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Sonnabend, 7. Mai.
Vor einigen Jahren wohnte auf »der Schanze«, in dem großen Park bei Stockholm, wo man so viele merkwürdige Dinge gesammelt hat, ein altes Männchen namens Klement Larsson. Er stammte aus Helsingland und war nach der Schanze gekommen, um Volkstänze und andere alte Melodien auf seiner Violine zu spielen. Als Spielmann trat er hauptsächlich des Nachmittags auf, am Vormittag hatte er in der Regel die Aufsicht in einem der kleinen Bauerhäuser, die aus allen Teilen des Landes nach der Schanze geschafft sind.
Zu Anfang fand Klement, daß er in seinen alten Tagen besser gestellt sei, als er es sich jemals hatte träumen lassen, aber nach einiger Zeit fing er an, sich entsetzlich zu langweilen, namentlich wenn er die Aufsicht führen sollte. Es ging allenfalls an, wenn Leute kamen, um das Haus anzusehen, aber es konnte geschehen, daß Klement viele Stunden ganz allein dasaß. Dann befiel ihn ein solches Heimweh, daß er fürchtete, er werde sich gezwungen sehen, seine Stellung aufzugeben. Er war aber sehr arm und wußte, daß er daheim ins Armenhaus kommen würde. Daher suchte er so lange wie möglich auszuhalten, obwohl er mit jedem Tage, der verging, unglücklicher wurde.
Eines schönen Nachmittags in den ersten Maientagen hatte Klement einige Stunden frei und war auf dem Wege, der über einen steilen Hügel von der Schanze abwärts führt, als er einem Schärenfischer begegnete, der einen Kasten auf dem Rücken trug. Es war ein junger, rüstiger Mann, der nach der Schanze zu kommen pflegte, um Seevögel feilzubieten, die er lebendig gefangen hatte, und Klement hatte schon oft mit ihm geplaudert.
Der Fischer hielt Klement an, um zu fragen, ob der Vorsteher auf der Schanze zu Hause sei, und als Klement hierauf geantwortet hatte, fragte er seinerseits, was denn der Fischer in seinem Kasten habe. »Du darfst sehen, was ich habe,« sagte der Fischer, »wenn du mir dafür einen guten Rat geben und mir sagen willst, was ich für meinen Fang fordern kann.«
Er reichte Klement den Kasten. Der guckte erst einmal hinein und dann noch einmal und zog sich darauf schleunigst ein paar Schritte zurück. »Was in aller Welt ist denn das, Asbjörn?« fragte er. »Wo hast du den gekapert?«
Er mußte daran denken, daß ihm seine Mutter, als er noch klein war, von den »Männlein« erzählt hatte, die unter dem Estrich der Scheune wohnten. Er durfte nicht weinen und nicht unartig sein, denn dann wurden die Männlein böse. Als er erwachsen war, glaubte er, die Mutter habe dies mit den Männlein ersonnen, um ihn in Schock zu halten. Das war also nicht der Fall gewesen, denn dort in Asbjörns Kasten lag so ein Männlein.
Es war etwas von der Angst des Kindes bei Klement zurückgeblieben, und es lief ihm kalt den Rücken hinab, sobald er in den Kasten sah. Asbjörn merkte, daß er bange war, und fing an zu lachen, Klement aber nahm die Sache sehr ernst. »Erzähle mir doch, wo du ihn gefunden hast, Asbjörn,« sagte er. – »Ich habe ihm nicht aufgelauert,« sagte Asbjörn, »er ist zu mir gekommen. Ich fuhr heute morgen in aller Frühe hinaus und nahm meine Flinte mit ins Boot. Kaum war ich auf offener See, als ich einige Wildgänse erblickte, die mit lautem Geschrei von Osten kamen. Ich sandte ihnen einen Schuß nach, traf aber keine. Statt dessen stürzte dieser kleine Kerl herab und fiel so dicht bei dem Boot ins Wasser, daß ich nur die Hand auszustrecken brauchte, um ihn zu fangen.« – »Du hast ihn doch nicht verletzt, Asbjörn?« – »Nicht die Spur, er ist munter und gesund. Aber gleich nachdem er angeflogen kam, war er nicht bei Besinnung, und das benutzte ich, um ihm Hände und Füße mit einem Stück Bindfaden zusammenzubinden, damit er mir nicht entfliehen sollte. Denn ich dachte mir ja gleich, daß es etwas für die Schanze sein würde.«
Während der Fischer erzählte, wurde Klement merkwürdig unruhig. Alles, was er in seiner Kindheit von den Männlein gehört hatte, von ihrer Rachsucht gegen Feinde und ihrer Güte gegen Freunde, fiel ihm wieder ein. Wer einen von ihnen gefangen hatte, dem war es nie im Leben gut ergangen. »Du hättest ihm sofort seine Freiheit schenken sollen, Asbjörn,« sagte er.
»Fast hätte ich ihn wirklich wieder laufen lassen müssen,« sagte der Fischer. »Denn, denk' nur, Klement, die Wildgänse verfolgten mich bis nach Hause, und den ganzen Morgen flogen sie über der Schäre hin und her und schrien, als verlangten sie, daß ich ihn zurückgeben sollte. Und nicht genug damit, auch das ganze Vogelvolk draußen bei uns, Möwen und Seeschwalben und alle die anderen, die keinen ehrlichen Schuß Pulver wert sind, kamen und ließen sich auf der Schäre nieder und machten einen fürchterlichen Spektakel, und sobald ich aus dem Hause ging, umflatterten sie mich, so daß ich wieder umkehren mußte. Meine Frau bat mich, ihn laufen zu lassen, aber ich hatte es mir in den Kopf gesetzt, daß er hierher, nach der Schanze sollte. Und da stellte ich denn eine von den Puppen der Kinder ins Fenster, versteckte den Kleinen ganz unten im Kasten und machte mich auf den Weg. Und die Vögel glaubten offenbar, daß er da am Fenster stünde, denn sie ließen mich gehen, ohne mich zu verfolgen.«
»Sagt er denn gar nichts?« fragte Klement. – »Ja, zuerst versuchte er, den Vögeln etwas zuzurufen, aber davon wollte ich nichts wissen, da hab' ich ihm einen Knebel in den Mund gesteckt.« – »Aber Asbjörn!« sagte Klement, »wie kannst du nur so gegen ihn handeln! Begreifst du denn nicht, daß er etwas Übernatürliches ist?« – »Ich weiß nicht, welcher Art er ist, das auszutüfteln überlasse ich anderen. Ich bin zufrieden, wenn ich nur gut für ihn bezahlt bekomme. Sag' du mir jetzt, Klement, was, meinst du, wird mir der Doktor auf der Schanze für ihn geben?«
Klement besann sich lange, ehe er antwortete. Aber es hatte ihn eine so sonderbare Unruhe um des Kleinen willen befallen. Es war ganz, als stünde seine Mutter neben ihm und sagte, er müsse immer gut gegen die Männlein sein. »Ich weiß nicht, was es dem Doktor da oben belieben mag, dir zu bezahlen, Asbjörn,« sagte er. »Aber wenn du ihn mir lassen willst, so will ich dir zwanzig Kronen dafür bezahlen.«
Als der Spielmann die große Summe nannte, sah Asbjörn ihn mit grenzenlosem Staunen an. Er dachte, Klement glaube, daß der Kleine eine heimliche Macht besitze und ihm von Nutzen sein könne. Er war keineswegs sicher, daß der Doktor eine so hohe Meinung von seinem Fang haben und ihm einen so hohen Preis dafür bezahlen werde. Und so nahm er denn Klements Anerbieten an.
Der Spielmann steckte seinen Kauf in eine seiner geräumigen Taschen, kehrte nach der Schanze zurück und ging in eine der Sennhütten, wo weder Besuch noch Aufsicht war. Er zog die Tür hinter sich zu, nahm den Kleinen heraus und legte ihn vorsichtig auf eine Bank; der war noch an Händen und Füßen gebunden und sein Mund war zugestopft.
»Höre jetzt, was ich sage,« begann Klement. »Ich weiß sehr wohl, daß Leute deiner Art nicht gern von Menschen gesehen werden, sondern lieber still umhergehen und die Dinge auf eigene Hand ordnen mögen. Darum habe ich gedacht, dir deine Freiheit zu geben, jedoch nur unter der Bedingung, daß du hier im Park bleibst, bis ich dir erlaube, von hier fortzugehen. Gehst du darauf ein, so nicke dreimal mit dem Kopf.«
Klement sah den Kleinen erwartungsvoll an, der aber rührte sich nicht.
»Du sollst es schon gut haben,« sagte Klement. »Ich will dir jeden Tag Essen hinstellen, und ich glaube, du wirst hier viel zu tun bekommen, so daß dir die Zeit nicht lang wird. Aber du darfst nirgends hinreisen, ehe ich dir die Erlaubnis dazu gebe. Wir können ein Zeichen verabreden. Solange ich dir Essen in einer weißen Schale hinsetze, sollst du hierbleiben. Stelle ich dir aber eine blaue Schale hin, so darfst du reisen.«
Wieder schwieg Klement und er wartete, daß der Kleine ein Zeichen geben sollte, der aber rührte sich nicht.
»Ja,« sagte Klement, »dann bleibt mir wohl nichts weiter übrig, als dich dem Herrn hier zu zeigen. Und dann wirst du in einen Glasschrank gesetzt, und alle Menschen in ganz Stockholm kommen, um dich zu sehen.«
Dies schien den Kleinen jedoch zu erschrecken, und kaum hatte Klement ausgeredet, als er das Zeichen gab.
»Das ist recht,« sagte Klement, nahm sein Messer und durchschnitt die Schnur, mit der die Hände des Kleinen gebunden waren. Dann ging er schnell auf die Tür zu.
Der Junge löste das Band um seine Knöchel und nahm den Knebel aus dem Munde, ehe er an etwas anderes dachte. Als er sich dann nach Klement Larsson umwandte, um ihm zu danken, war der schon verschwunden.
*
Klement war kaum zur Tür hinausgekommen, als er einem schönen und vornehmen alten Herrn begegnete, der sich offenbar auf dem Wege nach einem herrlichen Aussichtspunkt dort in der Nähe befand. Klement konnte sich nicht entsinnen, den vornehmen alten Herrn schon früher gesehen zu haben, der aber hatte Klement offenbar einmal bemerkt, als er Violine spielte, denn er hielt ihn an und ließ sich auf ein Gespräch mit ihm ein.
»Guten Tag, Klement,« sagte er. »Wie geht es dir? Du bist doch nicht krank? Ich finde, du bist in der letzten Zeit so mager geworden.«
Der alte Herr hatte etwas so unbeschreiblich Freundliches, daß Klement Mut faßte und ihm erzählte, wie sehr er unter dem Heimweh leide.
»Aber hör' einmal!« sagte der alte vornehme Herr. »Du sehnst dich nach Hause, wenn du in Stockholm bist? Das kann doch nicht möglich sein!«
Und der vornehme alte Herr sah beinahe beleidigt aus. Aber dann mochte ihm wohl einfallen, daß der, zu dem er sprach, nur ein unwissender alter Bauersmann aus Helsingland war, und da wurde er wieder so wie vorher.
»Du hast wohl noch nie gehört, wie Stockholm entstanden ist, Klement. Wüßtest du das, so würdest du verstehen, daß es nur eine Einbildung von dir ist, wenn du dich von hier wegsehnst. Komme mit mir nach der Bank da, dann will ich dir ein wenig von Stockholm erzählen.«
Als der vornehme alte Mann sich auf die Bank gesetzt hatte, sah er erst eine Weile auf Stockholm hinab, das in all seiner Pracht unter ihm ausgebreitet lag, und dann atmete er tief auf, als wolle er die ganze Schönheit der Stadt einatmen. Darauf wandte er sich an den Spielmann.
»Sieh einmal, Klement,« sagte er, und während er sprach, zeichnete er in dem Kiesgang zu ihren Füßen eine kleine Karte. »Hier liegt Uppland, und hier schiebt es nach Süden zu eine Landzunge vor, in die eine Menge Buchten einschneiden. Und hier kommt Sörmland mit einer anderen Landzunge, die ebenso eingeschnitten ist und schnurgerade nach Norden geht. Und hier kommt ein See von Westen her, der ist voller Inseln: das ist der Mälar. Und hier kommt von Osten her ein anderes Gewässer, das vor lauter Inseln und Schären kaum weiterkommen kann, das ist die Ostsee. Und hier, Klement, wo Uppland sich mit Sörmland begegnet, und der Mälarsee mit der Ostsee zusammentrifft, läuft ein kleiner Fluß, der heißt Norrström, und mitten im Norrström liegen drei Werder.
Anfangs waren diese Werder nichts weiter als gewöhnliche Werder mit ein paar Bäumen darauf, von der Art, wie sie noch heute zahlreich im Mälar liegen, und sie lagen lange Zeit ganz unbewohnt da. Eine gute Lage hatten sie ja freilich, da sie mitten zwischen zwei Gewässern und zwei Landschaften lagen, aber das beachtete niemand. Ein Jahr nach dem anderen ging dahin. Die Leute siedelten sich auf den Mälarinseln und draußen in den Schären an, aber die drei Werder im Strom bekamen keine Einwohner. Ausnahmsweise konnte es wohl einmal geschehen, daß ein Schiffer bei einem von ihnen anlegte und sein Zelt für die Nacht dort aufschlug.
Niemand aber blieb dauernd dort.
Es war schon spät im Sommer, und das Wetter war noch schön, obwohl die Abende bereits anfingen, dunkel zu werden. Der Fischer zog sein Boot an Land, legte sich daneben, den Kopf auf einem Stein und schlief ein. Als er erwachte, war der Mond schon lange aufgegangen. Er stand gerade über seinem Kopf und leuchtete gar prächtig, so daß es fast ganz hell war.
Der Mann fuhr in die Höhe und wollte eben das Boot ins Wasser schieben, als er eine Menge schwarzer Punkte sich draußen auf dem Meer bewegen sah. Es war eine große Schar Seehunde, die in voller Fahrt auf den Werder zukamen. Als der Fischer sah, daß die Seehunde scheinbar an Land kriechen wollten, duckte er sich nieder, um nach seinem Spieß zu suchen, den er immer im Boot bei sich hatte. Als er sich aber wieder aufrichtete, waren keine Seehunde mehr zu sehen; statt ihrer standen am Ufer des Sees die schönsten jungen Mädchen in schleppenden, grünen seidenen Gewändern und mit Perlenkränzen im Haar. Da begriff der Fischer, daß es Meerjungfrauen waren, die auf den öden Schären, weit draußen im Meer wohnten, und die nun Seehundkleider angelegt hatten, um an Land zu schwimmen und sich im Mondschein auf den grünen Werdern zu belustigen.
Ganz leise legte er den Spieß wieder hin, und als die Meerjungfrauen auf den Werder hinaufkamen, um zu spielen, schlich er hinterdrein und betrachtete sie. Er hatte gehört, daß die Meerjungfrauen so schön und anmutig sein sollten, daß niemand sie sehen könne, ohne von ihrer Schönheit bezaubert zu sein, und er mußte zugeben, daß dies keine Übertreibung war.
Als er ihrem Tanz unter den Bäumen eine Weile zugesehen hatte, ging er an den Strand hinab, nahm eines der Seehundkleider, die dort lagen, und versteckte es unter einem Stein. Dann kehrte er nach seinem Boot zurück, legte sich daneben und stellte sich schlafend.
Bald darauf sah er die Meerjungfrauen an den Strand hinab kommen, um die Seehundkleider anzuziehen. Anfangs war alles Spiel und Fröhlichkeit, bald aber verwandelte es sich in Jammer und Klagen, weil eine von ihnen ihr Gewand nicht finden konnte. Sie liefen alle am Ufer hin und her und halfen ihr suchen, keine aber fand es. Während sie so liefen und suchten, sahen sie, daß der Himmel hell wurde und daß der Tag nahe war. Da schien es, als könnten sie nicht länger bleiben, sie schwammen alle davon bis auf diejenige, die kein Seehundkleid hatte. Die blieb am Strande sitzen und weinte.
Der Fischer hatte ja freilich großes Mitleid mit ihr, aber er zwang sich, ruhig liegen zu bleiben, bis es heller Tag geworden war. Da stand er auf und schob das Boot in die See hinaus, und als er die Ruder schon erhoben hatte, tat er so, als erblicke er sie ganz zufällig. ›Was für eine bist denn du?‹ rief er. ›Bist du eine Schiffbrüchige?‹
Sie stürzte auf ihn zu und fragte, ob er nicht ihr Seehundkleid gesehen habe, der Fischer aber tat so, als verstehe er nicht einmal, wonach sie ihn fragte. Da setzte sie sich wieder hin und weinte, aber nun schlug er ihr vor, zu ihm in sein Boot zu kommen. ›Komm mit nach Hause in meine Hütte,‹ sagte er. ›Dann kann meine Mutter sich deiner annehmen. Du kannst doch nicht hier auf dem Werder sitzen bleiben, wo du weder ein Bett noch einen Bissen Essen bekommen kannst!‹ Und er sprach so gut, daß sie sich überreden ließ, zu ihm in das Boot zu kommen.
Der Fischer wie auch seine Mutter waren unbeschreiblich gut gegen die arme Meerjungfrau, und sie schien sich sehr wohl bei ihnen zu befinden. Mit jedem Tage wurde sie fröhlicher, sie half der Alten bei der Arbeit und war ganz so wie ein Fischermädchen, nur daß sie viel schöner war als alle die anderen. Eines Tages fragte der Fischer sie, ob sie seine Frau werden wolle, und dagegen hatte sie nichts einzuwenden; sie sagte sogleich ja.
Da rüstete man zur Hochzeit, und als die Meerjungfrau als Braut geschmückt werden sollte, zog sie ihr grünes, seidenes Kleid an und flocht den schimmernden Perlenkranz in ihr Haar, so wie sie gekleidet gewesen war, als der Fischer sie zum erstenmal gesehen hatte. In jenen Zeiten gab es in den Schären weder Pfarrer noch Kirche. Die Brautleute setzten sich in ein Boot und ruderten auf den Mälar und ließen sich in der ersten Kirche trauen, zu der sie kamen.
Der Fischer hatte seine Braut und seine Mutter im Boot und er segelte so gut, daß er allen anderen voraus war. Als er so weit gekommen war, daß er den Werder im Strom sehen konnte, wo er seine Braut gewonnen hatte, die nun so stolz und geschmückt an seiner Seite saß, konnte er sich eines Lachens nicht erwehren. ›Worüber lachst du?‹ fragte sie. – ›Ach, ich denke an die Nacht, als ich dein Seehundkleid versteckte,‹ antwortete der Fischer, denn nun fühlte er sich ihrer so sicher, daß er meinte, er brauche ihr nichts mehr zu verbergen. – ›Was sagst du da?‹ fragte die Braut. ›Ich habe doch nie ein Seehundkleid besessen.‹ Es war, als habe sie alles vergessen. ›Weißt du denn nicht mehr, wie du mit den Meerjungfrauen getanzt hast?‹ fragte er. – ›Ich weiß nicht, was du meinst,‹ sagte die Braut. ›Ich glaube, du hast über Nacht einen wunderlichen Traum gehabt.‹
›Wenn ich dir nun dein Seehundkleid zeige, wirst du mir dann glauben?‹ fragte der Fischer und steuerte im selben Augenblick auf die Insel zu. Sie gingen an Land und sie fanden das Gewand unter dem Stein, wo er es versteckt hatte.
Kaum aber sah die Braut das Seehundkleid, als sie es ihm entriß und sich über den Kopf warf. Es umschloß sie, als sei es lebend, und sie stürzte sich sofort in den Strom.
Der Bräutigam sah sie davon schwimmen; er sprang ihr nach ins Wasser, konnte sie aber nicht erreichen. Als er sah, daß er sie auf keine andere Weise zurückhalten konnte, griff er in seiner Verzweiflung nach dem Spieß und warf ihn nach ihr. Er traf besser, als er gewollt hatte, denn die arme Seejungfrau stieß einen klagenden Schrei aus und verschwand in der Tiefe.
Der Fischer blieb am Strande stehen und wartete darauf, daß sie wieder zum Vorschein kommen würde. Da aber sah er, daß sich ein milder Schein ringsumher über das Wasser verbreitete. Es strahlte in einer Schönheit, wie er nie zuvor etwas Ähnliches gesehen hatte. Es schimmerte und glitzerte rosenrot und weiß, so wie die Farben im Innern einer Muschel schillern.
Als die glitzernden Wellen gegen das Ufer schlugen, war es dem Fischer, als wenn auch die sich veränderten. Sie waren voller Blumen und Duft, ein milder Glanz lag über ihnen, so daß sie eine Schönheit erhielten, wie sie sie nie zuvor besessen hatten.
Und er verstand, woher dies alles kam. Denn mit den Seejungfrauen verhält es sich so, daß, wer sie sieht, sie schöner finden muß als alle anderen, und als sich nun das Blut der Meerjungfrauen mit dem Wasser vermischte und an den Ufern hinaufschlug, ging ihre Schönheit auch auf die Ufer über, und fortan mußten alle, die sie sahen, sie lieben und sich von Sehnsucht zu ihnen hingezogen fühlen.«
Als der vornehme alte Herr in seiner Erzählung so weit gekommen war, wandte er sich nach Klement um und sah ihn an, und Klement nickte ihm ernsthaft zu, sagte aber nichts, um die Erzählung nicht zu unterbrechen.
»Nun mußt du achtgeben, Klement,« fuhr der alte Herr fort, und es kam auf einmal ein schelmisches Aufblitzen in seine Augen, »daß seit jener Zeit die Leute anfingen, sich auf den Werdern niederzulassen. Zuerst waren es nur Fischer und Bauern, die sich da draußen ansiedelten, aber eines schönen Tages kamen der König und sein Jarl den Strom hinaufgefahren. Sie sprachen sogleich von den drei Werdern, und sie machten einander darauf aufmerksam, daß jedes Schiff, das in den Mälarsee hineinsegeln wollte, an ihnen vorüberfahren müsse. Und der Jarl sagte, hier müsse man ein Schloß vor das Fahrwasser legen, das man nach Belieben öffnen und schließen könne: die Handelsschiffe müßten hineingelassen und die Seeräuberflotten ausgeschlossen werden.
»Und siehst du, daraus wurde Ernst,« sagte der alte Herr und erhob sich und begann wieder mit seinem Stock im Sand zu zeichnen. »Auf der größten von den Inseln hier baute der Jarl eine Burg mit einem großen Wachtturm, der Kärnan genannt wurde. Und rings um den Werder baute er Mauern, wie du es hier siehst. Und hier nach Süden zu setzte er ein Tor in die Mauer und einen starken Turm darüber. Er baute Brücken zu den anderen Werdern hinüber und versah auch die mit hohen Türmen. Und draußen im Wasser, rings um das alles herum, errichtete er einen Kreis von Pfählen mit Schlagbäumen, die geöffnet und geschlossen werden konnten, so daß keine Schiffe ohne seine Erlaubnis vorübersegeln konnten.
Du siehst also, Klement, daß die drei Werder, die hier so lange unbeachtet gelegen haben, sehr bald eine starke Festung wurden. Aber nicht genug damit. Diese Küsten und Sunde ziehen Menschen an, und bald kamen von allen Seiten Leute herbei und siedelten sich auf den Werdern an. Um dieser Menschen willen erbaute der Jarl eine Kirche, die bald den Namen Storkyrka erhielt. Sie lag hier, dicht neben der Burg, und hier innerhalb der Mauern lagen die kleinen Hütten, die sich die Ansiedler zimmerten. Viel Staat war nicht damit zu machen, aber mehr war zu jener Zeit nicht erforderlich, um als Stadt zu gelten. Und die Stadt wurde Stockholm genannt, und so heißt sie noch heutigen Tages.
Und dann kam die Zeit, Klement, wo der Jarl nach seiner großen Arbeit zur Ruhe gehen mußte, und doch sollte es Stockholm nicht an Baumeistern fehlen. Es kamen Mönche ins Land – Schwarze Brüder nannten sie sich – und Stockholm zog sie an sich, so daß sie um Erlaubnis baten, sich dort ein Kloster bauen zu dürfen. Es wurde auch auf dem Stadtholm, auf der anderen Seite der Storkyrka gebaut. Und es kamen andere Mönche, die sich die Grauen Brüder nannten. Auch sie baten um Erlaubnis, in Stockholm zu bauen, aber es war wohl kein Platz zu ihrem Kloster auf dem großen Werder. Deswegen wurde es auf einem der kleineren errichtet, auf dem, der nach dem Mälar hinaus liegt, und der seit jener Zeit Graamunkeholmen heißt. Der dritte Werder wurde von frommen Brüdern bebaut, die sich Heiligegeistbrüder nannten und sich hauptsächlich mit Krankenpflege beschäftigten. Sie bauten hier ein Krankenhaus, und nach ihnen heißt der Werder Helgandsholm.
Sieh, nun waren die drei Werder schon voller Häuser, Klement, aber es strömten noch immer Leute herbei, denn diese Küsten und Sunde sind, wie du weißt, so, daß sie die Menschen anziehen. Da kamen fromme Frauen vom Sankte-Klara-Orden, und baten um Baugrund. Ihnen blieb nichts weiter übrig, als sich am nördlichen Ufer anzusiedeln, auf Nörrmalm, wie es hieß. Sie waren sicher nicht übermäßig zufrieden hiermit, denn über Nörrmalm läuft ein hoher Bergrücken, und dort hatte die Stadt ihren Galgenberg, so daß dies eine verachtete Gegend war. Trotzdem bauten die Klaraschwestern ihre Kirche und ihr großes Klostergebäude an dem Ufer, gerade unter dem Bergrücken. Und als sie sich erst in dieser Gegend niedergelassen hatten, bekamen sie bald Nachahmer. Ein gutes Stück nördlich von der Stadt, oben auf dem Bergrücken selbst, baute man ein Krankenhaus mit einer Kirche, die Sankt Jörgen geweiht wurde, und gerade unter dem Bergrücken wurde eine Kirche für Sankt Jakob errichtet.
Auch auf Södermalm, wo sich die Felsenklippe steil aus dem See erhebt, begann man zu bauen. Dort errichtete man eine Kirche zu Ehren der Jungfrau Maria.
Aber du mußt nicht glauben, daß nur Klosterleute nach Stockholm zogen, Klement. Da waren auch viele andere. Vor allem waren da eine Menge deutscher Kaufleute und Handwerker. Sie waren tüchtiger als die schwedischen und wurden gut aufgenommen. Sie ließen sich in der Stadt innerhalb der Mauern nieder, rissen die armseligen kleinen Häuser herunter, die schon dort standen und bauten neue, prächtige, steinerne Häuser. Aber es war nur ein wenig Platz in den Häusern, sie mußten sie dicht nebeneinander legen, mit den Giebeln nach den schmalen Gassen hinaus.
Ja, du siehst, Klement, Stockholm übte eine große Anziehungskraft auf die Menschen aus.«
Jetzt ward ein anderer Herr sichtbar, der schnell den Gang hinabgegangen kam, gerade auf die beiden zu. Aber der Herr, der mit Klement sprach, winkte mit der Hand, und der andere blieb in einiger Entfernung stehen. Der vornehme alte Herr kam wieder nach der Bank und setzte sich neben den Spielmann.
»Jetzt sollst du mir einen Gefallen tun, Klement,« sagte er. »Ich habe keine Zeit, länger mit dir zu sprechen, aber ich will dafür sorgen, daß dir ein Buch über Stockholm zugeschickt wird, und das sollst du von Anfang bis zu Ende durchlesen. Nun habe ich, sozusagen, den Grund von Stockholm für dich gelegt, Klement. Studiere nun selbst weiter und mache dich bekannt damit, wie die Stadt gelebt und sich verändert hat! Lies, wie die kleine, enge, mauerumschlossene Stadt auf den Werdern sich ausbreitete und zu diesem großen Häusermeer wurde, das wir hier unter uns sehen. Lies, wie der dunkle Turm Kärnan das schöne helle Schloß hier unten geworden ist, und wie die Kirche der Grauen Mönche die Grabstätte der schwedischen Könige wurde. Lies, wie der eine Werder nach dem anderen sich mit Gebäuden füllte! Lies, wie die Kohlgärten auf Södermalm und Nörrmalm zu Parks oder zu bebauten Stadtvierteln wurden! Lies, wie die Bergrücken abgetragen und die Sunde ausgefüllt wurden! Lies, wie der abgesperrte Tierpark der Könige die liebste Zufluchtsstätte des Volkes wurde! Du mußt dich bemühen, vertraut mit Stockholm zu werden, Klement. Diese Stadt ist nicht nur die Stadt der Stockholmer. Sie gehört dir und ganz Schweden.
Und wenn du dann von Stockholm liest, Klement, so denke daran, daß ich die Wahrheit gesprochen habe, und daß die Stadt die Kraft besitzt, alle an sich zu ziehen! Zuerst zog der König hierher, dann bauten die vornehmen Herren ihre Paläste hier. Darauf ward einer nach dem anderen angezogen, so daß Stockholm jetzt, wie du siehst, nicht mehr eine Stadt für sich selbst oder für die nähere Umgegend ist. Es ist eine Stadt für das ganze Land geworden.
Du weißt ja, Klement, daß in jeder Landgemeinde ein Gemeinderat abgehalten wird, in Stockholm aber wird der Reichstag für das ganze Volk abgehalten. Du weißt, daß im ganzen Lande in jeder Harde Richter angestellt sind, in Stockholm aber ist ein Gericht, das über alle die anderen das Urteil spricht. Du weißt, daß überall im Lande Reserven und Truppen sind, in Stockholm aber sitzen die, die den Befehl über das ganze Heer haben. Überall im Lande gehen Eisenbahnen, von Stockholm aus wird aber das Ganze geleitet. Hier ist die Oberhoheit für Geistliche, für Ärzte, für Lehrer, für Hardesvögte und Ortsvorsteher. Hier ist der Mittelpunkt dieses Landes, Klement. Von hier kommt das Geld, das du in deiner Tasche hast, von hier kommen die Briefmarken, die wir auf unsere Briefe kleben. Von hier kommt für einen jeden Schweden etwas. Und hier haben alle Schweden etwas zu tun. Hier braucht sich niemand fremd zu fühlen und sich nach Hause zu sehnen. Hier sind alle Schweden zu Hause.
Und wenn du von alledem liesest, was hier in Stockholm vereint ist, Klement, so vergiß nicht das letzte, was diese Stadt an sich gezogen hat. Das sind diese alten Bauerhäuser auf der Schanze. Das sind Spielleute und Märchenerzähler. Alles, was alt und gut ist, hat Stockholm hier nach der Schanze hinaufgezogen, um es zu ehren, und damit es draußen im Volk zu Ehren kommen soll.
Vor allen Dingen aber, Klemmt, vergiß nicht, daß, wenn du von Stockholm liest, du hier an diesem Platz sitzen mußt. Du sollst das muntere, glitzernde Spiel der Wellen und die strahlenden, grünen Küsten anschauen. Du mußt dafür sorgen, daß du von dem Zauber erfaßt wirst, Klement!«
Der schöne, alte Herr hatte die Stimme erhoben, so daß sie stark und gebieterisch klang, und seine Augen blitzten. Nun erhob er sich, machte eine Bewegung mit der Hand und verließ Klement. Und im selben Augenblick wurde es Klement klar, daß es ein sehr vornehmer Herr sein müsse, der mit ihm geredet hatte, und er verbeugte sich, so tief er konnte.
*
Am nächsten Tag kam ein königlicher Lakai mit einem großen, roten Buch und einem Brief an Klement, und in dem Briefe stand, daß das Buch vom König sei.
Von diesem Augenblick an war der kleine, alte Klement Larsson viele Tage lang ganz aus dem Häuschen, und es war fast unmöglich, ein vernünftiges Wort aus ihm herauszubringen. Als eine Woche vergangen war, ging er zu Doktor Hagelius und kündigte seine Stellung. Er sei gezwungen, nach Hause zu reisen. »Was hast du da zu suchen? Plagt dich noch immer das Heimweh?« fragte der Doktor, – »Ach nein,« sagte Klement, »damit hat es jetzt nichts mehr auf sich, aber ich muß trotzdem nach Hause.«
Klement war sehr mit sich zu Rate gegangen, denn der König hatte gesagt, er solle sich mit Stockholm vertraut machen und suchen, sich dort zurecht zu finden, aber Klement konnte es nicht aushalten, ehe er denen daheim nicht erzählt hatte, daß der König ihm dies gesagt habe. Er konnte nicht anders, er mußte daheim auf dem Kirchenhügel stehen und vornehm und gering erzählen, daß der König so gut gegen ihn gewesen sei, daß er auf derselben Bank mit ihm gesessen und ihm ein Buch geschenkt und sich Zeit gelassen habe, mit ihm, einem armen, alten Spielmann, eine ganze Stunde zu reden, um ihn von seinem Heimweh zu kurieren. Es war etwas Großes, es den Lappen und den Mädchen aus Dalarna hier auf der Schanze zu erzählen, aber das war doch nichts dagegen, es daheim zu erzählen!
Wenn Klement auch im Armenhause stranden sollte, so würde das nach diesem nicht so hart sein. Er war jetzt ein ganz anderer Mann als vorher, und würde auf ganz andere Weise geachtet und geehrt werden.
Und dies neue Sehnen wurde Klement zu stark. Er mußte zum Doktor und ihm sagen, daß er gezwungen sei, zu reisen.