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Es ist in einem Gerichtssaal weit draußen auf dem Lande. Am Richtertisch, hoch oben im Saal, sitzt der Richter, ein großer, stark gebauter Mann mit breitem, grobgeschnittenem Gesicht. Schon mehrere Stunden lang hat er einen Fall nach dem andern entschieden, und schließlich ist etwas wie Überdruß und Düsterkeit über ihn gekommen. Es ist schwer zu sagen, ob es die Hitze und Schwüle im Gerichtssaal ist, die ihn quält, oder ob er schlechter Laune geworden ist, durch die Beschäftigung mit allen diesen kleinlichen Zwistigkeiten, die aus keinem andern Grunde entstanden zu sein scheinen, als um die Streitlust und Unbarmherzigkeit und Gewinnsucht der Menschen zu zeigen.
Er hat gerade mit einer der letzten Verhandlungen begonnen, die an diesem Tage geführt werden sollen. Es handelt sich um die Forderung eines Erziehungsbeitrages.
Dieser Fall ist schon am vorigen Gerichtstag verhandelt worden, und das Protokoll des früheren Prozesses wird eben verlesen. Daraus erfährt man fürs erste, daß die Klägerin eine arme Dienstmagd ist und der Beklagte ein verheirateter Mann.
Weiter geht aus dem Protokoll hervor, daß der Beklagte erklärt hat, daß die Klägerin ihn mit Unrecht und nur aus Gewinnsucht hierher zitiert habe. Er gibt zu, daß die Klägerin eine Zeitlang auf seinem Hof in Dienst gestanden sei, aber er habe sich während dieser Zeit in keinerlei Liebeshandel mit ihr eingelassen, und sie habe kein Recht, irgendwelche Unterstützung von ihm zu begehren. Die Klägerin hat jedoch an ihrer Behauptung festgehalten, und nachdem man einige Zeugen vernommen hat, ist dem Beklagten aufgetragen worden, einen Schwur zu leisten, wenn er nicht verurteilt werden soll, der Klägerin die verlangte Unterstützung zu geben.
Beide Parteien haben sich eingefunden und stehen nebeneinander vor dem Gerichtstisch. Die Klägerin ist sehr jung und sieht ganz verschüchtert aus. Sie weint vor Scham und trocknet mühsam die Tränen mit einem zusammengeknüllten Taschentuch, und es scheint, als könne sie es nicht auseinanderfalten. Sie trägt schwarze Kleider, die ziemlich neu und ungetragen aussehen, aber sie sitzen so schlecht, daß man versucht ist, zu glauben, sie habe sie sich ausgeliehen, um anständig vor Gericht erscheinen zu können.
Was den Beklagten betrifft, so sieht man ihm gleich an, daß er ein wohlbestellter Mann ist. Er mag etwa vierzig Jahre alt sein und hat ein keckes und frisches Aussehen. Wie er da vor dem Richterstuhl steht, zeigt er eine sehr gute Haltung. Es sieht ja nicht aus, als fände er ein besonderes Vergnügen daran, da zu stehen, aber er macht auch durchaus keinen befangenen Eindruck.
Sobald das Protokoll verlesen ist, wendet sich der Richter an den Beklagten und fragt ihn, ob er an seinem Leugnen festhalte und ob er bereit sei, den Eid abzulegen.
Auf diese Fragen antwortet der Beklagte sogleich mit einem raschen Ja. Er fängt an, in der Westentasche zu graben, und holt ein Zeugnis des Pfarrers hervor, das bestätigt, daß er die Wichtigkeit und Bedeutung des Eides kennt und unbehindert ist, ihn abzulegen.
Während dieser ganzen Zeit hat die Klägerin nicht aufgehört, zu weinen. Sie scheint unüberwindlich scheu zu sein und hält die Augen hartnäckig zu Boden geschlagen. Sie hat den Blick noch nicht so weit erhoben, daß sie dem Beklagten ins Gesicht sehen konnte.
Als er nun sein Ja sagt, zuckt sie zusammen. Sie tritt ein paar Schritte näher an den Richterstuhl heran, so, als hätte sie etwas einzuwenden, aber dann bleibt sie stehen. Es ist wohl nicht möglich, scheint sie zu sich selbst zu sagen, er kann nicht ja gesagt haben. Ich habe nicht recht gehört.
Indessen nimmt der Richter das Zeugnis in die Hand und gibt zu gleicher Zeit dem Gerichtsdiener einen Wink. Der Gerichtsdiener tritt an den Tisch heran, um die Bibel zu nehmen und sie vor den Beklagten hinzulegen.
Die Klägerin hört, daß jemand an ihr vorbeigeht und wird unruhig. Sie zwingt sich, den Blick so weit zu heben, daß sie über den Tisch hinsehen kann, und da gewahrt sie, daß der Gerichtsdiener die Bibel zurechtschiebt.
Noch einmal sieht es aus, als wollte sie einen Einwand machen. Aber sie hält sich wieder zurück. Es ist ja nicht möglich, daß er den Eid ablegt. Der Richter muß ihn doch daran hindern.
Der Richter ist ein so kluger Mann, und er weiß gar wohl, was die Leute in seiner Heimat denken und fühlen. Er müsse doch wissen, wie streng alle die Menschen sind, sobald es sich um etwas handelt, was die Ehe betrifft. Sie kannten keine ärgere Sünde, als die, die sie begangen hat. Würde sie je so etwas von sich selbst gestanden haben, wenn es nicht wahr gewesen wäre? Der Richter könnte wohl wissen, welche furchtbare Verachtung sie sich zugezogen hatte. Und nicht nur Verachtung allein, sondern auch alles mögliche Elend. Niemand wollte sie in Dienst nehmen. Niemand wollte ihre Arbeit haben. Ihre eigenen Eltern duldeten sie kaum in ihrer Hütte, sondern sprachen jeden Tag davon, sie hinauszuwerfen. Nein, der Richter müsse wohl begreifen, daß sie keine Unterstützung von einem verheirateten Mann verlangt haben würde, wenn sie nicht ein Recht darauf hätte.
Der Richter könnte doch nicht glauben, daß sie in einer solchen Sache lüge, daß sie so furchtbares Unglück auf sich herabbeschworen hätte, wenn sie einen andern hätte anklagen können als einen verheirateten Mann. Und wenn er dies wußte, so müsse er doch den Eid verhindern.
Sie sieht, daß der Richter dasitzt und das Zeugnis des Pfarrers ein paarmal durchliest. Darum fängt sie an zu glauben, daß er eingreifen wird.
Es ist auch richtig, daß der Richter nachdenklich aussieht. Er heftet seine Blicke ein paarmal auf die Klägerin, aber dabei wird der Ausdruck des Ekels und des Überdrusses, der auf seinem Gesicht ruht, immer deutlicher. Es sieht aus, als wäre er ungünstig gegen sie gestimmt. Selbst wenn die Klägerin die Wahrheit spricht, so ist sie ja doch eine schlechte Person, und der Richter kann kein Interesse für sie empfinden.
Es kommt manchmal vor, daß der Richter in einen Prozeß eingreift, als ein guter und kluger Ratgeber, und die Parteien davor behütet, sich ganz und gar zugrunde zu richten. Aber diesmal ist er müde und überdrüssig, und er denkt an nichts andres, als dem gesetzlichen Verfahren seinen Lauf zu lassen.
Er legt das Zeugnis hin und sagt dem Beklagten mit ein paar Worten, er hoffe, daß dieser die verhängnisvollen Folgen eines falschen Schwures genau bedacht habe. Der Beklagte hört ihn mit derselben Ruhe an, die er die ganze Zeit über an den Tag gelegt hat, und antwortet respektvoll und nicht ohne Würde.
Die Klägerin hört dies mit dem äußersten Schrecken. Sie macht ein paar heftige Bewegungen und preßt die Hände zusammen. Nun will sie vor dem Richterstuhl sprechen. Sie kämpft einen furchtbaren Kampf mit ihrer Scheu und mit dem Schluchzen, das ihr die Kehle zusammenschnürt. Das Ende ist doch, daß sie kein hörbares Wort hervorbringen kann.
Der Eid soll also geleistet werden. Er wird ihn ablegen. Niemand wird ihn hindern, seine Seele zu verschwören.
Bis dahin hat sie nicht glauben können, daß es geschehen würde. Aber jetzt packt sie die Gewißheit, daß es unmittelbar bevorsteht, daß es im nächsten Augenblick eintreten wird. Ein Schrecken, der viel überwältigender ist als alles, was sie bisher gekannt hat, bemächtigt sich ihrer. Sie wird ganz versteinert, sie weint nicht einmal mehr. Die Augen stehen ihr im Kopfe still.
Es ist also seine Absicht, die ewige Verdammnis auf sich herabzubeschwören.
Sie versteht wohl, daß er sich um seines Weibes willen freischwören will. Aber wenn er auch einen schweren Stand mit ihr haben sollte, so darf er doch deshalb nicht seiner Seele Seligkeit preisgeben.
Es gab nichts Furchtbareres als einen Meineid. Es war etwas Geheimnisvolles und Gräßliches um diese Sünde. Es gab keine Gnade oder Vergebung für sie. Die Tore des Abgrundes öffneten sich von selbst, wenn der Name des Meineidigen genannt wurde.
Wenn sie jetzt die Blicke zu seinem Gesicht erhoben hätte, würde sie gefürchtet haben, es schon mit irgendeinem Zeichen der Verdammnis gestempelt zu sehen, von Gottes Zorn ihm aufgeprägt.
Während sie so dasteht und immer größere Angst sich ihrer bemächtigt, hat der Richter dem Beklagten gezeigt, wie er die Finger auf die Bibel zu legen hat. Dann schlägt der Richter im Gesetzbuch nach, um die Eidesformel zu finden.
Als sie ihn die Finger auf das Buch legen sieht, macht sie noch einen Schritt zum Richterstuhl hin, und es sieht aus, als wollte sie sich über den Tisch beugen und seine Hand fortziehen.
Aber noch wird sie von einer letzten Hoffnung zurückgehalten. Sie glaubt, daß er jetzt im letzten Augenblick noch davon abstehen wird.
Der Richter hat die Seite im Gesetzbuch gefunden, nach der er gesucht hat; und jetzt beginnt er, den Eid laut und deutlich vorzusagen. Dann macht er eine Pause, damit der Beklagte seine Worte nachsprechen kann. Und der Beklagte fängt wirklich an, sie nachzusprechen, aber er macht einen kleinen Fehler, so daß der Richter von vorn anfangen muß.
Jetzt kann sie keinen Schimmer von Hoffnung mehr haben. Jetzt weiß sie, daß er falsch schwören, daß er Gottes Zorn für das ganze zukünftige Leben auf sich herabschwören will.
Sie steht da und ringt die Hände in ihrer Hilflosigkeit. Und es ist alles ihre Schuld, weil sie ihn angeklagt hat.
Aber sie war ja ohne Arbeit, sie hungerte und fror. Das Kind lag im Sterben. An wen hätte sie sich sonst wenden sollen, um Hilfe zu finden?
Nie hätte sie auch geglaubt, daß er eine so schreckliche Sünde würde begehen können.
Jetzt hat der Richter den Eid abermals vorgesagt. In einigen Augenblicken wird die Tat vollbracht sein. Jene Tat, von der es keine Umkehr gibt, die niemals gutgemacht, niemals ausgelöscht werden kann.
Gerade als der Beklagte anfängt, den Eid nachzusagen, stürzt sie vor, schleudert seine ausgestreckte Hand beiseite und reißt die Bibel an sich.
Ein furchtbares Entsetzen hat ihr endlich den Mut gegeben. Er darf seine Seele nicht verschwören. Er darf nicht.
Der Gerichtsdiener eilt sogleich herbei, um ihr die Bibel abzunehmen und sie zur Ordnung zurückzurufen. Sie hat ungeheure Angst vor allem, was mit dem Gericht zusammenhängt, und sie glaubt, daß das, was sie jetzt getan hat, sie auf die Festung bringen wird. Aber sie gibt die Bibel nicht her. Was es auch kosten mag, er darf den Eid nicht ablegen. Er, der schwören will, läuft auch herbei, um das Buch zu ergreifen, aber sie leistet auch ihm Widerstand.
»Du darfst den Eid nicht ablegen!« ruft sie. »Du darfst nicht!«
Was jetzt vorgeht, erweckt natürlich das größte Staunen. Die Versammelten drängen sich zum Richtertisch, die Geschwornen erheben sich, der Protokollführer springt auf, mit dem Tintenfaß in der Hand, damit es nicht umgestürzt würde.
Da ruft der Richter mit lauter, zorniger Stimme: »Still!« und alle die Menschen bleiben regungslos stehen.
»Was fällt dir bei? Was hast du mit der Bibel zu schaffen?« fragt der Richter die Klägerin mit harter und strenger Stimme.
Nachdem sie ihrer Angst in einer Tat der Verzweiflung Luft gemacht hat, ist ihre Beklemmung gewichen, so daß sie antworten kann: »Er darf den Eid nicht ablegen!«
»Sei still und gib das Buch zurück!« ruft der Richter.
Aber sie gehorcht nicht, sondern umklammert das Buch mit beiden Händen.
»Er darf den Eid nicht ablegen!« ruft sie mit ungezügelter Heftigkeit.
»Ist es dir so sehr darum zu tun, den Prozeß zu gewinnen?« fragt der Richter mit immer schärferer Stimme.
»Ich will die Klage zurückziehen!« ruft sie mit lauter, schneidender Stimme. »Ich will ihn nicht zwingen zu schwören!«
»Was schreist du da?« fragt der Richter. »Hast du den Verstand verloren?«
Sie ringt heftig nach Atem und versucht sich zu beruhigen. Sie hört selbst, wie sie schreit. Der Richter muß wohl glauben, daß sie toll geworden ist, weil sie das, was sie will, nicht in ruhigen Worten sagen kann. Noch einmal kämpft sie mit sich selbst, um Macht über die Stimme zu erlangen, und diesmal gelingt es ihr. Sie sagt langsam, ernst, laut, während sie dem Richter gerade ins Gesicht sieht:
»Ich will die Klage zurückziehen. Er ist der Vater des Kindes. Aber ich habe ihn noch lieb. Ich will nicht, daß er falsch schwört!«
Sie steht aufrecht und entschlossen vor dem Richtertisch und sieht dem Richter gerade in sein strenges Gesicht. Er sitzt da, beide Hände auf den Tisch gestützt, und lange, lange wendet er den Blick nicht von ihr. Während der Richter sie betrachtet, geht eine große Veränderung mit ihm vor. All das Schlaffe und Mißvergnügte, das in seinen Zügen lag, verschwindet, und das große, grobe Gesicht wird durch die Rührung geradezu schön. Sieh da, denkt der Richter, sieh da, so ist mein Volk. Ich will mich nicht darüber beklagen, wo doch bei einer der Geringsten so viel Liebe und Gottesfurcht zu finden ist.
Plötzlich aber spürt der Richter, daß seine Augen sich mit Tränen füllen, und da zuckt er beinahe beschämt zusammen und wirft einen raschen Blick um sich. Da sieht er, daß die Schreiber und Gerichtsdiener und die ganze lange Reihe der Beisitzer sich vorgebeugt haben, um das Mädchen anzusehen, das vor dem Richtertisch steht, die Bibel an sich gedrückt. Und er sieht einen Schimmer auf ihren Gesichtern, so als hätten sie etwas richtig Schönes gesehen, das sie bis in das tiefste Herz erfreut hat.
Hierauf sieht der Richter auch über das versammelte Volk hin, und es ist ihm, als säßen alle diese Menschen stumm und atemlos da, als hätten sie gerade jetzt das gehört, wonach sie sich am meisten gesehnt.
Zu allerletzt sieht der Richter den Beklagten an. Jetzt ist er es, der mit gesenktem Kopf dasteht und zu Boden blickt.
Der Richter wendet sich abermals an das arme Mädchen. »Es soll so sein, wie du es haben willst,« sagt er. »Die Klage wird zurückgezogen,« diktiert er dem Protokollführer.
Der Beklagte macht eine Bewegung, als wollte er einen Einwand vorbringen. »Was denn? Was denn?« schreit ihn der Richter an. »Hast du vielleicht etwas dagegen?« Der Beklagte läßt den Kopf noch tiefer sinken und sagt kaum hörbar: »Ach nein, es ist wohl am besten so.«
Der Richter sitzt noch einen Augenblick still, dann schiebt er den schweren Stuhl zurück, erhebt sich und geht rings um den Tisch zur Klägerin hin.
»Ich danke dir,« sagt er und reicht ihr die Hand.
Sie hat die Bibel jetzt fortgelegt und steht da und weint und trocknet die Tränen mit dem zusammengerollten Taschentuch.
»Ich danke dir!« sagt der Richter noch einmal und ergreift ihre Hand so leicht und behutsam, als wäre sie etwas gar Feines und Kostbares.