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11. Kapitel
Der September hatte begonnen. Noch immer beschrieb die Sonne ohne unterzugehen den vollen Kreis des Himmels, aber sie stand nur noch wenige Grad über dem Horizont. Schon streifte sie nahe an die höchsten Gipfel der Berge, welche an einzelnen Stellen die Steilufer des Polarbassins überragten. Der lange Polartag neigte sich seinem Ende zu. Wie in einem ewigen Untergang wanderte der riesige Glutball der Sonne rings um die Insel, meist drang sie nur strahlenlos wie eine rote Scheibe durch die Nebel, und ein breites, rosig glühendes Band zog sich durch die leise wogenden Fluten ihr entgegen und folgte ihrem Lauf als ein natürlicher Stundenzeiger um den Pol.
Die beiden deutschen Nordpolfahrer verbrachten ihre Tage wie in einem köstlichen Märchen. Hätte nicht der Gedanke an den verlorenen Gefährten auf ihre Stimmung niederdrückend gewirkt und den Genuß der Gegenwart gedämpft, nichts Freudigeres und Erhebenderes wäre denkbar gewesen als der beglückende Verkehr mit den Bewohnern der Polinsel, die, wie sie jetzt erfuhren, den Namen Ara führte, zu Ehren des ersten Weltraumschiffers Ar.
Die Martier behandelten die beiden Erdbewohner als ihre Gäste, denen jede Freiheit gestattet war. Gegenüber den kleinen, unansehnlichen, schmutzigen und tranduftenden Eskimos erschienen ihnen die stattlichen Figuren der Europäer in ihrer reinlichen Tracht schon äußerlich als Wesen verwandter Art. Nicht wenig trug dazu die körperliche Überlegenheit bei, welche die Martier, sobald sie sich nicht im Schutz des abarischen Feldes befanden, an den Menschen anerkennen mußten. Aufrecht und leicht schritten diese einher und verrichteten spielend Arbeiten, denen die unter dem Druck der Erdschwere gebeugt einherschleichenden Martier nicht gewachsen waren. Denn auch Grunthe war nach wenigen Tagen wieder in seiner Gesundheit völlig hergestellt und spürte keinerlei üble Folgen seiner Fußverletzung. Saltner aber hatte sich durch die entschlossene und geschickte Rettung Las die Achtung der Martier erworben.
Überraschend schnell hatte sich das gegenseitige Verständnis durch die Sprache angebahnt. Dies war natürlich hauptsächlich durch die glückliche Auffindung der kleinen deutsch-martischen Sprachanweisung gelungen. Es zeigte sich, daß diese von ihrem Verfasser Ell ganz speziell für diejenigen Bedürfnisse ausgearbeitet war, die sich bei einem ersten Zusammentreffen der Menschen mit den Martiern für beide Teile herausstellen würden. Denn es waren darin weniger die alltäglichen Gebrauchsgegenstände und Beobachtungen berücksichtigt, über welche man sich ja leicht durch die Anschauung direkt verständigen kann, wie Speise und Trank, Wohnung, Kleidung, Gerätschaften, die sichtbaren Naturerscheinungen und so weiter; vielmehr fanden sich gerade die Ausdrücke für abstraktere Begriffe, für kulturgeschichtliche und technische Dinge darin verzeichnet, so daß es Grunthe und Saltner möglich wurde, sich über diese Gedankenkreise mit den Martiern zu besprechen. Ell hatte offenbar vorausgesehen, daß, wenn wissenschaftlich gebildete Europäer mit den in der Kultur ihnen überlegenen Martiern zusammenkämen, das Hauptinteresse darin bestehen müßte, sich gegenseitig über die allgemeinen Bedingungen ihres Lebens zu unterrichten.
Es erregte übrigens bei den Martiern keine geringere Verwunderung wie bei den beiden Forschern, daß auf Erden ein Mensch existiere, der sowohl die Sprache und Schrift der Martier beherrschte als auch eine ziemlich zutreffende Kenntnis der Verhältnisse auf dem Mars besaß. Aus gewissen Einzelheiten schlossen sie allerdings, daß diese Kenntnis sich nur auf weiter zurückliegende Ereignisse bezog, daß insbesondere die Tatsache der Marskolonie am Pol der Erde dem Verfasser des Sprachführers nicht bekannt war, wohl aber das Projekt der Martier, die Erde an einem ihrer Pole zu erreichen. Der Name Ell war in einigen Landschaften des Mars nicht selten. Die gegenwärtigen Polbewohner erinnerten sich der Berichte, daß bei den ersten Entdeckungsfahrten nach der Erde mehrfach Fahrzeuge verschollen waren, ohne daß man jemals etwas über das Schicksal der kühnen Pioniere des Weltraums hatte erfahren können. Von einem berühmten Raumfahrer, dem Kapitän All, wußte man sogar gewiß, daß er mit mehreren Gefährten infolge eines unglücklichen Zufalls auf der Erde zurückgelassen worden war, allerdings unter Umständen, welche allgemein an seinen baldigen Untergang glauben ließen. Immerhin war es wohl denkbar, daß einer oder der andere dieser Martier zu Menschen sich gerettet und die Kunde vom Mars dahin gebracht hätte. Diese Ereignisse aber lagen dreißig bis vierzig Erdenjahre zurück, und jene Männer selbst waren alle in vorgeschrittenerem Alter gewesen, da eine Beteiligung jüngerer Leute an jenen ersten, unsicheren Fahrten nicht bekannt war. Ell selbst, der etwa mit Grunthe gleichaltrig oder nur ein wenig älter war, konnte also nicht zu ihnen gehören. Und Grunthe wie Saltner konnten versichern, daß von einem Auftauchen eines Marsbewohners, ja überhaupt von der Existenz solcher Wesen, auf der Erde nichts bekannt sei. Ell war der einzige, der ein solches Wissen besaß, dies aber bis auf jene beiläufigen Redensarten, die Grunthe nicht ernsthaft genommen, durchaus verborgen gehalten hatte. Wie er selbst dazu gekommen war, blieb ebenso unaufgeklärt wie die Umstände, durch welche jene Sprachanweisung in das Flaschenfutteral gelangt sein konnte, das Frau Isma Torm der Expedition als eine scherzhafte Überraschung am Nordpol mitgegeben hatte.
Den Bemühungen der Deutschen, sich die Sprache der Marsbewohner anzueignen, kamen diese bereitwillig entgegen, so daß Saltner und insbesondere Grunthe sehr bald ein Gespräch auf martisch führen konnten; gleichzeitig fand es sich, daß auch die Martier, welche den täglichen Umgang der beiden bildeten, das Deutsche beherrschten. Ersteres wurde dadurch möglich, daß die Verkehrssprache der Martier außerordentlich leicht zu erlernen und glücklicherweise für eine deutsche Zunge auch leicht auszusprechen war. Sie war ursprünglich die Sprache derjenigen Marsbewohner gewesen, die auf der Südhalbkugel des Planeten in der Gegend jener Niederungen wohnten, welche von den Astronomen der Erde als Lockyer-Land bezeichnet werden. Von hier war die Vereinigung der verschiedenen Stämme und Rassen der Martier zu einem großen Staatenbund ausgegangen, und die Sprache jener Zivilisatoren des Mars war die allgemeine Weltverkehrssprache geworden. Durch einen Hunderttausende von Jahren dauernden Gebrauch hatte sie sich so abgeschliffen und vereinfacht, daß sie der denkbar glücklichste und geeignetste Ausdruck der Gedanken geworden war; alles Entbehrliche, alles, was Schwierigkeiten verursachte, war abgeworfen worden. Deswegen konnte man sie sich sehr schnell soweit aneignen, daß man sich gegenseitig zu verstehen vermochte, wenn es auch außerordentlich schwierig war, in die Feinheiten einzudringen, die mit der ästhetischen Anwendung der Sprache verbunden waren.
Übrigens war dies nur die Sprache, die jeder Martier beherrschte. Neben derselben aber gab es zahllose, sehr verschiedene und in steter Umwandlung begriffene Dialekte, die bloß in verhältnismäßig kleinen Gebieten gesprochen wurden, endlich sogar Idiome, die allein im Kreis einzelner Familiengruppen verstanden wurden. Denn es zeigte sich als eine Eigentümlichkeit der Kultur der Martier, daß der allgemeinen Gleichheit und Nivellierung in allem, was ihre soziale Zusammengehörigkeit als Bewohner desselben Planeten anbetraf, eine ebenso große Mannigfaltigkeit und Freiheit des individuellen Lebens entsprach. Wenn so die schnelle Erfaßbarkeit des Martischen den Deutschen zugute kam, so brachte die erstaunliche Begabung der Martier andererseits zuwege, daß sie sich wie spielend das Deutsche aneigneten. Gegenüber dem verwirrenden Formenreichtum des Grönländischen erschien ihnen das Deutsche wesentlich leichter. Was aber die schnellere Erlernung desselben hauptsächlich bewirkte, war der Umstand, daß das Deutsche als Sprache eines hochentwickelten Kulturvolkes dem geistigen Niveau der Martier soviel näherstand. Was der Grönländer in seiner Sprache auszudrücken wußte, die konkrete Art, wie er es nur ausdrücken konnte, der enge Interessenkreis, auf den sich das Leben des Eskimo beschränkte, das alles war dem Martier sehr gleichgültig, und er beschäftigte sich damit nur, weil er bisher kein anderes Mittel besaß, mit Bewohnern der Erde in Verkehr zu treten. Ganz anders aber wurde das Interesse der Martier erregt, als sie mit Grunthe und Saltner Gesprächsthemata berühren konnten, die ihrem eigenen gewohnten Gedankenkreis näherlagen. Im Deutschen fanden sie eine Sprache, reich an Ausdrücken für abstrakte Begriffe, und dadurch verwandt und angemessen ihrer eigenen Art zu denken. Die Überlegenheit, mit welcher die Martier die kompliziertesten Gedankengänge behandelten und in einem allgemeinen Begriff jede einzelne seiner Anwendungen mit einemmal überblickten, diese bewundernswerte Feinheit der Organisation des Martiergehirns kam den Deutschen zum erstenmal zum vollen Bewußtsein, als sie die Gewandtheit bemerkten, mit welcher die Martier das Deutsche nicht nur erfaßten und gebrauchten, sondern gewissermaßen aus dem einmal begriffenen Grundcharakter die Sprache mit genialer Kraft nachschufen.
Grunthe und Saltner wurde es sehr bald klar, daß die Martier geistig in ganz unvergleichlicher Weise höher standen als das zivilisierteste Volk der Erde, wenn sie auch noch nicht zu übersehen vermochten, wie weit diese höhere Kultur reiche und was sie bedeute. Ein Gefühl der Demütigung, das ja nur zu natürlich war, wenn der Stolz des deutschen Gelehrten einer höheren Intelligenz sich beugen mußte, wollte im Anfang die Gemüter verstockt machen. Aber es konnte nicht lange vor der übermächtigen Natur der Martier bestehen. Es wich widerstandslos der ungeteilten Bewunderung dieser höheren Wesen. Neid oder Ehrgeiz, es ihnen gleichzutun, konnten bei den Menschen gar nicht aufkommen, weil sie sich nicht einfallen lassen durften, sich mit den Martiern auf dieselbe Stufe der Einsicht stellen zu wollen.
Freilich wurden sie von den Martiern wie Kinder behandelt, denen man ihre Torheit liebevoll nachsieht, während man sie zu besserem Verständnis erzieht. Aber davon merkten Grunthe und Saltner nichts. Denn die Martier, wenigstens diejenigen der Insel, waren viel zu klug und taktvoll, als daß sie je ihre Überlegenheit in direkter Weise geltend gemacht hätten. Sie wußten es so einzurichten, daß den Menschen die Berichtigung ihrer Irrtümer als Resultat der eigenen Arbeit erschien, und ihre unvermeidlichen Mißgriffe korrigierten sie mit entschuldigender Liebenswürdigkeit.
Die Wunder der Technik, welche die Forscher bei jedem Schritt auf der Insel umgaben, versetzten sie in eine neue Welt. Sie fühlten sich in der beneidenswerten Lage von Menschen, die ein mächtiger Zauberer der Gegenwart entrückt und in eine ferne Zukunft geführt hat, in welcher die Menschheit eine höhere Kulturstufe erklommen hat. Die kühnsten Träume, die ihre Phantasie von der Wissenschaft und Technik der Zukunft ihnen je vorgespiegelt hatte, sahen sie übertroffen. Von den tausend kleinen automatischen Bequemlichkeiten des täglichen Lebens, die den Martiern jede persönliche Dienerschaft ersetzten, bis zu den Riesenmaschinen, die, von der Sonnenenergie getrieben, den Marsbahnhof in sechstausend Kilometer Höhe schwebend erhielten, gab es eine unerschöpfliche Fülle neuer Tatsachen, die zu immer neuen Fragen drängten. Bereitwillig gaben die Wirte ihren Gästen Auskunft, aber in den meisten Fällen war es gar nicht möglich, ihnen den Zusammenhang zu erklären, weil ihnen die Vorkenntnisse fehlten. Grunthe war in dieser Hinsicht so vorsichtig, nicht viel zu fragen; er suchte sich auf seine eigne Weise zurechtzufinden, sobald er sah, daß die Erklärung der Martier über seinen Horizont ging. Saltner machte sich weniger Skrupel darüber. »Das hilft nun nichts«, pflegte er zu sagen, »wir spielen einmal hier die wilden Indianer, und was wir nicht begreifen, ist Medizin.«
Als ihnen Hil zum erstenmal die Einrichtung erklärt hatte, wodurch sich die Martier in ihren Zimmern den Druck der Erdschwere erleichterten, und Grunthe mit zusammengekniffenen Lippen in tiefes Nachdenken verfiel, sagte Saltner einfach: »Medizin« und hob Grunthe samt dem Stuhl, auf welchem er saß, mit ausgestreckten Armen über seinen Kopf. Diese Kraftleistung war zwar für ihn bei der auf ein Drittel verringerten Erdschwere durchaus nichts Besonderes, ließ ihn aber doch den Martiern als einen Riesen an Stärke erscheinen.
Das Zimmer, welches an die beiden Schlafzimmer von Grunthe und Saltner stieß, war für den bequemen Verkehr der Martier mit den Menschen in eigentümlicher Weise eingerichtet worden. Da nämlich die Verringerung der Erdschwere, deren die Martier für die Leichtigkeit ihrer Bewegungen bedurften, von Grunthe und Saltner nicht gut vertragen wurde, so hatte man es durch eine am Boden markierte Linie – Saltner nannte sie den ›Strich‹ – in zwei Teile zerlegt. Der abarische Apparat konnte für die Hälfte des Zimmers, welche an die Wohnräume der Menschen grenzte, ausgeschaltet werden, während in dem übrigen Teil die Gegenschwere auf das den Martiern gewohnte Maß eingestellt wurde. Hier hielten sich die Martier auf, wenn sie bei den Deutschen ihre Besuche machten, während diese sich nach ihren Wünschen eingerichtet hatten, soweit es mit den von den Martiern bereitwillig hergegebenen Möbeln und den wenigen von ihnen selbst mitgebrachten Gegenständen geschehen konnte. Freilich beschränkte sich diese Einrichtung nur auf die Aufstellung eines Arbeitstisches, einiger Bücher, Schreibmaterialien und Instrumente; denn in dieser Hinsicht wußten die Forscher nur in der ihnen gewohnten Weise auszukommen. Was im übrigen die Bequemlichkeiten des täglichen Lebens anbetraf, so waren sie nicht nur auf die Apparate und Gewohnheiten der Martier angewiesen, sondern fanden dieselben auch bald um so viel vorteilhafter und angenehmer, daß sie gern darüber nachdachten, wie sie dergleichen in ihre Heimat verpflanzen könnten.
Saltner, der seinen photographischen Apparat unter den geretteten Gegenständen wiedergefunden hatte, konnte kaum Zeit genug gewinnen, alle die Ausstattungsstücke der Martier aufzunehmen und die gänzlich neuen Formen der Verzierungen, die Gemälde, Kunstwerke und Zimmerpflanzen abzubilden. Ein besonderes Studium machte er aus den Automaten, deren Mechanismus er zu ergründen suchte und sich immer wieder aufs neue erklären ließ.
Seine Beraterin in diesen Dingen war in der Regel die immer heitere Se, seine liebenswürdige Pflegerin beim ersten Erwachen. Sie hielt sich täglich einen großen Teil ihrer Zeit über in dem gemeinschaftlichen Gesellschaftszimmer auf und machte den Gästen gewissermaßen die Honneurs des Hauses. Dagegen bekam Saltner La nur selten zu sehen, gewöhnlich nur des Abends, wenn sich die Martier in größerer Anzahl einzustellen pflegten. Und dann hielt sie sich gern zurück, obwohl er oft fühlte, daß ihre großen Augen mit einem sinnenden Ausdruck auf ihm ruhten. Sein lebhaftes Gespräch mit Se aber unterbrach sie häufig durch eine Neckerei. Da man sich meist bei geöffneten Fernhörklappen unterhielt, so konnte man, sobald man wollte, einem Gespräch in einem andern Zimmer zuhören und sich hineinmischen; so war es nichts Ungewöhnliches, daß man von einem Zwischenruf eines ungeahnten Zuhörers unterbrochen wurde. Ebensowenig aber nahm es jemand übel, wenn man einfach seine Klappe abschloß.
Die Sprachstudien waren speziell zwischen La und Saltner nicht wieder aufgenommen worden. Denn La hatte noch mehrere Tage nach ihrem Unfall sich vollkommener Ruhe hingeben müssen, und als sie wieder gesundet war, fand sie das gegenseitige Verständnis zwischen Menschen und Martiern schon ziemlich weit vorgeschritten. Aber auch sie hatte ihre unfreiwillige Muße benutzt und nicht nur den Ellschen Sprachführer, sondern auch die wenigen Nachschlagwerke, welche die Luftschiffer mit sich hatten, durchstudiert.
Trotz des Eindrucks, den die reizende Se auf Saltners empfängliches Gemüt machte, flogen seine Gedanken immer zu der stilleren, milden La zurück, und es war ihm stets wie eine leichte Enttäuschung, wenn er sie im Zimmer nicht vorfand. Gerade daß er öfter ihre tiefe Stimme vernahm, ließ ihn ihren Anblick um so mehr vermissen.
Las Zurückhaltung war nicht absichtslos. Daß sowohl sie wie Se eine unentrinnbare Gefahr für Saltners Herz waren, lag ja für beide auf der Hand, nachdem sie sich überhaupt erst an den Gedanken gewöhnt hatten, daß ein Mensch sich verlieben könne. Was aber Se höchst komisch vorkam und als äußerst spaßhaft erschien, das vermochte La so harmlos nicht anzusehen. Der ›arme Mensch‹, mit dem Se sich so lustig unterhielt, war ihr doch in einem andern Licht erschienen, damals, als er, in seinem eignen Element tätig, Leistungen verrichtete, die über das Vermögen der Nume hinausgingen.
Sie konnte den Moment nicht vergessen, in welchem sie sich in seinen starken Armen vom vernichtenden Abgrund zurückgerissen fühlte. Und so blieb es ihr immer gegenwärtig, daß dieses Spielzeug der erhabenen Nume, wenn auch nur ein Mensch, doch ein freies Lebewesen sei, kein ebenbürtiger Geist, aber vielleicht ein ebenbürtiges Herz. Ein doppeltes Mitleid stritt mit sich selbst in ihrer Seele, sie vermochte ihn nicht zu kränken durch Kälte und Zurückweisung, und sie wollte nicht Gefühle erwecken, die ihm doch nur zu größerem Leid werden konnten. Wer kann wissen, wie Menschenherzen fühlen mögen? Vielleicht waren die Menschen viel stärker in ihren Gefühlen als in ihrem Verstand. Und sie war Saltner zu dankbar, um nicht für ihn zu denken, was er wohl nicht verstand. – Aber was tun?
Wäre Saltner ein Martier gewesen, so hätte es keiner Vorsicht für La bedurft. Er hätte dann gewußt, daß ihre Freundlichkeit und selbst ihre Zärtlichkeit nichts bedeuteten als das ästhetische Spiel bewegter Gemüter, das die Freiheit der Person nicht beschränken kann. Wie jedoch mochten Menschen in diesem Fall denken? Durfte sie hierin ohne weiteres gleiche Sitten voraussetzen? Und würde er wohl verstehen, was von vornherein und immer den Menschen, den wilden Erdbewohner, von der heiteren Freiheit des erhabenen Numen trennte? Und lief er nicht Gefahr, bei Se demselben Schicksal zu verfallen, vor dem sie ihn selbst zu behüten suchte?
Wenn sie Se ihre Bedenken andeutete, so lachte diese nur.
»Aber La«, sagte sie, »du bist auch gar zu bedächtig! Ich bitte dich, er ist ja bloß ein Mensch! Es ist doch furchtbar komisch, wenn der sich Mühe gibt, so recht liebenswürdig zu sein.«
»Du kannst aber nicht wissen«, antwortete La, »ob ihm auch so furchtbar komisch zumute ist. Ein Tier, das wir necken, scheint uns oft äußerst lächerlich, und ich muß dann doch immer denken, daß es vielleicht bitter dabei leidet. Und ein Mensch ist doch nicht bloß komisch –«
»Ich habe freilich noch keinen in einer Eisgrube gesehen«, sagte Se, »doch ich glaube, du brauchst dir um den keine Sorge zu machen. Wenn es dich aber beruhigt, so kann man ihn ja leicht merken lassen, wie's gemeint ist –«
»Ich will ihn aber nicht kränken.«
»Im Gegenteil, wir machen gemeinsame Sache. Wir binden ihn beide.«
»Meinst du, daß ein Mensch das Spiel versteht?«
»Na, wenn er so dumm ist –«
»Wir wissen doch gar nichts von den Anschauungen –«
»So werden wir uns eben alle drei belehren. Schade, daß der steife Grunthe nicht mitspielen kann. Willst du?«
»Ich werde mir's überlegen.«
La zog sich zu ihren Studien zurück. Se begab sich in das Gesellschaftszimmer, wo sie Saltner wieder mit Zeichnen beschäftigt fand.
»Wenn ich mit meinen Mustern glücklich nach Deutschland zurückkomme«, rief er vergnügt, »so bin ich ein gemachter Mann. ›Martisch‹ muß Mode werden. Ich gründe einen Bazar für Marswaren. Schade nur, daß wir die Rohstoffe nicht haben werden. Was ist das zum Beispiel für ein wunderbares Gewebe, aus dem Ihr Schleier besteht? Die Stickerei darin bildet lauter funkelnde Sterne, die sich nirgends untereinander berühren; nirgends ist ein Grund sichtbar, der sie zusammenhält. Es scheint, als schwebe eine Wolke von Funken um Sie her.«
»Das tut sie auch«, sagte Se lachend, »aber sie brennt nicht, fühlen Sie getrost! Kommen Sie gefälligst hierher, denn über den Strich gehe ich nicht.«
Se hatte sich, mit einer chemischen Handarbeit beschäftigt, auf einem der niedrigen Diwane, wie die Martier sie lieben, niedergelassen, während Saltner an seinem eigenhändig hergerichteten Pult sich befand. Er legte den Zeichenstift fort und trat an Se heran, die sich mit ihrem Diwan bis dicht an die Schwerkraftgrenze gerückt hatte.
»Geben Sie Ihre Hände her«, sagte Se.
Sie nahm ein Ende des langen Schleiers und band damit Saltners Hände zusammen. Man konnte keinerlei Stoff erkennen. Es sah auch jetzt aus, als wenn ein Strom vom lichten Funken um seine Hände stöbe.
»Fühlen Sie etwas?« fragte Se.
»Jetzt, nachdem Sie Ihre Finger fortgenommen haben, nichts. Kann man denn den Stoff überhaupt nicht fühlen?«
»Wenigstens nicht mit der groben Haut von euch Menschen.«
Saltner führte die zusammengebundenen Hände mit dem Schleier an seine Lippen.
»Doch«, sagte er, »mit den Lippen fühle ich, daß etwas zwischen meiner Hand und meinem Mund ist.«
»Nun strengen Sie einmal Ihre Riesenkräfte an, und reißen Sie die Hände voneinander.«
»Oh, das wäre schade um den Funkenschleier.«
»Versuchen Sie es nur.«
Saltner zerrte seine Hände auseinander, aber je heftiger er zog, um so enger schloß sich der Knoten, und er merkte jetzt, wie sich die kleinen Sternchen in seine Haut eingruben.
»Ja«, sagte Se, »der Stoff ist unzerreißbar, wenigstens kann er kolossale Lasten halten. Diese unsichtbar feinen Fäden, von denen jeder wohl einen Zentner tragen kann, sind für viele unserer Apparate ein unentbehrlicher Bestandteil. Jetzt sind Sie also gefesselt und können ohne meine Erlaubnis nicht mehr fort.«
»Um die bitte ich auch gar nicht, ich finde es reizend hier«, sagte Saltner und beugte sich über die Lehne des Diwans, auf welche er die gebundenen Hände stützte.
Se faßte seinen Kopf zwischen ihre Hände und bog ihn zu sich nieder, während sie ihm in die Augen sah, als wollte sie seine Gedanken ergründen.
»Seid ihr eigentlich dumm, ihr Menschen?« fragte sie plötzlich.
»Nicht so ganz«, sagte Saltner, indem er sich noch tiefer herabbeugte.
»Der Strich!« rief Se lachend und schob seinen Kopf leicht zurück. »Geben Sie die Hände her.«
Sie löste im Augenblick den Knoten und ergriff wieder die gläsernen Stäbchen, mit denen sie in einem Gefäß auf besondere Weise hantierte.
»Sie haben mir noch immer nicht gesagt«, sprach Saltner, nach seinem Pult zurückgehend, »was für ein Stoff das ist, auf dem die Stickerei sitzt.«
»Eine Stickerei ist es überhaupt nicht, sondern es sind Dela – wie heißt das? Aus Muscheln, kleine Kristalle, die sich darin bilden.«
»Also etwas Ähnliches wie unsere Perlen –«
»Aber sie leuchten von selbst. Und der Stoff ist Lis.«
»Lis? Da bin ich ebenso klug.«
»Lis ist eine Spinne, sie webt ein fast unsichtbares Netz.«
»Und wie findet man das auf? Wie webt man die Fäden?«
»Im polarisierten Licht, sehr einfach, und mit besonderen Maschinen. Und die Dela sind nicht daraufgesetzt, sondern sie liegen in Schlingen zwischen dünnen Schichten des Gewebes.«
»Sie nannten die Dela Kristalle – wie ist es denn möglich, daß sie dieses Eigenlicht dauernd aussenden, ähnlich wie unsre Glühwürmchen?«
»Sie müssen natürlich von Zeit zu Zeit ins Strahlbad, dann leuchten sie wieder ein paar Tage.«
»Ins Strahlbad?«
»Nun ja, sie werden einer starken, künstlichen Bestrahlung ausgesetzt. Das Licht trennt einen Teil der chemischen Stoffe der Kristalle voneinander, und indem diese sich nachher langsam wieder vereinigen, entsteht das Selbstleuchten.«
»Also was wir Phosphoreszenz nennen. Und was haben Sie dort für eine Handarbeit?«
Se antwortete nicht sogleich. Sie stellte gerade eine Kopfrechnung an, die sich auf ihre Arbeit bezog, und betrachtete dabei den Sekundenzeiger der Zimmeruhr.
Da klang die Klappe des Fernsprechers, und gleich darauf vernahm man die Stimme von La. Sie fragte an, ob die ›Menschen‹ für einige Herren der Insel zu sprechen seien.
»Es wird mir sehr angenehm sein, die Herren zu sehen«, sagte Saltner. »Mein Freund ist augenblicklich nicht anwesend, aber ich werde ihn sogleich rufen.« –