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Rosalie an van Guden.
Sie wollen, meine theure Freundinn, etwas von Madame Grafe wissen, besonders weil sie sich einige Zeit her mit Erziehungs-Ideen beschäftigen muß; ich kann nichts besseres thun, als Ihnen ihren letzten Brief an mich mittheilen, welcher alle diese Fragen auf das vollkommene beantwortet, und zugleich statt eines großen Briefes von mir gelten kann, wozu ich auch heute nicht Muße genug habe, und die Post nicht versäumen will.
Madame Grafe an Rosalie.
»Ich war so lange nicht in Seedorf, sagen Sie – und schriebe auch so lange nicht. – Das ist alles wahr, und ich fühle es selbst als einen Verlust für mich: Aber, Rosalie! denken Sie doch, in welch eine Laufbahn meine anvertrauten Pflegekinder mich zogen. – Denken Sie an die vorigen Zeiten, und an die Verwendung meiner Tage und meines Kopfs – da ich erst als einzige Tochter, nach dem Abschied von meinen Puppen, nichts anders zu besorgen hatte, als ein recht artiges erwachsenes Mädchen und liebenswürdige Gesellschafterinn zu seyn. Meine zu allem Glück wohlgeleitete Eigenliebe spornte auch in den nachfolgenden Jahren meine Fähigkeiten immer an, mehr als eine gewöhnlich gute Frau und gute Mutter zu werden. Ich glaube, es bei meinem Mann, Kindern und Freunden durchgesetzt zu haben; – nun ist wohl die Eigenliebe das letzte Gefühl, welches in Unthätigkeit übergeht, und gewiß immer das erste, das in allen Vorfällen des Lebens sich zeigt. Ich war bei meinem neuen Beruf als Pflegemutter sehr beschäftigt, mir den Ruhm einer guten Erzieherinn zu erwerben. Dieses konnte nun ohne blondere Eingebung, oder Nachdenken, nicht geschehen; aber das erste liegt nicht mehr in unsern Zeiten und unserm Glauben – nur das zweite hieng von mir allein ab, so wie es das einzige Mittel war, meinen Zweck und die Wünsche meines Mannes zu erfüllen. – Ich packte also alle Erziehungsschriften von der Bibliothek meines Mannes, welche zu der glücklichen Zeit meines Eduards angeschaft wurden, zusammen, setzte sie auf meine Büchergestelle, von denen meine bisherigen Lieblinge vertrieben wurden. Ich las, was ich konnte; machte es aber am Ende wie alle Genies, das ist, wie Leute, die in ihren Füßen die Kraft haben, selbst zu gehen, und in ihrem Kopf das Gefühl des Selbstdenkens finden, und so ihren Weg mit den ihnen gemächlichen Schritten fortsetzen; Dinge, die Andre schufen oder entdeckten, erst betrachten, und dann nur dasjenige in ihr eigenes Denken verweben, was sie dem Geschmack ihres Geistes angenehm, und ihren Umständen anpassend finden.
Ich mußte natürlich voraus über den Umfang meiner Pflichten nachdenken; dann das Herkommen und die Aussichten der Kinder betrachten – die eine treu zu erfüllen mir vornehmen, und für die andre aus dem ungeheuren Vorrath von Kenntnissen und Künsten, von Ideen des Glücks, der Verdienste und des Vergnügens die auswählen, welche am wahrscheinlichsten für diese Kinder taugten und paßten; aber bald war ich des genauen Entwurfs und Anpassens müde, denn ich fühlte mich bei dem Plan selbst in Zwang, und daß auch die Kinder in einen zu engen Cirkel gebannt würden: da sann ich auf eine andre Weise. Herr Grafe hatte mir Kleidung und Nahrung ihrer Körper sogleich übergeben; da mußte ich für das eine mein Aug, ihre Gestalt und die Jahrszeit befragen – für das zweite aber ihre Gesundheit und die gewohnte Lebensart im väterlichen Hause. Ich that dieses freilich noch in ihrer Geburtsstadt, aber dort war ich gleichsam nur noch gelehnt – selbst da ich Sie in Seedorf besuchte, war kaum der Umriß meiner Arbeit gemacht. Seitdem sprach ich mit meinem Mann, und fragte: wie viel er mir von der Sorge für Nahrung und Bildung der Seele übertragen wolle? damit ich meine Maasregeln und Eintheilung der Zeit darnach richten könne . . . . Er lobte und benutzte meinen Eifer beinah zu viel, weil dadurch meine Kette stärker und kürzer wurde, so daß ich mich nie losmachen, und mich auch in keiner großen Entfernung bewegen kann. Die Mädchen sind mir ganz übergeben; der Knabe nur für das Gefühl moralischer Gesinnungen und des Anständigen; doch bin ich auch bei den Lehrstunden des Lateins und der Geometrie – das Französische und die ermunternde Lektüre habe ich auch übernommen. – –
Also sehen Sie, Rosalie! daß ich nun wohl Kopf und Hände voll zu thun hatte, bis ich mit den Erwartungen meines Mannes und den Entwürfen meiner Ruhmbegierde im Klaren stand. Die Sache war wichtig, sie forderte mich ganz; ich wollte das Beste für die Kinder und für mich; mein Gang in diesem Gebiete mußte sicher, aber für den lange gewohnten Schritt meiner Seele auch leicht seyn. Es war mir in dieser Sache, wie auf dem Spazierweg oder Landstraße, unmöglich, gerad in die Fußtapfen der Andern zu treten; und da ich die Frage aufgeworfen hatte: Was sollen die Kinder wissen? so folgte auch unmittelbar die: Wie können sie es am leichtesten lernen? und: Zu was, oder wie weit haben sie Kräfte und Lust?
Nun schien das Nachsuchen ihrer Fähigkeiten und Neigungen das erste Stück meiner Arbeit zu seyn; – da gerieth ich aber, bald möchte ich sagen, unglücklicher Weise, in des La Chambre Buch: von den Kennzeichen der Leidenschaften – und der Mann gab mir eine Menge von Angst und Arbeit; das letzte durch die Auszüge, welche ich machte, und das erste durch seine Behauptung, daß die Aehnlichkeit mit Thieren und andern National-Menschenphysiognomien die nämlichen Neigungen anzeigen – wie zum Beweis weibische Züge im Gesicht der Buben weibischen Charakter, und die männlichen im Mädchen Mannstugenden und Fehler weissagen. – Denken Sie nun, Rosalie! wie aufmerksam ich die Bildungen meiner drei Pflegkinder untersuchte, besonders aber bei dem Artikel der eingebogenen Mohrennasen und der dicken Lefzen mich verweilte, da eines von ihnen die Spuren von diesen mir unerträglichen Zügen zu haben schien, und also auch nach la Chambre die Laster der Negern haben würde. – – Am Ende glaube ich doch, die Quelle der wahren Anweisung für Erzieher gefunden zu haben, indem ich über die Natur der Leidenschaften nachlas, und diese Anweisung besteht in den wenigen Zeilen:
Meine Leidenschaften zu kennen; und: die von den Kindern zu entdecken. –
Sicher ist es, daß, je genauer ich meine Leidenschaften im Zaum halte, je leichter ich Andre beobachten und beurtheilen kann. Aber nun kam der wichtige Aufsatz:
Was für Andre geschieht, ist Handlung; – was für mich – Leidenschaft . . . .
Ach Rosalie! der Herr la Chambre gab mir viel zu schaffen; denn kaum hatte ich diesen Ausspruch gelesen, so stand die Betrachtung vor mir: Daß ich die Obergewalt des Handelns über die guten Kinder habe, und also doppelt verbunden bin, Sorge zu tragen, immer gerecht zu handeln, und die Leidenschaften zu kennen, welche mit der Obergewalt verbunden sind, aber mit eben der Genauigkeit die, welche den Kindern mit dem Temperament gegeben wurden, und auch in der Lage der Unterwürfigkeit entstehen. Ich mußte in die Klasse der Obergewalt Liebe, Haß, Zorn, Verlangen, Abscheu, Vergnügen und Schmerz – zu den unterworfenen Hofnung, Furcht, Scham, Neid, Reue und Eifersucht setzen. Nun ist schon lange gesagt, daß uns die Leidenschaften gegeben wurden, um uns dem Guten mit Eifer zu nähern, und schnell von dem Uebel zu entfernen: – – da war es ja meine erste Pflicht, diese Uebung bei meinen Pflegkindern zu besorgen. – Sollte dieses nun nicht alle meine Stunden genommen haben? Ich wußte, Sie vergeben mir, und das um so mehr, als Ihnen bekannt ist, wie der Gedanke, einem Freund zu dienen, mich in Eifer und Bewegung bringen kann. – Doch sind, meine liebe Rosalie! seit den glücklichen jüngern Jahren unserer Bekanntschaft – da ich mich mit Cleberg und Ihrem Oncle verband, heimlich ein Haus für Sie zu kaufen und einzurichten – Ihre Trauung veranstalten zu helfen, und meine theure D** dem Manne ihres Herzens zu nähern – – – – meine Beste! in mir die Züge der lebhaften Lustigkeit in gemäßigte Heiterkeit übergegangen. So wie Sie, die als Mädchen in dem schönen Gebiet edler und feiner Gefühle lebten und webten, gleich nach dem ersten Wochenbett die ernsten Beschäftigungen der Mutter und Hausfrau umfaßten, und mit jedem Jahre diese verehrungswürdige Rolle durch vermehrte Uebung schöner spielten; eben so hat diese auch über meinen Kopf hingeflogene Zeit, mit dem mir aufgelegten Gewicht mehrerer Jahre, auch etwas mehr Bedachtsamkeit in mich gebracht, besonders seitdem ich den Blick eines rechtschaffenen Sterbenden auf die verflossenen Tage und Handlungen seines Lebens geheftet sah – ihn davon sprechen hörte, und die dankbare Freude bemerkte, als er mit dem letzten Gefühl der Erdeglückseligkeit von einem Zeitraum sagte:
»In diesen Jahren habe ich alle Kräfte meines Verstandes, alle Thätigkeit meines Geistes, und meiner Art, zu handeln, zum Besten meines Nächsten verwendet.« –
Das Lächeln der innigsten Zufriedenheit bei dieser Erinnerung, welche ihn gewiß in die andre Welt begleitete, machte einen unauslöschbaren Eindruck auf meine Seele. Es war der sterbende Vater meiner Pflegkinder, der dieses sagte, und dadurch den Wunsch in mir erregte: Auch einst, in dieser ernsten Stunde der Untersuchung meines Lebens, dieses Zeugnis auf einem Theil meiner Tage zu finden! Und bei welchem könnte ich es mehr wünschen, als bei dem von der Besorgung seiner Kinder! Es wurde also dieses meine größte Angelegenheit; ich setzte alles, selbst Sie und Seedorf, bei Seite, um die Kinder und mich für's erste zusammenzustimmen, und dann die Mittel zur Hand zu legen, durch welche sie glücklich mit mir leben, und verdienstvoll für Andre aufwachsen mögen. Darüber habe ich nun einen allgemeinen Umriß, und kleine Merkstäbe aufgezeichnet, wornach ich sie leite; und finde vortreflich, ihr Gedächtnis und Denkart, die Ordnungsliebe und Genauigkeit des Auges, Abends in dem Erzählen und Aufschreiben alles dessen zu üben, was den Tag über sie freute, und was sie für den folgenden wünschen. Wenn ich nun diese Blätter mit ihnen lese, und sie dabei an das erinnere, was sie lernten und lernen sollten, so kommen eine Menge Warum hervor, die mir Gelegenheit geben, ihre Köpfe und Herzen kennen zu lernen, wovon ich mir für die Zukunft einige Merkzeichen sammle, und mich sehr glücklich achte, wenn ich ihnen eine neue gute Idee recht deutlich und gefällig gemacht habe. Alle Woche führe ich sie zu einem andern Handwerksmann in seine Arbeitsstube, besonders aber zu denen, von welchen wir gerade etwas nöthig haben, und ich finde in dieser Anordnung meines Mannes einen großen Nutzen für die Charakterzüge der wahren Menschenliebe, indem sie mit dem Gefühl eines Bedürfnisses zu Kleidung, zu Hausrath, oder Gemächlichkeit, zugleich den Werth der Künste und des Fleißes ihrer Nebenmenschen kennen lernen. Wir kommen dieses Jahr ohnehin viel später auf das Schloß R., wo ich den guten Geschöpfen ländliche Freuden und Unterricht vorbehalte, worüber ich aber mit Ihnen und Herrn Cleberg sprechen will, und hoffe, daß Sie mir alle Ihre Erziehungsgeheimnisse mittheilen werden – nicht nur aus edler Menschenliebe zum Besten der Kinder, sondern auch aus alter Freundschaft für mich, wenn Sie bedenken, daß mein Amt bei Pflegkindern viel schwerer, und mehrerer Verantwortung unterworfen ist, als das Ihrige bei den eigenen, wo Sie schon von der Natur und den Gesetzen mehr Unterstützung und Macht haben – auch die Welt in ihren Urtheilen einen für Sie sehr vorteilhaften Unterschied macht, indem gewöhnlich bei den natürlichen Eltern alles Gute berechnet wird, das sie ihren Kindern erzeigen, – Pflegeltern und Erziehern aber alle Fehler und Versäumnisse aufgesucht und nachgezählt werden.
Jetzo, Rosalie! sind Sie doch wohl mit meinem Stillschweigen ausgesöhnt, und vergeben mir auch die wenigen Besuche in Seedorf – lieben mich, wie bisher, und haben, wie ich vermuthe, mehr Hochachtung für mich bekommen, da Sie mich in der vollen Ausübung eines der wichtigsten Aemter betrachten konnten, denn ich habe Ihnen doch einen ganzen Begriff von meinen Gedanken gegeben, und meine Arbeit angezeigt.«
Ihre Grafe.
Finden Sie nicht, liebe van Guden, daß unsere Freundinn eine sehr schätzbare Frau ist? Und wünschen Sie nicht mit mir, daß alle lebhafte Frauenzimmer unserer Bekanntschaft diesen Weg der Thätigkeit und Munterkeit nehmen mögen? – Cleberg wird sie übermorgen abholen, denn Herr Grafe verreist, und da sollte sie unterdessen mit den Kindern bei uns oder auf dem Schlosse R. wohnen, und sie zog uns vor, wie Herr Grafe vor einer Stunde an meinen Mann schrieb. –
Wann kommt denn die Zeit, wo wir Sie abholen sollen? Ach van Guden!