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Inzwischen wurde bei Wagners, kaum daß Frau Dora gegangen war, ein Kriegsrat abgehalten. Was sollte mit Berg geschehen, sobald er wiederkam?

Frau Hildegard war zuerst ganz Entrüstung. Sollte es ihrer Tochter etwa ebenso gehen, wie ihr mit ihrem Seligen? Und dann war die Gelegenheit so verlockend, für Goldstein, Köln, ein wenig Stimmung zu machen.

»Berg ist ein Schuft,« schrie sie auf.

»Er ist ein Esel,« verbesserte Trude sie gleichmütig. »Sich so zu verplempern, dazu gehört ein gut Teil Dummheit.«

»Also, ich bin entschieden für Schluß,« erklärte Frau Wagner zornglühend. »So einen kriegst du noch alle Tage.«

»Wenn ich so einen kriege, kann ich auch ebenso den Berg behalten,« erwiderte Trude. Sie hatte sich bisher damit beschäftigt, den tadellosen Sitz ihres Florstrumpfes an dem übergeschlagenen Bein zu bewundern. Jetzt hob sie die Augen. »Im übrigen ist mir dieser Berg recht gleichgültig,« setzte sie hinzu.

Es war das keine Lüge. Im Gegenteil, sie drückte sich noch vorsichtig aus, sie war vollständig mit ihm fertig. In den sechs Monaten, seitdem sie auf seinem Zimmer geweint, hatte sie Zeit genug gehabt, über ihn und sich nachzudenken, und ihre Unbesonnenheit bitter bereut; alles kann ein Weib verzeihen, nur nicht, sich verschmäht zu sehn, wo sie sich angeboten hat. Und jetzt kam noch diese Geschichte mit Lisa hinzu, die dem Faß den Boden ausstieß. Sie war also entschlossen, Berg über Bord zu werfen. Aber ihn nach seiner Rückkehr, die ganz ungewiß war und jeden Tag erfolgen konnte, durch sofortigen Abbruch des Verkehrs zu brüskieren, erschien ihr doch gefährlich; wie stets im Leben, galt es in Güte mit ihm auseinander zu kommen. Denn sie hatte nun einmal kein gutes Gewissen; es kostete Berg nur ein Wort der Mutter gegenüber, einen Brief an Willy, und sie geriet in die größten Unannehmlichkeiten. Es hieß somit Zeit und damit alles zu gewinnen.

»Erstens ist er zunächst ausgeschaltet,« fuhr sie fort. »Zweitens ist er Willys Freund, und wir bringen diesen in eine schiefe Lage, wenn wir Berg schroff hinaussetzen. Drittens ist es noch immer Zeit, abzurücken, falls die Sache mit Lisa durchsickern sollte. Bloß nicht mit Halms uns verquicken! Wer zwingt uns denn etwas zu wissen? Daß die Tante bei uns war, das will doch nichts sagen. Schuppkes können wir schon den Mund stopfen. Mein Rat ist also: Abwarten.«

Frau Hildegard gab sofort nach. Sie hatte kaum noch hingehört. Die Tatsache, daß Trude sich nicht für Berg einsetzte, erfüllte sie mit großer Befriedigung. Da sie das aber nicht merken lassen wollte, um Trudes ihr genügend bekannten Widerspruchsgeist nicht zu reizen und alles zu verderben, so lenkte sie das Gespräch ab.

»Ich begreife das nicht, diese Lisa,« sagte sie kopfschüttelnd. »Weißt du noch, wie ich mich immer mit der Dora herumstritt? Wie sie sich darauf versteifte, daß ihre Tochter völlig ahnungslos bleiben müsse? Nun sehn wir's ja. Gott sei gedankt, so etwas könnte dir nicht passieren. Du hältst von selbst die Augen auf, nicht wahr, mein Kind?«

Und Trude hob den unschuldigen Blick zur Mutter und sagte keusch:

»Gewiß, Mama.«

Frau Hildegard erhob sich. »Eins aber steht für mich fest: Wenn dieser Berg noch länger uns ins Haus kommen soll, dann muß die Lisa gleich hinaus. Sonst erleben wir noch, daß die Schandwirtschaft da oben fröhlich weitergeht.«

»Aber Mama,« sagte Trude schämig. »Das duldet doch die Tante nicht.«

»Ach was, Tante,« erhitzte sich Frau Hildegard. »Lehr' mich das Leben kennen.«

»Woher hast du denn solche Erfahrungen?« fragte Trude harmlos.

»Aus achtzehnjähriger gottgesegneter Ehe.«

»Dann war sie doch zu etwas gut,« antwortete Trude treuherzig.

»Leider,« entgegnete Frau Hildegard, »leider nur dazu. Denn das kann ich ehrlich sagen –«

Der Kriegsrat war zu Ende, Frau Hildegard hatte einen neuen Stoff gefunden.

 

Als nach zwei Tagen die Nachricht das Haus durchflog, daß die von einem Anker hochgenommene Leiche Dora Halms geborgen sei, und sich der erste Sturm der Aufregung bei Wagners gelegt hatte, sagte Trude:

»Wer hatte nun Recht mit dem Abwarten? Wenn einer fragt, – von Lisa wissen wir nichts, die Tante ist wegen der Hypothek ins Wasser gegangen.«

»Selbstverständlich,« erklärte Frau Hildegard beifällig. »Und getrauert wird nicht.«

Dora Halm wurde klanglos in aller Morgenfrühe begraben. Nur Lisa stand an ihrem Grabe. Der Totengräber sprach ein Vaterunser.

Als die Polizei gekommen war und ihr den Tod der Mutter mitgeteilt hatte, war sie stumm geblieben. Sie hatte es längst geahnt.

Der alte Wachtmeister, der sie ausgesucht hatte, und den sie schweigend mit ihren verstörten Kinderaugen ansah, ohne auf seine Fragen eine Antwort zu finden, hatte schließlich die Achseln gezuckt:

»Haben Sie denn keine Verwandte, Fräulein?«

Sie hatte Wagners genannt, und der Wachtmeister war zu Frau Hildegard gegangen.

Gleich nach dem Begräbnis ließ diese Lisa zu sich rufen.

Verschüchtert, völlig niedergebrochen stand Lisa vor ihrer Tante.

Endlose Tage und Nächte hatte sie in Reue und Angst mutterseelenallein dort oben in der Wohnung gesessen, kaum geschlafen, kaum etwas genossen. Aus Scham hatte sie es nicht gewagt, zu den Verwandten hinabzugehn, obwohl sie sich völlig hilflos fühlte und auch materiell nicht ein noch aus wußte.

Frau Hildegard stand wie die zürnende Nemesis unter dem Kronleuchter.

Aber bei aller sittlichen Empörung war sie dennoch entschlossen, sich Lisas anzunehmen, um so mehr, da auch Trude sich für diese verwendet hatte, aus dem gleichen Grunde, aus dem sie Berg nicht hatte vor den Kopf stoßen wollen. Wer konnte wissen, wie weit Lisa eingeweiht war, ob sie sich nicht ihres Zusammentreffens auf der Treppe erinnerte, dieses klaren Beweises, daß Berg nicht gelogen; und besser war es auf jeden Fall, sie nicht zum Äußersten zu bringen.

»Nun, Lisa,« sagte Frau Hildegard mit möglichster Ruhe, »wir wollen nicht von Vergangenem reden. Geschehen ist geschehen. Die Hauptsache ist deine Zukunft. Hast du dir einen Plan gemacht?«

Lisa schwieg.

Und schon begann Frau Hildegard sich über diese Verstocktheit zu ärgern.

»Jetzt heißt es dein Brot verdienen,« fuhr sie etwas temperamentvoller fort. »Als Kontoristin, Verkäuferin oder so was. Das lernst du, bis es soweit ist. Die Kosten übernehme ich. Wann kommt das Kind?«

Lisa antwortete nicht. Sie hatte noch mit keinem Gedanken an diese Frage gedacht.

»Nun,« fuhr Frau Hildegard immer schroffer fort, »seit wann hast du dich so vergessen?«

»Seit dem sechzehnten August,« antwortete Lisa scheu. Der Tag hatte sich ihr unauslöschlich eingeprägt.

»Und wie lange? Bis er fortging?«

Neues Schweigen. Dann ein müdes: »Ja.«

»Also kann das noch Monate dauern,« stellte Frau Hildegard fest. »In mein anständiges Haus paßt du nicht mehr.«

»Ich will gern lernen,« sagte die kleine Lisa mit fester Stimme. »Aber ich möchte in unserer Wohnung bleiben.«

»Warum?« brauste die Tante auf.

Lisa wagte es nicht, den Grund zu sagen. Sie hoffte noch immer im tiefsten Herzen, daß Berg sich ihrer erinnern, ihr schreiben oder zu ihr zurückkehren werde. Und eben, während die Tante auf sie einsprach, war der Gedanke in ihr aufgeblitzt, unter seiner Amtsadresse sich an ihn zu wenden, sein Mitleid anzurufen. Dann sollte er sie nicht unter fremdem Dache, in noch gedrückterer, entwürdigender Lage finden.

»Warum?« wiederholte die Tante, über Lisas Widerspruch erregt.

Frau Hildegard war nicht so schlecht, wie sie erschien. Gewiß, ihre Cousine, die hatte sie ehrlich gehaßt; doch selbst der letzte, entscheidende Zusammenstoß mit dieser war als die Folge jahrelangen Grolles ein wenig milder zu beurteilen. Und jetzt, wo die hysterische Frau von ihrer Schwelle aus in den Tod gegangen war, lastete diese Tatsache doch schwer auf ihrem Gewissen. Aber sie wollte das unter keinen Umständen wahr haben, schon weil sie ahnte, daß auch andere ähnlich dachten; und in dem heimlichen Gefühl ihres Unrechts tat sie, was alle kleinlichen Naturen tun: Sie legte die ganze Last der eigenen Schuld auf die Schultern Lisas, die die unschuldige Ursache ihres Zorns gegen sich selbst war.

Lisa hatte die Grenze des Leides überschritten; und unter dem grausamen Fragen der Tante bäumte sich alles, was ihr an Selbstgefühl geblieben war, gegen diese Herzenshärte auf.

»Die Wohnung ist unser,« sagte sie mit trotzigen Augen.

»Ich wünsche dich nicht mit uns unter einem Dach zu wissen,« antwortete die Tante mit ihrer messerscharfen Stimme. »Du räumst mir das Haus, sonst laß ich dich exmittieren. Mit der Miete seid ihr sechs Monate im Rückstand.« Ihre Stimme bebte. »Sollen uns denn meine Mieter kündigen? Uns die Sittenpolizei auf den Hals schicken? Denn wer unter den Augen deiner armen, braven Mutter einer solchen Unsittlichkeit fähig ist, dem traue ich alles zu. Und solch ein Geschöpf muß ich von meiner guten Trude fernhalten. Das ist ganz einfach Mutterpflicht.«

Trude ... Wie ein Blitz schlug es in Lisa ein, stand ihr die Begegnung auf der Treppe vor den Augen. Trude in Hut, Schleier und Jackett, wie sie angeblich vom Boden herabkam. Im selben Augenblick wußte sie, daß Trude bei Berg gewesen war. Damals und nie wieder hatte er den Teetisch für zwei herrichten lassen, sich nicht genug an Schmuck und Blumen tun können, in unbestimmten Ausdrücken von einer auswärtigen Verwandten gesprochen, die durch Berlin kam, unter haltlosem Vorwand sie, Lisa, zum Amt geschickt, wo alles geschlossen war und ihr der Pförtner nicht einmal den Brief abnahm. Ja, Trude war bei Hans gewesen, keine andere! Und Empörung und Eifersucht flammten in ihr hoch, rissen sie fort.

»Trude,« sagte sie bitter, in dem Fieber der Schlaflosigkeit und mangelnden Nahrung, »die ist kein Haar anders als ich. Du tätest besser, Tante, die zur Rede zu stellen, statt mich in meinem Elend ganz zu Boden zu schlagen.«

Entgeistert stand die Tante vor ihr. »Was sagst du da?« fauchte sie fassungslos.

Aber Lisa ließ sich nicht mehr einschüchtern. »Frag Trude selbst,« antwortete sie ohne Furcht, »was sie im Juli oben bei Berg zu suchen hatte, allein mit ihm in seinem Zimmer.«

Frau Hildegard schnappte nach Luft. Dann wandte sie sich, riß die Tür auf.

»Trude!« rief sie gellend.

Ein langes Schweigen herrschte im Raum, die Schwüle vor dem Gewitter.

Endlich erschien Trude, kühl, mit fragenden Mienen. Sie streifte die blasse Lisa, die glühende Mutter mit einem Blick, und sie wußte Bescheid.

»Bist du jemals bei Berg gewesen?« fragte Frau Hildegard drohend.

»Bei wem?« antwortete sie ruhig. »Bei Herrn Assessor Berg? Sagt das die Lisa?«

»Ich habe dich auf der Treppe getroffen,« erwiderte Lisa entschieden.

»Und was hab' ich dir damals gesagt?«

»Etwas Unwahres, von Pelzsachen,« antwortete Lisa verächtlich.

»Entsinnst du dich, Mama,« wandte sich Trude mit immer gleicher Sicherheit an ihre Mutter, »daß ich vor unserer Reise auf dem Boden war? Dir sagte, daß dort Motten seien?« Trude sprach nur zu Frau Hildegard, als ob Lisa Luft für sie wäre. »Ich meine, statt mich herzurufen, solltest du mir lieber solche Widerlichkeiten ersparen.«

»Nun sieh doch nur einmal diese verlogene Göhre,« brach Frau Hildegard aus. Sie erinnerte sich genau des Vorfalls und war völlig in gutem Glauben.

Lisa bereute innerlich ihre Heftigkeit. Sie hatte keinen schlüssigen Beweis, wenn sie auch überzeugt war, daß sie die Wahrheit gesprochen hatte. Aber sie konnte nicht mehr zurück.

»Die Trude ist doch bei ihm gewesen,« stieß sie hervor.

»Hinaus mit dir,« schrie Frau Hildegard mit erhobenem Arm wie eine Furie auf. »Deine unglückliche Mutter hast du mit deiner Schande ins Wasser gejagt, und willst nun anderer Leute Töchter mit Schmutz bewerfen? Keinen Finger rühr' ich für dich. Und hast du übermorgen nicht das Haus verlassen, so fliegst du auf die Straße, da wo du hingehörst. Solch eine Niedertracht! Solch eine bodenlose Verworfenheit! Hinaus ... Sie sank erschöpft in einen Sessel.

Und während Trude sich um Frau Hildegard bemühte, ging Lisa unbemerkt von dannen.

Sie war nicht mehr das hilflose Kind, das Berg so leicht betört hatte. Sie war durch seine Schule gegangen, hatte erkannt, was Berechnung und Skrupellosigkeit vermochten; hatte sich selbst mit Lug und Trug, mit Schmutz und Schande befleckt. Sie wußte, daß sie Wagners niemals wiedersehen würde, jetzt ganz allein auf sich angewiesen war.

Und sie beschloß den Kampf mit dem Leben aufzunehmen.

Sie überlegte. Über die Entbindung dachte sie nicht hinaus. Die einzigen Wertstücke, die sie besaß, waren die Möbel; und auch auf diese konnte die Tante die Hand legen. Doch selbst wenn sie ihr blieben, mußte der Erlös aus ihnen für die Zeit der Not dienen. Sie verstand nichts; sie mußte erst etwas lernen. Und eine Bureau- oder Amtsstellung kam für die nächsten Monate überhaupt nicht in Betracht.

Es gab nur eins, auf das sie hoffen konnte, ein leichter Dienst.

Sie begab sich, wie sie ging und stand, zu einer Stellenvermittlerin.

Die Dienstbotennot war groß; Lisa sah sich sofort von mehreren Damen umringt. Sie drängte sich zur Mietsfrau durch.

Die Frau unterhielt sich mit einem großen, vollbusigen Mädchen, dem sie mit sichtlicher Achtung entgegenkam.

»Die Emma ist fort, Fräulein Hedwig?« fragte sie.

»Durchgebrannt,« gab diese lakonisch zurück.

»Und warum?«

»Mir hat die keine Silbe gesagt. Zwischen drei und vier nachmittags, nach dem Abwaschen, wie ich ein wenig mich hingelegt hatte, ist sie getürmt. Geklaut hat sie auch.«

»Aber die Gnädige ist doch so gut?«

»Das schon. Bloß die ewige Migräne. Alle paar Tage vierundzwanzig Stunden im Dunkeln. Heut liegt sie wieder. Ohne mich wär' sie verraten und verkauft.«

»Das weiß ich, Fräulein Hedwig, das weiß ich ganz genau. So eine wie Sie, die soll man erst mit der Lupe suchen. Und Ihr Herr Josef?«

Hedwig lachte auf. »Der ist fleißig und brav.«

»Natürlich,« antwortete die Frau, süßlich schmeichelnd. »Der kann sich freuen. Also Ersatz für die Emma?«

»Ja,« sagte Hedwig. »Aber nicht wieder so 'ne geriss'ne. Das größte Schaf, was Sie auf Lager haben.«

Die Frau ließ die Blicke umherwandern, bis sie auf Lisa haften blieben. »Warten Sie mal, Fräulein Hedwig,« sagte sie dann. »Ich hab' da wohl das Richtige für Sie.«

Sie trat an Lisa heran. Nach wenigen Fragen wußte sie Bescheid. »Zeugnisse?« – »Nein.« – »Noch nicht im Dienst gewesen?« – »Nein.«

»Wollen Sie es versuchen?« fragte die Vermittlerin. Und zu Lisa: »Geheimrat Frank, der berühmte Baumeister. Villa im Grunewald, Zweitmädchen, leichter Dienst. Achtzig Mark, nicht wahr, Fräulein Hedwig?«

»Höchstens,« antwortete Hedwig.

Lisa zögerte einen Augenblick. Hedwig merkte es. »Kommen Sie bitte her,« sagte sie und trat mit ihr zur Seite. »Nun mal ehrlich,« fragte sie, »warum suchen Sie Stellung?«

Lisa kämpfte mit sich. »Ich – ich –« Sie begann zu weinen.

»Malheur gehabt? Auf die Straße gesetzt?« fragte Hedwig ohne Überraschung, mit sachkundigem Blick.

Lisa hätte vor Scham können in die Erde sinken. Sah ihr denn jeder ihre Schande an?

»Bloß nicht heulen, Kind. Mir ist's auch schon so gegangen. Als Mamsell auf dem Gute. Mit 'nem Feldwebel, Einquartierung. Und dann kam seine Frau mit 'nem fünfjährigen Jungen angezogen.« Und wieder stellte sie die ewige Frage:

»Wann ist es denn so weit?«

Lisa errötete. »Ich weiß nicht,« antwortete sie, mit Tränen in den Augen.

»Nanu,« brummte Hedwig, »so was weiß man doch. Bis neun können Sie wohl zählen. Haben Sie denn einen Bräutigam?«

»Nein,« erwiderte Lisa zaghaft. Sie fühlte sich wie nackt vor diesen fremden Augen, dieser plumpen Neugier.

Hedwig schüttelte den Kopf. »Das ist aber 'ne Pleite,« sagte sie mitfühlend. »Glatt versetzt? Den Burschen müssen Sie sich kaufen,« setzte sie energisch hinzu.

Lisa wagte nicht zu widersprechen, die Umwandlung zu gestehen, die in den vier Monaten seit Bergs Abreise in ihr vorgegangen war, – diese Umwandlung, die sie selbst nicht begriff, sich nicht verzieh, die sie mit unsäglicher Scham erfüllte. Lump hatte sie ihn gescholten, in tiefster, grenzenloser Empörung. Aber seitdem war Tag für Tag, waren Wochen und Monate vergangen, und immer mehr war seine Tat verblaßt, seine von Schuld überschattete Gestalt lichter und lichter geworden, hatte sie so lange nach tausend Gründen für sein Handeln gesucht, ihn entschuldigt, ihm verziehen, bis wieder in schlaflosen Nächten fiebernder Sehnsucht jeder Nerv, jeder Pulsschlag nach ihm schrie. Im tiefen Dunkel glaubte sie den Druck seiner Hände zu fühlen, seinen Atem zu spüren, törichte Liebesworte zu vernehmen, litt sie unter den Bildern, die immer wieder vor ihr auftauchten.

»Wenn man einen Menschen nun einmal lieb hat,« flüsterte sie, »dann verzeiht man ihm alles ... Alles,« setzte sie aufatmend noch einmal hinzu.

Das Grinsen der Köchin erstarb. Einen Augenblick sahen sie sich stumm in dem dumpfen, mit Menschen gefüllten Raum an. Dann schüttelte sich Hedwig und sagte laut:

»Das durfte nicht kommen.«

 

Am selben Abend nimmt Lisa ihren kleinen Koffer in die Hand, schließt die Wohnung hinter sich, liefert die Schlüssel bei Frau Schuppke ab, die natürlich die Hände über den Kopf zusammenschlägt, bittet nur, falls jemand nach ihr fragen sollte, ihm ihre Adresse zu geben, und fährt zum Grunewald hinaus.

Still geht sie vom Bismarckplatz durch die einsamen Alleen, mit ihrer jungen, verratenen Liebe, mit ihres Leibes Bürde. Auf ihren schwachen, zagenden Schultern trägt sie den Jammer ihres Geschlechts, der ganzen Welt Sünde. Aber tapfer beißt sie die Zähne zusammen. Und unter dem Gewicht ihres kleinen Koffers, keuchend, geht sie durch Schnee und Eis, in die Nacht hinein.

Dann sitzt sie bei Franks im Erdgeschoß. Die Küche ist riesengroß, mit blauweißen Kacheln ausgelegt, warm und hell. Alles, von den blauweißen Töpfen und Kannen bis zur Maschine, blitzt. In der Mitte, unter der Lampe, ist der Tisch sauber, fast herrschaftlich gedeckt. Auf einem Schemel, der mit einer Handbewegung unter den Tisch geschoben werden kann, stehen die kleinen Delikatessen, die die Hausfrau nicht zu sehen braucht.

Eben hat Hedwig Lisa zur gnädigen Frau geführt.

Eine einfach-vornehm gekleidete Dame mit wunderbarem Goldhaar, durch das sich seltsam wirkend eine breite Weiße Strähne zieht. Die Frau ist trotz ihrer bald vierzig Jahre noch auffallend schön, mit grauen, stillen, kranken Augen. Lisa hat gleich Vertrauen zu ihr gefaßt.

»Wie sind Ihre Verhältnisse?« hat sie gefragt.

In Lisa quillt es auf. Sie ist so schrecklich hart behandelt worden, so ganz allein. Und hier ist eine Frau mit gütigem Blick und mitfühlender Stimme.

»Ich bin die Tochter eines gefallenen Hauptmanns,« hat Lisa gesagt, offen, in unbezwinglichem Bedürfnis, ihr Herz auszuschütten. »Meine Mutter hat ihr Vermögen verloren, ist ... ist ins Wasser gegangen, weil ... ich schlecht geworden bin. Meine Verwandten haben sich von mir losgesagt. Ich bin sechzehn Jahre, ich habe niemand auf der Welt«

Die Frau hat sie erschreckt angesehn. »Armes Kind,« sagt sie leise. Ihr Blick gleitet an Lisa hinab. »Sie haben noch Monate Zeit?«

»Ich glaube,« sagt Lisa.

»Und Sie wollen Ihre Pflicht tun?«

»Ja, gnädige Frau.« Ein harter Wille spricht aus dem jungen Gesicht.

»Es ist heute so schwer, ein Mädchen zu finden,« sagt die Dame, wie für sich selbst. »Ein anständiges, ehrliches. Sie sind ja aus guter Familie und nun wohl von Torheiten geheilt. Ich bin viel leidend, auf meine Leute angewiesen. Bin ich zufrieden, so kann ich Sie, wenn das alles vorbei ist, wiedernehmen, nicht wahr?«

»Ich danke Ihnen, gnädige Frau,« hat Lisa erleichtert geantwortet.

Und nun sitzt sie mit Hedwig in der Küche.

Josef, der Diener, tritt ein. Er ist ein hochgewachsener, feister, bartloser Mann; sein Gesicht ist blaß, von der fleischigen Nase zu den begehrlichen Lippen ziehen sich gewichtige Falten hinab.

»Fräulein Lisa, unsere neue Hausgenossin,« stellt Hedwig vor.

Lisa steht befangen auf und grüßt. Das glatte, schwammige Gesicht mit dem sinnlichen Zug stößt sie ab.

Josef reicht ihr herablassend seinen Finger. Sofort ist er sich einig: Diese Neue ist nichts für ihn, da bleibt er schon lieber bei Hedwigs Fleischtöpfen. Selbstgefällig, mit einem Blick nach seinem Knopfloch streift er das Band des Eisernen Kreuzes, das er als Tischordonnanz einer Etappeninspektion sich mühsam verdient hat, und setzt sich nieder. »Hedwig,« sagt er, mit seinen hervorstehenden, blaßblauen Augen kritisch den Schemel musternd, »gib mir mal erst die Sprotten rüber.« Und huldvoll kneift er die Köchin in die stattliche Hüfte. Denn er legt immerhin Wert darauf, der Lisa seine Machtstellung im Hause klarzumachen.

»Was kriegen Sie denn Lohn, mein Häschen?«

»Achtzig Mark,« sagt Lisa schüchtern.

Josef braust auf. »Na ja,« sagt er polternd zu Hedwig, »so verderbt ihr euch selbst die Preise. Da können Sie für ein Paar Stiefel Ihre drei Monate schuften.«

»Sie versteht ja noch nichts,« verteidigt sich Hedwig. Sie kann in Lisas Gegenwart doch nicht sagen, daß dieser niedrige Lohn ihr selbst den Weg zu der geplanten Zulage ebnet.

Aber Josef ist nicht so leicht beruhigt. »Sie arbeitet,« widerspricht er; mit der einen Hand tunkt er die Sprotte ins Salzfaß, in der anderen hält er das Bierglas. »Splitternackt könnt ihr doch nicht herumlaufen, wenn ich persönlich auch nichts dagegen hätte. Wozu haben wir denn 'ne Revolution gehabt?«

»Damit die Butter an die vierzig Mark kostet,« antwortet Hedwig.

Aber Josef besitzt die Kunst, nur das zu hören, was ihm paßt. »Versteht denn unsre Gnäd'ge was?« schilt er weiter. »Arbeitet die denn, den ganzen lieben Tag auf 'm Sofa? Und frage sie mal, was die ausgibt?«

»Warum sagst du ihr das nicht selbst?« erwidert Hedwig ruhig; allzuernst scheint sie Josefs Entrüstung nicht zu nehmen.

»Überhaupt, das merken Sie sich,« fährt Josef zu Lisa gewandt fort. »Dienstboten haben zusammen zu halten; die Zeiten der Schufterei und Schuhriegelei sind vorbei. Heutzutage sind wir alle gleich und wahlberechtigt, und die Herrschaften schlagen sich um uns. Wollen die also gut Wetter haben, – bitte, benehmt euch danach! Immer höflich, Herr Geheimrat vorn und Herr Geheimrat hinten, aber sobald sie aufmucken, gleich die Faust unter die Nase! Sonst sind wir verratzt. Verstanden? Und das wird noch ganz anders kommen.«

»Warte doch nur, bis du Reichspräsident bist,« witzelt Hedwig. Sie ist streng monarchisch, ihr Vater lebt als königlich preußischer Gendarmerie-Wachtmeister a. D. in Stargard.

Aber Josef gefällt Hedwigs Stichelei nicht. Weiber müssen kurz gehalten werden. »So,« sagt er, indem er sich in seiner ganzen Länge erhebt und energisch die schmalgestreifte Weste über seinen Tonnenleib herabzieht, »ich laß mich nicht verkohlen. Jetzt geh' ich los. Leg die Kette nicht vor, hörst du? Wahrscheinlich wird es spät, 'n Abend, die Damen.«

Hedwig blickt unsicher hinter ihm her. Wie gut könnte man leben, wo man alles zusammen hat, wenn er nur nicht so eingebildet und empfindlich wäre! Und um vor Lisa zu retten, was noch zu retten ist, ruft sie ihm schnippisch nach: »Ein guter Gaul, der findet immer seine Krippe wieder. Auf Wiedersehn, und amüsier' dich gut.«

Sie schlafen zu zweit in dem Berliner Zimmer nach dem Hof hinaus. Nebenan, ohne Verbindungstür, haust in der eigentlichen Mädchenstube der Josef.

Es ist Lisa peinlich, sich vor der ihr fremden Hedwig ausziehen zu müssen, die Lisas Wäsche mustert und ihren vom Mieder befreiten Körper mit den Augen mißt. Lisa ist froh, als sie im Bett liegt.

Mitten in der Nacht wacht sie auf. Nebenan, wo Josef schläft, vernimmt sie leises Flüstern. Erschreckt tastet sie nach Hedwigs Bett hinüber. Es ist leer. Und lange liegt sie schlaflos, hört sie Wand an Wand, als ob es im Zimmer selbst sei, das verhaltene Kichern und Lachen der beiden Liebesleute.

Sie weint sich in den Schlaf. Nur undeutlich hört sie im Morgengrauen die Tür gehn, Hedwig zurückkommen und mit einem Krach in ihr Bett sinken.

Am nächsten Morgen bemerkt Hedwig nur zu bald Lisas Befangenheit, ihr zurückhaltendes Wesen. Und mit dem Schwamm kräftig über die mächtige Brust fahrend, sagt sie von oben herab:

»Damit Sie sich nicht wundern, – mir kann keiner was nachsagen. Alles in Ordnung, reell verlobt. Sobald ich meine Zehntausend auf der Sparkasse voll habe, wird geheiratet und 'ne Sportkneipe aufgemacht. Wenn das Ihnen nicht paßt, dann können Sie ja gehn. Mich entläßt die Herrschaft nicht. Sie wissen doch auch, wie's in der Welt zugeht.«

Und Lisa muß ihr tausend gute Worte geben, um die Gekränkte zu versöhnen.

Ein Monat ist vergangen. Lisa hat sich eingelebt.

Sie hat es gut bei der Herrschaft. Der Geheimrat kümmert sich wenig um sie, ist viel auf Reisen. Die Frau ist gütig zu ihr, Lisa hört kein böses Wort.

Sie geht durch die Welt wie durch ein Dämmern, gleich einem Tier, das seines Hirns zum Teil beraubt ist. Noch immer faßt sie ihr Geschick nicht, – sie, die kaum etwas weiß vom Wesen der Geschlechter, dem Werden eines Kindes. Sie blickt auf sich, auf ihren jungen, sich unerbittlich wandelnden Leib, wie ein zum Tode Verurteilter nach seinem Nacken fühlt und es nicht fassen kann, daß ihn das Beil durchschneiden soll.

Hedwig ist zuckersüß zu ihr.

Und das hat seinen besonderen Grund. Denn Hedwig hat ein Auge auf Lisas Möbel geworfen. Tag für Tag bearbeitet sie Lisa: Was will sie mit dem Kram? Selbständig wird sie doch auf Jahre nicht. Und wenn sie eines Tages die Wohnung räumen muß, was sicherlich nicht auf sich warten läßt, dann sitzt sie mit den Sachen glatt auf der Straße und muß froh sein, wenn einer sie ihr für ein Butterbrot abnimmt. Speicher? Lisa soll nur mal fragen, was heut ein Möbelwagen kostet, und was die Leute für Aufbewahrung rechnen. Und wenn sie gerade zu der Zeit an die Luft gesetzt wird, in der das Kind kommt? Nein, Hedwig meint es gut mit ihr, wenn sie ihr beispringt. Bargeld lacht, und einig werden sie schon werden. Wann ist denn die Luft da rein? Um drei Uhr fährt Frau Wagner immer aus? Also morgen, abgemacht? Es fragt sich ja, ob überhaupt das Zeug was wert ist. Vor beinah zwanzig Jahren gekauft, immer im Gebrauch, da werden die Sachen auch nicht besser.

Am selben Tage erscheint Hedwig bei Frau Schuppke. Zwei gleichgestimmte Seelen haben sich gefunden. Zwar erklärt die Pförtnersfrau, daß ihr die Lisa leid tue und nicht übers Ohr gehauen werden dürfe; aber schließlich geht sie doch auf fünfzehnhundert Mark für die Möbel, die das Zehn- und Zwanzigfache wert sind, hinunter, und den Hundertmarkschein steckt sie nach einigem Sträuben nur zu gern ein.

Am nächsten Tage, kurz vor drei, warten Hedwig und Lisa abseits, bis Frau Hildegard und Trude in den Wagen gestiegen und nach dem Grunewald zu abgefahren sind. Dann treten sie in das Haus.

Frau Schuppke steht ganz zufällig in der Tür, tut völlig fremd mit Hedwig, holt die Schlüssel und führt die beiden hinauf.

Kopfschüttelnd steht Hedwig mit Frau Schuppke vor den Möbeln. Nein, die sind denn doch zu veraltet, allzu verbraucht, von irgend einem französischen Louis, ganz unmodern. Wer hat denn heutzutage noch solch unbequemes Sofa, solche plumpen Schränke mit allerhand Schnörkelkram, der nur als Staubfänger dient? Die Teppiche sind auch schon dünn, und in den Vorhängen hausen die Motten. Herrgott, ist das ein Reinfall! Und dafür soll man sein sauer erspartes Bißchen hingeben?

Beschämt steht Lisa zwischen den Frauen, sieht sie die Hoffnung auf einen Verkauf dahinschwinden.

Aber jetzt nimmt Frau Schuppke das Wort. Besser schlecht, als garnicht. Gewiß, es geht vielen Leuten dreckig, in diesen verfluchten Zeiten; Einrichtungen gibt es in Hülle und Fülle alt zu kaufen. Aber die Wohnung ist schon so gut wie vermietet, die Zeit drängt. Hedwig solle ein gutes Werk tun, das Fräulein habe es doch so nötig. Ein Gebot koste ja nichts.

Nach langem Zögern bietet Hedwig achthundert Mark.

Frau Schuppke schreit auf. Nein, das dulde sie nicht. Achthundert Mark, das seien die Möbel als Brennholz wert. »Unter keinen Umständen, nicht wahr, Fräuleinchen?«

Lisa hat wenig Vorstellung vom Werte des Geldes; achthundert Mark dünken sie eine schöne Summe. Sie wagt jedoch nicht zu widersprechen, selbst auf die Gefahr hin, daß sich der Kauf zerschlägt.

»Zweitausend, letztes Wort,« sagt Frau Schuppke gebieterisch.

Aber Hedwig ringt die Hände. Zweitausend, – ausgeschlossen! Und sie greift nach ihrem Schirm und wendet sich zum Gehn.

»Himmel, sind Sie ein Dickkopf,« wundert sich Frau Schuppke. »Warum denn so eilig? Bieten und Handeln macht's Geschäft. Das allerletzte Wort: Weil Sie's sind, achtzehnhundert.«

So geht die Komödie der beiden Frauen weiter, zwischen denen hilflos die kleine Lisa steht. Schließlich geraten die Feilschenden sich beinah in die Haare. Und als sie endlich mit fünfzehnhundert einig sind und Hedwig das Geld stöhnend auf den Tisch zählt, ganze dreißig neue Fünfzigmarkscheine, da weiß die glückliche Lisa nicht, wem von den beiden sie mehr danken soll.

Dann ladet Frau Schuppke sie in ihre Pförtnerwohnung, um den Kauf mit einer Tasse Kaffee zu begießen. Und jetzt, wo das Geschäft abgeschlossen ist, zeigt sie wirkliche Teilnahme für Lisa, in dem Mitleid, das alle Frauen verbindet.

»Seien Sie nur froh,« sagt sie, »daß Sie hergekommen sind. Ich habe schon dutzenden im Hause hier geholfen. Ohne Anmeldung. Bloß nicht in das Heim mit den feinen Damen da oben, die so tun, als ob man fürs Gefängnis reif wäre. Einmal ist die Kaiserin hingekommen; und da hat man den Mädels unechte Trauringe aufgesteckt, damit der hohe Besuch nicht merkt, daß man zum Kindermachen keinen Pastor braucht. Die dicke Lene von Konsuls oben war damals gerade in dem Heim. Jawohl ...« Sie sinnt eine Weile in Erinnerung verloren. »Nur nicht den Mut verlieren, Kindchen,« fährt sie gutmütig fort. »Also passen Sie mal auf. Ich sag' Ihnen genau Bescheid, Klinik und Mutterheim und Kinderkrippe und alles, was drum und dran hängt.« Sie grübelt angestrengt nach. »Sind Sie denn schon sechs Monate in der Kasse drin, wenn das Wurm kommt? Nein? Dann muß der Vater ran; Entbindungskosten, mindestens sechs Wochen Unterhaltung und Alimente, das rechnet schon.« Mit dem teilnehmenden Behagen, das fremde Not im Menschen weckt, nickt sie zu Lisa hinüber.

»Verdammte Zucht,« bemerkt Hedwig philosophisch. »Ich wünschte, die Männer kriegten die Kinder.«

»Dann würden wir Frauen sie genau so versetzen,« antwortet Frau Schuppke in schöner Unparteilichkeit. »Ich will Ihnen mal was sagen: Daß sich zwei junge Leute amüsieren, das ist schon recht; was der Mensch braucht, das muß er haben, und was sich liebt, krümmt sich beizeiten. Wenn heutzutage ein Mann 'ne Jungfer ins Brautbett verlangt, den würde man glatt auslachen. Aber sobald sich was gemeldet hat, dann abzuschnappen, das ist eine glatte Gemeinheit. Vorher, wenn's heißt, ein armes Mädel 'rumkriegen, dann fliegen die blauen Lappen nur so hin, Ausflüge und Kino und Schnitzel mit Setzei. Aber nachher, für das Kind, da haben sie keinen Groschen übrig. Bande die! Das ist meine Meinung. Und bei so einem Fräulein, wie das Mädel hier, erst recht. Da reden sie immer von Bildung und Sitte und Anstand und sind die größten Halunken. Und wenn ich diesem Schuft, dem Berg –«

Lisa sah erschreckt auf.

»Na was denn sonst, Fräuleinchen?« sagte Frau Schuppke. »Auf die Straße sind Sie doch nicht gegangen. So ein liebes, unschuldiges Mädel verführen und dann lostürmen, unbekannt wohin, das ist mir ein Held! Und eins sag' ich Ihnen: So wenig mich's angeht, wenn ich dem einmal eins auswischen kann, dann tu ich's mehr wie gern. Den hab' ich gefressen!«

Erst als die Uhr fünf schlägt, Frau Wagner jeden Augenblick zurückkommen kann und es für Hedwig höchste Zeit ist, zum Abendessen einzuholen, findet die Kaffeestunde ihr Ende.

In den vierzehn Tagen, die dem Verkauf der Möbel folgen, verschlechtert sich Lisas Verhältnis zu Hedwig und Josef. Hedwig scheint kein Interesse mehr an Lisa zu nehmen, und Josef zeigt plötzlich eine Neigung, den Hahn im Hühnerhof zu spielen.

Wenn ihm die kleine Lisa auch nicht zusagt und er gewohnt ist, Frauenreiz nach dem Gewicht zu schätzen, so ist es doch gewissermaßen Ehrensache für ihn, sie sich untertänig zu machen. Auch reizt es ihn, daß sie sichtlich etwas Besseres ist. Eine Gefahr ist bei ihrem Zustand ausgeschlossen. Und da sie ja schon über die Klinge gesprungen ist, erscheint ein Mißerfolg ihm undenkbar. So beginnt er denn den Sturm nach seiner Art vorzubereiten; in Hedwigs Gegenwart behandelt er Lisa von oben herab, in Abwesenheit der Köchin fängt er an seine Paschagelüste kundzugeben. Trotz Lisas empörter Abwehr läßt er nicht davon ab, sie mit seinen Riesenfäusten im Vorbeigehn an sich zu reißen, bis er eines Morgens die auf der Leiter Stehende beim Fensterputzen überfällt, sie ihm den halben Eimer Wasser ins Gesicht gießt und sich laut weinend mit der Drohung: »Ich sag's der Hedwig!« flüchtet.

Er ist ehrlich entrüstet. Das ihm, dem schönen Josef, Ritter des Eisernen Kreuzes, der die Welt kennt, zwei Jahre in England gelebt hat, nach dem die Weiber förmlich wild sind! Was denkt sich denn diese dumme Pute?

Und er beugt vor.

»Du,« sagt er in der dunklen Kammer zu der Köchin, »was hältst du von der Lisa?«

»Ehrlich, bescheiden, anständig,« antwortet Hedwig.

Er schweigt vielsagend.

»Etwa nicht?«

»Ein Flittchen,« sagt er lakonisch.

»Wieso?« fragt sie überrascht.

»Die solltest du bloß sehn, wenn du den Rücken wendest. Ich habe schon manches mit euch Weibern erlebt; aber die ist ja hinter mir her, wie der Teufel nach der armen Seele.«

»Josef!« entsetzt sich Hedwig. »Das glaub' ich dir nicht.«

»Dann läßt du's bleiben,« antwortet er gelassen. »Der hat es eben zu gut geschmeckt.«

»Ist's denn die Möglichkeit,« staunt Hedwig fassungslos. »Irrst du dich auch nicht?«

»So seh' ich aus,« sagt Josef selbstgefällig.

»Haste Worte,« stöhnt die Köchin. »Was macht sie denn?«

»Was sie macht?« erwidert Josef. »Augen wie Wagenräder. Und wenn sie die Leiter 'runterklettert, bleiben die Röcke oben. Viel zu zeigen hat sie ja nicht.« Und anerkennend streicht seine Hand über Hedwigs Fülle.

»So 'n Kiekindiewelt!« ereifert sich Hedwig in heller Eifersucht. Mit leisem Bedauern denkt sie an ihre vierunddreißig Jahre. »Was haben wir heut? Schade, den zwanzigsten Februar. Am nächsten Fünfzehnten kriegt sie ihren Schein.«

»Meinetwegen,« stimmt Josef zu. »Ich weine ihr keine Träne nach. Mich kann's nur ärgern, wie sie vor dir und aller Welt die gefallene Unschuld mimt und hintenrum dann nach mir angelt. Aber was, Hedwig, – wir halten fest und treu zusammen?« Vor seinen Augen leuchten lockend Möbel und Sparkassenbuch.

Von diesem Tage an beginnt ein unbarmherziger Kleinkrieg gegen Lisa. Was ihr anvertraut wird, verschwindet, was sie sucht, ist verlegt, was sie in die Hand genommen hat, kurz darauf zerbrochen; holt sie Wasser, steht hinterher der Hahn auf, hat sie einen dunklen Raum betreten, brennt stundenlang später dort das Licht. Die Hausfrau schüttelt nachsichtig den Kopf. Aber das Schlimmste sind die Mahlzeiten zu dritt. Nicht, daß sie nur die Abfälle erhält, nicht, daß Hedwig und Josef kaum noch ein Wort an sie richten; nein, das Schrecklichste sind die Reden, die Anspielungen und Witze, die über sie hinweg zwischen den beiden hin- und herfliegen, die sie nur nach und nach in ihrer ganzen Gemeinheit begreift, dieser Hohn, der die werdende Mutter mit Schmutz besudelt, sie nackt auszieht, zur Dirne stempelt.

Am nächsten Fünfzehnten, als Hedwig mit dem Ausgabebuch in der Hand neben dem Schreibtisch der Frau Geheimrat steht und abgerechnet hat, sagt sie, ganz treue Magd:

»Gnädige Frau, mit der Lisa – es tut mir ja selbst leid –, aber mit der ist das nichts. Arbeiten tut sie wie ein Spatz und futtern wie 'n Geier. Was ich nicht fest wegschließe, nascht sie mir weg. Der Zucker ist wieder zu Ende, das Obst verschwindet, Eingemachtes, alles. Ich glaube auch nicht, daß die erst im siebenten Monat ist, wie sie behauptet. Schließlich haben wir die ganz auf dem Hals.«

»Aber sie ist doch ein anständiges Mädchen,« sagt Frau Geheimrat matt, das Antlitz blaß, die Augen müde und klein; sie hat eben wieder einen Anfall ihrer Migräne überstanden.

»Anständig,« antwortet Hedwig im Grabeston. »Da müssen Sie bloß den Josef hören, gnädige Frau. Josef!« ruft sie, ohne erst zu fragen, zur Tür hinaus.

Der Diener steht schon bereit. »Gott, gnädige Frau,« sagt er mit gutgespielter Biederkeit. »Ein Mädchen schlecht machen, das gibt's bei mir nicht. Aber wahr ist es schon. Ein anständiger Mensch, der hält das Haus rein; und daß so ein ausgekochtes Frauenzimmer noch nicht genug hat und einen Mann, wenn der nicht Grundsätze besäße, um Lohn und Brot bringen kann, das muß einen doch empören.«

»Schon gut, Josef,« sagt die gnädige Frau erschöpft.

Josef verschwindet.

»Daß man sich so in einem Mädchen täuschen soll,« fährt sie ungewiß fort. »Ich hätte das nie und nimmer geglaubt. Was machen wir denn nun?«

»Gnädige Frau,« antwortet Hedwig jetzt sehr energisch. »Die ganze Arbeit für das Hausmädchen kann ich nicht mitmachen. Und schließlich komme ich selbst noch in Verdacht, mit den Vorräten. Darüber bin ich mir einig: So geht das nicht weiter.«

Die Frau Geheimrat hört deutlich die Drohung heraus. Auch ihr Mann hat ja schon oft die Brauen gerunzelt, wenn Lisa ihm in den Weg kommt, und sich verbeten, daß sie Besuchern die Tür öffnet.

Einen Augenblick sieht sie bekümmert vor sich hin. Dann gibt sie mit einem Seufzer nach:

»Also gut.«

»Ich werde schon alles mit ihr ordnen,« beruhigt Hedwig sie eifrig, im Hochgefühl ihres Sieges. »Sie muß es selbst einsehn. Und die Marie von Professors, Nummer neun, die möchte gern her; das ist ein sauberes, fleißiges, ehrliches Mädchen, nicht mehr so jung, etwas für die Dauer. Wollen mir gnädige Frau das überlassen? Sie sollen gar keine Scherereien haben. Aber kündigen müssen gnädige Frau. Die Lisa wird schon irgendwo unterkommen. Und nicht wahr, Sie verraten mich nicht? Nur, daß der ganze Haushalt uns verkommt ...«

Zehn Minuten später weiß Lisa, daß sie das Haus in vierzehn Tagen verlassen muß.

Draußen schimpft die konservative Hedwig im Verein mit Josef rechtschaffen auf die Kapitalisten, die solch ein armes Mädel auf die Straße setzen; aber innerlich ist ihr doch nicht wohl, sucht sie sich vor sich selbst zu rechtfertigen: Lisa darf nicht mit Josef zusammenbleiben, das ist ein Gebot der Selbsterhaltung. Man kann nie wissen. Und Josef für die paar Monate bis zur Hochzeit wegschicken, ist ebenso gefährlich, heutzutage, nach dem Krieg, wo sich die Weiber um die Männer reißen. Dazu kommt noch die Sorge, daß die gnädige Frau aus Erbarmen mit Lisa die Kündigung wieder zurücknimmt. Und so heuchelt denn Hedwig so lange Teilnahme und schickt Lisa tagtäglich zu Frau Schuppke, bis endlich sich ein Unterkommen für sie gefunden hat.

Leicht ist das Lisa nicht geworden. Sie leidet zu furchtbar unter der Scham, in ihrem Zustand sich fremden Menschen preisgeben zu müssen. Wie nackt, wie besudelt kommt sie sich vor. Sie sieht nicht, daß man überall, wo sie anklopft, ihr Schicksal als etwas Gegebenes, Gewohntes, Unvermeidliches betrachtet; sie argwöhnt in jedem Blick die Empörung, in jeder Frage das Urteil, sie empfindet die Gelassenheit und Selbstverständlichkeit, mit der man sie empfängt, als eine Verachtung der Gefallenen gegenüber, die hoffnungslos aus der Reihe der gesitteten Frauen geschieden ist. Und wo ihr wegen ihrer Jugend einmal Teilnahme begegnet, fühlt sie aus dieser doppelt den Vorwurf heraus, so jung schon in die Schande geraten zu sein.

Frau Schuppke hat sie zuerst in einen Frauenschutzverein gesandt. Ein heller Raum, die Regale mit Büchern, Broschüren, Formularen gefüllt, die Wände mit Tabellen bedeckt, sauber und nüchtern, mit dem leichten abwehrenden Hauch der Wohlanständigkeit gegenüber all den Mädchen, die kommen und gehen, bang und gedrückt, frech und abgebrüht. Am Schreibtisch in der Mitte eine Dame im silbergrauen Haar; gleich einem goldenen Schild gegen all die Sünde um sie her leuchtet im Sonnenschein der glatte, schwere Ehering.

Wie lange noch? Über zwei Monate? Ja, dann solle sie sich doch Arbeit suchen. Gewiß, sie könne auch in das Heim des Frauenschutzes aufgenommen werden; aber da müsse sie hundertfünfzig Mark einzahlen und täglich zwei Mark zusteuern. Wozu sie das Geld hergeben soll, wo sie doch arbeiten, nähen muß, das versteht Lisa nicht, wagt sie nicht zu fragen. Zur Entbindung müsse sie in die Klinik. Später? Ja, da müsse sie sich selbst weiter helfen.

Kinderwäsche könne sie erhalten. Beim Roten Kreuz. Man gibt ihr die Adresse.

Sie geht zum Roten Kreuz. Kinderwäsche? Die sei jetzt unendlich knapp. Und die würde nur für solche Kinder ausgegeben, deren Vater im Felde gewesen ist. Ob das der Fall sei? Wie, den Vater wolle sie nicht nennen? Nun, dann sei nichts zu machen.

Lisa weiß selbst nicht, warum sich alles in ihr dagegen sträubt, Berg anzugeben. Vielleicht ist es das dumpfe Gefühl, daß sie ihm dadurch schaden könnte, daß er die Nennung seines Namens als Denunziation, als Verrat betrachten, sie niemals ihr verzeihen würde; vielleicht die leise Hoffnung, daß doch ein Wunder noch geschieht, er freiwillig zu ihr zurückkehrt. Immer wieder malt sie in stillen Stunden sich aus, wie eines Tages es an die Tür klopft, er vor ihr steht, mit einem Schrei des Glücks sie ihm entgegeneilt, sein Kind auf dem Arm, wie er sie tief bewegt an seine Brust schließt, und seine Lippen wie einstmals flüstern: Lisa, kleine Lisa, ich hab' dich doch so lieb ...

Sie sucht Arbeit, auf Inserate hin. Aber überall drängen sich die aus den Munitionsfabriken entlassenen, arbeitslosen Mädchen. Und wo einmal Aussicht wäre, wird ihr Zustand bald erkannt. Eine Schwangere? Um Gotteswillen nicht. Die braucht bloß zu stolpern, zu fallen, sich mit oder ohne Absicht zu beschädigen, und dann kommen die Ansprüche, hat man sie auf dem Hals. Sie versucht auf Frau Schuppkes Rat als Hausschwangere in einem Entbindungsheim gegen Arbeit unterzukommen; aber alles ist besetzt, nirgends ein Unterkommen. Die Not der Zeit treibt die Mädchen und Ehefrauen in Scharen dorthin. Immer wieder abgewiesen, im Sturm und Regen des frostigen März sich durch die Straßen schleppend, allein in der treibenden, hastenden Menge der Großstadt, vor all den gleichgültigen Augen, abweisender Kälte, rüden Antworten hat Lisa das hoffnungslose Gefühl, auf Gottes weiter Welt verloren zu sein.

Dann, zwei Tage vor Ablauf ihres Dienstes, die Rettung. Eine Freundin Hedwigs besucht diese; sie ist Stütze im Hause eines Arztes, Dr. Hagen, der am Halleschen Ufer eine Frauenklinik leitet. Auch dort ist es zwar überfüllt, Lisa muß in der Staatsklinik entbinden; aber sie kann bis dahin gegen Hausarbeit im Heim des Arztes unterkommen. Und für die Zukunft hat sie ja noch an sechs Wochen Zeit, sich eine Stellung zu sichern, als Dienstmädchen, Amme, Stationsmädchen in einer Krippe, irgend etwas. Das Kind? Ja, das muß wohl ins Waisenhaus.

Lisa eilt hin, spricht mit dem Arzt, einem feinen, gütigen Manne, der ihr die Stelle zusagt. Mit der Hälfte ihres Geldes kauft sie Kinderwäsche zu wahren Märchenpreisen; aber alle haben ihr zugeredet, die Preise steigen jeden Tag. Mit tausend Mark, dem Rest ihres Geldes, in der Tasche, siedelt sie am Monatsende zu Dr. Hagen über.

Acht Tage später kam Berg von seiner fast sechsmonatlichen Dienstreise zurück und quartierte sich etwas abseits, im alten Berliner Westen ein. Er hatte von den Ereignissen keine Ahnung. Die Zeitungen, die sich Frau Doras Selbstmord nicht hatten entgehen lassen, hatte er sich in seiner unüberwindlichen Abneigung gegen die trüben politischen Verhältnisse und das Gezänk des Tages nicht nachschicken lassen, mit Wagners, die sich über Doras Tod und Lisas Schicksal ausschwiegen, nur spärliche Karten getauscht, und zwischen Willy und ihm bestand nach Männerart stillschweigend das Übereinkommen, sich grundsätzlich nicht mit Briefen lästig zu fallen.

Da Berg also nichts davon erfahren hatte, daß Lisa ein Kind erwartete, und nach dem letzten Auftritt mit ihr auch kein Bedürfnis empfand sich ihr zu nähern, so hatte er sie bald so gut wie ganz vergessen.

Jetzt aber, in Berlin, meldete sich doch sein schlechtes Gewissen. Wie stand es um Lisa? Und hatten Wagners wirklich nichts gemerkt?

Deshalb hielt er es für geboten, ehe er sich wieder bei ihnen einfand, erst einmal das Gelände zu erkunden. So ging er denn eines Tages so lange dem Wagnerschen Hause gegenüber auf und ab, bis er Frau Schuppke sah, den Damm überquerte und sie anscheinend erfreut begrüßte.

»Ja,« sagte Frau Schuppke, und ihre kleinen Augen glitzerten wie die der Schlange vor dem Kaninchen, »Wagners geht es ausgezeichnet. Aber die arme Frau Halm! Was, Herr Assessor wissen das nicht? Jawohl, ins Wasser, bei der Kälte, wegen 'ner Hypothek. Wo Fräulein Lisa steckt?« Frau Schuppke zögerte einen Moment. Ihr war bei Strafe der Entlassung streng verboten worden, über Lisa zu sprechen. Aber Lisa hatte ihr doch selbst ihre Adresse gegeben, und sie hätte nicht Frau Schuppke sein müssen, um ihm die Nachricht nicht ins Gesicht zu schleudern, sich an seiner Verblüffung zu weiden.

Herr Assessor wüßten wirklich nicht? Da schlag einer doch lang hin! Die Lisa sei längst aus dem Hause. Das arme Ding spiele jetzt Dienstmädchen im Grunewald, Bismarck-Allee, Geheimrat Frank, die Möbel seien verkauft. In die Wohnung ziehe ein Geheimsekretär, ein netter Mann.

Warum das alles? Ja, die Lisa habe sich doch mit Frau Wagner verkracht, weil – Frau Schuppke machte eine Pause, ehe sie zuhieb – weil sie ein Kind ... Freilich, Herr Assessor, man 'n kleines, aber 'n richtiggehendes Kind ... Da wundert sich der Laie, und der Kenner schmunzelt ... Genau so blaß, wie der Herr Assessor jetzt, sei sie, Frau Schuppke, selbst geworden, als die Geschichte herauskam. Wer der Vater sei? Die Lisa habe den Lump bis jetzt noch nicht verraten; aber nichts sei so fein gesponnen ... Nein, Frau Wagner habe auch keine Ahnung. Jawohl, der Herr Assessor könne Gott danken, daß er mit dieser schmutzigen Geschichte nichts zu tun habe. Ob der Herr Assessor nicht hinaufgehe? Keine Zeit? Jawohl, wenn Briefe kommen, die werde sie ihm zusenden. »Wie? Blumeshof 40? Nichts zu danken, Herr Assessor! Aber das ist ja viel zu viel für die kleine Mühe ...« Und höhnisch hinter ihm hergrinsend ließ sie den Geldschein verschwinden.

Die Sonne lachte, im übermütigen Glanz des Vorfrühlings, als Berg den Kurfürstendamm wieder hinabging; die Menschen fluteten zur Stadt hinaus, Autos sausten mit ihren schrillen Warnungssignalen über den blanken Asphalt, elektrische Bahnen, von Ausflüglern überladen, wie schwärmende Bienen sich an den Baumast setzen, rollten in dichter Folge hin, – Berg merkte von alledem nichts. Das, was er soeben gehört, hatte ihm doch einen Schlag ins Herz gegeben. Er sah die kleine Lisa vor sich, wie sie mit kindlich verehrenden Augen den fremden, die Wohnung besichtigenden Herrn anstarrte, wie sie ihm gegenübersaß, mit dankbarem Staunen seine Worte trank; wie sie verzückt, gleich Moses auf dem Berge Nebo in das gelobte Land, ins Märchenreich der Liebe blickte; wie sie unmerklich von den unsichtbaren Fäden der Verführung sich umgarnen ließ, bis sie in banger Seligkeit sich ihm ergab. Es hatte etwas Unfaßbares für ihn, sich dieses unschuldige, scheue Kind vom Kampf des Lebens umbrandet, verlassen und geächtet vorzustellen; und seine erste Regung war der Entschluß, ihr unter allen Umständen Hilfe zu bringen. Lisas Mutter tauchte vor ihm auf, trotz ihrer Härten rechtschaffen, trotz aller Schwächen und Lächerlichkeiten doch achtungswert, und eine innere Stimme sagte ihm, daß es Untaten gibt, die kein Gesetzbuch straft, und die dennoch an Niedrigkeit und Ehrlosigkeit so manches hart geahndete Verbrechen überragen.

Ja, er wollte ihr beistehn, sie herausnehmen aus ihrem Dienst, ihr die schwere Stunde mit allem, was er vermochte, erleichtern.

Dann aber – wie so oft im Leben – hielt diese erste, großmütige Regung nicht stand, wurde, wie Hamlet sagt, »der angebornen Farbe der Entschließung die Blässe des Gedankens angekränkelt«.

Wie sollte er ihr helfen? Er hatte selbst nichts. Nur mit aller Mühe durfte er hoffen, sich bis zu einer Heirat über Wasser zu halten. Zu seiner Frau machen konnte er sie nach wie vor nicht. Die Frage war also nicht, ob er ihr helfen wollte, sondern ob Lisa allein oder sie alle beide in Not gerieten. Lisa war zunächst in gutem Hause geborgen; es würde eine Torheit sein, sie dieses Schutzes zu berauben. Erst wenn das Kind geboren und irgendwo untergebracht war, hatte es einen Sinn, sich ihrer anzunehmen.

Als er am Wittenbergplatz in die Untergrundbahn hinabstieg, war sein Entschluß gefaßt: Er mußte seine Heirat abwarten, um mit den Mitteln, die ihm dann zur Verfügung standen, Lisa eine gesicherte Existenz zu gründen. Er wollte ihr das schreiben; er wollte es, um sie zu beruhigen, vor allem jedoch, um sich vor sich selbst zu entlasten.

Während er aber in der Bahn saß, überlegte er weiter.

Sie hatte nichts von sich hören lassen, nicht brieflich durch das Amt, nicht mündlich durch Frau Schuppke oder sonst wen. Sie hätte das wohl vermocht, auch ohne ihn bloßzustellen. Also zürnte sie ihm noch, wie sie im Unfrieden von ihm geschieden war, die ganze Last ihres Unglücks auf seine Schultern gelegt hatte. Und doch hatte er sie nicht gezwungen; es war auch fraglich, ob er in jenem ersten Sturm der Leidenschaft zur Mutter sie gemacht, oder erst später, als sie sich selbst ihm anbot. Und schließlich der alte Verdacht, daß diese Mutterschaft ihr ganz willkommen, die schlaue Berechnung eines bei aller Unerfahrenheit gerissenen Mädchens war, um ihn endgültig an sich zu fesseln! Denn so ganz harmlos war die gute Lisa denn doch nicht gewesen; wer seine Mutter so geschickt zu täuschen verstand, der war auch anderen gegenüber kein Unschuldslämmchen. Und in diese plumpe Schlinge sollte er jetzt nachträglich seinen Kopf stecken?

Nein, mochte sie sich selbst melden; dann wollte er sehen, was sich tun ließ. Aufdrängen tat er sich nicht. Solch schwierige Fragen mit ihren unabsehbaren Folgen durften nicht in gutmütiger Schwäche, in edelmütiger Aufwallung entschieden werden, sondern in unbeirrter Erwägung, mit nüchternem Verstande.

Als er am Leipziger Platz wieder im hellen Tageslicht stand, war der Fall Lisa bis auf weiteres für ihn erledigt.

Berg läutete noch an demselben Tag bei Wagners an; wie alle Männer in solchen Verwicklungen feige, wagte er sich nicht ohne weiteres persönlich einzufinden.

Am liebsten wäre er ganz fortgeblieben; aber seine eigene Lage widerriet ihm das. Auch hatten Wagners ihm ja wiederholt Grüße gesandt; entweder wußten sie also wirklich nichts, oder sie wollten eben nichts wissen.

Trude sprach mit ihm, sehr kühl, sehr verbindlich: Wieder hier? Danke, gut. Ja, die arme Tante! Die Mutter wußte von nichts, die hätte ohne weiteres geholfen ... Nächsten Sonntag? Die Mutter würde sich sicher freuen. Zu Tisch, nicht wahr? Aber gewiß doch. Auf Wiedersehn.

Es war ein eigenartiges Verhältnis zwischen ihnen: Beide hofften auf eine andere Heirat, beide wollten jedoch den Sperling nicht aus der Hand lassen, ehe sie nicht die Taube auf dem Dache besaßen. Deshalb versteckten sie gegenseitig unter der alten Herzlichkeit den brennenden Wunsch von einander loszukommen.

An jedem Sonntag fand sich Berg zu Tisch ein und wurde ohne Widerspruch aufgenommen. Stets gab der Gärtner von nebenan, der am Feiertag geschlossen hielt, am Sonntag morgen einen kleinen Strauß bei Schuppkes ab, den Berg sich beim Hinaufgehn abholte. Und da Vater Schuppke mittags über im Stall zu tun hatte, die Mutter oben bei Wagners aushalf, traf Berg regelmäßig nur die Tochter an.

Das magere Ding sagte ihm nicht zu. Trotz ihrer siebzehn Jahre sah sie wie eine Fünfzehnjährige aus; und zu ungebärdig saß das üppige rote Haar um ihre schmale Stirn, zu keck glühten die Lippen des Mundes, der sich wie eine blutige Wunde quer durch das Gesicht zog. Nur den schmalen, hochgespannten Fuß im gutsitzenden Schnürstiefel ließ er gelten.

Erst übersah er sie. Übersah sie um so mehr, als nach dem Bruch mit Lisa und der Entfremdung mit Trude die alte Sehnsucht nach Dolly doch wieder in ihm erwacht war.

Dann aber schien es ihm, als ob diese Annie nicht ungern mit ihm angebandelt hätte; und seine Eitelkeit lockte ihn, diesen kleinen Rotfuchs so im Vorbeigehn in sich verliebt zu machen, gewissermaßen als Abschluß, ehe er sich endgültig band.

Denn allmählich reizte sie ihn, wenn auch nicht durch ihr Aussehen, so doch mit ihrem Wesen. Er kam jetzt Sonntags fünf und zehn Minuten, dann eine Viertelstunde früher, um sich mit ihr zu unterhalten; zuerst nahm er zum Vorwand, die Blumen nochmals umzubinden, dann schenkte er sich auch das. Es kränkte ihn zwar, daß sie bei näherem Verkehr sich doch recht wenig von ihm imponieren ließ, nicht ohne weiteres seinem bewährten Zauber unterlag; aber gerade das stachelte ihn zugleich auf. Sie hatte eine seltsame Art von ihrem Körper zu reden; sie tat das mit einer ausgesprochenen Lust, in Worten sich zu entblößen, sich selbst zu verspotten. Und bald prickelte es ihn, sie immer mehr dazu herauszufordern, erregte ihn die Selbstenthüllung des Mädchens, die neue, unbekannte Sensationen verhieß. Wenn sie über ihre Dürre lachte, ihre Gelenkigkeit betonte, mit einer an einem Mädchen erstaunlichen Aufrichtigkeit vor keinen Einzelheiten zurückscheute, erwachte seine Phantasie, zog er sie aus, sah er sie nackt, rank, in jeder Linie ihrer Frauenlosigkeit. »Ich wasche mich alle Morgen von oben bis unten,« hörte er sie sagen. »Bad haben wir nicht, aber eine Kufe tut's auch. Und dann turne ich. Ich kann mit meinem großen Zeh mir meinen Scheitel kratzen.«

Er wollte fragen, ob sie das nötig habe, er traute sich noch nicht. Dann sagte er:

»Das möchte ich mir mal ansehn.«

»Nun machen Sie aber 'nen Punkt,« antwortete sie schnippisch. Und im gleichen Atemzug setzte sie hinzu:

»Da ist nicht viel zu sehn. Ich habe Spatzenbeine, und auch mein Busen traut sich nicht recht raus.« Mit kecken Blicken sah sie ihn an.

Als sie vertrauter geworden waren, wagte er sich weiter vor. Aber immer noch ohne ausgesprochene Absicht, nur in dem derben Flirt, wie ihn die Mädchen des Volkes gewöhnt sind und lieben.

Sie hatte, seitdem sie mit nassen Augen von Willy Abschied genommen, eine gute Schule durchlaufen. Nichts lernt ein Mädchen, das in falsche Hände gerät, rascher, als jede Scham von sich zu werfen. Il n'y a que le premier pas qui coûte; in den wenigen Monaten, seit sie mit ihrem Jockey ging, war sie ganz Temperament, ganz Sinnlichkeit geworden. Bisweilen erinnerte sie Berg an Dolly; nur daß diese vollendete Dame war, auch in der heikelsten Situation, Annie ganz Weibchen, ganz Natur zu sein schien. Er neckte sie mit Willy, zweifelte an ihrer Tugend. Sie schüttelte lachend den Kopf.

»Ich kann mich beherrschen,« sagte sie. »Ich bin nicht kleinlich; aber der Rechte ist noch nicht gekommen.«

»Auch heut nicht?« fragte er scherzend.

»Heute? Sie?« antwortete sie von oben herab. »Daß ich nicht blutige Tränen lache, Herr Assessor. Bei mir gewinnen Sie keinen Blumentopf.«

»Das Sprödetun steht Ihnen garnicht,« lächelte er, »das glaubt Ihnen doch keiner. Seien Sie nett, Fräulein Annie, und kommen Sie her. Sie sollen auch einen Kuß haben.«

»Vielen, aber herzlichen Dank,« erwiderte sie abweisend.

»Fräulein Annie,« antwortete er keck, »ich sehe Sie doch noch eines Tages auf meiner Bude.«

Ihre Augen blickten Spott. »Irren ist menschlich, sagte der Hahn, als ihn die Ente ablehnte.«

Und wieder beging Berg, er, der sich für einen Frauenkenner hielt, einen großen Fehler. Je mehr es ihm Spaß machte, sich mit dieser kleinen, reizlosen Kratzbürste herumzuschlagen, desto weniger merkte er, daß seine sonstige, so oft bewährte Gewandtheit vor ihrem schlagfertigen Mundwerk versagte, desto mehr verkannte er ihre Motive. Er hielt ihren Widerstand für das übliche Getue des auf sich eingebildeten, noch unberührten Mädchens, und ahnte nicht, daß ihre Haltung dem Widerwillen gegen den Mann entsprang, der diese arme Lisa ins Unglück gebracht hatte. Und da er mehr als je fest davon überzeugt war, daß Willy nichts bei ihr erreicht hatte, stachelte es ihn, trotz aller Schwierigkeiten, gerade um dieser willen, den Siegeslorbeer zu pflücken, der jenem versagt geblieben war. Skrupel machte er sich nicht. Heiraten würde Willy die Annie doch nie; außerdem war der in Heidelberg, und der Abwesende hat immer Unrecht. So wartete er denn nach altem Rezept nur auf den psychologischen Moment, die erste gute Gelegenheit.

Ein heller Sonntagmorgen im Anfang des Mai sollte sie ihm geben.

* * *


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