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IV.

Die hier betrachteten großen philosophischen Dramen, die ein unendliches Streben in einem schier unbegrenzten Milieu darzustellen versuchen, haben in der Entwicklungsgeschichte des Dichters die Aufgabe, seiner geistigen Physiognomie und seinem Charakter einen gewissen Abschluß zu geben. Ibsen verläßt nunmehr das Reich der unbegrenzten Spekulation und sucht für seine Probleme, die er im Gewande seiner Zeit und seiner Heimat darstellt, klarere, faßlichere Verhältnisse. Da er seine geistige Rüstung vollendet hat, steigt er mit gutem Wehr und Waffen in das Alltagsleben der Menschen herab, ihnen das Evangelium der Selbsterkenntnis, der Charakterfestigkeit, der individuellen Sittlichkeit zu predigen.

Ibsens gesellschaftskritische Dramen beginnen mit den » Stützen der Gesellschaft« (1877). » Die Komödie der Liebe« (1862) bildet den Prolog dieser Dramenreihe. Hier bereits entschließt sich der Held, auch er ein Dichter, dem Pathos hoher Träume und Gedanken zu entsagen und seine Ideale in Einklang zu setzen mit der lebendigen Wirklichkeit.

»Papierne Dichtungen sind Pultbestand
Nur das Lebendige gehört dem Leben.«

Somit ist die Komödie der Liebe eine Absage an den epigonenhaften Romantiker Henrik Ibsen, der nunmehr nach andern Formen und neuem Inhalt sucht, um auszusprechen, was ihn innerlich bewegt. Hingegen ist der Kunstwert dieser satirischen Dichtung ein sehr geringer. Im ganzen und großen Dilettantenpoesie, nichts weiter. Selbst in den Gesprächen zwischen Schwanhild und Falk fanden wir kaum einen wahren Seelenton. Die Liebenden sprechen vielmehr in dem blumigen Pathos jener Dichtersprache, die man bei uns noch heute gar hold und entzückend findet. So äußert sich Schwanhild im Ueberschwange ihres Liebesglücks:

O laß mich träumen, träumend Dich genießen.
Sprich Du für mich – Gedanken halb und bang
Erblühn bei Deiner Rede zu Gesang,
Wie Waldseelilien sich im Mond erschließen.

Schon um der Sprache willen ist es mißlich, wenn ein Dichter als Held eines Dramas erscheint. Denn zumeist wird er selbst vom Schwung seiner poetischen Rede fortgerissen, und ebenso entspringen seine Klagen über das Philistertum der Masse, nur der eigenen Unreife, die noch nicht genug Charakter und Persönlichkeit besitzt, um sich über die kleinliche Anschauung der Umwelt hinwegzuheben. Das Gleiche zeigt sich auch hier. Unser Dichter, der nicht umsonst den Namen Falk trägt, spreizt seine Schwingen sehr gewaltig, aber in seinen Tiraden über Liebe und Ehe ist doch wenig Tiefsinn zu entdecken. Nur in einem Punkte berührt sich das schwache Stück, dem es doch durchaus an der überlegenen Heiterkeit freier Geister gebricht, die lächelnd auf das Gehudel der Menge herabsieht, mit den großen Schöpfungen Ibsens: Auch hier wird der Held durch die Liebe dahin geführt, seine Bestimmung in der eigenen Brust zu suchen, statt sich durch das Opfer eines andern in den Rausch einer vergänglichen Begeisterung versetzen zu lassen. Und ebenso taucht hier wieder das Motiv der seelischen Veredlung und Festigung durch das Leid auf.

Indes unsere Dichtung wirkt nicht überzeugend. Sie stellt nicht die Liebe und Ehe selber dar, sondern von einigen Typen Verliebter, Verlobter und Vermählter abgesehen, erschöpft sie sich in Phrasen über den Bund zweier Menschen und die notwendige Verhöhnung der Ideale durch das Leben. Verliebte pflegen nicht so »vernünftig« zu handeln wie Falk, und es ist auch nicht recht ersichtlich, warum er Schwanhild, das wahlverwandte und geliebte Weib zu Gunsten des Kaufmanns Goldstadt, der wiederum seinen Namen nicht umsonst trägt, aufgeben muß, um seiner Lebensaufgabe treu bleiben zu können. Das eigentliche Element des Dramas ist die Leidenschaft, und so gewiß sie zu Irrtümern der Lebensführung treibt, so gewiß ist sie allein imstande, dem Menschen den innersten Kern des Daseins zu erschließen und ihm das volle Bewußtsein seiner Kräfte zu geben. Der Gegensatz zwischen Liebe und Ehe wird überdies von der zahlungsfähigen Moral des Kaufmanns, der Falks Braut heimführt, nur in der Oberfläche erfaßt:

»Die Ehe ist ein Ocean
Von Fordrungen, die mit dem schönen Wahn
Der Liebe wenig mehr zu schaffen haben.
Hier frommen keine großen Geistesgaben,
Hier gilt es Häuslichkeit, Genügsamkeit,
Geduld, Fleiß, Pflichtbewußtsein, Fügsamkeit.«

Die Liebe beruht vielmehr auf dem wahlverwandten Sinnentriebe zweier Menschen, welcher um so höher geartet ist und um so längere Dauer verspricht, je stärker er sich mit dem Geiste und der Seele der Liebenden vermählt. Die Gefahr der Ehe beruht in der dauernden Gemeinschaft, die die Liebe nicht von vornherein voraussieht. Das Glück dieser Gemeinschaft scheitert oft an der verschiedenartigen Entwicklung der Liebenden, die alsdann der Seligkeit eines völlig harmonischen Empfindens verlustig gehen, oder es zerbricht an der gegenseitigen Erkenntnis ihres idealen Charakters. Das Glück wie jeder Genuß überhaupt, beruht ja auf einer Illusion, auf der Erlösung vom Ichgefühl und seinen realen Zuständen, auf der vorübergehenden Erhebung in eine höhere Daseinssphäre. Deshalb sucht die Ehe nach Momenten, die, nach Erreichung des Liebesglücks, die Harmonie des Empfindens erhalten und findet ein neues starkes Gemeinschaftsgefühl im Kinde. Vor allem ist aber die Liebe etwas rein Menschliches, die Ehe nur eine soziale Institution, aus dem sittlichen Verantwortlichkeitsgefühl der Liebenden geboren.

Es war die Aufgabe des Dichters, in einem konkreten Falle zu zeigen, welche Veränderungen der menschliche Charakter im Uebergange von der Liebe zur Ehe erfährt, statt das Eheleben nur als Karikatur, die Liebe nur als romantisches Ideal, das vor der Wirklichkeit zusammenbricht, zu zeigen. Daran ging Ibsen vorüber.

Erst mit dem » Bund der Jugend« (1868/69) befreit er sich soweit von seinen romantischen Idealen, daß ihm eine rein gegenständliche Darstellung menschlicher Verhältnisse möglich wird. Gewiß segelt das politische Lustspiel stark im Fahrwasser des Scribe'schen Intriguenstücks, aber es berührt angenehm durch seine Bühnengewandtheit, durch die frische Unmittelbarkeit des Tones. »Wie Du siehst«, schreibt Ibsen einem Freunde, »ist das Stück ein gewöhnliches Lustspiel, nichts anderes. Vielleicht werden einige in Norwegen sagen, daß ich bestimmte Personen und Verhältnisse geschildert habe. Das ist jedoch nicht der Fall. Ich habe allerdings Modelle benutzt, und das ist notwendig – für den Lustspieldichter in gleichem Maße wie für den Maler und Bildhauer.«

Diese drastische und herzhafte Komödie, die geistig dem Sittenstück eines Augier verwandt ist, stellt eine Art Vorspiel zum » Volksfeind« dar, den es besonders in der Beleuchtung der lokalen Verhältnisse, von denen das politische Spießertum sich leiten läßt, und in der Satire auf die kompakte Majorität, in der sich die überwältigende Mehrzahl der Dummen zusammenschließt, in leichterer, gefälligerer Form vorausnimmt. Andrerseits zeigt das Drama der Idee nach eine starke Verwandtschaft mit Peer Gynt, dessen selbstsüchtige Charakterlosigkeit hier eine Uebersetzung ins Bürgerliche und Gegenwärtige erfährt. Rechtsanwalt Stensgard, der Typus des flotten und geistreichen Gesellschaftsmenschen, ein Streber, der jeden Vorteil behend zu ergreifen weiß, innerlich und von Haus aus ein Plebejer mit dem Bedürfnis nach vornehmem Umgang, – dieser Rechtsanwalt kommt auf seinen Glücksritterfahrten in eine norwegische Kleinstadt, in der Geburtsadel und Geldadel sich den Rang streitig machen. Stensgard gerät zwischen die zwei Feuer und erlebt durch seine dumm-schlaue Wetterfahnenpolitik, die zu innerst in seiner absoluten Gesinnungslosigkeit wurzelt, eine komische Niederlage nach der andern, bis er endlich als brautloser Bräutigam und ungültiger Deputierter den Lohn für seine liebenswürdige Schuftigkeit erntet. Aber diesem Menschen, der wie Kork an der Oberfläche schwimmt, kann das Schicksal nichts anhaben. Er macht doch Karriere. »Passen Sie auf, meine Herren! In zehn bis fünfzehn Jahren sitzt Stensgard im Reichstag oder im Ministerium – vielleicht in beiden zugleich.«

In seiner flüssigen Lustspieltechnik, die allerhand wohlbekannte Bühnenrequisiten und Theaterspäßchen aufnimmt, hat dieses Drama kein eigenes Leben, es entwickelt sich nicht konsequent aus den einmal gegebenen Charakteren und Verhältnissen. Aber in den Nebenfiguren tauchen doch schon ein paar scharf geschnittene Porträts auf, die zur Familie der Ibsen-Charaktere gehören. Vor allem der alte Fuchs Daniel Heire, dem wir später als Stockmanns Schwiegervater im »Volksfeind« wieder begegnen werden. Dieser Prozeßhansl, der offenbar aus dem Leben gegriffen ist, liebt es in seiner verschmitzten Art ein wenig Schicksal zu spielen, und er lacht sich ins Fäustchen, wenn ihm wieder ein Streich gelungen ist.

Erst zehn Jahre später, mit den » Stützen der Gesellschaft« (1877) sind wir im eigentlichen Bereich des Ibsen'schen Dramas. Anfangs überwiegt hier die tendenziöse Anklage gegen die Unwahrheit und Charakterlosigkeit unserer sozialen Verhältnisse, erst sehr allmählich verinnerlicht sich diese Anklage und wird zur Tragik des rein persönlichen Erlebens, allwo der Mensch nicht mehr mit Menschen und Zuständen kämpft, vielmehr mit dem Dämon in der eigenen Brust, mit der Zwiespältigkeit seines Strebens und seiner Ziele. Dementsprechend wächst der Held in diesen ersten Werken allmählich über die Bindungen und Einflüsse seiner Umwelt hinaus, das Milieu, nicht der Hauptcharakter, das soziale Element, nicht das Individuum bildet das Fundament des Dramas. Hingegen wir später das Milieu zurücktreten sehen gegenüber der augenfälligen Genialität des führenden Menschen, auf dessen Namen das Drama getauft wird. Und noch eins drängt sich uns auf, wenn wir die kommende dramatische Entwicklung des Dichters vorausnehmen. Anfangs haben die grobgeschliffenen Seelen das Wort und der rationalistische Geist ist der herrschende, sodaß die feiner gestimmten Menschen uns nur im Halbton von einer höheren und reicheren Welt erzählen, in der sie leben. Aber allmählich gewinnt der unterirdische Dialog, den wir zuerst in »Rosmersholm« gewahren, die Oberhand. Es spricht nicht mehr das Wort, sondern die Mienen, die Stimmung, das intime Erleben …,

Was ist Wahrheit, was ist Lüge? Dieses Problem hat Ibsen unablässig beschäftigt und seine stete Antwort lautet: Die Wahrheit liegt in der Bestimmung und im Charakter des Menschen. Es gibt also keine absolute Wahrheit, die einzige Forderung, die wir an den Menschen stellen können, ist, wahr und treu gegen sich selbst zu sein. Man erkennt, welch tiefer Immoralismus in dieser Anschauung liegt, daß hier ein energischer Kampf gegen alle und jede herrschende Wahrheit besteht, die für das vom Gesellschaftsideal abtrünnige Individuum mit Notwendigkeit eine Lüge bedeutet. Nur muß man sich von vornherein darüber klar werden, daß der Dichter eben in jenen ersten gesellschaftskritischen Dramen irrtümlich ein Prinzip des Individuums auf die Gesellschaft überträgt, die eine Korrektur der »Wahrheit« vornehmen muß, ganz wie sie bestimmte Sittlichkeitsgesetze normiert, um überhaupt den Zusammenschluß verschiedener Naturen möglich zu machen. Der Wahrheitsfanatiker, der jedem seine Meinung sagt, der Misanthrop Molières, er gleicht dem enfant terrible, das in seiner Naivetät die guten Sitten lästert, er gleicht dem radikalen Kulturfeind, der den Schmutz seiner Stiefel an kostbaren Teppichen abwischt. Der Enthusiasmus, den seine Wahrheitstiraden auf der Bühne erregen, kann uns nicht darin irre machen, daß er in seiner sittlichen Unreife und Maßlosigkeit recht eigentlich eine komische Figur ist. Erst im Gregers Werle der »Wildente« hat Ibsen den »Humor der Sache« erfaßt und dargestellt.

In dieser Epoche Ibsens nun erfährt das Wahrheitsproblem überall eine positive Lösung. Konsul Bernick ringt sich aus Schein und Lüge zur Wahrheit durch. In Frau Alvings Seele entwickelt sich ein ähnlicher Kampf. Einer Nora erschließt sich die Erkenntnis, daß ihr bisheriges Dasein nur ein glückhaftes Spiel voll Schein und Lüge, jedoch ohne wahren Lebenswert gewesen ist. Und der Volksfeind endlich gelangt zu der abschließenden Erkenntnis, daß der allein stehende Mann auch der Stärkste ist. In dem augenfälligen Abschlusse liegt das Charakteristische dieser Dramenreihe; das spätere Drama Ibsens spielt weiter, wenn der Vorhang längst gefallen ist …,

In den » Stützen der Gesellschaft« (1877) tritt alles das klar zu Tage. Konsul Bernick ist durch ein Lügengewebe, das er mehr geduldet als erfunden hat, zu Macht und Ansehen gelangt. Als das väterliche Haus vor dem Bankerott stand, benutzt er die verdächtige Flucht seines Freundes, um einen Zahlungsaufschub zu erhalten. Zugleich verrät er die Jugendgeliebte, um durch eine Geldheirat den drohenden Ruin für immer abzuwenden. Das Glück ist ihm günstig, und er steht im Begriff, sein Wirken mit einer großen und entscheidenden Unternehmung zu krönen – da droht die Heimkehr der Geliebten und des Schwagers, der Mitwisser seiner Taten, die hochfliegenden Pläne mit einem Schlage zu vernichten. Bernick steht nun vor der Eventualität, sie unschädlich zu machen oder auf seine bürgerliche Existenz, mit der er völlig verwachsen ist, zu verzichten. Er ist keine schlechte Natur, vielmehr ein energischer Mann, mit der Ahnung und Sehnsucht des Höheren begabt. Es will ihm nicht in den Sinn, daß er sein Ansehen und seinen Besitz opfern müsse, um eine verjährte Schuld wieder gut zu machen. Er atmet auf, als ihn der Zufall von dem einen Mitwisser zu befreien scheint und bleibt taub gegenüber den Mahnungen Lona Hessels, die ihn zum Opfer seiner Lüge überreden will. Erst die Lebensgefahr seines Jungen, der voll Abenteuerlust nach Amerika will, bringt ihn zum selbstlosen Schuldgeständnis. Nun hält er die große Ansprache an seine Freunde und Mitbürger, die sich versammelt haben, um ihm eine große Ehrung zu erweisen, nun bekennt er sich zu dem neuen Evangelium: »Der Geist der Wahrheit und der Geist der Freiheit – das sind die Stützen der Gesellschaft.«

Bernicks Bekenntnis hat nichts Erschütterndes. Wie anders spricht zu uns ein ganz ähnliches Finale in Tolstois »Macht der Finsternis«, wo der Mörder Nikita sich unter dem dämonischen Zwang des Gewissens dem Richter stellt als dem irdischen Vertreter Gottes, dessen Gesetze er in der Nacht seelischer Qualen erkannt hat. Ibsen hat sehr wohl gefühlt, daß man einem Bernick das große Opfer eigentlich nicht zutraut, und er ist deshalb bemüht, Charakter und Persönlichkeit seines Helden gegen Ende des Stückes ständig zu verstärken. Fast ganz zuletzt bekennt Bernick, daß er sich einsam fühle als Herrscher über eine sklavische und kleinliche Gesellschaft, daß nur die Hoffnung auf ein freieres und glücklicheres Dasein, das sein Sohn als Erbe seiner Macht verwirklichen könnte, ihn in seiner Mission, diese verachtete Gesellschaft zu stützen, aufrecht erhalte.

Nur zögernd und leise werden hier die Motive angeschlagen, die späterhin den seelischen Inbegriff der Dichtung Ibsens bilden. Ehe und Vaterschaft werden nur wie im Vorübergehen gestreift. Das Individuum offenbart in seiner klaren Einheitlichkeit noch nicht die ganze Skala von Charakternuancen und seelischen Details, die uns späterhin erschlossen werden. Um so größeren Raum beanspruchen die sozialen und familiären Probleme. Das Verhältnis zwischen Unternehmertum und Arbeitern wird mit sozialistischer Färbung in seiner ganzen Breite aufgerollt, das Philistertum der Kleinstadt, sein Klatsch und Tratsch, seine hohle Religiosität und beschränkte Moral, das alles wird mit breiter Gegenständlichkeit dargestellt. Oft genug sinkt das Drama mit seinen unnötig komplizierten Verhältnissen zum bloßen Intriguenspiel herab, das mehr von Zufall und Erfindung als von den Gefühlen der handelnden Menschen lebt. Gewiß vertritt der um Bernick gruppierte Kreis (Martha, Dina Dorff, Lona Hessel), einen höheren Typus freien Menschentums, als er in der Kleinstadt-Bourgeoisie zu gedeihen pflegt, aber er steht der Anschauungswelt des Philistertums doch noch nahe genug, um sie zu bekämpfen, statt sie gleichgültig zu verachten. Wohl ist die Einheit der Handlung gewahrt, nicht aber die für das moderne Drama weit notwendigere Einheit der Seele, als welche darin besteht, daß die sich begegnenden Menschen auf Grund eines gemeinsamen Gefühlslebens eine unablässige Wechselwirkung auf einander ausüben. Anders gesagt, es wird hier noch viel nach außen hin, ad spectatores, gesprochen. Lona Hessel etwa, das kurzgeschorene, emanzipierte Frauenzimmer, hat die Aufgabe des typischen Raisonneurs übernommen, der den Beifall des Publikums entfesselt, wenn er es der »guten Gesellschaft« ordentlich gibt. –

Alle wahre Kunst hat den Trieb, das, was sie aussprechen will, in die einfachste Form zu kleiden, sie will natürlich werden und wirken. Die Kritik, die wir hier an den »Stützen der Gesellschaft« üben mußten, hat Ibsen an sich selbst vollzogen. » Nora« ( Ein Puppenheim 1879) bedeutet einen ungeheuren Schritt vorwärts in der Vereinfachung und Vertiefung seiner Kunst.

In den »Stützen der Gesellschaft« gewinnt Konsul Bernick erst durch den Verzicht auf seine Scheingröße ein innerliches Verhältnis zu seiner Frau. Erst jetzt lernt er sie richtig »sehen«. Aehnlich findet Hakon, der Kronprätendent, in einer Stunde schwerer Prüfung den Weg zum Herzen seiner Gemahlin. Die eigentliche Keimszene der »Nora« findet sich im »Bund der Jugend«. Hier zeigt ein junges Weib dem Gatten der Familie seine tiefe Empörung, daß man in ihr immer nur ein liebliches Spielzeug zur Lust und Erheiterung gesehen und ihre Seele eben damit geschändet habe: »O, wie habt Ihr mich mißhandelt! Schändlich, – einer wie der andere! Immer sollt' ich nehmen, nie durft' ich geben. Ich bin die Arme unter Euch gewesen. Nie kamt Ihr, irgend ein Opfer von mir zu fordern; ich war nicht gut genug, auch nur das Kleinste mit zu ertragen …, Wie hab' ich nicht gedürstet nach einem Tropfen von Euren Sorgen! Doch, wenn ich bat, so habt Ihr immer nur mit einem leichten Scherz mich abgewiesen. Ihr zogt mich an wie eine Puppe; Ihr spieltet mit mir, wie man mit einem Kinde spielt. Und ich hätte doch mit heller Freude Schweres getragen; ich hatte eine ernste Sehnsucht nach allem, was da stürmt und emporhebt und erhöht. Jetzt bin ich gut genug, jetzt, da Erik nichts anderes mehr hat. Aber ich will nicht der Notbehelf sein. Jetzt will ich nichts von Deinen Sorgen haben! Ich will fort von Dir! Lieber spielen und singen auf der Gasse –! Laßt mich! Laßt mich!«

»Ehe«, sagt Nietzsche, »Ehe, so heiße ich den Willen zu Zweien, das Eine zu schaffen, das mehr ist, als die es schufen. Ehrfurcht vor einander nenne ich Ehe als vor den Wollenden eines solchen Willens.

Dies sei der Sinn und die Wahrheit Deiner Ehe. Aber das, was die Viel-zu-Vielen Ehe nennen, diese Ueberflüssigen, ach wie nenne ich das?

Ach diese Armut der Seele zu Zweien! Ach dieser Schmutz der Seele zu Zweien! Ach dies erbärmliche Behagen zu Zweien!

Ehe nennen sie dies Alles; und sie sagen, ihre Ehen seien im Himmel geschlossen.«

» Eine glückliche Ehe«, das ist das Thema unserer Dichtung. Ein Glück, das auf der gegenseitigen Unkenntnis der Gatten beruht, das somit zerbricht, sobald sie sich wirklich sehen und erkennen. Um den Dichter und die ganze Eigenart seiner Kunst richtig zu erfassen, muß man verstehen, daß im Anbeginn seiner Dramen die Hauptcharaktere tatsächlich andere Menschen sind als in der Lösung des Konflikts. Sie kennen sich selbst so wenig, daß sie am Abschluß ihrer seelischen Wandlung den einstigen Menschen, den sie bisher in der Welt vorgestellt haben, mit Schauder und Staunen betrachten. Unser Charakter ändert sich nicht, wohl aber ändert und entwickelt sich Anschauung und Bewußtsein unseres Charakters.

Helmer und Nora haben eine Liebesehe geschlossen, die in ihrer schattenlosen Heiterkeit scheinbar jedes tragische Vorkommnis ausschließt. Beide Menschen leben in vollkommener Harmonie des Empfindens, beide teilen die Freude, wie sie ehedem ein kurzes Leid gemeinsam getragen haben. Und die einzige Sorge, die Nora hat, behelligt ihren gesunden Lebensmut nicht, ja sie erlebt in ihr die Freude des Opfers, das Bewußtsein einer selbständigen, entscheidenden Tat. Sie hat das Leben ihres Mannes gerettet, indem sie für den Schwerkranken das Geld zu einer Italienreise beschaffte. Freilich, durch ein Verbrechen im bürgerlichen Sinne. Sie hat die Unterschrift ihres Vaters gefälscht. Dieses »Verbrechen« macht ihren Stolz aus, gibt ihr das Gefühl ihr Glück zu verdienen. Nora ist ein Phantasiemensch, der mit der Laune und dem Mutwillen eines Kindes Charakter und Lebensernst verbindet. Sie besitzt eine beim Weibe nicht eben häufige natürliche Sittlichkeit, die sich in taktvoller Ungebundenheit äußert, in der Sicherheit ihres Empfindens, nicht zuletzt in ihrem fast männlichen Verantwortlichkeitsgefühl. Erst als ihr Gläubiger Krogstadt (Günther) ihr Vergehen als Waffe im Kampfe um seine Existenz benutzen will, verwirrt sich ihr Gefühl, und Helmer's Phrasen über die gefährlichen Folgen der Lügenhaftigkeit verstärken diese Verwirrung. Sie hält sich für schlecht, unmoralisch, verdorben. Vor allem für unwürdig, länger Helmers Weib zu sein. Sie zweifelt keinen Augenblick daran, daß der Geliebte im Augenblick der Entdeckung ihre Schuld vollgültig auf sich nehmen wird. Sie will in den Tod gehen, um Helmer dieses selbstverständliche Opfer der Liebe zu ersparen. Sie weiß nichts von bürgerlichen Gesetzen, die den Mann von der Schuld seines Weibes lossprechen. Mit ihrem Todesentschluß beweist sie zum zweiten Male ihren Charakter, denn für diese ganz im Leben wurzelnde Natur ist das Sterben etwas Undenkbares, Ungeheures, Uebermenschliches. Sie setzt alles daran, die entsetzliche Stunde der Entscheidung hinauszuschieben. Und mit einem Male ist diese Stunde da. Betört durch eine salbungsvolle Phrase des Gatten, der das Schicksal herausfordert, um ihr seine ganze Liebe und Treue beweisen zu können, verführt von der Hoffnung auf das Wunderbare, das eben in der opferwilligen, völlig selbstlosen Liebe besteht, liefert sich Nora selbst an's Messer. In ihrer Seele das Idealbild des Mannes, den sie acht Jahre hindurch in Helmer gesehen hat, zweifelt sie nicht an seiner Bereitschaft für ihr Vergehen einzustehen und damit seine bürgerliche Existenz zu vernichten. Sie schickt sich an zum Todesgange. Als Helmer sie zurückruft, um ihr tüchtig in's Gewissen zu reden, da weiß sie bereits den Irrtum ihres Lebens, die Lüge ihrer Ehe. Es fällt ihr wie Schuppen von den Augen, und da ein Faden des Gewebes gerissen ist, löst sich im blitzhaften Wandel der Gedanken und Gefühle das ganze Gespinnst schöner Vorstellungen in nichts auf, und die kalte Grausamkeit der tatsächlichen Welt tritt an seine Stelle. Sie erkennt, welch' ein feiger und kleinlicher Mensch dieser Gatte ist. Daß sein bornierter Egoismus ihn völlig abhängig macht von der Meinung der Gesellschaft und somit keiner ernsthaften Prüfung des Lebens stand hält. Daß er nur ihren Leib begehrt und nie nach dem Besitz ihrer Seele Verlangen getragen hat. Während Helmer durch die Rücksendung des gefährlichen Schuldscheins von aller Angst befreit ist, schwingt das ungeheure Erlebnis in Noras Seele fort. Vergebens steckt Helmer wieder die Miene des verführerischen Liebhabers auf, versucht er von neuem die Rolle des männlichen Beschützers zu spielen, die seine Eitelkeit reizt. Er ahnt so wenig den Gefühlsprozeß, der sich in seinem Weibe vollzieht, daß er ihr vergibt, und diese Verzeihung einer aus reiner Liebe geborenen Tat ertötet in Nora die letzte Spur eines lebendigen Gefühls für ihren Gatten. Sie findet jetzt Kraft und Worte für die große Abrechnung und sagt ihm, daß die Erwartung des Wunderbaren, das nun in ein klägliches Nichts zusammengesunken ist, gleichsam die Melodie ihres Lebens und ihrer Ehe gewesen sei, daß sie ihm nunmehr fremd dem Fremden gegenüberstehe. Und sie verläßt den Mann und ihre Kinder. Ibsen hat Hedwig Niemann-Raabe, die da erklärte, sie würde ihre Kinder nie verlassen, zu Liebe einen versöhnlichen Schluß abgefaßt. Nora sieht ihre Kinder noch einmal und erklärt sich unfähig ihr Heim zu verlassen (Werke VI, Einleitung). Nichts zeigt deutlicher den ganzen Gegensatz von Bühne und Drama, von Komödiantentum und Menschlichkeit. Wer verlangt von Frau Niemann-Raabe, daß sie ihre Kinder verläßt??

Dieser »Abrechnung« verdankt das Drama seinen großen Erfolg. Ich kann mir eine Nora vorstellen, der es widerwärtig ist, noch Worte zu verschwenden, da sie einmal den Abgrund und den Irrtum ihrer Liebe erkannt hat. So geartet sind die Frauen Hebbels, die den ungeheuren Schmerz verletzter Scham tief in der Brust verschließen und in einsamer Erstarrung den Weg der Trennung und des Todes gehen: Eine Judith, eine Mariamne, Rhodope.

Gleichwohl ist »Nora« ein ausgezeichnetes Drama. Es beruht auf der natürlichen Gegensätzlichkeit zweier Charaktere, die ganz leise und ganz allmählich aus der scheinbaren Harmonie der Ehe heraustritt. Nora, deren lebhafte Phantasie so gern mit der Lüge spielt, ist im Grunde ganz Wahrheit, Sittlichkeit, Natur. Helmer, der korrekte Ordnungsmensch, dem jede Unwahrheit verhaßt ist, ganz Lüge, Pharisäertum, Verstellung. Sehr fein verhindert die Nebenhandlung ein allzu rasches Abrollen der psychologischen Entwicklung. Ohne Rank, den feinen taktvollen Freund, wäre Nora längst zur Erkenntnis ihres Irrtums gelangt, denn er füllt in ihrem Seelenleben alles das aus, was die brutaleren Instinkte Helmers leer und unbefriedigt lassen. In Frau Linde und Krogstad (Günther) aber finden sich zwei Menschen zusammen, die Leid und Entsagung vereinen, wie dort eine auf Glück und Lebensgenuß erbaute Ehe zusammenbricht. Bedeutend und modern ist unsere Dichtung, abgesehen von dem ethischen Kern – der Notwendigkeit des gegenseitigen Verantwortlichkeitsgefühls in der Ehe – darum, weil hier ein großes seelisches Erlebnis dazu dient, den ganzen Reichtum der im Alltag verborgenen Gefühlswelt absichtslos zu Tage zu fördern bis sich aus aller Ungewißheit und Wandlung ein neuer freier Mensch heraushebt, ein Mensch, der seinen Willen und seine Bestimmung in sich trägt.

Man hat darüber diskutiert, ob eine Frau wegen eines solchen Geschehnisses, das ja nicht einmal die Oeffentlichkeit beschäftigt, ihr Glück, ihr Heim, ihre Kinder verlassen kann. Ob Nora nicht doch noch sich eines besseren besinnt und zurückkehrt. Natürlich ist diese Auffassung banausenhaft, denn jedes wahre Drama bildet eine Welt für sich und steht und fällt mit der Konsequenz seiner Charaktere, mit der Notwendigkeit seiner Handlung.

Die » Gespenster« (1881) bilden eine Art Ergänzung des »Puppenheims«. Das Philistergeschrei über Noras »unmoralische« Handlung, die die Eheherrschaft des Mannes ernstlich bedrohte, hatte das Gute, den Dichter zur Vertiefung des Problems anzuregen. Er fragt sich, ob die Sklaverei der herrschenden sittlichen Anschauungen, die das Individuum am Rechte der Selbstbestimmung hindern, nicht die Hauptschuld trägt an seinem stumpfen Dahinleben, an jener oberflächlichen Glücklichkeit, die nichts von den Tiefen des Lebens ahnt. Was wird aus einem Weibe und einer Mutter, wie Nora, wenn sie nicht die Kraft hat, ihr innerstes Gefühl in eine rettende Tat umzusetzen? Wenn sie dieses sittliche Gebot versäumt aus Rücksicht auf die Gesellschaft und ihre konventionellen Gesetze? Und seine Antwort: Der Mensch geht zu Grunde, der aus moralischer Feigheit in der Lüge fortlebt, und, kraft des eigentümlichen Zusammenhanges menschlicher Verhältnisse, mit ihm das Geschlecht, das dieser Unsittlichkeit sein Dasein verdankt. So antwortet der Dichter dem Philister, der sich über Noras Freiheitstat entsetzt.

Die »Gespenster« sind das krasseste, rücksichtsloseste Drama Ibsens. Wenn man bereits bei »Nora« das Gefühl hatte, zum ersten Male Menschen zu sehen, die in ihren Impulsen, Nerven, Stimmungen die moderne Empfindungswelt widerspiegeln, so begegnet man jetzt einem Dialog von brutaler Schärfe, der gegen die frühere edel-vornehme Bühnensprache gewaltig absticht. Ja Aehnliches hat das Drama eigentlich auch später nicht wieder gewagt, da der Gegensatz alter und neuer Sittlichkeit allmählich mildere Formen annimmt. Als man anfangs der neunziger Jahre die »Gespenster« in den Spielplan des Deutschen Theaters aufnahm – in einer ganz einzigen Besetzung: von Pöllnitz, Rittner, Reicher, Hermann Müller, Agnes Sorma Frau Alving, Oswald, Manders, Engstrand, Regine. Später spielte Luise Dumont die Frau Alving, Reinhart den Engstrand, Else Lehmann die Regine. – da trafen die scharfen Formeln des Immoralismus auf uns wie Keulenschläge. Etwa wenn man von dem gefallenen Mann sprach, den Eheschacher rücksichtslos verdammte, die Ehe ohne Liebe als unsittlich brandmarkte oder mit Oswald das Recht der Liebe ohne Ehe vertrat. Erst allmälich begriff man das Drama in seiner Totalität als den tragischen Monolog einer großen schwer geprüften Seele, der das Schicksal grausam und unerbittlich alles Teure raubt, weil sie das Gesetz der Liebe, der alles Leben seine Entstehung verdankt, geschmäht hat.

Gerade bei den »Gespenstern« läßt sich die rastlose Geistesarbeit Ibsens, der organische Zusammenschluß älterer Motive zu einem neuen Ganzen interessant verfolgen.

Einmal wird das Nora-Thema wieder aufgenommen. Nora nimmt das Recht auf Persönlichkeit, das bisher nur dem Manne zukam, auch für das Weib in Anspruch, sie kämpft für sich selbst mit dem jugendlichen Egoismus einer Natur, die auf das Leben nicht verzichten will, weil es ihr eine große Enttäuschung bereitet hat. Oswalds Mutter aber hat auf ihr persönliches Lebensglück schon längst verzichtet, sie kämpft als Mutter für ihr einziges Kind, dem sie ein freieres und reineres Leben erschließen will. Gleichwohl spielt in ihrer Erinnerungswelt dieses versunkene eigene Lebensglück noch eine Rolle, und der Pastor, der ihr als Hüter der christlichen Anschauungen entgegentritt, verwirft diesen Lebenstrieb: »Just das ist der rechte Geist des Aufruhrs, das Glück zu fordern hier auf Erden. Was für ein Recht haben wir Menschen auf das Glück? Nein, wir sollen unsere Pflicht tun.«

Das Schicksal Frau Alvings ist bereits in »Nora« vorgebildet. Auch Frau Linde hat sich verkauft, um ihre Familie unterstützen zu können. Ebenso ist Oswalds Schicksal nahe mit dem Ranks verwandt, den die Sünden des Vaters heimsuchen. Für einen Durchschnittsdramatiker ist mit solchen noch unerschöpften Motiven ausreichender Stoff für ein neues Werk geboten. Bei Ibsen taucht eben jetzt ein neues Motiv auf, das dem Ganzen erst Licht und Schatten gibt. Die Ehefrage vermählt sich mit dem Mutterschaftsproblem, das jetzt durchaus in den Vordergrund tritt. Wieder hätte ein normaler Poet Oswald, den unschuldig Leidenden, den Künstler voll Lebenshunger und Schaffenstrieb, der mitten auf seiner Bahn zusammenbricht, zum Helden gemacht. Hier wird es natürlich Frau Alving. Alle anderen Gestalten dienen nur dazu ihre Seelentragödie zu veranschaulichen. Die grenzenlose Tragik der Mutter, die ihren Sohn dahinsiechen sieht, ohne ihm helfen zu können, ja im Gefühl einer Mitverschuldung schließlich morden wird, was ihr das Liebste und Einzige auf Erden ist, sie ist zehnmal stärker in ihrer lautlosen Qual als die langsam ausbrechende Geisteskrankheit Oswalds, die eine überschäumende Jugendkraft vernichtet. Wie ein Mensch um so stärker von jedem neuem Erleben ergriffen wird, je mehr seelische Prozesse er vordem durchgemacht hat.

Ein anderer Irrtum, der zu einer ganz falschen Auffassung des Werkes führen muß, besteht darin, die Dichtung als ein Drama der Vererbung anzusehen. Gewiß hat die damals neuartige Theorie mit auf die Gestaltung eingewirkt, aber sie verstärkte nur die natürliche geistige Tendenz des Dichters, jede Erscheinung auf ihre Ursache hin zu prüfen, sie bis in die Wurzel ihrer Entstehung zu verfolgen und ihr somit den Charakter des Zufälligen und Gegenstandlosen zu nehmen. Philosophie und Dichtung sind darauf aus, Menschen und Zustände in ihrer gesetzlichen Bestimmung aus Charakter, Geschlecht und Abstammung zu erfassen, um sie so in Zusammenhang mit dem Weltganzen zu bringen. Bereits lange vorher (in »Brand«, »Peer Gynt«, »Nora«) spielt das Moment der Vererbung eine große Rolle bis es sich schließlich in der »Frau vom Meere« zur unabsichtlichen Karikatur auswächst. Gerade in den »Gespenstern« wird die physische Vererbung deshalb so stark betont, weil sie nur den materiellen Gegenwert der geistigen Erbschaft bildet, die nach der Anschauung des Dichters dem selbständigen Denken des modernen Menschen hemmend in den Weg tritt und somit eine wahrhafte Erneuerung des Geschlechtes im Kampfe gegen die blasse Welt verbrauchter Ideale verhindert: »Ich glaube fast, wir alle sind Gespenster. Nicht nur, was wir von Vater und Mutter geerbt haben, geht in uns um. Es sind alle erdenklichen alten toten Ansichten und allerhand toter Glaube u. s. w. Es lebt nicht in uns; aber sitzt trotzdem in uns, und wir können es nicht los werden. Es müssen im ganzen Lande Gespenster leben. Sie müssen so zahlreich sein, glaub' ich, wie Sand am Meer. Und dann sind wir alle so gottesjämmerlich lichtscheu, einer wie der andere.«

Wieder ist dieser Kampf gegen den Historizismus, gegen den blinden Glauben an das Ueberlieferte, ein gemeinsamer Zug des Zeitgeistes, der diese Dichtung mit entstehen ließ. Es gibt Generationen, die den Gegensatz zwischen Vätern und Söhnen, zwischen alter und neuer Zeit, besonders stark empfinden und diesen Gefühlen in Taten und Worten Ausdruck verleihen. Eine derartige revolutionäre Stimmung erfüllte die achtziger Jahre des verflossenen Jahrhunderts. Gleichzeitig aber liegt dieser stürmische Ausbruch lange unterdrückter Gefühle im Charakter und im Temperament der Heldin, in der vergangenes Leiden und neue Seelenqual sich zu einer furchtbaren Anklage gegen den Gott, der Solches geschehen läßt, zusammenballt. Im Gegensatz zu der Weiblichkeit Noras ist Frau Alving ein stark männlicher Charakter, energisch, unerschütterlich, ein Mensch, der mit jedem tragischen Erlebnis innerlich wächst. Ihrem Liebestrieb entsagend, der sie zu Pastor Manders hinzog, heiratet sie der Familie zu Gefallen den reichen, schönen, weltgewandten Kammerherrn, wird in der Gemeinschaft dieses Wüstlings bald zur verzweifelten Flucht gedrängt, kehrt aber auf die Mahnung des Priesters zurück zur Ordnung und Sitte. Als sie Mutter wird, flammt ihre fast erloschene Willenskraft von neuem auf. Sie reißt die Herrschaft an sich, nachdem ihr der Mann durch die Verführung der Zofe, der Mutter Regines, einen Trumpf in die Hände gespielt hat. Ihre einzige Lebensaufgabe ist nunmehr das Glück ihres Kindes. Aber auch Oswald erliegt dem Fluch der Lüge, in die ihr Leben unrettbar verstrickt ist. Vergebens sucht sie das Andenken des Vaters in seiner Seele zu retten. Kammerherr Alvings Asyl geht durch die boshafte Unvorsichtigkeit des trunksüchtigen Tischlers in Flammen auf, und mit ihm versinkt Name und Geschlecht jenes Ehrenmannes, an den Frau Alving ihr Leben verspielt hat.

Gegenüber der überragenden Gestalt Helene Alvings treten alle anderen Charaktere stark zurück. Nichts ist falscher als den begabten Oswald zu einem Genie zu stempeln. Er ist ein hübsches, gewecktes Muttersöhnchen, das erst allmählich durch die Tragik seines Geschicks eine passive Größe gewinnt. Ein feiner Zug, daß in seiner Künstlernatur, der Sinnentrieb, der ihn zu der frischen, kernigen Regine drängt, länger anhält als sein geistiges Leben, das längst von den Vorboten des Wahnsinns überschattet ist. Ebenso ist der Ausbruch seiner Krankheit ausgezeichnet durch den Brand des Asyls motiviert. Die Glut der Flammen verwandelt sich in seinem kranken Hirn zu der Wahnvorstellung des großen leuchtenden Sonnenballs, und über diesem letzten Schönheitsbild versinkt er in die Nacht des Wahnsinns.

Frau Alving und Oswald sind die Idealisten des Dramas. Fordernd treten sie an das Leben heran, das ihre Ideale Zug um Zug in Stücke reißt. In Regine und Engstrand aber verkörpert sich die naive Gewissenlosigkeit, die ohne den Ballast sittlicher Gesetze und ethischer Ideale frisch auf das Leben losgeht, um mit schlauer Gier und verschmitzter Berechnung jede Gunst der Stunde auszubeuten. Der dreiste und gottesfürchtige Tischler und die gerissene Dirne, deren versteckte Gemeinheit erst ganz zuletzt zum Durchbruch kommt, sind zwei wundervoll gezeichnete Typen. Zwischen diesen beiden Weltkindern der kindlich-einfältige Mann Gottes in der Mitten, nach Ibsenart ein wenig stärker karikiert als es not tat.

Ganz grau in grau gemalt läßt dieses Drama keinen Lichtblick offen, nichts was befreiend und erhebend über die Tragik des Geschehens hinausweist. Die Grundstimmung ist wundervoll getroffen. Man hat das Gefühl daß von der Atmosphäre des Dramas eine zwingende Gewalt ausgeht, die jeden Widerstand vergeblich macht. So sind die Worte Oswalds zu verstehen, wenn er meint, sein Künstlertum, das immer wieder um die Darstellung der Lebensfreude kreist, könnte hier ins Häßliche und Unsittliche ausarten. Späterhin, in »Rosmersholm«, gewahren wir diese aktiven Kräfte des Milieus, das die Menschen in seinen Bann zwingt, in noch höherem Maße. Nicht nur die Menschen handeln und empfinden, auch die scheinbar toten Dinge strömen Leben aus.

Trotz seiner außerordentlichen Modernität laufen Fäden herüber und hinüber zur Antike. Hier wie da sind es Menschen, die ihr vorbestimmtes Schicksal erfüllen, indem sie sich seinen Schlingen und Fallen zu entringen suchen. Stärker noch kommt das plastische Moment zum Ausdruck. Erinnert nicht die Heldin an jene Mutter Gottes des Michelangelo, die mit erstarrten Sinnen und doch heroisch-unbezwungen den toten Sohn auf dem Schooße hält?

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Inzwischen war in der Entwicklung des Dichters ein seelischer Prozeß, dessen Keime in dem »Bund der Jugend« und den »Stützen der Gesellschaft« liegen, zur Reife gekommen. Indem er Dramen wie »Nora« und die »Gespenster« schuf, die soziale Probleme in einer durchaus individuellen Beleuchtung als persönliches Erlebnis der handelnden Menschen darstellten, war er bereits durch den geistigen Rückschlag, den alles Geschaffene auf den Schaffenden ausübt, von gewissen Wahrheiten und Idealen losgekommen, die auf einem starken Gemeinschaftsgefühl beruhen. »Der Geist der Wahrheit und der Geist der Freiheit – das sind die Stützen der Gesellschaft!« so hatte Lona Hessel gesprochen. Und der » Volksfeind« gibt nunmehr die Antwort auf diese »Wahrheit«. Er zeigt, daß die Masse nur das Maß von Wahrheit will, das ihr ökonomisch zuträglich ist; daß sie jeden kreuzigt und verbannt, der die Wahrheit um ihrer selbst willen, ohne Rücksicht auf die lokalen Verhältnisse, liebt und verficht. Am Schlusse des »Volksfeinds« lesen wir als neue »Wahrheit«: Der ist der stärkste Mann der Welt, der allein steht. Und wieder nimmt »Rosmersholm« diesen Satz auf, um sein Gegenteil zu beweisen.

Im Begriff einen früheren Fehler der städtischen Verwaltung aufzudecken, stößt der Badearzt Dr. Stockmann auf den immer wachsenden Widerstand aller beteiligten Faktoren, denen der Bruder des Helden als Stadtoberhaupt den schweren materiellen Schaden, den die Aufdeckung der Wahrheit im Gefolge haben muß, klar vor Augen führt. Stockmann selbst gewinnt aus seinem Kampfe das Bewußtsein, daß es dem Idealismus des Spießertums, das Wahrheit, Freiheit und Recht auf seine Fahne geschrieben hat, doch nur darum zu tun ist, die große Masse mit einer billigen Phrasenwelt zu ködern. Er reift ferner zu der Erkenntnis, daß die Rücksicht auf die Masse jede freie Entwicklung des Individuums, welches im Gegensatz zur Menge allein Werte schafft, unterbindet. Die Mehrheit ist niemals im Besitz der Wahrheit, denn sie schaart sich nur um abgelebte und verdorrte Erkenntnisse, über die die kulturelle Entwicklung längst hinausgegangen ist. Eine grobe Lüge ist die »anerkannte Wahrheit«, die der demokratische Liberalismus mit soviel Emphase im Brustton der Ueberzeugung zu Markte trägt, die Lehre nämlich, »daß die niederen Massen, der Haufe, die Masse, daß die der Kern des Volkes, daß sie das Volk selbst seien, daß der gemeine Mann, daß die Unwissenden und Unfertigen in der Gesellschaft dasselbe Recht haben, zu verdammen und anzuerkennen, zu regieren und zu beschließen, wie die kleine Zahl der geistig vornehmen Persönlichkeiten.« Und er kommt zu der Erkenntnis, die in der neuen Zeit von dem Individualismus eines Goethe, Hebbel, Emerson, Nietzsche ungleich schärfer und entschiedener ausgesprochen wurde: »Die große Masse ist nur der Rohstoff, aus dem das Volk Menschen machen soll.« Aus der großen Rede Stockmanns, die nebenbei außerordentlich bühnenwirksam ist, spricht der aristokratische Individualismus eines lebenskräftigen Mannes, der trotz aller bitteren Erfahrungen an dem schließlichen Triumphe seines Strebens nicht verzweifelt.

» Der Volksfeind« (1882) ist eine politische Komödie ziemlich groben Kalibers, nicht mehr noch weniger. Hübsche ironische Lichter sind aufgesetzt. So, wenn die Weisheit des allgemeinen Wahlrechts durch den Betrunkenen illustriert wird, der schließlich die einzige Anhängerschaft des »Volksfeindes« bildet. Oder wenn Stockmann sagt: »Man soll nie seine besten Hosen anziehen, wenn man hingeht und für Wahrheit und Freiheit ficht.« Ebenso birgt sich in der Schilderung journalistischer Zustände, in jener überaus richtigen Charakteristik der »unabhängigen Presse«, die so lange für Wahrheit und Recht eintritt wie der Abonnent es gestattet, sehr viel Erlebtes und Gutgesehenes. Das alles hilft nicht darüber hinweg, daß das Seelische und Problematische in diesem rationalistischen Drama zu kurz kommt. Es atmet den Geist Björnsons, der vielleicht das lebende Urbild des Volksfeindes ist Die häufige Zusammenstellung Björnson und Ibsen ist absolut ungerechtfertigt. Sie haben nicht mehr Gemeinsames als daß sie beide Dramatiker und berühmt sind. Björnson mit Ibsen vergleichen wollen, weil er gleichfalls gesellschaftskritische Dramen (»Ein Fallissement«, »Der Handschuh«, »Das neue System«) geschrieben hat, ist ein vollkommener Nonsens und ein Beweis von unglaublicher Kritiklosigkeit. Björnsons Bedeutung ist national, sie liegt in seiner hinreißenden, kraftgenialen Persönlichkeit, die Ibsens in seiner Kunst., läßt aber von Ibsen selbst wenig verspüren. Die Bedeutung des Ibsen'schen Dramas beruht in der zwingenden Darstellung seelischen Erlebens. Das fehlt hier ganz. Der Fall Stockmann ist überdies seiner ganzen Natur nach tragisch, und seine glückhafte Umbiegung höchst willkürlich. Es ist die Tragödie eines Menschen, der seine Ideale durch das Leben beschmutzt sieht, der durch den Abfall seiner Freunde und Genossen allmählich erkennt, daß es nur eine wahre Vornehmheit und Freiheit gibt, die, welche der Charakter in sich selbst hegt und trägt. Ibsen hat diese Tragödie ein paar Jahre hernach geschaffen, in »Rosmersholm«.

Dazwischen aber liegt ein merkwürdiges, zerrissenes, halb widerwärtiges, halb anziehendes Drama von fast grotesker Häßlichkeit. Wenn vorher der Idealismus die führende Rolle einnimmt und die grobe Wirklichkeit nur durch eine Nebenhandlung vertreten wird, so geschieht nunmehr das Umgekehrte. Die Lüge des Lebens erfährt eine scharfe karikaturistische Verzerrung, und seine Reinheit flüchtet sich in die Seele eines Kindes, das in den Tod geht, als es von dem Schmutz des Daseins berührt wird.

» Die Wildente« (1884) ist das Produkt einer schweren seelischen Verstimmung, darin dem »Timon« Shakespeares verwandt. Allein geeignet, das Märchen von dem Dichter, der sich für seinen Stoff und seine Menschen liebend begeistert, auf immer zu zerstören. Es gibt auch eine Begeisterung, die ihre Wurzeln im Hasse hat und in der Zerstörungslust. Es gibt eine Aktivität, die aus Melancholie und Ueberdruß hervorgeht. Sie stellt sich ein, wenn das, was wir angebetet haben, von einer grausam-zwingenden Erkenntnis zerfetzt im Staube liegt, wenn Ideale gefallen sind und neue Lebenswerte aus trostloser Nüchternheit noch nicht geboren sind.

Mehr als irgend ein anderes Werk Ibsens ist die »Wildente« im Zusammenhang mit seinen übrigen Schöpfungen zu betrachten. Es geht nicht an, die Lebensanschauung des Dichters mit der des Arztes Relling zu identifizieren, der die berühmten, für das Verständnis Ibsens verhängnisvollen Worte äußert: »Gebrauchen Sie doch nicht das Fremdwort Ideale. Wir haben ja das gute nationale Wort Lügen.« Noch immer kämpft Ibsen gegen den abstrakten Idealismus, gegen jedes Ideal, das nicht unmittelbar im Lebenstrieb und in der natürlichen Bestimmung des Individuums wurzelt. Nur der hat das Recht Ideale zu haben, der die Kraft und den Willen hat, sie zu erfüllen, zu erleben. Die große Mehrzahl der Idealisten aber besteht nach seiner Meinung aus Quacksalbern, die eine Panacee zur Heilung aller Schäden erfunden haben und nun mit diesem Wundermittel die ganze Welt kurieren, statt ihre ideale Erfindung auf den eigenen Gebrauch zu beschränken. Wahrheit ist ein Gift für jeden, der nach der Lüge begehrt, weil er nur in einer Welt des Scheines und des Selbstbetruges leben kann. Für den Durchschnittsmenschen ist die Selbsterkenntnis aber deshalb so verhängnisvoll, weil sein Dasein ja, wie Schopenhauer glänzend ausführt (»Von dem, was Einer ist« u. s. w.) zuerst und vor allem auf der Meinung seiner Umgebung beruht und sein ganzes Streben instinktiv darauf gerichtet ist, sich Verhältnisse, Beziehungen, Urteile zu schaffen, die geeignet sind, seinen Ruf und seine Bedeutung in den Augen der Welt zu erhöhen, hingegen der Individualist, der wirklich zur Erkenntnis seiner Lebensaufgabe reift, alles von sich abstößt, was seinem Wesen fremd ist. » Wer ist denn überhaupt fähig wahr zu sein?« das ist das alte und immer neu gewandelte Thema Ibsens, das hier eine scharf karikaturistische Darstellung erfährt, in der jede Gestalt, jedes Gefühl, jeder Gedanke in der Verzerrung eines Hohlspiegels erscheint. Dieses Drama hat kein anderes Ideal als das gemeine Gesetz der Lebenserhaltung. Keine anderen Helden als die Menschen wie sie sind.

Gregers Werle, ein durch Anlage und störrische Selbstbildung verschrobener Kopf, kehrt aus der Einsamkeit des Hochgebirges zurück zur lebendigen Welt um die »ideale Forderung« die der sonderbare Heilige im dunklen Drange gehegt und gepflegt hat, zu erfüllen. Worin diese ideale Forderung besteht, weiß der hoffnungsvolle Phantast und Schwärmer, der einem Irrlicht nachtanzt, selbst nicht. Er fühlt sich befreit, als er den Gedanken faßt, seinen Jugendfreund Hjalmar Ekdal aus der Lüge und Unsittlichkeit seiner Verhältnisse zu erlösen. Ist der häßliche, in elender Kindheit aufgezogene Gregers, der niemals das Glück der Liebe erfahren hat, ein Stiefkind der Natur, ein Feind der Gesellschaft, deren leichte Lebensfähigkeit ihn erbittert, so hat Hjalmar das Leben von Jugend auf tüchtig genossen, hübsch, liebenswürdig, bezaubernd, oberflächlich, hat er als geschickter Komödiant früh von seinem Vater das Talent geerbt, in der Gesellschaft und bei seinen Freunden als ein Genie zu gelten, und er hat seither das Bewußtsein dieser Genialität nicht verloren. Hjalmar ist wieder der Typus des charakterlosen Menschen, dessen Bedeutung einzig in seiner Vorstellung und in der Meinung der Welt wurzelt. Der Ruin und die Schande seines Vaters stürzen ihn zu Boden, aber mit Hilfe des väterlichen Freundes richtet er sich wieder auf. Er wird verheiratet, erhält eine sogenannte Beschäftigung, und ein befreundeter Arzt sorgt überdies für seine idealen Bedürfnisse, indem er ihm eine »Lebensaufgabe« suggeriert: seine Erfindung. Hjalmar ist eine durchaus spielerische, komödienhafte Natur ohne Lebensernst, ohne sittliche Energie. Er deklamiert, er berauscht sich an seinen eigenen Phrasen, er liebt die theatralische Gruppe, kurz alles, was auf den Zuschauer Eindruck macht und geschaffen ist ihn in den Augen der Mitmenschen zu erhöhen. Die Pose, mit der er jede Gefühlsentladung begleitet, ist ihm durchaus zur zweiten Natur geworden, wie er im Reiche der Gedanken und Empfindungen sich alles aneignet, was die Vorstellung von seinem »Charakter«, von seinem »Geist«, seinem »Streben« in der Umwelt erhöhen muß. Unleugbar wirkt Hjalmar in seiner hohlen Affektiertheit als Karikatur. Er wirkt unwahr, weil er mit übertriebener Wahrheit gezeichnet ist, und für seinen Darsteller ergibt sich die notwendige Aufgabe sein effekthaschendes Komödiantentum nach Möglichkeit zu mildern, seine Pose als Natur erscheinen zu lassen. Gleichwohl ist dieser Typus aus dem Leben gegriffen, wie kaum ein zweiter Charakter Ibsens. Wir alle sind ihm mehr oder minder wesensverwandt. Wir alle tragen die Züge Hjalmar Ekdals in uns.

Hjalmar ist glücklich in dem Milieu, das der kluge Großhändler für ihn geschaffen hat, weil ein so gänzlich unpersönlicher Mensch aus Mangel an jeder wahren Empfindung niemals von den Konflikten und der eingeborenen Tragik des Lebens heimgesucht wird. Er hat sein gemütliches Heim, einen Beruf, den seine Frau ausfüllt, einen Vater, den er bemitleiden kann, ein Kind, das gleich der Mutter zu ihm aufschaut. Er hat seine »Erfindung«, die seinen Idealismus befriedigt, und er hat die »Wildente« die ein Stück Romantik in die einfache Alltäglichkeit seines Hauses trägt.

Und in dieses Milieu platzt der Jugendfreund mit seiner »idealen Forderung«. Er hat irgendwo gelesen, daß die wahre Ehe nur auf vollem Vertrauen gegründet ist, auf unbedingter gegenseitiger Offenheit; jedes lügenhafte Verhältnis, in dem er seine Mitmenschen antrifft, kränkt sein akutes Rechtschaffenheitsfieber, verletzt sein idealistisches Gewissen. Von großen Menschheitsideen trunken, hat er etwas vom messianischen Glauben in sich, und so will er seinen Freund aus unwürdigen Verhältnissen in das reinere und höhere Dasein seiner Träume führen. Es ist kein Wunder, daß sein guter Wille immer das Böse schafft und schließlich ein junges Menschenkind, das mit tieferer Empfindung als seine Umwelt begabt ist, in den Tod treibt. Gregers nämlich sieht Menschen und Zustände niemals wie sie sind, sondern immer wie er sie sich vorstellt, und so wählt dieser Seelenarzt immer die denkbar verkehrtesten Mittel. Natürlich entspringt seine Wirksamkeit im letzten Grunde einem dunklen egoistischen Trieb. Er muß an etwas glauben. Er will sein krankes Gewissen, das sich von der grausamen Unsittlichkeit des Lebens erdrückt fühlt, stärken und befreien durch das erhabene Bildnis eines großen Opferfestes, mit dem die wahre Ehe Hjalmar Ekdals anheben soll. Auch er will, daß das Wunderbare, das er immer nur erhofft und erträumt hat, endlich einmal in Erfüllung gehe. Zugleich ist die Bekehrung Ekdals der große Trumpf, den der Haß des Idealisten gegen die nüchtern-praktische Denkweise seines Vaters, des Großhändlers Werle, ausspielt.

Worin besteht nun das Unrecht dieses Schwärmers? In seinem grenzenlosen Wahrheitsfanatismus, der verkennt, daß die Lebenslüge ein viel stärkeres stimulierendes Prinzip ist, als die Wahrheit, die nur die wenigsten ertragen können. Es ist falsch, den Menschen ihre wahre Lage vor Augen zu führen, wenn sie aus dem schöneren Schein, der ihr eigentliches Sein umgibt, ihren Lebenstrieb befriedigen. Die schwerste Sünde und die eigentliche Gefahr des Individualismus besteht in seinem Drange die krummen Dinge gerade zu biegen, statt zu erkennen, daß sie ihrer Natur nach krumm sind. Jeder menschliche Zustand wie jeder Charakter trägt in sich den sittlichen Standpunkt, von dem aus er begriffen sein will …,

Die Wildente ist der Schicksalsgenosse der Familie Hjalmar Ekdals. Sie hat einen Schuß erhalten, der ihr die Flügel lähmt, ohne sie ganz ihres Lebens zu berauben. Und so sind auch die Ekdals aus der Tiefe wieder emporgetaucht an die Oberfläche des Lebens, Ueberfahrene, die sich nie wieder ganz aufrichten können, die aber Ersatz finden in einer Welt versunkener oder kommender Größe. Nur ein Mensch kann den Weg zu dieser bequemen und erhaltenden Lüge nicht finden, weil in der plötzlichen Erkenntnis der wahren Weltzustände sein Lebenstrieb gebrochen wird: Hedwig Ekdal. Die hingebende seelenvolle Natur dieses frühentwickelten Kindes ist in seiner verhaltenen Innigkeit und seinem tiefen Eigenleben wundervoll gezeichnet. Hedwig ist ein Fremdling in dieser Umwelt, ein Stück Reinheit unter sittlich angefaulten Menschen. Während die beiden Ekdals, Vater und Sohn, nicht den Mut finden, einem verpfuschten Leben zu entsagen, kann dieses Kind den verhängnisvollen Bruch seines Daseins nicht überleben. Und so richtete es eben jene Pistole, die bereits eine Rolle in der Familie Ekdal gespielt hat, mit einer plötzlichen Willensänderung nicht auf die Wildente, sondern gegen sich selbst. Der Selbstmord Hedwigs ist die befreiende Tat im Sinne der Ibsen'schen Lebensanschauung, die die freie Wahl des Todes dem gebietet, dem die sittlichen Bedingungen des Weiterlebens abgeschnitten sind. Und dieser Tod wirkt um so tragischer als er in der völligen Zerstörung des Gefühlslebens, nicht etwa in der reifen männlichen Erkenntnis wurzelt. Gregers Werle ist auch jetzt noch nicht von seiner Schwärmerei bekehrt. Mit zähem Trotz hält er an dem Glauben fest, daß diese Tat ein Opfer bedeutet, das sich für die sittliche Gesundung der Ehe Ekdals als segensreich erweisen wird, und der schonungslose Cynismus Rellings, der ganz richtig prophezeit, dieses »Opfer« werde nur ein neues fruchtbares Deklamationsthema für den Vater und Komödianten bilden, vermag ihm nicht die Augen zu öffnen …,

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Fast in jedem Drama Ibsens findet sich eine Szene, die eigentümlich aus dem Gesamtton der Dichtung herausfällt und gleichzeitig den Grundakkord für eine spätere Schöpfung anschlägt. Hier ist es das bedeutsame Gespräch zwischen Gregers Werle und Hedwig Ekdal, in dem wir die Untertöne eines zweiten Dialogs, der neben den materiellen Worten einherläuft, gewahr werden. Hier also offenbart sich schon die Kunstart, die in »Rosmersholm« und den späteren Dramen mehr und mehr zum Durchbruch kommt. Fortan umwebt seine Menschen ein geheimnisvolles, unerklärliches Etwas das ihre Seelen durchleuchtet; sie sind von einem träumerisch-unbewußten, fast hypnotischen Zustand beherrscht, der sie zur Aussprache und zum Geständnis zwingt. Es ist nur ein grobes Wort, wenn wir diese eigentümliche Stimmung als Mystik bezeichnen. Zwei Menschen suchen Unfaßbares, das sie als die eigentliche Dominante ihres Wesens verspüren, in Worte zu kleiden, aber zugleich fühlen sie in drängender Ungewißheit den Selbstbetrug des Wortes, das unfähig ist ein treues Bild der unaufhörlich veränderten Stimmung zu geben.

In » Rosmersholm« (1886) tritt nun das Seelische ganz in den Vordergrund gegenüber einer richtigen äußeren Handlung. Man lese einmal die erste Szene und dann sofort den Schlußakkord, um zu erfahren, wie unwirklich und romantisch diese Welt des »realistischen Dichters« ist. Als ob Geister aus nebligen Lüften aufstiegen, sich zu Menschen verdichteten, um sich dann langsam, langsam wieder in Nichts aufzulösen. Die eigentliche Handlung ist von der ersten und letzten Szene wie von einem Rahmen umgeben, der diese Traumwelt isoliert. Wir hören, daß auf Rosmersholm die Toten lange an den Lebenden hängen, und am Ende kommt wirklich das weiße Roß über den einsamen Hochsitz. Man glaubt zu sehen wie eine Tote die Knochenhand hervorstreckt und zwei Menschen ins Grab zieht.

Der Dichter sah ursprünglich eine plastische Gruppe: Zwei Menschen, die auf einem Stege stehend, im Begriffe sind ihr Leben zu beschließen. Aus ihren Augen leuchtet die stille Ruhe eines beendeten schweren Kampfes, und in ihren Mienen ist eine triumphierende Sicherheit, ein Gefühl von Kraft und Freiheit. Und der Dichter fragt sich, was in diesen Menschen vorgegangen ist und erzählt ihre Geschichte.

Rosmersholm ist der einsame Hochsitz einer seit Jahrhunderten im Lande ansässigen Familie, deren Erleben dem Hause eine ganz bestimmte seelische Physiognomie aufgeprägt hat. Die Atmosphäre, die dieses Heim erfüllt, strahlt eine Welt von Gefühlen und Gedanken, eine Lebensanschauung aus, von der das einzelne Individuum sich nicht loslösen kann ohne den Eigenheitstrieb mit seinem Leben zu büßen. Der Bewohner ist durchaus der Erbe der moralischen Welt, die in diesen Räumen heimisch ist. »Die Rosmers auf Rosmersholm, – Priester und Offiziere, Beamte in hohen, verantwortungsvollen Stellungen, korrekte Ehrenmänner, einer wie der andere, – ein Geschlecht, das nun schon bald ein paar hundert Jahre hier als das erste im Bezirk ansässig ist.« Von seinen Ahnen übernimmt jedes Mitglied dieser Familie die Pflicht getreu ihren Traditionen zu leben, den Ehrenschild ihres Namens rein und unantastbar zu halten. »Rosmersholm ist seit undenklichen Zeiten so etwas wie ein Wohnsitz der Zucht und Ordnung gewesen, der ehrerbietigen Achtung vor dem, was die Besten unserer Gesellschaft vertreten und verfochten haben. Die ganze Gegend hat ihr Gepräge von Rosmersholm erhalten«.

Rosmer, der letzte Abkömmling seines Stammes, hat versucht sich von diesen Banden der Tradition zu befreien. Er hat sein Priesteramt aufgegeben, da er die ersten Regungen einer freieren Lebensanschauung in sich verspürte. Der geistige Wandel in diesem kindhaften, weltunkundigen, stillen und ernsten Menschen ist bisher nicht an die Außenwelt gedrungen, von der er sich nach Aufgabe seines Amtes mehr und mehr abgeschlossen hat. Erst das gemeinsame Leben mit Rebekka hat ihm den seiner Natur eigentlich fremden Trieb nach Aktivität eingeimpft, den Drang, den eigenen geistigen Besitz der Welt mitzuteilen. Er will die Menschen zu Adelsnaturen machen, indem er die Geister befreit und den Willen läutert. Er will ihnen das Bewußtsein eigener Kraft einflößen, und so sollen sie auf verschiedenen Wegen dem gemeinsamen Ideal freier Menschlichkeit entgegen streben. Rosmer ist ganz von dem naiven Glauben an den ursprünglichen Adel der Menschheit erfüllt, und es ist gerade diese Unerfahrenheit und Keuschheit, die ihm etwas Priesterlich-Hohes verleiht. Aber diese selbe geistige und seelische Vornehmheit läßt ihn in seiner Lebensaufgabe scheitern. Sie verbietet ihm das zielbewußte, schonungslose Handeln, das allein auf den Instinkt der Masse Wirkung ausübt. Wohl ist sein Blick ins Weite und Hohe gerichtet, aber sein Zartgefühl macht ihn ungeheuer empfindlich gegen die rücksichtslose Kampfesweise seiner Gegner, die auch das Heiligste beschmutzen, wenn es sich um den Sieg ihrer Sache handelt.

Aber es sind noch persönlichere Gründe, die Rosmer seine »Lebensaufgabe« als einen Irrtum erkennen lassen. Er hat sein Läuterungswerk begonnen an einem Menschen, mit dem er seit langem in geistiger Ehe lebt. An Rebekka West. Er hat ihre rohe Sinnlichkeit, ihr wildes Begehren, das den Tod seines Weibes verschuldete, geadelt und in jene reinere Sphäre erhoben, der er selbst entstammt. In Rosmer und Rebekka West begegnen sich zwei Rassen, zugleich der Mann und das Weib im Kampf der Geschlechter. Das Weib, in seiner ursprünglichen, rein sinnlichen Veranlagung, mit seinen kraftstrotzenden Instinkten, von der Gier nach Paarung gejagt. Der Mann, ein Produkt der Kultur, der Abstammung, der Selbstzucht, ein Wesen in dem das Sinnenelement sich untrennbar mit dem Geistesleben verbunden hat. In diesem Kampf siegt das höhere männliche Prinzip, aber es büßt den Sieg mit seinem notwendigen Untergang. Es gelingt ihm, das ewig Weibliche zu adeln, aber dieser seelische Prozeß zerbricht zugleich die Naturkraft des Weibes, das seine Art nicht verleugnen kann ohne damit sich selbst aufzugeben. Zugleich aber fühlt der Mann, daß sich die Schuld seines Weibes nach dem unverrückbaren Gesetz der Ehe, die nur einen Menschen kennt, auf ihn überträgt, daß er die freiwillige Sühne der Gattin teilen muß. Hier also taucht das Noraproblem von neuem auf. Hier verwirklicht sich die ideale Ehe, die nur gemeinschaftliches Leben und einmütigen Tod kennt. Hier geschieht das Wunderbare. Es ist für des Dichters Lebensanschauung bezeichnend, daß sich die ideale Vermählung zweier Menschen, die von der Wahrheit eines sittlichen Gesetzes durchdrungen sind, nur im Tode, nicht im Leben vollzieht. Die Erdenschwere des Daseins gestattet dem Menschen nicht, der Freiheit seiner Gesetze und seiner Bestimmung nachzuleben.

»Die Lebensanschauung der Rosmer adelt, aber sie tötet das Glück«, ruft Rebekka aus in dem dumpfen Gefühl, daß sie den Gewinn seelischen Adels, der ihr aus der Ehe mit Rosmer erwächst, nach dem Gesetze der Ausgleichung, mit dem Verlust ihrer Lebenskraft bezahlen muß. Und diese Erkenntnis macht Rosmer irre an dem Glauben an seine Mission. Wie kann er hoffen, die ganze Menschheit zu adeln, wenn sein Erziehungswerk die Seele des eigenen Weibes vernichtet!

»Rosmersholm« ist zugleich ein politisches Drama, dessen Szenen sich im wesentlichen um Rosmer und Kroll gruppieren. Der Rektor ist Rosmers Jugendfreund. Er macht uns mit seinem starren Dogmatismus, mit seinem entschiedenen Glauben an die Ideale einer versinkenden Zeit, die den Individualismus der neuen Generation als unsittlich bekämpft, mit der früheren Lebensanschauung des Helden vertraut und läßt uns die ganze Summe der Wandlung und Entwicklung, die Rosmer durch die Liebe eines wahlverwandten Weibes erfahren hat, unmittelbar begreifen. Kroll ist keine unsympathische Figur. Je mehr sich Ibsen in den Menschen seines Geistes von dem realen Boden entfernt, um so stärker ist er darauf bedacht, abseits dieser Ideale, das tatsächliche Leben in seinen Kämpfen und Strebungen abzuschildern. In Mortensgard und Ulrik Brendel hat er die Gegensätzlichkeit der männlichen Hauptfiguren dann noch einmal auf einem andern Niveau gezeichnet. Mortensgard ist der nüchterne Mann der Tat und des Erfolges, Brendel der Idealist, der seinen inneren Reichtum mit vollen Händen an das Leben verschleudert, bis er eines Tages erkennt, daß er zum Bettler geworden ist, weil er in der Gewißheit des Sieges die Stunde tätigen Handelns versäumt hat. In Eljert Lövborg finden wir später diesen Typus des Genies ohne Charakter wieder. Auch er ein Mensch, dessen hohes Streben an der Unfähigkeit der Erkenntnis und Beschränkung seiner Kraft zu Grunde geht.

»Die Wildente« entstand aus dem Bedürfnis des Dichters seine bisherige Lebensanschauung zu persiflieren, steckt doch in jedem Künstler neben dem erzeugenden Dämon auch der feindliche Trieb der Vernichtung. Hinzu kam die grimmige Verbitterung, daß sein Lebenswerk durch ein Publikum, das seine Ideen zu » leben« begann, eine ungeheure Verhunzung erfahren hatte. »Rosmersholm« bedeutet die endgültige Abkehr vom Individualismus als sozialem und religiösem Prinzip. Ibsen offenbart sich der durchgehende Dualismus der Menschheit, ihre Zweiteilung in heroische Individuen, die das Gesetz des Wollens und ihrer Bestimmung ahnen, und in Gattungsmenschen, die sich zur rechten Zeit auf die erreichbaren Güter und Genüsse des Lebens beschränken. Zwischen beiden Parteien ist keine Verständigung möglich, weil die eine nicht die Möglichkeiten menschlichen Strebens, die andere die natürliche Gemeinheit des Lebens nicht begreifen kann.

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» Die Frau vom Meere« (1888) ist ein höchst unerfreuliches und unbefriedigendes Werk von unfruchtbarer Mystik und äußerlicher Gedankentiefe. Es knüpft an »Nora« und die »Gespenster« an, denn es behandelt das Problem der wahren Ehe die in der völligen Gemeinschaft und dem rückhaltlosen seelischen Vertrauen beider Gatten besteht. Zwischen den Gatten steht hier die mehr gewollte als gefühlte Abneigung der Kinder Wangels gegen die junge Stiefmutter, steht ihre geheimnisvolle Vergangenheit. Frau Ellida ist mit dem Meere verwandt, ein gleichsam übernatürliches Wesen, das die Verpflanzung ins Binnenland und in bürgerliche Verhältnisse nicht erträgt, ohne Schaden an seiner Seele zu nehmen. Als Mensch zu Menschen hat sie eine Ehe mit einem wahlverwandten »Meermann« geschlossen und weiß nun des Widerstandes ihrer Natur gegenüber der Alltäglichkeit ihrer »zweiten« Ehe nicht Herr zu werden. Der Fremdling, der seine dämonische Wirkung durch die lange Abwesenheit nicht eingebüßt hat, stellt sich wieder ein und fordert sie zurück. Und Wangel gewinnt sie nur dadurch, daß er ihr die volle Freiheit der Wahl, die eigene Verantwortlichkeit des Handelns läßt. So reifen die beiden Gatten zur wahren Ehe, und das fremde Weib wird endlich heimisch in ihrer Mitte.

Dieses Werk ist ziemlich abstrus, und in seiner rein gedanklichen Konstruiertheit nur mit Hilfe einer speziellen Ibsen-Terminologie und eines genauen Kommentars einigermaßen zu verstehen. Die lustige Satire Hartlebens in »Ipse, der Frosch«, ist nicht ungerechtfertigt. Vielleicht wollte Ibsen darstellen, wie die krankhafte Ausgeburt der Phantasie vor der lebendigen Wirklichkeit erblaßt. Das ist ihm aber so wenig gelungen, wie sein höheres Problem, das Elementarische in der Natur des Menschen darzustellen, das sich gegen Kultur und Konvention sträubt und aller Vernunft zum Trotze immer wieder durchbricht. Es ist dies ein durchaus kosmisches Problem, das eine geniale und intuitive Naivetät erfordert, die unser Dichter nicht besitzt. Man durfte die Existenz von Panen, Dryaden und Meerfrauen so lange als romantische Phantasien und allegorischen Hokuspokus bezeichnen bis Böcklin mit seinem ungeheuren Naturgefühl ihre symbolische Existenz gegenständlich bewies. Es ist hier nicht der Ort den Gegensatz des Genius Ibsen und Böcklin, als welcher der ungleich positivere und produktivere Geist ist, darzutun. Nur soviel sei gesagt, daß eine Frau vom Meere eine dichterische Individualität vom Schlage Böcklins erheischte, um nicht wie hier mehr oder weniger zur Karikatur zu werden!

Erst in » Hedda Gabler« (1890) finden wir den Dichter auf seiner alten Höhe. Von seiner tieferen Bedeutung einmal abgesehen, ist es ein Werk von außerordentlicher Lebendigkeit und Elastik. Ohne einen toten Punkt hält es uns von Anfang bis zu Ende in steter Spannung, und dabei spielt sich die tiefe seelische Erregung der Handelnden in einem leichten und flüssigen Konversationsstile ab, der nichts von dem bewußten Tiefsinn anderer Werke in sich trägt. Läßt man den Gang der Handlung gegen Ende noch einmal an sich vorbeiziehen, so staunt man, daß eigentlich seit dem Anbeginn sich nichts Wesentliches ereignet hat. Die Helden des Dramas haben hier nicht das entscheidende Gesetz der Umwandlung erlebt, das den Menschen zu einer völlig veränderten Auffassung seiner Existenz und somit zur Erkenntnis seiner Bestimmung antreibt, – es ist vielmehr alles wie vorher, nur daß zwei innerlich verwandte Menschen Hedda Gabler und Eljert Lövborg vom Mahle des Lebens aufgestanden sind. Gerade die scheinbare Absichtslosigkeit des Dramas gestattet seinen Menschen sich völlig auszuleben. In diesem Werke tritt das flutende und fließende Leben selbst mit seinen natürlichen Höhen und Tiefen an Stelle jener quälerisch-grübelnden Menschen, die ihre Gefühle unablässig psychologisch zergliedern, um auf den Tiefen der Seele ihr wahres Wesen zu erkennen. Es ist etwas Jugendlich-Feuriges in dieser »Hedda Gabler«, das in der unablässigen Reizung und Lösung der Gefühle hinreißend wirkt, und zugleich verspüren wir unter dieser glänzenden, buntfarbig schillernden Oberfläche, die ein wunderbares Gesamtbild des Lebens gibt, eine nervöse elektrische Spannung, die durch das ganze Drama zittert, um sich endlich in dem Pistolenschuß der Heldin auszulösen. Anders gesagt: die Einheitlichkeit der Handlung, den geschlossenen Kreis der Charaktere begleitet eine Totalität der Stimmung, die in tausend Nuancen unablässig auf- und abschwellt.

Wenn wir der Hedda Gabler zum ersten Male begegnen, so erscheint sie uns als ein fascinierendes, dämonisches Weib von unbezähmbarer Willenslust, geistestief, sinnlich berückend. In der Rolle etwa, die die vielumschwärmte Tochter des Generals Gabler in der nicht immer urteilsfähigen Gesellschaft gespielt hat. Andere wieder, die mit ihren merkwürdigen Sentenzen – »Weinlaub im Haar«, »in Schönheit sterben« u. s. w. – nichts Rechtes anzufangen wußten, erklärten sie für halbverrückt. Ibsen, der seinen Erklärern gegenüber oft genug den Schalk im Nacken trug, gab einem Schauspieler gegenüber, der ihn ratlos fragte, was »die Canaille« denn eigentlich wolle, die später ernsthaft zitierte Auslegung: »Das ist gar keine Canaille. Die Frau ist im sechsten Monat schwanger, und ich habe nur schildern wollen, zu welchen Extravaganzen dieser Zustand eine lebhafte, leicht erregte Frau fortreißen kann.«

Ganz so einfach liegen die Dinge nicht. Hedda Gabler ist ein dekadentes hysterisches Weib mit hochfahrender Intelligenz, starker Einbildung, geringer sittlicher Kraft. Ein Typus wie ihn die Ueberkultur und ein durch ständige Inzucht entnervtes Geschlecht hervorbringt. Nichts ist echt an ihr, empfunden, naturwahr, – alles Lüge, Künstelei, Ueberspanntheit. Diese Aesthetin hat sich mit ihrer überwuchernden Phantasie gewisse Ideale angelesen, die naturgemäß keinen Lebenswert besitzen. Sie betrachtet alle Lebenserscheinungen, und auch das eigene Geschick vom ästhetischen Standpunkte aus. Wie alle Menschen, denen es an wahrem Charakter mangelt, hat sie ein stark entwickeltes »Persönlichkeitsgefühl« und lebt in ständiger Furcht diese eingebildete Persönlichkeit einzubüßen, wenn sie ihren Instinkten und Trieben gehorcht. Sie ist im tiefsten Sinne unfruchtbar, weil sie nicht die höchste Produktivität des Weibes, seine restlose Liebe und Hingabe besitzt. Schon das Wort »lieben und sich hingeben« hat für ihre krankhaften Nerven einen fatalen Beigeschmack. Sie ist untauglich zur Liebe, zur Ehe, zur Mutterschaft, kurzum zu allem, was die Betätigung der Sinne und das Gefühl der Verantwortlichkeit erfordert.

Weil sie ganz von den Satzungen der Gesellschaft abhängig ist, ist das »Schickliche« durchaus für ihre Lebenshaltung bestimmend. Was werden die Leute sagen? Und es ist neben dem verlorenen Gefühl der Freiheit, von der sie ja nie Gebrauch gemacht hat, zuerst die Angst vor dem Skandal, die ihr die Kraft gibt zu der einzigen Tat ihres Lebens: zum Selbstmorde.

Ein so beschaffener Mensch, der vor allem Scheu trägt, was den Charakter verpflichtet, findet in seiner Phantasie einen willkommenen Ausweg. Und Hedda Gabler ist ein Phantasiemensch aus Charakterschwäche. Sie wagt es nicht, ihre Ideale zu leben. In Eljert Lövborg tritt ihr ein stürmender Feuergeist entgegen, der in der Gier nach Genuß seine Kräfte verzehrt, aber seinen Lebensmut dabei bewahrt. Dieser wahrhaft geniale Mensch imponiert ihrer romantischen Veranlagung, ja die naive Kameradschaft dieses Mannes löst in ihr Gefühle aus, die der Liebe verwandt sind. Als aber das Phantasiebild Wirklichkeit werden soll, als es gilt den Roman mit einem Geliebten ohne Stand und Herkunft wirklich zu erleben, da schreckt Hedda Gabler zurück und droht den Begehrlichen zu erschießen. Bald hernach verkauft sie sich an den »Fachmenschen« Jörgen Tesman, denn sie erwartet sehr mit Recht, daß seine zähe Philistrosität und peinliche Korrektheit, die sich nicht vom Wege abbringen läßt, weiter führen muß als das geniale Losstürmen seines Rivalen Eljert Lövborg. Frauen wie Hedda Gabler heiraten nicht den Mann, sondern seine Position. Frauen wie Hedda Gabler erleben nicht die seelische und geistige Umwandlung durch die Ehe. Sie bleibt Hedda Gabler. Andererseits ist dieser Dummkopf von Gatte, der einen nicht eben seltenen Gelehrtentypus vertritt, mit seiner satten Zudringlichkeit und seinem kleinlichen, tantenhaften Gehabe wirklich nicht geschaffen einer Hedda Gabler die sittlichen Quellen des Lebens durch die Liebe zu erschließen. Als sie bemerkt, wie wenig glänzend seine Stellung, wie widerlich das Zusammenleben mit ihm ist, gelangt sie zur völligen Verachtung dieses Menschen. Und das Bild des Kameraden Eljert Lövborg taucht in ihr auf, den ein Tesman nicht vergessen machen kann. Sie erfährt von seiner seelischen Neugeburt, von seiner wieder erwachten Schaffenskraft. Es bemächtigt sich ihrer eine wütende Eifersucht gegen ihre Rivalin Thea Elvstedt, die kraft ihrer Liebefähigkeit mutig genug ist, den ungeliebten Mann zu verlassen um dem Mann ihrer Wahl zu folgen; zugleich regt sich in ihr die Sehnsucht ihrer romantisch-überspannten Natur noch einmal die Herrin zu werden über sein Schicksal. Sie will ihn wieder als Helden sehen, als einen Meister des Lebens, der über seinen schlimmsten Versucher triumphierend heimkehrt als Gott Dionysos. Mit Weinlaub im Haar. Heiß und voll Freude. Natürlich enttäuscht das Leben diesen Idealismus. Lövborg endet nach Verlust seines unersetzlichen Manuskripts im Salon einer rothaarigen Diva. Heddas unfruchtbarer Haß wendet sich nun gegen das Kind, das der geistigen Ehe Lövborgs und Thea Elvstedts entsprossen ist. Die Beiden sollen das Glück nicht erleben, das ihr versagt blieb.

Lövborg aber kann nach seinem neuen Sturze den zerrissenen Lebensfaden nicht weiterspinnen, denn Theas Liebe und Freundschaft hat ihn mit dem Gefühl der Verantwortlichkeit erfüllt, sein Gewissen geläutert, seinen Entschluß gereift, diese letzte Untreue gegen sich selbst mit dem Tode zu büßen. Hedda hat wieder, durchaus ihrem Charakter entsprechend, den Wunsch, es solle »in Schönheit geschehen«, doch danach fragt der Tod so wenig wie das Leben.

Man begreift jetzt: diese Heldin ist nichts weniger als eine Idealfigur. Sie ist ein nicht eben seltener Typus des modernen Weibes, das sein Gefühlsleben verkümmern läßt aus geistigem und seelischem Hochmut. Ihr Tod läßt kein Bedauern aufkommen, denn ihr ganz im groben Egoismus wurzelndes Leben war nutzlos. Gleichwohl hat es der Dichter verstanden, dieser problematischen Natur Kraft und Bedeutung zu verleihen. Ihre Phantasiegröße ist interessanter als ein wahrhaft bedeutendes Weib.

In dem Assessor Brack hat Ibsen ein männliches Pendant zu Hedda Gabler geschaffen. Dieser kluge Weltmann und Ehemarder will auch nur Zuschauer des Lebens sein, nur das mitnehmen, was ihm Genuß bereitet ohne die Not der Pflichterfüllung. Auch er blickt erhaben auf das gemeine menschliche Treiben, dem er sorgfältig nachspäht, herab. Am Ende aber erweist sich sein unfehlbares Calcul als falsch. Er hat nicht damit gerechnet, daß Hedda Gabler eine Tat vollbringen kann. In Schönheit sterben und Erlösung suchen, da das Leben ihre Ideale in den Schmutz gezogen hat  …,

Mit dem » Baumeister Solneß« (1892) beginnt eine neue, letzte Schaffensepoche des Dichters, die gemeinsame Grundlinien aufweist. Der Held ist fortan der geniale Mann, der seinen Idealen treu geblieben ist und dennoch am Ende seines Weges ein tiefes Gefühl der Leere und Unbefriedigung verspürt. Er hat die Welt der Sinne und des unmittelbaren Lebens preisgegeben um seine persönliche Aufgabe erfüllen zu können. Aber das Geschaffene wirkt feindlich auf den Schaffenden, weil es in seiner toten Starrheit den allmählich versiegenden Lebensquell nicht verjüngen kann, weil es sein Opfer und seine Hingebung nicht im gleichen Maße, wie das Leben selbst durch tätigen Genuß, durch die Liebe und endlich durch das Gefühl in seinen Kindern fortzuleben vergilt, ihn mehr und mehr mit der Umwelt und mit sich selbst zerfallen läßt. In ihrer höchsten Einsamkeit eignet allen diesen Helden ein Hang zum Uebersinnlichen und Metaphysischen, der Trieb im All aufzugehen und sich von dem vergeblichen Wollen und Wünschen zu befreien. Dementsprechend gewinnt das Reich des Unbewußten und Unerklärlichen, das den denkenden und fühlenden Menschen in geheimnisvoller Stille umwittert, ein entschiedenes Uebergewicht über die realen, erkennbaren Mächte des Daseins. Das Leben wird aus einer ungeheuren Perspektive, gleichsam vom Weltgeist aus betrachtet. Wir vernehmen nichts Tatsächliches mehr, wir hören unablässige Fragen ohne Antwort, Zwiegespräche, die dem Grunde einer nach langem Schlummer plötzlich erweckten Seele zu entstammen scheinen …,

Man hat den »Baumeister Solneß« mit einer Selbstverständlichkeit, die nichts erklärt, als eine Beichte Ibsens hingestellt. Man kann das Gleiche von allen späteren Dramen Ibsens behaupten, in denen das reflexive Element überwiegt. Grade ein psychologisch so kompliziertes Werk wie den »Baumeister Solneß« muß man möglichst naiv auffassen.

Halvard Solneß, ein genialer Autodidakt, hat sein großes Wollen vollkommen in künstlerisches Schaffen umgesetzt. Er gilt als der erste und einzige Baumeister im Lande. Ein Zufall, den aber nur der geniale Mensch tatkräftig zu packen weiß, hat ihm den Weg zu seinem Ruhme geebnet. Durch den Brand des Elternhauses seiner Frau ist er emporgekommen. An den mittelbaren Folgen der Feuersbrunst sind seine beiden Kinder gestorben. In Solneß, der von Natur aus grüblerisch und von frauenhafter Reizbarkeit ist, hat sich der Gedanke festgesetzt, daß er den Brand, der das Fundament seines »Glücks« wurde, gewollt und begehrt habe und der boshaften Erfüllung seines Wunsches seitens dunkler Schicksalsmächte das nagende Gefühl von Schuld und Reue in seiner Brust verdanke. Solneß fehlt das robuste Gewissen des genialen Tatmenschen, der in der Erkenntnis, daß alles Schaffen eines großen Menschen geringere Werte vernichten muß, – ganz wie er alte Häuser niederreißt um Platz für seine Ideen zu schaffen – gelassen seinen Weg geht, auch wenn es über Leichen geht. Er weiß, daß in dem Kampfe des Daseins alles Schwächere dem Starken zum Raub fällt und so gleichsam in einer höheren Einheit aufgeht, aber er kämpft vergebens an gegen das Schuldbewußtsein, das, aus einem intensiven Verantwortlichkeitsgefühl geboren, in ihm einen geradezu krankhaften, stark pathologischen Zustand heraufbeschwört. Er besitzt das Wollen und Können des Genies, nicht aber seinen unerschütterlichen Trotz, der über solche seelischen Hemmungen triumphiert. Ihn erfüllt nämlich der Gedanke, daß er durch den starren Egoismus seines persönlichen Strebens das gleichberechtigte Dasein seines Weibes vernichtet hat, ihre Mutterschaft: »Aline, die hatte ihren Beruf auch im Leben. Genau so wie ich meinen hatte. Aber ihr Lebensberuf, der mußte verschandelt, zerstört und in Grund und Boden vernichtet werden, damit ich in dem meinen durchdringen könnte, zu etwas wie einem großen Sieg. Denn das müssen Sie wissen: Aline, die hatte auch Fähigkeiten zum Bauen auf ihre Art. Kleine Kinderseelen aufzubauen, so daß sie sich aufrichten können in Gleichgewicht und in edlen, schönen Formen, so daß sie sich erheben zu geraden, aufrechten Menschenseelen. Dazu hatte Aline Anlagen. Und das alles, das liegt jetzt da, brach und unbrauchbar für immer. Und ohne den geringsten Zweck. Genau wie die Schutthaufen nach einem Brande.« – –

Die Wahrheit der Vorgänge in einem Drama ist nicht in der notwendig subjektiven Vorstellung eines Menschen zu suchen, sie liegt vielmehr im Gesamtbilde des Lebensprozesses, an dem alle handelnden Personen teilhaben. So spiegeln Solneß' Worte wohl sein subjektives Empfinden, sein persönliches Leiden wieder, nicht aber das tatsächliche Geschehnis. Er begeht den Irrtum die eigene Genialität auf sein Weib zu übertragen, die in ihrer kleinlichen Sorgsamkeit keineswegs geschaffen ist als Lebensgefährtin dieses Ausnahmemenschen zu bestehen. Gottergeben und wunschlos, eine einfältige und beschränkte Pflichtseele hat Aline den Verlust ihrer Kinder längst verschmerzt, und auch der eigensinnige Trieb nach dem Unmöglichen, der Solneß Kinderstuben einrichten läßt, ruft in ihr, die sich ja nur nach den verlorenen Puppen ihrer Kindheit sehnt, keine wehmütigen Erinnerungen wach. Unfähig das seelische Leben ihres Gatten zu teilen, dessen echt künstlerische Sinnlichkeit und Lebensgier an der Seite dieser Tot-Lebendigen, keine Erfüllung findet, wird sie zur Aufpasserin und verfolgt ihn mit den kleinen Spitzen einer müden Eifersucht, bannt sein geniales Streben in den dumpfen Alltag, wird schuldig an seiner grüblerischen Verschlossenheit. So muß das Schaffen, das nie von der Liebe befruchtet wird, in dem Baumeister die Qualen der Unzufriedenheit und Selbstzerstörung hervorrufen. Um so mehr als sein Lebenswerk nicht das dem Künstler absolut notwendige Echo findet. Zur Höhe seines Könnens war er gereift, da er bei der Einweihung der Kirche zu Lysanger so hoch stieg wie er bauen kann. Droben hat er Zwiesprache mit Gott gehalten, sich in titanischem Trotz auflehnend gegen die heimliche Bestimmung allen Lebensgenuß, Glück und Liebe, dem Dienste des Herrn zu opfern. Und er spricht: »Nun hör' mich an, Du Mächtiger! Fortan will ich freier Baumeister sein, auch ich. Auf meinem Felde. Wie Du auf Deinem. Nie mehr will ich Kirchen bauen für Dich. Nur Heimstätten für Menschen.«

Solneß stellt sich also eine ganz ähnliche Aufgabe, wie Rosmer, der die Menschen adeln und läutern will, und er erfährt dieselbe Enttäuschung des Idealisten, der zu Unrecht bei der Masse Charakteranlagen voraussetzt, die nur er allein besitzt. » Die Menschen brauchen diese ihre Heimstätten nicht.« Und wenn er sich selbst ein neues Heim errichtet hat, wieder in dem eigensinnigen Trieb das zu gewinnen, was ihm für immer versagt bleiben muß, so ist das nur ein letzter Selbstbetrug. Immer wieder streckt das Leben die schmutzigen Hände nach seinen Idealen aus und zieht sie in den Staub, immer wieder zeigt sich das verwirklichte Streben als ein Spott auf die ursprüngliche Reinheit des Wollens. Und so wird der Baumeister fortan » Luftschlösser« bauen, Phantasiegebilde also, denen die Erdenwirklichkeit nichts anhaben kann, die man andererseits auch nicht bezahlen muß mit dem furchtbaren Einsatz seines Lebens. Wir werden später sehen, wie der geniale Individualismus der letzten Helden Ibsens, eines Solneß, Borkman, Rubek durchaus im Metaphysischen gipfelt, in der Sehnsucht nach der Welt des Unendlichen und Unmöglichen, als welche dem Ideal allein gestattet sich in voller Reinheit auszuleben.

Im Gefühl seine Ausnahmestellung mit ungeheuren Opfern erkauft zu haben, hat Solneß den begreiflichen Trieb sich um jeden Preis zu behaupten. Seine Reizbarkeit läßt ihn Feinde sehen, die tatsächlich nicht vorhanden sind, macht ihn furchtsam gegen das Andrängen einer jungen Generation mit neuen Idealen, einer neuen Lebensanschauung, einer neuen Kunst. In dem schaffenskräftigen Genius, dessen Kunst gemeinhin sein Zeitalter überlebt, weil sie durchaus in der Ahnung künftigen Denkens und Fühlens wurzelt, kommen solche Zweifel nicht auf, wohl aber in einer mehr problematischen Natur, die ihr Selbstvertrauen eingebüßt und den trotzigen Lebensmut, der das Verlorene immer wieder durch Erworbenes ersetzt, in einem gewissen Siechtum des Geistes und der Seele verloren hat.

Solneß hat Angst vor der Jugend, und es ist doch wieder die Jugend, die ihm Befreiung und Erlösung bringt, die ihm den Glauben an sich selbst zurück gibt und ihm von neuem die ursprüngliche Kraft und Reinheit seiner Ideale verleiht. Hilde Wangel, das ist die Jugend des Baumeisters. Sie hat ihn zehn Jahre hindurch groß, frei und herrlich gesehen, wie er dem Kinde auf dem Kirchturm zu Lysanger erschienen ist. Das war ihr großes Erlebnis, das war das Wunderbare. Seither hat sie unablässig von ihrem Königreich geträumt, von dem Gedanken, diesem Mann mit Leib und Seele anzugehören. Und da die Stunde gekommen ist, verläßt sie ihr Heim, instinktiv, fraglos, selbstverständlich, um ihn aufzusuchen. Die schalkhafte Ungebundenheit und Frische ihrer Natur, die wir bereits aus der »Frau vom Meere« kennen, darf uns nicht das Tiefe, Eigenblütige, Geniale dieses Weibes verkennen lassen. Wie ein Lichtstrom kommt die Begegnung über Solneß, dessen Seele sie intuitiv zu ergründen weiß. Sie erkennt ihre Aufgabe, den gramvollen, verbitterten, gewissenssiechen Helden sich selbst wieder zu geben. Sie verzichtet opferungsfreudig auf seinen persönlichen Besitz, nachdem sie Liebes von seiner Frau erfahren hat. Ihr eigenstes Ideal, den Kern und die Möglichkeit ihres Lebens aber kann sie nicht aufgeben: »Ihn groß zu sehen, ihn zu sehen mit einem Kranz in der Hand, hoch, hoch oben auf dem Turm einer Kirche«. Es gelingt ihr diesen notwendigen Willenstrieb auf den geliebten, gottverehrten Mann zu übertragen. Baumeister Solneß besteigt zum zweiten Male, ganz wie in der Fülle und Kraft seines Schaffens, den Turm seines Hauses. Er getraut sich so hoch zu steigen, wie er selbst gebaut hat. Und wieder hört sie wie damals Gesang und Harfen in den Lüften. Und als er abstürzt, ruft sie im wilden Taumel des erfüllten Glücks: » Mein, – mein Baumeister!«

»Baumeister Solneß« ist vielleicht die tiefste gedankenvollste Dichtung Ibsens. Nur mangelt es ihr an unmittelbarer Sinnlichkeit der Darstellung, an einer großen und entschiedenen Linienführung. Das reflexive Element tritt stark in den Vordergrund, das Erleben des Helden ist mehr monologisch in einer Kette von Bekenntnissen als wirklich dramatisch durch das Mittel der äußeren und inneren Handlung ausgesprochen. Dem Drama eignet ein Uebergewicht des rein Gedanklichen, das sich oft genug in das Reich absoluter Spekulation versteigt. Es ist nicht völlig Leben und Anschauung geworden.

Die Menschen Ibsens sind dem » Gesetz der Umwandlung« unterworfen. Es vollzieht sich, indem sie in neue sittliche Verhältnisse geraten oder bestehende in ihrer Wesenheit erkennen. Ein fremder Charakter wirkt jetzt auf sie ein und löst dadurch im Individuum seelische Komplexe aus, die vorher unter der Bewußtseinsschwelle lagen. Denn da die Wandlung des Charakters immer nur eine scheinbare ist, so findet tatsächlich eine Entwicklung, ein inneres Wachstum, eine Freilegung des Menschlichen statt.

In den früheren philosophischen Dramen geht das Individuum, ein Brand etwa, durch eine Kette menschlicher Zustände hindurch, und das Tragische entwickelt sich aus dem ganz persönlichen Unvermögen, Wollen und Können, Streben und Genuß in Einklang zu bringen. Nunmehr aber, in der eben betrachteten Dramatik, knüpft das tragische Element durchaus an die konkreten Verhältnisse des Helden an. Rosmer erfährt seine Wandlung durch die geistige Ehe mit Rebekka West, in Hedda Gabler erwirkt die Ehe in ihrer trostlosen Nüchternheit die Erkenntnis ihrer seelischen Unfruchtbarkeit. Solneß spürt in dem gleichen Verhältnis die furchtbare Qual des Zusammenseins mit einem allmählich fremd gewordenen Menschen. Zurückgehend bis zur »Nora« sehen wir immer wieder Ehen, in denen beide Gatten die Unversöhnlichkeit ihrer Lebensinteressen erkennen, nachdem der Liebesrausch, der in ihnen die dauernde Harmonie des Empfindens vortäuschte, in nichts verflogen ist.

Stärker noch als bisher wird des Menschen Abhängigkeit von Verhältnissen, die er freiwillig geschaffen und in seinem Verantwortungsgefühl somit als bindend und unentrinnbar empfindet, sichtbar in » Klein Eyolf« (1894). Es ist die gerade Fortsetzung des »Baumeister Solneß«. Hier fühlt der Held, daß er durch die grenzenlose Einseitigkeit seines Strebens sich um das Glück der Ehe und Vaterschaft betrogen hat. Alfred Allmers gibt umgekehrt sein persönliches Streben auf, da er als seine neue Lebensaufgabe erkennt, alle Möglichkeiten in der Seele seines Kindes zu wecken. Rita, sein Weib, erklärt ausdrücklich, sie könnte Mutter werden, aber sie könne nicht Mutter sein. Allmers mit seinem stärkeren Pflichtgefühl, mit seiner größeren Opferfähigkeit faßt in der Einsamkeit seiner Wanderung den Gedanken dem bisher vernachlässigten Kinde ein Vater zu sein, ja sein ganzes Streben ungeteilt in diesem Punkte zu konzentrieren.

Soweit die seelische Vorgeschichte des Dramas. Mann und Weib, die sich durch eine erste kurze Trennung der Entfremdung und Gegensätzlichkeit ihres Wesens bewußt werden und nunmehr leidenschaftlich um den Sieg ihres Lebensprinzips kämpfen. In Rita lebt die Liebe nur als ein gewaltiger Sinnentrieb, als ein Rausch von Begierde und Genuß. Sie will den Gatten, den ihre Schönheit und ihre »goldenen Berge« aus einer stillen und tiefen Welt verlockten, völlig besitzen, und verhaßt ist ihr jedes Streben, jede Gefühlsäußerung, die nicht in ihre Liebe mündet. Rita ist noch die Geliebte Allmers wie am ersten Tage. Sie hat nicht die allmähliche Wandlung zur Gattin und Lebensgefährtin durchgemacht. So erscheint ihr das Kind als ein Eindringling in ihr Liebesleben, und ebenso nährt sie einen heimlichen Ingrimm gegen Asta, die Schwester Allmers, die als innige Vertraute seiner Jugend einen Teil seiner Seele erfüllt. Und endlich haßt die geistig nicht eben bedeutende Frau jenes Buch über »die menschliche Verantwortung« aus dem Gefühl heraus, daß hier wieder ein Stück von ihm vor ihren Blicken und ihrem Mitleben verschlossen bleibt. Hatte Ibsen in dem vorigen Drama eine gänzlich teilnahmlose Gattin geschildert, Frau Alvine Solneß, so sieht er jetzt die gegensätzliche Gefahr in dem unbezähmbaren Weibgelüste den Mann seelisch und geistig zu unterjochen. Frau Rita ist dies bis zu einem gewissen Grade gelungen, denn Allmers ist nichts weniger als eine energische, willenskräftige oder gar geniale Natur. Mehr ein feiner sensitiver Mensch vom Schlage Rosmers. Er hat Rita gegenüber das drückende, unfreie Gefühl der Dankbarkeit, da sie ihn und die Schwester aus kleinen engen Verhältnissen, aus der Not des täglichen Daseinskampfes erlöst hat, nicht die reine, fraglose, überströmende Liebe. Seitdem er seinen Lehrerberuf aufgegeben hat, der auf solche Menschen den wohltätigen Zwang einer begrenzten Tätigkeit ausübt, ist allmählich eine steigende Unruhe über ihn gekommen, die Furcht in dem Sinnenleben seine eigentliche Bestimmung, die er sucht, zu verlieren. Und so drängt es diesen »Dilettanten des Lebens«, diesen im Grunde wenig aktiven Menschen nach zehnjähriger Ehe einmal allein zu sein. Er unternimmt die Bergfahrt, die ihm zum Erlebnis wird. Die seelische Wandlung, die er hier erfährt, ist auch nur ein Uebergang. Dieser im Grunde unproduktive, seiner selbst nicht sichere Mensch, wird, wie Rita mit dem Instinkt des Weibes ganz richtig erkennt, in einer seltenen und tiefen Stunde vom Zweifel erfaßt, ob er auch wirklich zu einer großen Aufgabe berufen sei; er sucht nach etwas Neuem, das ihn ganz ausfüllen könnte, nachdem sich ihm sein Weib als eine seelisch Fremde offenbart hat, und aus solchem Zweifel heraus will er Klein Eyolf zu einem Wunderkinde machen. Er will ihn zugleich in echtem Vatergefühl vor den verwirrenden Irrtümern seines eigenen Lebens bewahren: »Was er nur an edlen Keimen in sich trägt, das will ich zum Wachstum bringen, es soll Blüten treiben und Früchte tragen. Und noch mehr will ich tun. Ich will ihn dabei unterstützen, seine Wünsche in Einklang zu bringen mit dem, was erreichbar vor ihm liegt. Denn so weit ist er jetzt noch nicht. Sein ganzes Dichten und Trachten ist auf das gerichtet, was sein Leben lang für ihn unerreichbar sein wird. Ich aber will Glücksgefühl in ihm erwecken. Eyolf soll mein Lebenswerk wieder aufnehmen. Wenn er will, heißt es. Oder er soll etwas wählen dürfen, was ganz und gar aus ihm kommt. Das wäre vielleicht das Beste. Jedenfalls aber lasse ich mein Werk liegen …, Eyolf, der soll die Krone unserer Familie werden«.

Noch einmal, in diesem freiwilligen Verzicht auf sein früheres Ideal liegt eine gewisse Schwäche und Unsicherheit des Charakters. Ibsen hat immer wieder darauf hingewiesen, daß ein Mensch seine Lebensaufgabe nicht einem andern, und wäre es auch der eigene Sohn, übertragen kann. Vielmehr geht jeder Charakter der Welt gegenüber die Verpflichtung ein, die innersten Gesetze seines Wesens zu erfüllen, und sei es mit Verlust seiner persönlichen Existenz, unter Aufgabe alles dessen, was ihm Glück und Lebensgenuß verspricht. Die Vaterschaft darf ihn so wenig gänzlich ausfüllen wie die Liebe, denn die völlige Hingabe an ein anderes Wesen, das eigentliche Ideal des Weibes, ja die Grundbedingung seiner seelischen Entwicklung, ist im tiefsten Grunde unmännlich. Daher der frauenhaft-weiche Zug im Wesen des Helden, und eben daher – der plötzliche Tod des Kindes, der ja sonst auf einen Zufall und Widersinn herauskäme. Besäße Klein Eyolf wirklich das Zeug zu einem Wunderkinde, der Dichter hätte ihn nicht mit einem Male verschwinden lassen. Klein Eyolf, der als Krüppel und unkindlich Einsamer in der Welt nie recht heimisch geworden ist, folgt den Lockungen der Rattenmamsell, in der sich die geheimnisvolle Anziehungskraft übersinnlicher Naturmächte, die bereits in der »Frau vom Meere« eine große Rolle gespielt hatte, aufs neue verkörpert. »Die Rattenmamsell«, so erzählte Ibsen, »war eine kleine Alte, die in Skien in unser Schulgebäude kam, die Ratten zu vertilgen. Sie trug einen kleinen Hund in einem Sacke, und man erzählte sich, daß Kinder, die ihr folgen wollten, ertrunken seien. Diese Figur paßte mir sehr gut, um den kleinen Eyolf verschwinden zu lassen, in dem sich die Betörung und Schwäche des Vaters wieder zeigen, aber in verstärkter, gesteigerter Form, wie dies bei Kindern solcher Väter oft vorkommt.« Lothar, Ibsen S. 153. Eyolf's Tod dient also nur dazu, den völligen Bruch in der Liebe beider Gatten, die Erkenntnis ihrer gänzlichen Verschiedenheit herbeizuführen. Schon damals, als Allmers und Rita im Rausch des Genießens durch ihre Unachtsamkeit das Gebrechen des Kindes verschuldeten, damals schon begann die Entfremdung des Mannes. Nunmehr gewahren sie, daß ihnen das Schicksal etwas genommen hat, was sie im Grunde niemals recht besaßen.

Der andere Eyolf, Allmers Pflegeschwester Asta, ist für das Dasein des Helden von ungleich höherer Bedeutung als sein Kind. Ihr ist er ein Vater gewesen, und als die selbständige, kluge, energische Asta heranwuchs, haben sie in inniger Gemeinschaft eine geistige Ehe geführt bis Allmers sich vornehmlich aus Sorge für die Zukunft Astas von Ritas goldenen Bergen verlocken ließ. Asta entdeckt späterhin, daß sie als uneheliches Kind nicht das Recht auf den Namen ihres Vaters hat, und in ihr erwacht die nunmehr sittlich berechtigte unbezwingliche Liebe zu Allmers. Dieser Gedanke, die äußerlichen und inneren Beziehungen zwischen Allmers und Asta so wesentlich zu verändern, ist nicht eben glücklich, denn damit ist dem Helden der Weg zu seiner Befreiung, die Rückkehr zu seinem Jugendideal, die den typischen Entwicklungsprozeß des Ibsen'schen Menschen bildet, versperrt. Man empfindet die Entdeckung Astas, die durch die Lektüre alter Briefe erfolgt, als eine dem Organismus des Dramas widersprechende Erfindung. Und ebenso konstruiert ist der Abschluß: Ritas plötzliche Wandlung zur Selbstlosigkeit, ihr jäh hervorbrechender Mutterschaftstrieb, der sie veranlaßt, die verwahrlosten Dorfkinder an Eyolfs Stelle zu erziehen.

Seelisch steht das Drama »Rosmersholm« ungemein nahe. Es wurzelt in der gleichen geistigen Atmosphäre. Hier wie da bildet der Gegensatz zwischen dem brutalen Geschlechtstriebe des Weibes und der feineren männlichen Geistigkeit den Angelpunkt der Dichtung. Hier wie da führt ein gemeinsames Schuldgefühl die beiden Gatten zusammen. Endlich ist es beidemal ein Toter, der seinen unheimlichen Bann ausübt auf die Seelen zweier Menschen, künstlerisch aber bedeutet das Drama eine ganz eigenartige Bereicherung der bisherigen Dichtung Ibsens. Es ist durchaus impressionistisch, insofern es sich bestrebt Seelenstimmungen in ihrer eigentlichen Naturfarbe, losgelöst von dem Charakter des Menschen, wiederzugeben. Wundervoll ist die dumpfe, brütende qualvolle Trauer über den Tod des Kindes, das Suchen und Tasten nach dem geheimen Sinn des furchtbaren Schicksalsschlages, das Unerträgliche des ohnmächtigen Schmerzes, die wachsende Verbitterung der Gatten, die einer den andern mit haßerfülltem Blicke schuldig sprechen, in der ganzen Fülle der Empfindungen wiedergegeben. Hier kommt die lyrische Begabung Ibsens zum Ausdruck, seelische Zustände sprechen zu lassen, das Reich des Unbewußten, das sich nur unter dem Zwange einer schweren Stunde offenbart, mit weichen Halbtönen ans Licht zu bringen.

Besitzt diese Dichtung etwas Frauenhaft-Sensitives, so hat das folgende Drama » John Gabriel Borkman« (1896) ein ehernes, trotzighartes Gepräge, gleich dem Erze, das der Bergmannssohn in dunklen Tiefen bricht. John Gabriel Borkman ist eine der großartigsten Schöpfungen des Dichters. So tief diese Dichtung im Erleben und Erleiden wurzelt, so ganz ist sie andererseits über das menschliche Maß der Dinge herausgehoben. Schmerz, Anklage, Zerstörung, sie sind gleichsam aller persönlichen Momente entkleidet, jede Leidenschaft ist in ihrer abgezogenen Bedeutung erfaßt und dargestellt, und es waltet hier eine schlechthin überwältigende Konzentration des Gefühls, eine ungeheure Willensanspannung, bei der das Individuum alles daran setzt in dem Ringen Sieger zu bleiben. In der Tat erscheint der objektive und selbstlose Charakter des leidenschaftlichen Strebens als das Wesentliche. Keiner der drei Hauptgestalten verfolgt egoistische und materielle Ziele, ein jeder strebt nach dem, was er in tiefer quälender Einsamkeit als seine Lebensaufgabe, als das schlechthin Notwendige erkannt hat. Und der eine, dem dieser furchtbare, erschütternde Kampf gilt, der junge Ehrhard Borkman, er allein steht mit seinen gesunden, noch ungebrochenen Lebensinstinkten diesem Anprall der Leidenschaften fremd, fast feindlich gegenüber. Gleichgültig wie das Leben sich gegen die Ideale des Menschen verhält. Seine unbekümmerte Jugend weiß nichts von einer Lebensaufgabe, sie ist ganz erfüllt von der Sehnsucht nach Schönheit und Genuß, für die allein die Liebe Erfüllung bringt. Und so fährt der Schlitten, in dem die Jugend und das Leben sitzen, hinweg über drei Menschen, denen die harte Wirklichkeit das Traumbild ihrer Ideale zerstört hat.

Jede dieser drei Hauptgestalten John Gabriel Borkman, Gunhilde Borkman, Ella Rentheim, ist der Held eines selbständigen Dramas. John Gabriel erkennt, daß er das schwerste Opfer des Lebens, den Verzicht auf seine Liebe zu Ella Rentheim, umsonst gebracht hat. Sein Verrat trug ihm als Judaslohn das unaufhaltsame Wachstum seiner Macht ein, aber er wurde zugleich die Ursache seines jähen Sturzes. Diese schließliche Erkenntnis eigener Verschuldung raubt ihm den zähen Glauben an sich selbst, der ihn in den langen Jahren seiner Kerkerhaft wie später in der selbstgewählten trotzigen Einsamkeit aufrecht hielt und läßt seine phantastischen Träume die Oberhand gewinnen über die klare Erkenntnis der realen Lebensmächte. Sein Weib Gunhilde erlebt die doppelte Tragödie der Ehe und Mutterschaft. Der Gatte hat ihr nie den Verzicht auf die Schwester vergeben, er wollte und konnte nicht die Liebe, die sie für ihn empfand, erwidern. Freilich wurzelte ihre Hingabe an John Gabriel Borkman in seiner sozialen Stellung, in seinem Namen und seiner Macht, und sie wandelt sich in Haß und Empörung, da seine Macht in nichts zerfallen, sein Name mit Schande bedeckt ist. Ihre ganze Hoffnung setzt sie nunmehr auf den Sohn, der durch die Makellosigkeit seiner Lebensführung die unselige Tat des Vaters auf ewig auslöschen soll aus dem Gedächtnis der Menschen. In Gunhilde wiederholt sich der Typus Helene Alvings (»Gespenster«). Beides Menschen, die nach der furchtbaren Enttäuschung ihrer Ehe, die ganze Liebesfähigkeit auf ihr Kind lenken und mit dem Verlust des Sohnes ihre innerste Existenz einbüßen. Helene Alving verliert ihr einziges Kind an den Wahnsinn, Gunhilde Borkman an das Leben, und es steht dahin, welche Tragik tiefer ist.

Und Ella Rentheim ist der Held des dritten Dramas, das sich aus dem Lebensprozeß John Gabriel Borkmans entwickelt. Beide Schwestern haben dereinst auf Tod und Leben um den Geliebten gekämpft, Gunhilde trug den Sieg davon, aber ihr Gewinn wurde ihr Verlust. In Ella Rentheim hat die betrogene Liebe an die Wurzeln ihrer Existenz gegriffen. Borkman hat das Liebesleben in ihr gemordet und damit die geheimnisvolle Ursünde begangen, für die es keine Vergebung gibt. In ihr ist das verdorrt, ausgelöscht, zerstört, was den eigentlichen Lebenskern des Menschen und vornehmlich des Weibes bildet. Alles erscheint ihr mit einem Male trüb, farblos, unwesenhaft. Ein seelischer Zustand, in dem man das Leben schattenhaft nur noch mit dem kalten Verstand als einen ungeheuren Selbstbetrug empfindet. Sie hat alles auf eine Karte gesetzt und hat verloren. Der Mann kann sich kraft seiner eingeborenen Energie aus diesem Zustand der völligen Aufhebung seiner Persönlichkeit befreien, er kann überwinden. Hingegen das Weib so tief im Erleben wurzelt, daß seine Natur an diesem höchsten Betruge des Lebens zu Grunde geht. Frauen wie Ella Rentheim lieben nur einmal, und wenn die Lüge ihre Hingebung heimsucht, so ist ihre Existenz vernichtet. So darf sie sagen, daß Borkman alles Menschenglück in ihr getötet hat. »Wenigstens des Weibes ganzes Menschenglück. Von der Zeit an, da Dein Bild in mir zu erlöschen anfing, hab' ich dahingelebt wie unter einer Sonnenfinsternis. In diesen ganzen Jahren hat es mir mehr und mehr wiederstrebt, ein lebendes Geschöpf zu lieben, bis es schließlich mir ganz unmöglich ward. Nicht Menschen, nicht Tiere noch Pflanzen. Nur einen einzigen.« Dieser eine ist Ehrhard, Borkmans Sohn. Sie hat die Liebe zu dem Vater auf sein Kind übertragen, und dem Tode nahe kommt sie her aus ihrer Einsamkeit um aus dem Schiffbruch ihres Lebens ein Quentchen Glück zu retten. Es wird ihr in anderer Weise als sie gewollt und geahnt hat. Das Weib seiner Jugend erlöst und befreit den geliebten Mann, gibt ihn nach der grausamen Erkenntnis seines Lebensirrtums noch im Tode seinen Idealen und seiner Bestimmung wieder. Und über seinem Grabe reichen sich die Zwillingsschwestern schmerzversöhnt die Hände  …,

So muß Borkman ganz wie Solneß dem Dämon seiner Genialität folgend, Leben und Seele, Gut und Blut der Menschen vernichten. Darf er keinen schonen, der seiner rätselhaften Machtbegierde in den Weg tritt. Ihm gehört die Welt zu freiem Schalten und Walten, denn er allein versteht es, die unterirdischen Schätze, die nach Befreiung lechzen, zu erlösen und zum Wohle der Menschheit aufzuwenden. Er kann nicht Rücksicht auf die kleinlichen Gebote des Alltags nehmen, die nur für den ängstlichen und selbstsüchtigen Verbrecher geschrieben sind. Als Ausnahmemensch trägt er das Gesetz einer eigenen Sittlichkeit in sich, und so hat er ein Recht sich in immer erneuter Selbstanklage frei zu sprechen von den Verfehlungen, für die ihn das blinde schonungslose Gesetz, das nur die Tat kennt, gestraft hat. Borkman ist ein Charakter, der sein eigenes Leben und Streben symbolisch bewertet. Und diesen elementaren Zug seines Wesens hat er gemeinsam mit einem Solneß, Rubek; gemeinsam auch mit dem König Hakon Hakonson der »Kronprätendenten«. Das Streben eines Solneß, der eben kein gewöhnlicher Baumeister ist, geht nicht darauf aus, Kirchen und Villen zu Nutz und Frommen der Gläubigen und Reichen zu errichten. Der Kunsttrieb eines Rubek erschöpft sich nicht darin Statuen in Marmor zu bilden. In ihnen lebt ein metaphysischer Geist, getragen von der Sehnsucht zum Uebermenschlichen und Unmöglichen. Sie wollen Werke der Erlösung schaffen. Heimstätten, die den Menschen adeln, Kirchen, die den Ungläubigen zum Bekenntnis einer höheren Macht bekehren. Ein Bildwerk, das uns in den Staub wirft und Gott und Welt begreifen läßt. Ganz so ist der Genius Borkmans geartet. Er ist kein Großspekulant, der Depositen unterschlägt, um falsche Berechnungen zu verdecken. Alle Schätze, die er erwirbt, gelten ihm nichts. Sein Dämon sehnt sich nach einer im Grunde unerfüllbaren Macht und Herrlichkeit, die erhaben ist über der grobsinnlichen Freude an Gold und Besitz. Wie Solneß, wie Rubek ist John Gabriel Borkman ein Dichter. Diese Heroen verlieren den Boden unter ihren Füßen, werden blind gegen ihre Fehler, gefühllos gegen die sittlichen Rechte ihrer Umwelt, weil sie ihr Leben daran geben, ein kosmisches Gedicht in die Tat umzusetzen. Diese Naturen haben keinen Beruf, sie sind ganz erfüllt von ihrer einen und einzigen Bestimmung, ja in der genialen Hingebung an ihr Lebenswerk liegt die Ursache ihres Scheiterns und Unterganges. Nunmehr verstehen wir einen John Gabriel Borkman, wenn er auf seinem Todesgange von hohen Bergen aus in der Tiefe das ersehnte Traumland seines Lebens schaut, sein Reich des Glücks und der Macht und Herrlichkeit: »Ich wittere sie, die gefesselten Millionen, ich fühle die Erzadern, die ihre schlängelnden, astigen, verführerischen Arme nach mir ausstrecken. Ich will es euch zuflüstern, hier in der Stille der Nacht. Ich liebe euch, die ihr scheintot liegt in dunkler Tiefe! Ich liebe euch, ihr lebenheischenden Werke, mit eurem ganzen leuchtenden Gefolge von Macht und Herrlichkeit! Ich liebe, liebe, liebe euch!«

John Gabriel Borkman, der seine Gefühle so hart zu meistern weiß, ist im Grunde ein Dichter und Träumer wie Foldal, nur daß die Tragödie seines Lebens ungleich großartiger ist als das Trauerspiel seines Freundes. Borkman ist nicht bis zum letzten Punkte seines Strebens gelangt und damit bleibt ihm der natürliche seelische Rückschlag, den die Erreichung des Ideals auf den Schaffenden ausübt, erspart. Auf der Höhe seines Wirkens ist ihm der Verrat in den Rücken gefallen; er hält seine Strafe für einen Irrtum, glaubt an seine Unentbehrlichkeit, erwartet jeden Augenblick, daß man ihn zurückhole und im Triumphe an die Stätte seines früheren Wirkens geleite. Die verzehrende Ungeduld, mit der dieser zum Krüppel geschossene Napoleon in seiner grenzenlosen Einsamkeit die reuigen Ankläger erwartet, gehört zum erschütterndsten, was die moderne Poesie geschaffen hat. Während des ganzen ersten Aktes, in dem er nicht erscheint, ist er unsichtbar gegenwärtig. Man hört das rastlose Hin und Her seiner Schritte, man vernimmt die schaurigen Tonwellen der danse macabre, in der er den Schmerz der tatenlosen Unrast zu betäuben sucht.

Alles was man über diese Dichtung sagt, ist ungenügend. Sie will erlebt sein, mit ihrem Haß und ihrer Liebe, begriffen sein in ihrem grenzenlosen Streben und dem kalten Hohn, den Leben und Wirklichkeit diesem Streben entgegensetzen. Endlich in ihrem symbolischen Gehalt: Eine neue Generation genußreicher, freudiger, irdischer ist über dem furchtbaren Lebensernst dieser Menschen emporgewachsen. Der junge Borkman hat auch seine Lebensaufgabe und sie trifft zusammen mit dem Ideal Oswald Alvings: Er will leben, leben, leben!

» John Gabriel Borkman« ist das großartige Finale der Dichtung Ibsens. Sein ganzes bisheriges Schaffen fließt in diesem einen erhabenen Werke zusammen. Wie überhaupt die Gestalten Ibsens ganz sichtbar durch die Lebensschicksale seiner früheren Menschen hindurchgegangen sind, so daß sie den Mutterboden seiner Kunst berührend einen immer tieferen seelischen Adel, einen wachsenden inneren Reichtum empfangen und ausströmen.

Ibsen hat diesem letzten und höchsten Werk noch einen dramatischen Epilog » Wenn wir Toten erwachen« (1899) nachfolgen lassen. Es ist im Grunde eine Wiederholung seiner früheren Dramen, seit »Rosmersholm« etwa, und von Wunderlichkeiten und einer gewissen Farblosigkeit nicht freizusprechen. Das Motiv des »gemordeten Liebeslebens« (»John Gabriel Borkman«) und der zerstörten Mutterschaft (»Baumeister Solneß«) steht jetzt im Vordergrund, untermischt mit Anklängen aus »Klein Eyolf«. Rubek und Irene, Ulfheim und Frau Maja, in diesen beiden Paaren wird Ideal und Leben aufs neue versinnbildlicht. Die einen steigen empor zum Licht und zu all der strahlenden Herrlichkeit, um im Tode die verlorene Reinheit der Jugend wieder zu gewinnen; die andern aber sind von der lebendigen Freude am Dasein erfaßt, singen und jubilieren dem Tage entgegen.

In Rubek und Irene ist dann der Gegensatz Ideal und Leben noch einmal in seiner ganzen Unversöhnlichkeit dargestellt. Irene hat den Bildhauer mit ihrer jungfräulichen Schönheit zu einem großen Lebenswerke begeistert, für das sie Modell stand. Aber als er ihren begehrenden Leib verschmähte aus der gerechten Furcht sein Schaffen zu entweihen, da hat er ihr Liebesleben getötet, sie zur seelenlos hinwandelnden Lebendig-Toten gemacht. Poe erzählt in seiner Novelle »das ovale Porträt« eine ganz ähnliche Geschichte von einem Maler, der sein wunderschönes Weib abkonterfeit: » …, Und er wollte nicht sehen, daß die Farben, die er auf die Leinwand auftrug, von den Wangen der Frau verschwanden, die vor ihm saß. Und als viele Wochen vorübergegangen waren und nur noch wenig zu tun blieb – noch ein Strich über die Lippen, noch ein letzter Glanz über dem Auge – flackerte die Seele der jungen Frau noch einmal auf wie eine verglimmende Lampe. Und der Maler machte den Strich über die Lippen und legte den Glanz über das Auge, und er stand einen Augenblick wie entzückt vor dem Werke seiner Hände. Im nächsten Augenblick aber, während er noch in Anschauung versunken war, begann er zu zittern und wurde totenbleich und schrie, von einem Entsetzen jäh angefaßt, mit lauter Stimme: das ist ja das Leben selbst! und wandte sich zu seiner Geliebten. – – Sie war tot.« Ein ähnliches metaphysisches Problem, die innere Wechselwirkung zwischen Kunst und Leben behandelt bekanntlich Wildes »Bildnis des Dorian Gray«.

Bei Ibsen kehrt der Gedanke ständig wieder, daß der Mann nur in der Gemeinschaft mit dem wahlverwandten Weib das Höchste erreichen kann, aber zugleich betont er immer aufs neue die absolute Gegensätzlichkeit des männlichen Ideals, als welches im unendlichen, immer unbefriedigten Streben wurzelt, und des weiblichen, das im Leben selbst den eigensten Sinn des Daseins findet. Rubek hat durch die Unterdrückung seiner Sinnestriebe ganz seiner Kunst leben können, aber seinem metaphysischen Geiste, der sich nach der Verkörperung des Unendlichen sehnt, muß das Geschaffene schließlich als Fratze seines Ideals erscheinen. Ihn erfaßt der verzehrende Zweifel an dem Sinn seiner künstlerischen Thätigkeit, und mit einemmale erscheint ihm das Leben, der reine Genuß des Daseins als das einzig erstrebenswerte: »Ist es denn nicht unvergleichlich wertvoller, ein Leben in Sonnenschein und Schönheit zu führen, als sich bis ans Ende seiner Tage in einer naßkalten Höhle mit Thonklumpen und Steinblöcken zu Tode zu plagen?«

Diese Gefühle, die einer seelischen Krise des Helden entstammen, hat man mit unbegreiflichem Scharfsinn für ein Selbstbekenntnis des Dichters genommen. Daß auch ihm alles Geschaffene in Vergleich zu dem Gewollten nur als Stückwerk erscheinen muß, ist trivial und selbstverständlich. Alle geistige Produktion wird ja von dem, der sie wirklich durchlebt, bei Heller und Pfennig bezahlt. Sie bedeutet eine allmähliche Entladung seiner Seele und seines Geistes und läßt einen Menschen zurück, der sein Bestes hingegeben hat. Aber sollte Ibsen vielleicht am Ende seiner Bahn einen Panegyrikus auf den Künstler verfassen, ihn so voll Glück und Heiterkeit darstellen, wie er in der Vorstellung des jungen Mädchens lebt?

Ohne sich an das Leben zu verlieren, hat das Ideal seiner Helden immer höhere Forderungen gezeitigt. Ihr Individualismus mündet in das mystische Reich der Befreiung, das erst der sterbende Held erschauen darf. Vorher aber erfahren sie noch ein letztes Mal die lockende Prüfung eines Lebens ohne Ideale und sittliche Pflichten. Und bestehen sie in ihrem letzten Aufstieg »aufwärts zu den Gipfeln, zu den Sternen, und zu der großen Stille.«


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