger anmuthig aber etwas schwieriger ist. Dann ging er nach Freiberg in Sachsen auf die Bergakademie, studirte und beschrieb Botanik und eroberte Herzen. Er ist von Jugend auf heiter, frisch, witzig, höflich und zuvorkommend gewesen.

Preußen stellte ihn an als Oberbergmeister im Ansbach-Baireuthischen, aber die Entdeckungen, die Pflanzen und Steinschichten der Tropenländer, welche noch Niemand kannte, pochten an sein Herz. Bald sehen wir ihn zu Paris mit allerlei Plänen nach dieser oder jener fernen Welt; er will mit den Franzosen über Aegypten weiter, das stört Nelson durch die Schlacht bei Abukir. Endlich wendet er sich wie Columbus nach Spanien, und von hieraus unternimmt er mit Bonpland die berühmte Reise nach Südamerika, wo er wirklich eine neue Welt im 286 Einzelnen entdeckt, den Chimborasso besteigt, mit Menschenfressern verkehrt, in Vulkane kriecht, einen neuen Ofen für's Zuckersieden erfindet, über die Katarakten fährt, ein Thal entdeckt, wo Regen und Donner unbekannt sind.

Nach fünf Jahren – 1804 – kam er aus dieser wunderbaren neuen Welt zurück. Seit 1810 erschien seine Reise in Paris: »Voyage de Humboldt et Bonpland« in groß Folio, und seit der Zeit ist er, wie billig, der in groß Folio berühmte Reisende, die Universität aller Naturforschung in einer Person. Alles Interesse naturwissenschaftlichen Trachtens ist in ihm bethätigt, eingefleischt, und er ist wirklich eine europäische Behörde. Aus Quito, aus Bombay, aus Torneae, vom Schwanenflusse sendet man Bemerkungen, Beobachtungen an Herrn Alexander von Humboldt nach Berlin oder Paris. Daß er von da aus, wo sein Ruhm täglich um einige Zoll wuchs, auf der weitschallenden französischen Schriftkugel stand, daß er alle Folgezeit hindurch immer mit einem Fuße in Paris stehen blieb, daß 287 er eben so französisch schreiben konnte wie deutsch, und alle die Hauptsachen französisch publizirte, das war allerdings ein nicht geringes Hilfsmittel zur europäischen Berühmtheit.

Man hat diese Gebrüder die Dioskuren Preußens genannt, wie man immer geneigt ist, das Ungewöhnliche durch Uebertreibung dem gelegentlichen Spotte auszusetzen. Ein schönes Bild gegenseitiger Ergänzung bieten sie aber in Wahrheit: Wilhelm concentrirte sich oft Jahre lang auf einen einzigen, scheinbar ganz kleinen Punkt, auf ein Wort, auf ein Wörtchen, eine Partikel; Alexander fuhr über alle Interessen der Erde hin, gleichzeitig mit hundert Augen rechts und links sehend.

Und wenn er auf's Einzelne sich wandte, so bewies er auch dafür die größte Fertigkeit: er hat weitläufig über die »Steppen« geschrieben, über Steppen, wo man weit und breit nichts sieht als die unergiebige Eintönigkeit, und er hat so viel Reichthum und Schönheit entwickelt, daß man einen farbigen Roman zu lesen glaubt. War Wilhelm 288 die eherne Festigkeit, so ist Alexander die elastische Hervorbringung mit ihrem unberechenbaren Reichthume, forschte jener nach dem Herzen der Welt, so suchte sich dieser aller Muskeln des ganzen Leibes, mit allen Lebensgesetzen des Leibes zu bemächtigen.

Alles das wußte ich, ich wußte, daß er bei großen Krisen als geschätzter und gewandter Diplomat benützt worden, daß er sich mannigfach an Höfen herumbewegt habe, daß er den Ruf eines feinen taktvollen Kavaliers genieße, der seine Ueberlegenheit auch im geselligen Verkehr fein und doch nachdrücklich bethätige. Ich hatte mir also eine feine, Respekt gebietende Erscheinung gedacht. – Es war eine große Gesellschaft, in welcher er ebenfalls erwartet wurde, man hatte sich in mehrere Zimmer vertheilt, betrachtete die geschmackvolle Einrichtung, wandelte umher, unterhielt sich in Gruppen oder einzeln, wie es sich fügte; ich stand mit Mundt im ersten Zimmer, und wir beschauten einen Marmortisch, der aus Carthago geschickt worden war, da trat ein Mann 289 ein, machte uns mehrere feierliche Komplimente, und schritt unter vielfach wiederholter, respektuosester Begrüßung in die anderen Zimmer. Er war von kleinster Mittelgröße, abgetragen schwarz gekleidet, mit altmodischer Busenkrause, und da das Haupt sich so vielfach tief neigte, so hatte ich mich in dem grauröthlichen Kopfe nicht orientiren können. Mundt kannte ihn auch nicht, wir hielten ihn für einen höflichen Hofrath, der sich's zur besondern Ehre schätzte, eingeladen zu sein, achteten nicht darauf, und sahen wieder auf die karthagischen Mosaikbilder.

Später trat ich in ein anderes Zimmer, und fand alle Anwesenden aufmerksam horchend in einen Kreis geschaart, und auf denselben Mann horchend, als ob ein Bülletin mitgetheilt würde. Ist ein Kourier aus Paris gekommen? Ist der Commissionsrath Cerf geistreich gewesen? Nichts da, von den Pferden in Amerika war die Rede, daß sie in großen Heerden existirt hätten, ehe die Spanier gelandet wären; von China: daß man im ganzen himmlischen Reiche keine Milch trinke; von Hegel: daß er 290 gesagt habe, ein Berliner Witz sei mehr als eine schöne Gegend; von der Pest in Constantinopel; von der Naturbetrachtung: daß in den Schriftstellern des Alterthumes keine einzige specielle Schilderung der Natur und des Genusses an derselben vorkomme – und Alles sprach der eine Mann im abgeschabten schwarzen Leibrock, und wie ein aufgezogenes Uhrwerk sprach er, kein »Ei!«, kein »Wahrhaftig?«, kein Staubatom konnte dazwischen; Leute, von denen ich wußte, sie schwiegen nicht leicht bei einer Nachricht, bei einer Meinung; Professor Hans und Andre schwiegen völlig und hörten, und Alles hörte mit jener Beflissenheit, welche ausdrückt: Sprechen Sie, sprechen Sie, ich höre mit Hand und Fuß, ich höre doppelt! Der Bediente, welcher ankündigen wollte, daß servirt sei, verstummte, da er über die Schwelle trat, und schnelle Pantomimen seine profane Zunge in Fesseln warfen.

Mein Gott, wer ist der Mann? Pst! Aber sagen Sie doch – pst!

291 Humboldt! flüsterte mir endlich eine Dame zu. Nicht möglich! der veritable, ächte Humboldt, was man so unter gebildeten Leuten Humboldt nennt?

Freilich, hören Sie doch!

Was man erlebt!

Schweigen Sie still, Herr, jagte mir ein Banquier im stillen Galopp zu, er spricht von die Pest, man kann sich zehn Bücher sparen, wenn man den Mann ene Viertelstunde sprechen hört, er spricht nicht wie en Buch, er spricht wie zehn Bücher, was man erlebt! schweigen Se still, Herr! Ach, mein Junge, mein Aeltester, Sie wissen's, wie mer's mit ihm geht, Sie wissen's nicht? Denken Sie, der Junge ist unter die Räubers gegangen, wie ich Ihnen sage, unter de Räubers; 's ist ene ganze Bande, bei Moabit fallen se die Marktweiber an, nehmen se die Marktpfennige ab und bei die Zelten geben sie ihnen Silberjroschen zurück, und sagen, sie wären nur jegen's Eigenthum und wollten sie nichts duhn. Mein Sohn ist dreizehn Jahr, zwei Monate alt, 292 wie soll ich's erleben, daß er über de Pest und die Milch von de Chinesen spricht. Was sagen Se?

Er ward durch allgemeine Verachtung zum Schweigen gebracht, überhaupt war er wie das Mädchen aus der Fremde, man wußte nicht, woher er kam. Dergleichen passirt in jeder großen Stadt und Gesellschaft.

Humboldts Fluß war aber dadurch nicht behindert worden; es ist nicht zu sagen, mit welcher Volubilität dieser Mann producirt. Und so ist er zu Hause, wenn man ihn besucht, so ist er bei Hofe, man begreift nicht, wo er hört, wo er einnimmt. Wenn Jemand ein Geschäft bei ihm hat, so muß er es um Gotteswillen gleich beim Eintritte anbringen, ehe all die Maschinen dieses Kopfes in Bewegung gekommen sind, wozwischen hinein kein Lüftchen unzermalmt sich drängen mag. Wo er hört? Wie den Propheten in der Wüste kommen ihm die Raben von aller Welt Ende, und bringen ihm Speise und Trank; er ist so tief eingenistet in die geistige 293 Welt, daß ein Wort, ein Komma hinreicht, ihn über Neues zu orientiren.

Der Kopf Alexanders v. Humboldt gleicht allerdings den Bildern, welche man von ihm sieht, nur ist er etwas größer, etwas älter und etwas weniger gefaßt und glatt als ihn die Kupferstiche zeigen. Er ist bereits ein hoher Sechziger, der gedrungene Körper hat bewundernswerth fest gehalten, die kleinen Augen sind noch frisch, und wenn er so dasteht, den Hut unter einem Arme, die andere Hand auf der Busenkrause, unerschöpflich gebärend, so macht er den Eindruck einer lange, lange dauernden Figur, die einst, nicht durch Krankheit gestört, sondern in der Menschendauer abgelaufen sein, aufhören wird, ohne gekrankt zu haben.

Seine Artigkeit, seine Höflichkeit, Freundlichkeit, seine Bereitwilligkeit zu jedem Dienste, für jeden Fremden, soll über alle Beschreibung sein, und manche Leute petitioniren nicht bei ihm, weil er niemals abschlägt.

294 Ehe er an jenem Abende eintrat und Alles absorbirte, sah man wechselnde, immer sehr betheiligte Gruppen um einen ebenfalls unscheinbar schwarz gekleideten Mann mittler Größe, der in ganz andrer Weise interessirte. Wenn ein Stoff angeregt war, so bemächtigte er sich seiner auch gewaltsam nach den Richtungen, welche sich ihm dabei öffneten, aber er faßte sein Interesse scharf und kurz, er hörte dazwischen, und erwiderte noch schärfer, so daß es allerdings eine lebhafte Unterhaltung gab, wenn auch kein eigentlich Gespräch. Der Mann, welcher einen blauen Orden am Halse trug, und mit einem kleinen Stöckchen wie Chateaubriand spielte, hatte einen feinen Diplomatenkopf, kummervolle Züge waren darauf eingegraben, und lagen sogar in dem ergrauten feinen Haare, sahen bleich aus der schmalen, blaugeäderten Hand, welche mit der goldnen Kette des Stöckchens tändelte. Um die Mundwinkel hatte sich Weh eingegraben, und die blauen Augen blickten oft ermüdet von der Erde und deren gestorbenem Reize über die Brillengläser hinweg. Sobald das 295 Gespräch indessen eine Spannung brachte, glitt ein lächelnder Sarkasmus, eine spottende Verschlagenheit über Mund und Wange, und oft, wenn er die Unterhaltung dem allgemeinen Gespräche überlassen und mit schmerzlichem Ausdrucke still gesessen hatte, trat er plötzlich wieder ein, und warf kleine Geschichten und Spitzen hierhin und dorthin, wo Einer sehr laut und zuversichtlich geworden war. Es war leicht zu sehn, daß er leidend sei; er ist auch selten in großen Gesellschaften zu finden. Varnhagen von Ense heißt er.

Seine Geburt und Jugend stammt aus Westphalen. Er hat anfangs Medicin studirt, dazu ist die Poesie und die Zeit gekommen, wo aller Bezug vom Vaterlande und dem Kampfe dafür in Anspruch genommen wurde. Nach dem Frieden sehen wir ihn auf diplomatischer Laufbahn, sehen ihn als preußischen Gesandten in Carlsruhe, eine glückliche Existenz führend neben Rahel. Er ward abberufen und lebte seit der Zeit in Berlin; Rahel starb, er sammelte ihre reiche Verlassenschaft und übergab sie zum Theile 296 dem Publikum. Er selbst kränkelt schwer, und erhält sich karg vom Interesse an Literatur und deren specieller Geschichte, an Weltentwickelung, und vom Umgange mit einigen Freunden. Seine nächsten wichtigsten Freunde sind todt, Goethe ist todt, Rahel, Wilhelm Neumann, auch der Ruhm reizt nicht mehr, was soll er dem Einsamen, der keinen Aufschwung, keine neue Entwickelung mehr aus dem Ruhme hofft! Wenn der Ruhm wohlschmecken soll, muß er befruchten.

So stirbt Varnhagen seit Rahels Tode, und schreibt lauter Testamente. Und er hat nie so viel geschrieben, und ist nie so anerkannt worden, als eben jetzt, wie man immer das am reichlichsten erhält, was man nicht zu brauchen glaubt. Wer weiß! Ein glücklicher Wurf der Weltgeschichte, ein kräftigender Frühlingsmonat, eine ächte, gesunde Spannung, und die Nerven erheben sich wohl noch einmal zu neuem Leben.

Seine mündliche Unterhaltung ist eine so glückliche Ergänzung zu seinen Schriften, wie man sie 297 äußerst selten findet. Die meisten Autoren sind in den Schriften reicher und interessanter als im Leben, weil sie ihr Bestes für die Feder bewahren und zusammendrängen. Bei Varnhagen ist es fast umgekehrt: er beschränkt sich durch Geschmacksrichtung und durch eine Form, welche aus der Diplomatie ein ganzes Arsenal von Rücksichten mitgebracht hat, dergestalt, daß seine geübte Darstellung eigentlich aus lauter negativen Vorzügen besteht. Es ist Alles vermieden, was nicht gesagt sein soll, und in dieser geschmackvollen Negative beruht für Kenner der Reiz seiner Schreibart. Dabei geht aber von dem Eigenthümlichen, dem Kräftigen, dem unbefragt Knospenden, dem Grünen und Ueppigen sehr viel verloren, was hinter jeglicher Form ruhen muß, wenn sie selbstständig reizen soll. Die Naivetät, welche unmittelbar wirkt, ist in seiner Schreibart durch die Kunst verdrängt, Alles durch eine dritte objektive Person und Anschauung sagen zu lassen; er sucht die Objektivität nicht blos im Ganzen und Großen, sondern auch im Einzelnen, und beraubt sich dadurch 298 des eigentlichen Gegenüber, des Aug in Auge, wodurch die Schrift nicht blos langsam wirkt, sondern auch augenblicklich trifft. Seine Schrift reizt darum nur als Gattung, und darum nur den Kenner, eine vortreffliche Erziehung, die dann noch viel interessanter berührt, wenn sie sich zuweilen vergißt. Wenn ich die Korrektheit hier tadelnd berühre, so will ich keineswegs dem ordnungslos Bunten das Wort reden, es soll nur ein Beispiel genannt sein, wie man durch Bildung ärmer werden kann, sobald man den persönlichen Genius zu weit von ihr unterjochen läßt. Dieser Genius ist bei Varnhagen in mannigfaltigstem und schönstem Reichthume vorhanden, seine mündliche Unterhaltung strotzt davon, aber er läßt die Farbigkeit desselben allzu schwach oder gar nicht in die Schrift, er schreibt zu keusch.

Wenn Jemand seine Unterhaltungen niederschriebe und drucken ließe, er brächte das interessanteste Buch von der Welt, was neben Varnhagens übrigen Schriften stünde wie ein strotzender, blühender Frühlingsbaum neben einem halb entlaubten. So geht es 299 uns: Nach dieser oder jener Richtung hin werden wir zufällig Autoren, das dahin Gehörige bilden wir aus, in Kurzem sind wir uns selbst eine Norm, ein Gefängniß, und das reichste und beste in uns, sei's Manier, sei's wesentliche Eigenschaft, bringen wir nie in unsre Schriftstellerei. Lächelt der Leser? Allerdings ist solche Lotterie das Geschick aller Menschheit: der Verlassenste, Unliebenswürdigste hat eine überschwenglich reiche Gegend in sich, der erste Schritt, das erste Verhältniß zur Welt hat unglücklich darüber entschieden, daß just diese Gegend immer ungesehen tief in ihm ruhen soll. Darum ist alles Genie und alles Gelingen ein Glück.

Varnhagen hat noch Viel, noch Vortreffliches und Wesentliches von dem eigentlichen Varnhagen für den Schriftsteller gewonnen, aber den ganzen und besten Varnhagen nicht. Hier ruht ein feines Lebensgeheimniß, das Geheimniß der Wahl; wenn der Mensch für seine Kräfte und Fähigkeiten denjenigen Ausdruck, denjenigen Stand, dasjenige Geschäft findet, wo Alles thätig werden kann, was er besitzt, und so, 300 wie es in ihm gegliedert und abgestuft ist, dann ist das wunderbarste Gelingen sein. Könnten wir nur eben eine Welt erfinden, wo sich jeder Mensch ohne die Fessel des Herkommens seine eigenthümliche Thätigkeit wählen könnte, wir würden Millionen von Genies erblicken, und es muß den Simonisten zugestanden sein, daß sie so etwas ahneten.

Aber wir haben uns von vorn herein durch unsere Rangunterschiede beraubt; ich meine hier nicht den Hofrath und Thorschreiber, den Herrn und Diener, ich meine Folgendes: Wir halten den Handwerker für etwas Besseres als den Bauer, den Studirthabenden für etwas Besseres als den, welcher nicht studirt hat, und so ferner; wir haben einzelne Aeußerungen, die für das Beste gelten, was der Mensch thun kann, zum Beispiele gilt es der Mehrzahl für das Vortrefflichste, ein ausgezeichneter Schriftsteller sein zu können. Diese Rangunterschiede schaden sehr. Leute, welche durch die Ausbildung einer Fertigkeit unübertrefflich sein könnten, versäumen sie, weil sie nicht so hoch angeschlagen ist, 301 und dadurch verliert die Welt. Besonders gilt dies von den guten Gesellschaftern, den Gelegenheitsdichtern, den Tausendsappermentern eines kleinern oder größeren Kreises: weil man da eine Fertigkeit sieht, die sich im Verkehr so ausnimmt wie das Talent des Autors, des humoristischen Schriftstellers im Buche, darum sollen diese Leute durchaus schriftstellern. Als ob nicht die Fassung für eine Geselligkeit und für ein Buch oft so verschieden wären wie Tag und Nacht, selbst wenn beide auf Eins, zum Beispiele auf den Humor hinausgehn!

Die besten Gedanken werden mündlich fortgepflanzt; und die besten Gedanken kommen nie in die Schrift, denn die Schrift hat keinen Ton, und der Ton ist oft das Beste, die Schrift verlangt eine Form, und jede Form muß grausam sein gegen den Stoff; der Weg von innen bis auf das Pergament und Papier ist auch Meilen weit, alle Schriftsteller schreiben ganz andere Dinge, als sie eigentlich schreiben wollen. Die Schrift selbst ist wieder eine selbstständige Macht, die ihre selbstständigen Forderungen 302 schonungslos zur Geltung bringt, das zu Schreibende muß sich der Schrift erst unterwerfen, ehe es zur Erscheinung kommt, und schon dadurch wird es ein Anderes, als wir beabsichtigen.

Von diesem Standpunkte aus kann man über Varnhagen selbst und dessen feine, kunst- und gehaltreiche Schriften ein dreist mäkelndes Wort sprechen, denn es wird unterstützt durch die strotzend reiche Persönlichkeit dieses Mannes. Diese besitzt all die Farbe, Frische, Bewegung, ja die Laune, den Humor, welche in der mittelbaren Schrift nur fern, und dem ersten Blicke ganz unerkennbar hervortreten. Solch ein Mann müßte darum bei einer vollkommneren Welt Sprecher werden, um seine ganze Kraft zu entwickeln, ich sage ausdrücklich nicht Redner, weil darunter eine andere Fertigkeit zu begreifen ist.

Ein wenig säuerlich aussehend steht da neben Herrn von Humboldt ein voller, wohlgerundeter Mann, mit einem gefüllten, lebhaft gefärbten Antlitze, welches von schwarzem, krausem Haare beschattet 303 und von hervortretenden immer glänzenden Augen dunkler Farbe belebt wird. Dieser ist der geborene Redner, und er sieht wohl eben darum heut etwas säuerlich aus, weil seiner Neigung und seinem Talente keine Gelegenheit geboten ist. Er hört nicht gern, dafür ist zu viel eigne Arbeit in ihm, er giebt lieber, und doch fügt sich seine Billigkeit der Autorität Humboldts, die Alles in Beschlag nimmt. Daß dies nicht ganz ohne Verdruß abgeht, ist natürlich, auch wenn er selbst nichts davon wüßte, übrigens ist auch die große vornehme Gesellschaft zu rückhaltend, als daß sein charakteristisches Talent hier seinen Beruf, sein Terrain und seine Anregung fände. Er ist durchaus der glänzende und entschlossene Redner einer französischen Kammer, der Verfechter einer lebhaften Politik, welcher als Professor der Jurisprudenz nach Berlin gerathen ist. Man muß Eduard Gans in einen kleineren Salon eintreten sehn: mit unbefangener Sicherheit nimmt er den ersten, fernsten Stuhl, welcher sich bietet, und von da aus beginnt er seinen Vortrag über das Nächste der 304 Tagesgeschichte in einer so sicheren, vollen Form, mit so viel scharfem Nachdruck und rascher Wendung, daß man sich urplötzlich nach Frankreich versetzt glaubt. Sind nun gar Ausländer zugegen, und man spricht gruppenweise französisch, so ist die Täuschung noch größer, denn er spricht die Sprache Odillon Barrots so geläufig und national accentuirt, wie man es nur in der Deputirtenkammer verlangen mag; er kennt Paris selbst und alle französischen Notabilitäten und Renomméen, er hat immer Briefe aus Paris, er kennt die Geschichte jenes Landes von Ludwig XIV. bis zum Disjunktionsgesetze ganz im Detail, kennt alle neuen Bücher auch aus der französischen, englischen und italienischen Literatur, redet auch diese Sprachen mit Leichtigkeit und hat neben Allem ein festes Fundament in deutscher Philosophie und Rechtswissenschaft. Was Wunder, wenn sich daraus eine geharnischte, stets kampffertige Figur bildet, die noch von der Jugend eines etwa sechsunddreißigjährigen Alters, von der begabtesten, natürlichsten Suada 305 und von der feinsten Kenntniß und stärksten Herrschaft des sprachlichen Ausdrucks getragen wird.

Das sind drei Männer, welche die Anknüpfung und Bedeutung Berlins nach verschiedenen Seiten darstellen. Humboldt mit den Forschungen der ganzen Welt, Varnhagen mit mancher interessanten Persönlichkeit des letzten Staatslebens und mit allen kourfähigen Autoren unsrer Literatur seit Anerkennung der Goetheschen Herrschaft, seit dem Interregnum der Romantiker und allen dem, was in neuerer Romantik nachfolgte, Gans mit dem Hegelschen Kreise, mit den bewegten Dingen und Personen des Auslandes und der politischen Aeußerung des Auslandes.

Ein Repräsentant der Kunst war in Rauch zugegen, welcher lächelnd und sicher, eine schlanke Gestalt mit edlem, leise und anmuthig alternden Kopfe, dreinsah.

Berlin hat fünfhundert Schriftsteller, darunter, wie billig, 450 bis 460 gemeine Soldaten. Der fünfhundertste Schriftsteller Berlins ist Heinrich 306 Smidt, ein sehr dicker Mann, welcher »durch Wort und Schrift bewiesen hat, daß er nicht zum jungen Deutschland gehört.« Er schreibt wie Walter Scott täglich sechzehn Stunden lang Romane, hat ferner auch die Aehnlichkeit mit dem großen Unbekannten, daß er unbekannt bleibt, und unterscheidet sich nur dadurch, daß seine Romane nicht ganz so gut sind wie die Scottschen. Im Jahre 1838 hofft er sich zu entschleiern, und entschieden berühmt zu werden. Uebrigens ist Heinrich Smidt sein ehrlicher, holsteinscher Name.

Kennt Ihr alle die Stübchen einer großen Stadt, wo die schreiendsten Ansprüche auf literarischen Ruhm in der Einsamkeit darben, wo dem Vaterlande die stillen Opfer gebracht werden, die stolzen Gedichte, die humoristischen Aufsätze, die Abhandlungen, welche der Menschheit so höchst nöthig sind, die Trauerspiele, kurz alles das, was nicht gedruckt wird vom schnöden Buchhändler, kennt Ihr sie? Jede Stadt hat deren, jede große hat mehrere, Berlin hat Legionen; die ganze 307 Literatur kann an einem röthlichen Abende sterben, am nächsten Morgen stellt Berlin einen dicken Meßkatalog. Und nicht bloß Titel, nein, reelle Bedienung, Alles liegt parat, jedes Genre ist wohl versehen, und der Beweis wird gratis zugegeben, daß Alles nichts taugt, was jetzt gedruckt wird.

Die Macht wird immer und allerwege angefochten, auch in der Literatur; wer einen Vers machen kann, will auch sein Amt haben, und bekanntlich ist beim Zusehen Alles leichter. So erinnre ich mich aus Breslau: da ist ein lang gewachsener Mann, er geht sehr sauber gekleidet, hat einen Backenbart und zwei rothe Wangen, die beide nicht ächt aussehn, es aber doch wol sind, der Mann soll ein ganz gescheidter Mann sein, und er zuckt schon seit funfzehn Jahren die Achseln über die deutsche Literatur. Warum? weil er sagt, es sei eine Kleinigkeit, sie ganz anders und viel besser zu machen; man glaubt ihm das, man bedauert ihn und die Literatur, ihn besonders, denn er leidet darunter, obwohl er sich bei dem 308 Aerger die rothen Wangen und den Backenbart konservirt. So wie der Mann aber einmal daran geht, selbst etwas zu schreiben, wozu ihn das Mißvergnügen sehr selten kommen läßt, da wird's ein geziertes, klein, schrumpfig Ding, was nicht den Abdruck lohnt. Ja, klingt die Entschuldigung, er versitzt sich, er ist nicht im Zuge, nicht im Strome – ja wohl, das ist's. Der Weltstrom ist noch etwas ganz Anderes, als was man so vom Ufer aus sieht, wie der Krieg, wie die Ehe, wie die Reife, wie das Regieren ist er eine Sache, die sich nimmermehr erschöpfend durch's bloße Zusehn abmachen und erklären läßt. Die Welt selbst, die wogende, ist eine unbekannte Macht, jeden Tag, für jeden Menschen eine andere – roth springt ihr hinein, roth wollt Ihr durchaus bleiben und bleibt's auch mit aller Anstrengung für Euch, aber nur für Euch, für die Welt habt Ihr vom ersten Anfange Eures Erscheinens an blau ausgesehn, die Strahlen und Farben, welche über Euch zusammenschlagen, kennt Ihr nicht, sie 309 sind ein neu Gesetz außer Euch, eine Macht, die ihr nie bekämpfen könnt, weil Ihr sie niemals seht, Ihr seht nur die Wirkung derselben und nennt dies Euer Schicksal, und weil dies oft gar nicht passen will, so hat es eben schon Manchen toll gemacht – es ist das Geschrei der nicht herrschenden, nicht aufgenommenen Literatur ein stets unbedeutendes, und die Weisheit derselben gleicht auf ein Haar der bekannten Aeußerung: ich gehe nicht eher in's Wasser, als bis ich schwimmen kann.

Dieses zweite und dritte Aufgebot der Literatur, was die Druckpraxis nicht recht gewinnen kann, hat sein Hauptquartier in Berlin; hier sind die Helden ohne Heldenthaten schaarenweise, und die nationale Dreistigkeit ist hierzu sehr behilflich.

Auf allen Straßen, in jeder Tabagie wird über die Literatur gesprochen und über die Kleinigkeit, sie umzuändern; in keinem Winkel des Thiergartens seid ihr vor der Literatur sicher und vor den unbegünstigten Prätendenten derselben.

310 Aber Berlin hat auch so viel wirklich berühmte Männer, daß Ihr nicht die Salons zu suchen, sondern nur auf die Straße Acht zu haben braucht. Unter den Linden seht Ihr oft einen schlanken Mann mit gebleichtem Haare, aber jugendlich lebhaftem Auge, sein Antlitz hat etwas Nordasiatisches und doch Reines und Freies: es ist Schinkel, von welchem die neuen, schönen Bauwerke stammen.

Draußen vor dem Brandenburger Thore rüstet ein Mann mit schlichtem, blondem Haare seine Cigarrenpfeife zurecht, über den treuherzigen Augen liegt eine Brille, Alles ist einfach an ihm wie am bescheidensten Bürgersmanne, er scherzt mit Gans, der ihn auf dem Spaziergange nach Charlottenburg begleitet – hinter dem harmlosen Aeußeren ruht ein eisenfester Charakter und eine eisenfeste Wissenschaft, es ist der berühmte Philologe Bökh, vor dessen Alterthumskunde eine ganze Nation sich beugt.

Auf jener Chaussée begegnet Ihr täglich einem wunderlichen Paare, es ist ein Mann mit 311 schlechtem grauem Mantel, schlechtem auf dem Hinterkopfe hängenden Hute, der eine ältliche kleine Dame führt. Ihr haltet ihn für einen alten kranken Juden, der nichts von der Welt weiß als ein Paar Gebete des Talmud, den Niemand kenne als die Sippschaft und der nächste Nachbar, und Ihr ahnt nicht, daß eine ganze Bibliothek von Gelehrsamkeit, Kenntniß und Gemüth an Euch vorüberschlürfe, und Wissenschaft die Fülle, wie sie in der Bibliothek noch nicht zu finden ist. Er trägt unter dem Mantel hohe Steifstiefeln, und schiebt mühsam die schwachen Beine fort, sein Kopf reckt sich eben so mühsam und müde in die Luft, die kleinen Augen sind wie abgestumpft zugeblinkt, Viertelstunden lang ist der Mund unbeweglich, das nach der Seite gebeugte, gelbe Antlitz ist lebensöde und erstarrt, alle Physiognomik wird daran zu Schanden, denn es zeigt nichts als ein unthätiges häßliches Gesicht aus Palästina. Dieser Mann aber ist der berühmte Theologe Neander, der mit seiner Schwester spaziren schleicht.

312 Das so gar nicht kouromte Aeußere hat oft zu den komischsten Scenen Veranlassung gegeben, und es hat nicht leicht Einer in Berlin Kirchengeschichte gehört, der nicht auch die Geschichte von Neanders Hosen gehört hätte. Diese Hosen nämlich bezeichnen ganz und gar sein Verhältniß zur bekleideten Welt, zur Welt des Umgangs und der Mode.

Daß Neander in seinem Leben ein Modejournal gesehen hat, ist durchaus nicht wahrscheinlich; die aramäischen Charaktere kennt er, aber Humanns Charakter kennt er nicht, und er würde schwer begreifen, wie ein Mensch sein Leben darauf verwenden kann, Leibröcke und Beinkleider zu erfinden. Was des Morgens durch Fürsorge seiner Schwester an Kleidungsstücken auf seinem Stuhle zu finden ist, das zieht er an, weil er sich das so allmählig angewöhnt hat, ein Gedanke fällt nie darauf. Nun erzählt der Student, der Herr Professor habe Jahre lang nur ein Beinkleid besessen, und es sei heute noch unerklärt, wie ohne Vorwissen der Schwester ein zweites, neues habe entstehen können. Kurz, 313 eines Morgens findet sie, die sorgliche, die alte würdige Modeste unberührt auf dem Stuhle, der Bruder aber ist bereits in der Universität auf dem Katheder. Man denke sich das Erschrecken! Offenbar ist das treue Beinkleid vergessen; zwar trägt er auch auf dem Katheder den grauen Mantel, aber ein Mantel verkehrt direkter mit der leichtsinnigen äußeren Welt, er kann zurückschlagen, und man sieht das Unglück. Die Magd wird gerufen, das vergessene Schicksalspaar ihr eingehändigt, sie keucht damit in die Universität – malt Euch den seltnen Anblick! – sie klopft am Auditorium, sie bittet den über das schüchtern herabhängende Beinkleid staunenden Studenten, den Herrn Professor herauszurufen. Er kommt. »Jemine, Herr Professor, Sie haben ja Ihre Hosen vergessen.« – Herr Gott! Verzagte Oeffnung des Mantels – »Herr Jeses, der Herr Professor haben ein Paar neue!« – So? – Der Herr Professor ist eben so erstaunt darüber, und rudert unsichern Triumphes nach dem Katheder zurück.

314 Tretet in ein anderes Auditorium. Ein großer, stark ausgearbeiteter Mann docirt frei, er hat ein kräftiges Gesicht, eine hohe Stirn und eine geübte Rede, welche oft in die Massendarstellung seine Bezügnisse und Wendungen flicht. Dieser stattliche Mann hat die Geographie erfunden, es ist Carl Ritter. Vor ihm war sie eine Tabellenkenntniß, ein Wissen, durch ihn ist sie eine Wissenschaft geworden, und zwar die interessanteste von der Welt, denn die Idee der Welt ist in ihr geweckt, in sie getragen worden, die Erde hat das tausendfache geistige Leben gewonnen, was so zaubervoll alle Poesie und Kenntniß zu neuer Schöpfung weckt. Der Baum spricht, das Blatt lehrt, der Stein, der Hügel, die Staude, das Kraut der Steppe giebt Kunde, das fremde Thier weckt den Gedanken, die fremde Völkerschaft hilft forschen, und so wächst ein neuer, reicher Baum in die Geschichte der Menschheit und breitet dichter und größer seinen Schatten über eine neue Einsicht des Weltgedankens. Carl Ritter, der Schöpfer dieser neuen Geisteswelt, 315 ist 1779 zu Quedlinburg geboren, in Schnepfenthal ward er erzogen, und dort hat der bekannte Guts-Muths den Keim in ihm gepflanzt. Guts-Muths soll reiche Embryonen dieser Schöpfung in sich getragen, und nur die Kraft nicht besessen, das Belebungswort nicht gewonnen haben, wie man daraus eine neue Welt erschaffen könne.

Ritter studirte in Halle, ward dann Erzieher, lebte in Frankfurt, reis'te, durchzog Deutschland und Italien, durchstrich zum Beispiele bis in die verborgensten Winkel die Schilf- und Rohrwälder der pontinischen Sümpfe, das Albanergebirge. Er trat eigentlich mit pädagogischen Beiträgen auf. Dazwischen erschien 1804 sein »Europa«, was zum ersten Male der Geographie ein so unerhörtes Gesammtleben gab, ein Gesammtleben, wo die Erde Alles aus sich heraus erzählt, das Wissen, die Kunst, die Bewegung, die Sitte und Sprache. Noch fünf und zwanzig Jahre nach dieser Erscheinung gaben die Franzosen jenen Ritter-Atlas von 316 Europa als das Beste heraus, was in diesem Fache geboten sei.

1817 und 18 erschien das Alles zu einem überwältigenden Ganzen verdichtet in seinem Hauptwerke: »Erdkunde oder allgemein vergleichende Geographie«, die Afrika und Asien vor uns aufrollte, wie wir es nie gesehn.

1820 wurde Ritter nach Berlin berufen, und jetzt kann ihn Jeder hören, der just Nachmittags über den Opernplatz geht, und sich erinnert, daß der hoch gewachsene Mann im schwarzen Frack in die Universität hineinschreitet, um die Erde vor seinem Auditorium so zu beleben, wie es in so interessanter Weise nicht die üppigste Idealistik vermag. Er handhabt sie wie eine leichte Kugel auf dem Katheder, mit einem Stückchen Kreide zeichnet er ferne Länderstriche rasch und charakteristisch an die Tafel, die Nachrichten darüber aus der ältesten und der neusten Literatur, aus indischen, griechischen und englischen Quellen wachsen unterdeß wie belebendes Gesträuch zwischen der zeichnenden Hand empor, die 317 Kriegs-, die Völkerzüge, welche den Landstrich je belebt haben, hört man rasseln und klirren, Alexanders Generale, Dschingiskan's, Tamerlan's Speerwälder sieht man vorüberziehn, der Vogel jener Gegenden schreitet, oder fliegt, blendet oder erschreckt, der Mensch tritt auf in seiner Besonderheit, und wie er zu Gott redet, der eigene Himmel, des Tages Schein, die Sternenwelt, die Nebel, Regen oder Winde werfen die Farbe über das ganze Bild, und eine gefärbte, schattirte, fleischige Welt ist Euch in einer Viertelstunde geboten; der Weg geht weiter, der Schwamm fährt darüber hin, eine neue entsteht mit ganz anderen Beziehungen. Ihr seid auf dem Schiffe, erfahrt, wie die Winde an jener Landspitze streichen und wechseln, wie die Strömung des Meeres nach Indien, fünf mal, sechs mal wechselt und wendet – große, wohl versorgte Städte verwüsten ihren Reichthum, weil sie ihn nicht genug benützen, viele tausend Berliner gehn um diese Stunde über den Opernplatz, und wissen nicht, wohin mit der Zeit!

318 Da kommt aber ein kleiner Mann die Charlottenstraße herauf, der muß es verstehn, man sieht ihn stets auf der Straße, im Theater und sonstwo, und dennoch hält er Vorlesungen und schreibt, wer weiß wie viel und wie dicke Bücher. Ich habe schon früher einmal in jugendlichem Muthwillen, der kein Ende finden kann, zu viel über ihn gesprochen, aber wenn ich auch glaube, daß der Muthwille einem Historiker zu viel anthun mag, liebenswürdig erscheint mir diese historische Muse, dieser Herr von Raumer mein Lebtag nicht. Man hat in Norddeutschland ein kleines Wort, was nach welken, feuchten Lippen klingt, und »labbern« heißt, das Unglück dieses Wortes hat sich der Geschichtschreibung dieses Mannes bemächtigt, möge Andern wohl dabei werden! Der kleine Historiker im blauen Röckchen, im breitgerandeten Hute, mit den rothbetupften Bäckchen und den hellblauen Glasaugen darf aber in Berlin nicht übergangen werden, er ist die eigentliche Notabilität des Berliner tiersparti, zu welcher alle die ganzen und halben Talente gehören, welche dreist 319 sind, ohne die höheren Gesichtspunkte der Spekulation und des Urtheils zu kennen und zu würdigen, welche die bürgerliche Klasse des Geschmacks für sich haben, wie Gleiches stets das Gleiche wittert, welche die Mittelmäßigkeit in all den verschiedenen Abstufungen dieser Eigenschaft darstellen.

Das beste Talent dieser Pflanzengattung märkischen Sandes ist Wilibald Alexis, ein kurzer, eckiger Mann mit einem ganz kleinen Schnurrbärtchen, ganz so klein wie die Kourage seines Talents, was gar nicht nöthig gehabt hätte, hinter die Leihbibliotheken zu kriechen; das selbstgefälligste und bei aller Fruchtbarkeit dürrste ist Raupach, das fraglichste Gustav Nicolai, der bis jetzt nur dadurch merkwürdig ist, daß ihm Italien nicht gefallen hat, und das schwatzhafteste und unbedeutendste ist Rellstab, der Stolz des Berliner Philisters.

Die Mittelmäßigkeit ist aber stets am sichersten in ihrer ausgezeichneten und berühmten Haut, das Genie mag an sich zweifeln, die Mittelmäßigkeit nie, und nun wird unser Raumer wieder nach 320 England reisen, und da wird die Welt wieder sehn, was eine Harke ist. Ich schätze diese »Briefe aus England« stets als eine Sammlung englischer Zeitungen, die man verdeutscht und in Octav geheftet bekommt, während sie sonst leicht verloren gehen, ich wünsche dem Herrn von Raumer stets eine glückliche Reise, wenn ich ihn die Charlottenstraße herauf kommen sehe.

Da spaziert aber ein kleiner Mann etwas nach der Seite die Linden hinab, das ist ein Historiker, wie er das Herz erfrischt und den Geist erweckt, Leopold Ranke ist's. Er führt ein Junggesellenleben in Berlin, verkehrt viel mit Staatsmännern, besonders war er oft bei dem verstorbenen Ancillon zu finden; sein Kopf ist klein und rasch, eben so rasch sind die lebendigen Augen und die schnell entstehenden Worte des Angeredeten, seine Gesichtsfarbe ist zart. Der Accent seiner Rede erinnert noch ein wenig an Thüringen, und weil er die Schwäche seiner Landsleute mit dem harten und weichen p t und b d wohl kennt, nicht aber die wunderliche 321 Bezeichnung brauchen will »hartes b und weiches p«, so hat er die griechischen Bezeichnungen oft im Munde, und sagt: Man schreibt's mit Pi oder mit Beta oder mit Delta. Das kleine Städtchen Wiehe, was nach der güldnen Aue liegt, ist seine Vaterstadt.

Chamisso, den langhaarigen, kennt Ihr aus dem Musenalmanache, er hustet langsam nach dem Tode hin, hat aber noch ein lebhaftes Interesse am Leben, ein neues Buch, was von Chamisso erscheint, wie seine letzte Sammlung, weckt und gewährt ihm den lebhaftesten, frischesten Antheil. Nehmt Euch ein Beispiel an ihm: er ist ein emigrirter Franzose, mit französischer Zunge kam er nach Berlin, ward Page und Officier, radebrechte deutsch, ließ seine Familie wieder heimkehren, blieb, radebrechte weiter, und ist jetzt, da er sich zum Sterben anschickt, ein deutscher Dichter erster Größe! Nehmt ein Beispiel daran und radebrecht ebenso!

Da schlüpft durch's Thor noch ein anderer Dichter, den ihr nicht in Berlin vermuthet, aus grünem Wald und grauer Welt klingen seine Lieder, wer 322 sucht dahinter und hinter dem Titel eines Regierungsraths den Dichter Eichendorff! Schlank, mittlern Wuchses und Alters, zugeknöpften Rockes, kleiner Mütze, als ging's zur Jagd, würdig und schnell verschwindet er hinter dem Thore zwischen den Bäumen.

Verschwinde eben so zwischen den Bäumen, Schattenspiel, ich will nur locken, nicht erschöpfen, und mancher große, mancher kleine Mann bleibe in der Feder. Auch Clauren? Schämt Ihr Euch jetzt Eures Heißhungers nach dem Vergißmeinnicht? Wenn ich den kleinen Mann nickenden Schrittes unbekannt durch die Menge rudern sehe, das Gesicht ist abgespannt, der Nase sieht man die Schnupftabakdose an, so ergreift mich ein starkes Gefühl. Clauren kann nicht dafür, er ist die unschuldige Veranlassung. Wie oft betrübt mich der Gedanke, wenn ich mit einem Freunde die Linden entlang unter der bunten, bewegten Menge promenire, wenn wir uns ergehn in Klage oder Erwartung, in Theilnahme an der Geisteswelt unserer Tage, wie oft schlägt mich kalt 323 der Gedanke: alle die Leute ringsumher kennen nichts von dieser Sorge, es kümmert sie nicht solch Interesse, und sie leben auch, sie haben auch Recht. Sprich zum Nächsten von Objektivität der Literatur, von Tendenzen, von Perspektiven, er hält Dich für verrückt oder für einen Ausländer, oder weis't Dir Petitpierre's Laden, wo Perspektive zu kaufen sind. H. Clauren aber ist für diese Gedanken ein Trost, er ist ein Opfer der Kritik, ihn anbetreffend ist die Kritik selbst bei den Nähtermamsells wirksam geworden; wenn die Kritik heutiges Tags auch eine Bildsäule kriegt, so muß H. Clauren, der bei der Post angestellte Herr Carl Heun, ein Plätzchen dabei finden. Der arme Mann, er hat schwere Tage gehabt: seinen Ruhm und seinen Sohn hat er verloren, den Ruhm leichten Sinnes, den Sohn mit schweren Thränen. An Mimili denkt er nicht mehr, und schreibt seine Postzettel richtig und sauber. Schade, sehr schade um das starke Erzählungstalent, was der Eifer gewöhnlich vergißt, an ihm herauszuheben, schade daß er keine Bildung und keinen 324 Geschmack hatte, und nur mit den materiellsten Dingen lockte, mit hunderttausend Thalern, mit hübschen Waden, mit Sillery mousseux und mit Austern – ein Berliner aus der Weinstube. 325

 


 


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