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Auf Måbacka gab es einmal ein Kindermädchen, das Back-Kajsa hieß. Back-Kajsa war sicherlich drei Ellen lang und sie hatte ein großes, grob geschnittenes Gesicht mit strengen, finsteren Zügen; ihre Hände waren hart und voller Risse, in denen beim Kämmen die Haare der Kinder hängen blieben, und sie war düster und trübsinnig.
Ein solches Menschenkind schien nicht gerade zum Kindermädchen geschaffen zu sein, und Frau Lagerlöf hatte sich auch sehr lange besonnen, ehe sie sie dingte. Back-Kajsa hatte noch nie zuvor gedient, ihre Herkunft machte sie auch nicht anziehender und von guten Manieren hatte sie keine Ahnung, denn sie war in der armseligen Kate Backarna weit droben auf der Waldhöhe oberhalb Mårbacka aufgewachsen, wo kein Mensch ringsum wohnte.
Aber es war offenbar kein anderes Mädchen zu finden gewesen, und so hatte man Back-Kajsa schließlich doch genommen. Daß sie kein Bett machen konnte, kein Feuer im Ofen zustande brachte und kein Bad zuzurichten verstand, darauf war Frau Lagerlöf ja vorbereitet, und es war auch nicht schwer, dem Mädchen dies beizubringen. Back-Kajsa war auch durchaus willig, das Kinderzimmer zu scheuern, Staub zu wischen und die Kleider der Kinder zu waschen. Aber was Frau Lagerlöf ihr nicht beizubringen vermochte, das war mit Kindern umzugehen. Sie wollte nicht mit ihnen spielen, sagte ihnen niemals ein freundliches Wort und kannte kein Märchen und kein Lied. Sicherlich wollte sie nicht häßlich gegen die Kinder sein, aber Lärm und Ausgelassenheit waren ihr nun einmal zuwider. Es wäre ihr am allerliebsten gewesen, wenn jedes der Kinder ruhig und still auf seinem Stühlchen gesessen hätte, ohne etwas zu sprechen und ohne sich zu rühren.
Immerhin war Frau Lagerlöf soweit ganz zufrieden mit Back-Kajsa. Wenn sie auch keine Geschichten erzählen konnte, so hatten die Kinder auf Mårbacka dafür ja noch ihre Großmutter. Jeden Vormittag, gleich nach dem Ankleiden, kam diese und setzte sich auf das Ecksofa im Schlafzimmer; sofort war dann auch schon die ganze Kinderschar um sie versammelt, und sie sang mit ihnen und erzählte ihnen Geschichten bis zum Mittagessen. Außerdem hatten die Kinder auch noch einen herrlichen Spielkameraden an ihrem Vater, dem Leutnant Lagerlöf, der in jeder freien Stunde mit ihnen herumtollte.
Back-Kajsa war kräftig und geduldig und pflichtgetreu, und man konnte sich unbedingt auf sie verlassen. Wenn die Herrschaft nach auswärts eingeladen war, so konnte man ganz sicher sein, daß das Mädchen nicht wegging und die Kinder allein im Kinderzimmer ließ. Back-Kajsa wäre wirklich ganz vortrefflich gewesen, hätte sie nur eine etwas leichtere Hand gehabt. Aber es war kein zarter Griff, mit dem sie die kleinen Ärmchen in die Kleiderärmel hineinschob; wenn sie die Kinder wusch, kam ihnen beständig der Seifenschaum in die Augen, und beim Kämmen hatten sie stets das Gefühl, als würden ihnen die Haare ausgerissen.
Das Kinderzimmer auf Mårbacka war eine helle, warme und geräumige Stube, die beste im ganzen Hause; aber sie hatte allerdings den Fehler, ein Giebelzimmer zu sein; um dahin zu gelangen, mußte man erst in den unteren Flur hinunter, die Treppe wieder hinauf und dann noch über einen Bodenraum. Die Bodentreppe aber war steil und für kleine Füße recht beschwerlich; so war es stets hochwillkommen gewesen, wenn das vorige Kindermädchen eines der Kleinen auf den Arm genommen und die Treppe hinaufgetragen hatte; Back-Kajsa aber fiel es nicht im Schlafe ein, das zu tun. Überdies war dieser Bodenraum ein schrecklich unheimlicher Ort, besonders des abends nach Einbruch der Dunkelheit; da wäre es für kleine Hände eine Hilfe gewesen, sich in eine große hineinschmiegen zu können.
Aber Back-Kajsa, die den großen, wilden Wald gewöhnt war, hielt den Bodenraum auf Mårbacka wohl für einen traulichen und sicheren Ort. Sie ging stramm geradeaus ihres Wegs und streckte keinem der Kinder eine Hand hin. Jedes konnte froh sein, wenn es ihm gelang, auch nur einen Zipfel ihres Rocks zu erhaschen.
Die Betten, in denen die drei Kinder schliefen, waren von dem prächtigen alten Schreiner in Askersby angefertigt worden, und sie waren wunderschön geschmückt mit einer Reihe gedrehter Stäbchen rings um das Kopfende. Aber es waren sogenannte Schlafkommoden; denn so groß auch die Kinderstube war, die drei Betten nahmen doch sehr viel Platz weg, und so war es recht zweckmäßig, daß man sie tagsüber ineinanderschieben konnte. Das war an und für sich kein Fehler; aber wieviel Mühe der prächtige alte Schreiner sich auch mit den Betten gegeben haben mochte, sie hatten nun einmal das Bestreben, sich mitten in der Nacht ganz auseinanderzuschieben.
Wenn einem das widerfuhr, wurde man natürlich in hellem Schrecken aus dem süßesten Schlummer gerissen, und fand man das Bett mitten auseinandergefallen, dann versuchte man auf dem oberen Teil in sich zusammenzukriechen, in der Hoffnung wieder einzuschlafen. Aber das gelang nicht, und nach einer Weile streckte man die Beine aus und ließ sie hinunterhängen. So lag man und wartete auf den Schlaf, bis man so hellwach war wie am lichten Tage, und dann entschloß man sich endlich, aufzustehen und zu versuchen, das Bett wieder zusammenzuschieben. Und meinte man, damit zu Rande gekommen zu sein und waren die Bettücher wieder schön zurechtgelegt, kroch man so vorsichtig wie möglich ins Bett und dehnte und streckte sich mit Wohlbehagen. Alles ging vortrefflich, der Schlaf kam herbeigeschlichen. Aber dann machte man eine unvorsichtige Bewegung und schon fuhr das ganze Bett mit Gepolter wieder auseinander, und mit allen Hoffnungen auf Schlaf war es für diese Nacht aus und vorbei.
Back-Kajsa aber verschlief das alles, und keinem der Kinder kam es in den Sinn, man könne sie wecken und um Hilfe bitten. Das vorige Kindermädchen war sofort aufgewacht, wenn eines der Betten auseinanderfiel, und hatte es flink wieder zusammengeschoben, ohne daß man sie darum zu bitten brauchte.
Gerade über dem Kinderzimmer befand sich noch ein enger kleiner Bodenraum, der mit alten zerbrochenen Webstühlen und Spinnrocken vollgestellt war, und zwischen diesem Gerümpel hauste eine Eule. Dieses Tier hatte eine ganz merkwürdige Fähigkeit, einen unglaublichen Spektakel zu vollführen. Bei Nacht klang es in den Ohren der Kinder, als ob jemand schwere, dicke Klötze über ihren Köpfen hin und her schöbe. Aber wenn ihnen bei dem Lärm bange geworden war, hatte das vorige Kindermädchen nur gelacht und gesagt, das sei nichts zum Fürchten, es sei nur die Eule. Back-Kajsa jedoch, die aus dem Walde kam, fürchtete sich vor allen Tieren. Für sie waren es böse Geister, und wenn sie nachts durch die Eule geweckt wurde, holte sie ihr Gesangbuch und fing an zu beten. Das trug indes ganz gewiß nicht dazu bei, die Angst der Kleinen zu vermindern, im Gegenteil, es vermehrte nur noch ihre Furcht, und in ihrer Phantasie wuchs sich die arme Eule zu einem großen Ungeheuer mit einem Katzenkopf und Adlerflügeln aus. Es ist nicht zu schildern, wie sehr die Kleinen bis ins innerste Herz erschraken bei dem Gedanken, daß ein so unheimliches Wesen über ihnen wohnte. Wie, wenn es mit seinen gewaltigen Klauen einmal die Decke aufrisse und zu ihnen herabkäme!
Niemand kann behaupten, Back-Kajsa habe die Kinder vernachlässigt oder geschlagen. Das sah ihr gar nicht gleich. So darauf bedacht, die Kinder sauber und unversehrt zu erhalten, wie Back-Kajsa, war zwar das vorige Kindermädchen nicht gewesen, dafür aber gegen die Kleinen überaus zutunlich und freundlich.
Was die Kinder damals als ihren höchsten Schatz betrachteten, das waren drei kleine Holzstühlchen. Sie waren ein Geschenk des prächtigen alten Schreiners in Askersby. Es war den Kindern nicht ganz klar, ob diese Stühlchen eine Entschuldigung sein sollten für die mißratenen Betten; aber sie glaubten es fast. Die Stühlchen waren jedenfalls nicht mißraten, sie waren fest und dauerhaft. Man konnte sie als Tisch und als Schlitten verwenden; die Kinder konnten damit in der ganzen Stube herumreiten, sie konnten hinaufsteigen und wieder hinunterspringen, oder sie konnten sie hinlegen und Hof und Stall daraus bauen, kurz, es gab überhaupt nichts, wozu diese Stühlchen nicht zu gebrauchen gewesen wären.
Aber warum die Kinder einen so ungeheuern Wert auf sie legten, das verstand man erst, wenn man sie umdrehte. Da sah man, daß auf der Unterseite eines jeden Stühlchens eines der Kinder gemalt war. Auf dem einen sah man Johann, einen blaugekleideten Jungen mit einer ungeheuern Peitsche in der Hand; auf dem andern konnte man Anna sehen, ein süßes kleines Mädchen im roten Kleidchen und gelben Schäferhut, das an einem Blumenstrauß roch, und auf dem dritten erblickte man Selma, ein kleines Wackelpeterchen mit blauem Kleidchen und gestreiftem Schürzchen, mit nichts auf dem Kopf und nichts in der Hand.
Diese Bilder waren da hingemalt worden, um anzuzeigen, wem jedes Stühlchen gehörte, und deshalb nahmen die Kinder sie auch viel nachdrücklicher für ihr Eigentum als ihre Kleider und anderes, was sie von ihren Eltern bekommen hatten. Die Kleider, ach, die wanderten von einem zum andern, das erfuhren sie ja selbst alle Tage, und ihre feinen Spielsachen wurden entweder eingeschlossen oder auf die Eckbrettchen in der guten Stube gestellt; sie aber der Stühlchen zu berauben, die durch ihre Bilder bezeichnet waren, nein, das würde nie und nimmer irgend jemand einfallen.
Daher war es auch wirklich abscheulich von Back-Kajsa, daß sie zuweilen alle drei Stühlchen auf die hohe Kommode aus Birkenholz stellte, denn da konnten die Kinder sie nicht erreichen. Allerdings hatte sie dann gerade vorher das Zimmer gescheuert und die Stühlchen hätten häßliche Spuren zurückgelassen, wenn sie über den nassen Boden gezogen worden wären; aber das frühere Kindermädchen hätte es nie übers Herz gebracht, ihnen die Stühlchen auch nur für einen Augenblick wegzunehmen.
Nein, Back-Kajsa, das neue Kindermädchen, verstand nicht mit den Kleinen umzugehen, das sah Frau Lagerlöf wohl. Die Kinder fürchteten sich vor ihr und fühlten sich nicht wohl in ihrer Gegenwart. Aber Back-Kajsa war für ein Jahr gedingt, und ehe es um war, konnte man sie nicht gut fortschicken. Frau Lagerlöf hoffte auch, im Sommer, wenn die Kinder den ganzen Tag im Freien spielen könnten und das Kindermädchen weniger brauchten, werde alles besser gehen.
Eines Vormittags, ganz zu Anfang des Sommers, geschah es jedoch, daß das jüngste Töchterchen allein im Kinderzimmer gelassen worden war. Sie saß in ihrer Schlafkommode und wunderte sich, wo alle die anderen geblieben sein könnten, und dabei war es ihr sonderbar wirr und unbehaglich zumute.
Als sie ein wenig zu sich gekommen war, fiel ihr ein, daß sie morgens mit den Geschwistern den Leutnant Lagerlöf zum Åsquell hatte begleiten dürfen, um dort zu baden. Nach ihrer Rückkehr hatte Back-Kajsa alle drei ganz angekleidet in ihre Bettchen gelegt, damit sie bis zum Mittagessen schlafen sollten.
Aber Annas und Johanns Betten waren jetzt leer, also mußten sie wohl aufgestanden und ihrer Wege gegangen sein.
Vielleicht waren sie schon unten im Garten und spielten. Die Kleine verdroß es, daß sie weggegangen waren und sie allein im Kinderzimmer gelassen hatten. Aber da war nichts zu machen. Sie mußte nun eben aus dem Bettchen klettern und den andern nachlaufen.
Sie war dreiundeinhalbes Jahr alt und konnte schon ganz allein die Tür aufmachen und auch die Bodentreppe hinuntersteigen. Aber allein durch den Bodenraum wandern, das war das allerschlimmste Wagestück, und deshalb blieb sie auch liegen und horchte eifrig, ob nicht jemand käme und sie holte.
Ach nein, auf der Treppe war kein Schritt zu hören, sie mußte die Reise auf eigene Faust unternehmen. Aber als sie aus ihrem Bett steigen wollte, vermochte sie es nicht.
Sie versuchte es immer wieder aufs neue, sank aber stets nur in die Kissen zurück. Es war geradeso, als gehörten ihr ihre Beine gar nicht mehr, sie hatte die Gewalt über sie ganz verloren.
Das kleine Mädchen geriet außer sich vor Entsetzen. Das Gefühl von Ohnmacht, das sie beschlich, als der Körper ihr den Dienst versagte, war so unheimlich, daß sie sich noch lange, lange nachher, ja ihr ganzes Leben lang daran erinnern konnte.
Natürlich fing sie an zu weinen. Sie war ganz verzweifelt und fühlte sich unsäglich verlassen, und dabei war kein erwachsener Mensch in der Nähe, der sie hätte trösten oder ihr hätte helfen können.
Sie blieb indes nicht lange allein. Die Türe ging auf und Back-Kajsa erschien. »Willst du denn heute nicht herunterkommen und zu Mittag essen, Selma?« fragte sie. »Die Großen haben – –«
Weiter kam sie nicht. Das kleine Mädchen dachte gar nicht mehr daran, daß es das unfreundliche Kindermädchen war, das in der Türöffnung stand. In ihrer großen Verzweiflung sah die arme Kleine nur eins: jetzt war ein erwachsener Mensch gekommen, der ihr helfen konnte, und sie streckte die Arme flehend nach Back-Kajsa aus.
»Komm und hol' mich, Back-Kajsa!« rief sie. »Komm und hol' mich!«
Als Back-Kajsa an das Bett trat, schlang ihr das Kind die Arme um den Hals und klammerte sich so fest an, wie sich noch nie ein Kind an ihr festgehalten hatte. Ein leichtes Beben durchzuckte Back-Kajsa, und ihre Stimme war nicht ganz sicher, als sie fragte: »Was hast du denn, Selma? Bist du krank?« – »Ich kann nicht mehr gehen, Back-Kajsa,« schluchzte die Kleine.
Da hoben sie auch schon zwei starke Arme empor, so leicht, als wäre sie nur ein kleines Kätzchen; und plötzlich wußte das ernste, herbe Wesen auch, wie sie mit einem Kinde sprechen mußte.
»Deshalb mußt du nicht weinen, Selma«, sagte sie. »Ich werde dich tragen.«
Damit war der ganze Kummer der Kleinen wie weggeblasen. Nun fühlte sie sich nicht mehr verlassen und unglücklich. Was tat es, wenn sie nicht mehr gehen konnte, wenn Back-Kajsa sie tragen wollte? Das brauchte ihr niemand zu sagen, sie wußte es schon genau: wer einen so prächtigen, starken Freund hatte wie Back-Kajsa, dem konnte es nicht schlecht gehen.
Johann und Anna fühlten sich sehr zurückgesetzt, weil man so viel Aufhebens von Selmas Erkrankung machte.
Das war auch ganz verständlich. Johann war sieben Jahre alt und lernte schon lesen bei Herrn Tyborg. Er war ein Junge und galt eigentlich fast für das älteste Kind. Allerdings hatte er einen älteren Bruder, aber der war ja nie daheim, sondern lebte bei den Großeltern in Filipstadt. Und jetzt auf einmal kümmerte sich kein Mensch mehr um Johann, sondern jedermann hatte nur noch Gedanken für das jüngste Mädchen.
Anna aber war schon fünf Jahre alt und konnte bereits stricken und nähen; sie war sehr niedlich anzusehen, und überdies war sie die älteste Tochter und Mamas Herzblatt. Aber was hatte man denn von alledem, seit Selma sich's hatte einfallen lassen, krank zu werden?
Alle großen Leute vergehen ja fast vor Rührung, wenn sie ein Kind sehen, das nicht gehen kann. »Wie soll das arme Wurm durchs Leben kommen?« sagen sie. »Von der Welt bekommt es nie etwas zu sehen, es muß immer still auf einem Fleck sitzen. Heiraten kann es nicht und selber für sich sorgen ebensowenig. Es ist wirklich hart für die Kleine.« Und alle waren so überaus zärtlich und mitleidig mit dem armen Ding. Johann und Anna hatten wirklich nichts dagegen, aber man sollte doch andere Kinder nicht ganz und gar darüber vergessen.
Wer aber alle anderen übertraf, das war Back-Kajsa. Sie trug Selma auf ihrem Rücken, sie scherzte mit ihr und erzählte ihr, sie sei ein richtiger kleiner Engel. Und Vater und Mutter, die Großmutter und die Tante waren auch nicht viel besser. Hatte nicht der alte prächtige Schreiner in Askersby einen kleinen Wagen für Selma machen müssen, in dem Back-Kajsa sie umherfuhr? Und durften Johann und Anna diesen Wagen auch nur ein einziges Mal nehmen, um Sand darin zu fahren? Nein, der gehörte ja Selma, der durfte nicht schmutzig werden.
Johann und Anna wußten alle beide recht wohl, daß früher, als Selma noch gehen konnte, wirklich nichts Besonderes mit ihr gewesen war. Aber jetzt konnte kein Besuch ins Haus kommen, ohne daß man sie zu ihm hineintrug, damit er sie sehen und sich mit ihr beschäftigen konnte. Jeder Bauernfrau, die in die Küche kam, wurde Selma von Back-Kajsa vorgezeigt, und das ärgerlichste war noch, daß Back-Kajsa jedem überdies vorredete, wie lieb und wie interessant die Kleine sei. Niemals weine sie, nie sei sie schlechter Laune, obwohl sie sich gar nicht bewegen könne. O, Johann und Anna hätten es verwunderlich finden müssen, wenn sie etwa nicht lieb gewesen wäre! So gut, wie sie's hatte! Herumgetragen und hofiert und verwöhnt den lieben langen Tag!
Ja, Johann und Anna stimmten darin überein, daß Back-Kajsa überaus wunderlich sei. Sie ärgerte sich, weil Frau Lagerlöf ein Kleidchen für Anna nähte, das schöner als Selmas war. Und wenn sich's jemand einfallen ließ, Johann einen lieben, artigen Jungen zu heißen, so verkniff sie sich nie die Bemerkung, es wäre auch eine große Schande, wenn er sich nicht artig aufführte, da er doch gehen und sich rühren könne, wie er wolle.
Daß der alte Doktor Hedberg in Sunne Selmas wegen immer wieder aufs neue geholt wurde, nun ja, das war nach Johanns und Annas Ansicht nicht mehr als recht und billig. Auch konnte nichts dagegen gesagt werden, wenn Högmanns Inga, die ab und zu auf den Hof kam, um die Schweine und Kühe zu »besprechen«, ebenfalls um Rat gefragt wurde. Aber jedenfalls ging es zu weit, daß die Großmutter, die Haushälterin und Back-Kajsa einmal, als Leutnant Lagerlöf verreist war, sich zusammentaten und die gefährliche alte Hexe von der Högbergalm nach Mårbacka kommen ließen, die in jeder Walpurgisnacht ihren Besen schmierte und zum Blocksberg ritt. Johann und Anna hatten gehört, sie habe die Macht, allein durch ihren Blick ein Haus in Brand zu stecken. Sie vergingen auch fast vor Angst, solange die Hexe auf Mårbacka war, und fanden es recht schlecht von Back-Kajsa, so gruselige Menschen auf den Hof zu bringen.
Natürlich sollte Selma wieder gesund werden, das wünschten die Geschwister von ganzem Herzen, ja mehr als alle die andern wünschten sie sich, die Schwester wieder frisch und munter zu sehen. Aber sie konnten eben nichts Merkwürdiges daran finden, daß Selma sich eine Krankheit angeschafft hatte, die niemand heilen konnte. Back-Kajsa aber fand es höchst merkwürdig. Und als weder Doktor Hedberg, der sie schon so oft von Husten und Brustschmerzen kuriert hatte, noch Högmanns Inga, die eine so glückliche Hand bei Kühen und Schweinen besaß, und die greuliche Hexe von der Högbergalm, die einen Besen lebendig machen konnte, Selma zu heilen vermochten, da wurde das Kind für Back-Kajsa immer merkwürdiger. Ja, als Leutnant Lagerlöf vollends mit ihr nach Karlstadt fuhr und sie zu dem Stabsarzt Haak, dem vornehmsten Doktor in Karlstadt, brachte, dieser aber auch nicht helfen konnte, da wäre Back-Kajsa vor Hochmut bald geplatzt. Wäre es da nicht viel besser gewesen, Selma hätte eine Krankheit gehabt, die geheilt werden konnte?
Johann und Anna sagten sich, das allerschlimmste aber sei, daß Back-Kajsa viel zu gut gegen Selma sei, weil diese dadurch ganz und gar verzogen werde. So klein Selma auch war, soviel hatte sie doch bald heraus, daß sie nicht so gehorsam zu sein brauchte wie die andern Kinder, die auf ihren Beinen stehen konnten. Vor allem brauchte sie nicht zu essen, was sie nicht mochte. Wenn ihr Frau Lagerlöf gedämpfte Mohrrüben oder Spinat oder hart gekochte Eier oder Biersuppe vorlegte, brauchte sie durchaus nicht wie früher ihre Portion ganz aufzuessen. Sie durfte nur ihren Teller wegschieben, gleich lief Back-Kajsa in die Küche und holte ihr etwas, was ihr schmeckte.
Aber damit noch nicht genug. Johann und Anna merkten noch etwas anderes: nachdem weder Doktor Hedberg, noch Högmanns Inga, noch die greuliche Hexe von der Högbergalm Selma hatten herstellen können, kam sie sich selbst so interessant vor, daß sie überhaupt keine Alltagskost mehr zu sich nahm, sondern gerade noch mit gebratenen Hähnchen und neuen Kartoffeln oder mit Erdbeeren und Schlagsahne vorlieb nahm. Und als sie vollends in Karlstadt gewesen war und selbst Doktor Haak nichts für sie hatte tun können, wollte sie nichts anderes mehr essen als Heringe und Backwerk.
Johann und Anna hatten auch gehört, Tante Nana Hammargren in Karlstadt sei Selmas wegen ganz außer sich, ja sie habe Selma geradezu den Hungertod prophezeit. Und Johann und Anna waren nun fest überzeugt, daß die Sache schief gehen werde, wenn nicht bald eine Änderung eintrete.
Und dann trat wirklich eine Änderung ein.
Eines Morgens nahm Back-Kajsa die Kleine auf den Rücken und trug sie in das Küchenzimmer. Dort stand eine große, breite Schlafkommode, in der die alte Frau Lagerlöf zu schlafen pflegte; Back-Kajsa trat an das Bett, setzte Selma zwischen die Kissen nieder und sagte: »Hier gibt's was zu sehen für dich.«
Das Bett war schön gemacht, aber es hatte in der Nacht niemand darin geschlafen, und auch jetzt lag niemand darin. Die alte Frau Lagerlöf, die sonst immer erst spät am Morgen fertig zu werden pflegte, saß schon angekleidet auf dem Sofa, und Mamsell Lovisa Lagerlöf, die auch in diesem Zimmer wohnte, war ebenfalls auf und fertig angezogen. Beide sahen sehr vergnügt aus, und als das kleine Mädchen in den Kissen saß, kamen sie zu ihr hin.
»Ja, Herzchen, heut nacht haben wir hohen Besuch bekommen«, sagte die Großmutter und lächelte ihr zu. Selma fing auch an zu lachen, denn es gab doch nichts Schöneres, als wenn Besuch kam.
Dabei sah sie sich im Zimmer um und wunderte sich, wo der Besuch geblieben sein möchte. Jedenfalls war er nicht hier im Zimmer. Nicht in dem gelben Eckschrank, nicht hinter der hohen Wanduhr und nicht unter Tantes Chiffonière. Es gab überhaupt nur ein richtiges Versteck im Zimmer, nämlich die eingebaute Kellertreppe; aber dort konnte sich der vornehme Besuch nicht verkrochen haben.
All das kam Selma sehr sonderbar vor. Wozu saß sie denn in Großmutters Bett, und warum standen alle um sie her und starrten auf das Bett, wie wenn der Besuch darin zu finden wäre? Ratlos sah sie von einem zum andern. Da beugte sich Mamsell Lovisa vor und rückte etwas an den Kissen, und nun sah Selma, daß neben ihr im Bett ein kleines längliches Bündel lag, aber sie achtete nicht weiter darauf. Großmutter hatte ja gesagt, es sei hoher Besuch gekommen, und unter hohem Besuch verstand man Besuche, die von weither gereist kamen und große Tüten mit Zuckerwerk und Spielsachen für die Kinder mitbrachten. Und nach einem solchen Besuch schaute sie sich um.
»Ist er dort drin?« fragte sie und zeigte auf die Saaltüre. Sie versuchte auch zu horchen, ob sie im nächsten Zimmer sprechen höre. Das frohe und aufgeräumte Aussehen der andern steigerte ihre Erwartung.
»Aber er ist ja neben dir!« sagte nun die Großmutter und deutete auf das längliche Bündel. Ja, nun sah Selma, daß dieses Bündel zwei winzige Händchen hatte und ein kleines, runzliges Gesicht.
Verächtlich blickte sie auf das Wickelkind. O, Wickelkinder hatte sie ja schon öfter gesehen, und dafür interessierte sie sich nicht. Sie wandte die Augen weg, und ihre Gedanken waren bei dem Besuch mit den Zuckertüten.
»Siehst du, das ist ein Schwesterchen, das heute nacht zu dir gekommen ist, und du mußt recht lieb zu ihm sein«, sagte Tante Lovisa.
Darauf war Selma nicht vorbereitet. Eine neue Schwester wäre ja schön und gut gewesen, wenn sie hätte gehen und sprechen können. Aber das Wickelkind da hatte keinerlei Bedeutung für sie.
Doch nun wurde ihr plötzlich klar, daß gar kein Besuch gekommen war. Großmutter hatte niemand anders gemeint als das kleine Dingelchen, und das hatte natürlich kein Zuckerwerk mitgebracht.
Als sie das begriffen hatte, fühlte sie sich bitter enttäuscht. Sie konnte ihre Tränen nicht zurückhalten, und Back-Kajsa mußte sie wieder auf den Rücken nehmen und in die Küche hinaustragen, damit der hohe Besuch nicht aufgeweckt werde.
Ach, Selma hatte wohl Ursache zu weinen, denn von nun an war die Zeit ihres Glückes und ihrer Macht zu Ende. Back-Kajsa mußte Frau Lagerlöf bei der Pflege des kleinen Ankömmlings helfen, und dieser war noch hilfloser und unverständiger als sie selber. Dem konnte man ja nicht vernünftig zureden, und so war es jetzt immer Selma, die warten und sich gedulden mußte.
Auch beeilte man sich nun nicht mehr so sehr, sie den Besuchern vorzuzeigen. Jetzt mußte das Wickelkind betrachtet und bewundert werden. Von Selma war plötzlich alles Merkwürdige abgefallen, und sie war nichts Besseres mehr als Johann und Anna. Das gab manche traurige Stunde im Laufe des folgenden Jahres. Nicht allein waren Kuchen und Heringe zu Ende für sie. Nein, jetzt kam niemand mehr, ihr den Teller wegzunehmen und andres Essen zu bringen, wenn Frau Lagerlöf gedämpfte Mohrrüben oder Spinat oder grüne Erbsen vor sie hinstellte. O nein, Selma mußte jetzt essen, was ihr vorgesetzt wurde.
Wenn Anna ein schöneres Kleidchen bekam als Selma, so machte niemand mehr Bemerkungen darüber. Im Gegenteil, alle fanden es ganz in der Ordnung, da Anna die älteste Tochter war.
Ja, zuweilen war Selmas kleines Herz recht schwer, denn sie war nicht ganz sicher, ob Back-Kajsa diese kleine Schwester nicht ebenso lieb habe wie bisher ihren Liebling Selma.
Back-Kajsa und ihr Schützling waren auf Reisen unterwegs. Sie saßen auf dem Bock der großen Kutsche neben dem Stallknecht Magnus, der von der Verantwortung, mit drei Pferden auf dem entsetzlichen Weg nach Karlstadt zu fahren, so ergriffen war, daß er kein Wort reden konnte.
Innen im Wagen saßen Frau Luise Lagerlöf und Mamsell Lovisa Lagerlöf mit Johann und Anna auf dem Rücksitz. Es war unbeschreiblich viel schöner auf dem Bock, wo man die Pferde sehen konnte, als unter dem Wagenverdeck eingeschlossen zu sein, und Johann hätte auch viel lieber neben dem Kutscher gesessen. Aber Frau Lagerlöf hatte gesagt, es gehe unmöglich an, Back-Kajsa auf den Rücksitz zu klemmen, und Selma mußte natürlich fahren, wo Back-Kajsa fuhr. Leutnant Lagerlöf war auch mit auf der Reise, aber er fuhr in seinem kleinen Chaischen allein vor den andern her.
Nun war es schon ein ganzes Jahr her, seit das kleine Mädchen die Krankheit in den Beinen bekommen hatte, und noch konnte es weder stehen noch gehen. Jetzt wollte man einen wirklich ernsthaften Versuch machen, dem Übel beizukommen, nämlich durch einen Aufenthalt an der Westküste. Selma war die einzige Kranke unter den Reisenden, aber einen Sommer lang Seebäder nehmen, das konnte ja für alle miteinander nur zuträglich sein.
Als Selma auf dem Kutschbock saß, hatte sie ihr Leiden fast vergessen. O wie schön war es doch, so mit Back-Kajsa in die Welt hinauszufahren, besonders da das Kleinste daheimgeblieben war! Nun kamen sicherlich die alten Tage des Glückes wieder, die sie nie vergessen konnte.
Sie schmiegte sich dicht an Back-Kajsa, schlang ihr die Arme um den Hals und fragte sie immer wieder aufs neue, ob sie sich nicht auch sehr freue, daß sie beide nun ungestört zusammen sein würden?
Back-Kajsa gab ihr zwar keine Antwort darauf, aber das kümmerte Selma nicht weiter. Back-Kajsa hatte ja nie zu den redseligen Menschen gehört.
Die große Landstraße nach Karlstadt war damals genau wie heute noch überreich an Hügeln. Da war der krumme Bävikshügel und der Gunnarsbyhügel, der eine halbe Meile lang war, und der steile Aufstieg zu den Sundgårdsbergen, und da war Kleva, der gefährlichste von allen, weil der Weg an einem Abgrund hinführte. Es ging bergauf bergab, als reise man zwischen Himmel und Erde. Leutnant Lagerlöf hatte drei Pferde vor den Wagen spannen lassen, damit die Fahrt leichter vonstatten gehe, aber diese Anordnung war ungewohnt für Kutscher und Gespann.
Wenn etwas die Freude des kleinen Mädchens, Back-Kajsa wieder ganz für sich zu haben, noch erhöhen konnte, so war es diese Fahrt hoch auf dem Kutschbock mit drei widerspenstigen Pferden vor sich, die den schweren Wagen wie ein Spielzeug hinter sich herzogen und ihn um die Kehren schwangen, daß er nur noch auf zwei Rädern stand. Das war eine beständige Abwechslung, und zuweilen standen die Pferde mit steifen Beinen und glitten auf den Flanken den Hügel hinunter; dann wieder, wenn es gar zu steil bergab ging, mußte der Kutscher Magnus von seinem Sitz aufstehen und wie toll die Peitsche gebrauchen, um die Tiere ins Laufen zu bringen, damit der hohe Wagen sich nicht überschlug.
Mitten in einer solchen herrlichen Hügelfahrt wendete sich die Kleine aufs neue an das Kindermädchen mit der Frage:
»Back-Kajsa, bist du nicht auch froh, daß du wieder mit mir allein bist? Bist du nicht froh, daß das Kind nicht mit ist?«
Aber auch jetzt kam keine Antwort, und als Selma sich verwundert umdrehte, um dem Kindermädchen ins Gesicht zu gucken, sah sie, daß Back-Kajsa aschfahl, mit starren Augen und zusammengepreßtem Mund sich krampfhaft am Kutschbock festhielt.
»Back-Kajsa, bist du nicht froh?« fragte die Kleine. Aber nein, Back-Kajsa war ganz und gar nicht froh, das sah Selma jetzt deutlich, und über diese Entdeckung wäre sie fast in Tränen ausgebrochen.
Doch jetzt gab Back-Kajsa endlich Antwort.
»Sei still, Selma! Man soll nicht sprechen, wenn man mitten in der Gefahr schwebt. So etwas Schreckliches hab' ich noch nie erlebt, und nur um deinetwillen bin ich nicht schon lange ausgestiegen und heimgelaufen.«
Die Kleine saß ganz still und überlegte diese Antwort. Befriedigt war sie nicht. Wenn sie bei Back-Kajsa war, fürchtete sie sich nie. Und sie meinte, dann dürfe Back-Kajsa sich auch nicht fürchten, wenn sie bei ihr sei. Wenn sie nicht ausstieg und heimlief, so war das ja sehr schön; aber noch viel schöner wäre es gewesen, wenn sie sich so gefreut hätte, daß gar keine Furcht in ihr aufgekommen wäre.
Die Bewohner von Mårbacka waren noch immer auf der Reise. Aber jetzt saßen sie nicht mehr in der großen Kutsche, sondern nun waren sie an Bord eines schönen Dampfers, der Uddeholm hieß.
Den ganzen Tag hatten sie in Karlstadt mit Verwandtschaftsbesuchen und Einkäufen zugebracht; aber gegen Abend waren sie aus der Stadt hinausgefahren, hatten eine gute Weile auf einer langen Brücke gestanden, die geradeaus in den schönen Wenersee hineinlief, und da gewartet. Back-Kajsa hatte auch gleich wieder Angst bekommen, weil der See in der einen Richtung vollständig ohne Ufer war und es ihr schien, als habe die Welt dort ein Ende. Höchst merkwürdig war das allerdings gewesen, nicht nur für Back-Kajsa, sondern auch für die anderen, als der schöne weiße Dampfer gerade aus dem Uferlosen aufgetaucht und auf die Brücke zugefahren war, um die Familie an Bord zu nehmen.
Als Back-Kajsa den Herrn Leutnant, seine Frau, Mamsell Lovisa und Johann und Anna ohne Zögern über den Landungssteg schreiten sah, da war sie auch mitgegangen. Sie traute dem Leutnant Lagerlöf wohl so viel Gewissen zu, daß er seine kleinen Kinder nicht absichtlich der Todesgefahr aussetzte. Aber wie es gehen sollte, wenn sie an die Stelle kamen, wo die Welt zu Ende war, das begriff sie jedenfalls nicht.
Sie wäre gern auf Deck geblieben, um zu sehen, ob das Wasser geradewegs in einen Abgrund stürze oder wohin es sonst floß; aber sobald es zu dämmern begann, waren die Damen und Kinder von Mårbacka gebeten worden, unter Deck zu gehen. Da waren sie in einen Raum geführt worden, den man eine Kajüte hieß. Das war der kleinste Raum, der ihnen je zu Gesicht gekommen war, und dort hatten sie sich für die Nacht eingerichtet.
Auf einem schmalen Sofa, das die eine Langwand einnahm, lag Frau Lagerlöf ganz angekleidet, und ihr gegenüber auf einem gleichen Sofa lag Mamsell Lovisa. Über Frau Lagerlöf, in einer Art von Regal, war Johann untergebracht, und in einem gleichen Regal über Mamsell Lovisa die kleine Anna. Auf dem Boden zwischen den beiden Sofas lag Back-Kajsa auf einer Wolldecke und neben ihr das kranke Mädchen; damit war aber auch der ganze Raum vollständig ausgefüllt. Kein noch so winziges Plätzchen war mehr übrig, wo man hätte sitzen, liegen oder stehen können.
Man hatte das Licht gelöscht, sich gute Nacht gewünscht und zum Schlafen niedergelegt; und eine gute Weile war auch alles ruhig und still geblieben.
Aber allmählich fing der Boden, auf dem Back-Kajsa und das Kind lagen, ganz sonderbar an auf und ab zu schwanken, und die Kleine rollte wie ein Ball erst an Frau Lagerlöfs Sofa und dann wieder zurück zu Back-Kajsa. Das war ein Spaß und tat dem kleinen Mädchen nicht im geringsten weh. Sie konnte nur nicht begreifen, warum der Boden nicht stille hielt.
Nach einer Weile hörte sie, wie ihre Mutter und Tante Lovisa miteinander flüsterten.
»Ich habe wohl zu viel von dem fetten Lachs bei Sjösteds gegessen«, sagte Frau Lagerlöf.
»Ja, ich hielt das gleich für ein sehr unverständiges Essen. Sie wußten doch, daß wir auf den Wener gingen«, versetzte Mamsell Lovisa.
»Ja, der Wener hat seine Tücke«, meinte Frau Lagerlöf mit einem Seufzer.
Auch Back-Kajsa fing an zu flüstern. »Sagen Sie doch, gnädige Frau, sind wir nun da angekommen, wo der See aufhört und das Wasser in den Abgrund stürzt?«
»Meine Liebe, der See nimmt die ganze Nacht noch kein Ende«, antwortete Frau Lagerlöf, die nicht verstand, was das Mädchen meinte.
Es blieb wieder still, aber nicht ruhig. Der Boden schaukelte auf und ab, und die Kleine rollte immer wieder hin und her.
Nun strich Frau Lagerlöf ein Zündholz an und machte Licht. »Ich muß nachsehen, ob die Kinder sich an den Regalen festhalten können«, sagte sie.
»Gottlob, daß du Licht gemacht hast!« rief Tante Lovisa. »Schlafen kann man ja keinesfalls.«
»Ach, gnädige Frau und Mamsell Lovisa, fühlen Sie denn nicht, daß es immer mehr abwärts geht?« jammerte Back-Kajsa. »Ach, wie sollen wir aus solcher Tiefe wieder heraufkommen? Wie können wir jemals wieder heimkommen?«
»Was kann sie wohl meinen?« fragte Mamsell Lovisa ihre Schwägerin.
»Sie sagt, wir seien an der äußersten Grenze angekommen«, antwortete Frau Lagerlöf, die ebensowenig wie Mamsell Lovisa begriffen hatte, was Back-Kajsa meinte.
Wieder lagen alle still, jedes mit seinen Gedanken beschäftigt. Das kleine Mädchen hatte die Empfindung, daß sich die andern fürchteten. Ihr selber ging es ganz ausgezeichnet; sie lag wie in einer großen Wiege.
Aber jetzt faßte jemand nach der Türklinke. Ein roter Vorhang wurde zur Seite geschoben, und Leutnant Lagerlöf stand lachend unter der Tür und schaute in die Kajüte hinein.
»Wie steht's, Gustav? Gibt es Sturm?« fragte Frau Lagerlöf hastig.
»So, ihr seid wach!« sagte Leutnant Lagerlöf. »Ja, der Wind hat ein wenig aufgefrischt«, fuhr er in ruhigem Tone fort. »Der Kapitän meinte, ich sollte einmal heruntergehen und euch sagen, es werde nicht schlimmer, als es jetzt ist.«
»Was hast du im Sinn?« fragte Tante Lovisa. »Willst du dich nicht auch hinlegen?«
»Ja, wo sollte ich denn liegen, Lovischen?« versetzte Leutnant Lagerlöf.
Er hatte eine so gutmütige und treuherzige Art, als er sich jetzt in dieser überfüllten Kajüte nach einem etwaigen Liegeplatz umschaute, daß alle zusammen in helles Gelächter ausbrachen. Frau Lagerlöf und Mamsell Lovisa, die gerade noch so ängstlich und halb seekrank dagelegen hatten, mußten sich aufsetzen, um nach Herzenslust lachen zu können. Johann und Anna lachten oben in ihren Regalen, so daß sie herunterzufallen drohten; Back-Kajsa vergaß, daß sie nun bald an der Stelle sein mußten, wo der See zu Ende war, und lachte mit, und die Kleine neben ihr kugelte sich vor Lachen.
Leutnant Lagerlöf lachte selten, aber er stand seelenvergnügt unter der Tür, denn hinein konnte er ja nicht kommen.
»Na, gefährlich sieht es nicht aus bei euch«, sagte er, als das Lachen sich legte. »Da will ich wieder hinaufgehen und mit dem Kapitän plaudern.«
Damit sagte er gute Nacht und ging seines Weges. In der Kajüte aber kehrte nun die Bangigkeit zurück und mit ihr die Anzeichen von Seekrankheit. Frau Lagerlöf machte wieder vergebliche Versuche, Back-Kajsa zu beruhigen, die fortwährend auf den Augenblick wartete, wo alle in einen Abgrund versinken würden. Das kleine Mädchen aber mußte eingeschlafen sein, denn die weiteren Erlebnisse dieser Nacht kamen ihr nicht mehr zum Bewußtsein.
Jetzt waren wohl die größten Beschwerlichkeiten für die Reisenden überstanden. Sie brauchten nicht mehr zu fürchten, auf dem schlechten Weg nach Karlstadt umgeworfen oder auf dem Wenersee seekrank zu werden, sondern nun waren sie glücklich in Göteborg angekommen. Jetzt war alles Ungemach vergessen, und bei dem schönen Sommerwetter waren sie ausgezogen, sich die Stadt anzusehen.
Als sie durch die Osthafenstraße wanderten, schritt Leutnant Lagerlöf voraus, den Stock in der Hand, den Hut im Nacken und die Brille auf der Nase. Hinter ihm kam Frau Lagerlöf mit Johann an der Hand, ihr folgte Mamsell Lovisa, die Anna führte, und den Schluß bildete Back-Kajsa mit Selma. Sie trug das Kind auf dem Arm, weil sie es nicht für passend hielt, es auf dem Rücken zu tragen, solange sie in der Stadt waren.
Leutnant Lagerlöf trug einen braunen Rock und einen hellen Strohhut. Frau Lagerlöf und Mamsell Lovisa prangten in weißen Panamahüten mit breiten, nickenden Rändern und in großen, echten, gewirkten Umschlagtüchern, die, ins Dreieck gelegt, ihre weiten schwarzseidenen Röcke und feinen Samttaillen mit weißem Einsatz sowie die weiten bauschigen Manschetten fast ganz bedeckten. Johann hatte einen Blusenanzug an aus schwarzem Samt und Anna ein steif gestärktes, blaugetupftes Kattunkleidchen sowie Hut und Sonnenschirm und Krinoline. Selma trug das gleiche blaugetupfte, steif gestärkte Kattunkleidchen, hatte aber keinen Hut, sondern einen zu Hause angefertigten weißen Helgoländer auf dem Kopf und weder Sonnenschirm noch Krinoline.
Während Leutnant Lagerlöf so dahinschritt, drehte er sich ab und zu um und betrachtete die Frauen und Kinder, die hinter ihm herkamen. Er nickte und lachte, und man konnte ihm wohl anmerken, wie er sich freute, sie bei sich zu haben.
»Hier ist noch keines von uns je gewesen«, sagte er, »nun wollen wir uns aber auch alles ansehen.«
Sie wanderten also die Straße entlang und betrachteten die Häuser und die Kanäle mit ihren Brückchen, die Wagen und die Spaziergänger, die Schilder und die Gaslaternen, aber am meisten interessierten sie doch die Schaufenster.
Leutnant Lagerlöf drängte nicht vorwärts, im Gegenteil, alle miteinander sollten sich nach Herzenslust sattsehen und vergnügen. »Hier kennt uns niemand«, sagte er, »guckt nur, solange es euch freut!«
In einem Modewarenschaufenster erblickte Mamsell Lovisa einen Hut, der mit weißem Schwanenpelz und zartroten Rosenknopsen ausgeputzt war, und da blieb sie mit Anna an der Hand wie gebannt stehen; daher mußten auch Leutnant Lagerlöf und Frau Lagerlöf und Johann und Back-Kajsa mit Selma auf dem Arm vor dem Schwanenpelzhut stehen bleiben. Mamsell Lovisa dachte nicht an die andern, sie stand wie verzaubert da, und Leutnant Lagerlöf freute sich, sie so hingerissen zu sehen. Aber schließlich ging ihm doch die Geduld aus.
»Du hast doch wohl nicht die Absicht, dir diesen Hut anzuschaffen, Lovisa?« sagte er. »Weißt du, der paßt besser für eine Siebzehnjährige.«
»Es kann doch auch einer Alten Freude machen, etwas Schönes zu sehen«, versetzte Tante Lovisa, die schon die erste Jugendblüte hinter sich hatte, obwohl sie noch schön und stattlich war.
Aber als sie sich von dem Schwanenpelzhut losgerissen hatten, kamen sie an einen Juwelierladen, und nun war es Leutnant Lagerlöf, der stehen blieb. Als er eine Weile die Ringe und Armbänder und die silbernen Löffel und Becher und alles übrige, was ausgelegt war, betrachtet hatte, fing er vor lauter Entzücken leise zu fluchen an.
»Hier gehen wir hinein«, sagte er.
»Aber Gustav«, mahnte Frau Lagerlöf, »wir kaufen doch jetzt keine solchen Sachen.«
Sie legte die Hand auf seinen Arm und wollte ihn zurückhalten; aber er hatte schon eine große Glastür geöffnet und war eben im Begriff, in den Laden einzutreten. Und da blieb den andern auch nichts weiter übrig, als ihm zu folgen, Frau Lagerlöf mit Johann, Mamsell Lovisa mit Anna und Back-Kajsa mit Selma auf dem Arm.
Als sie eintraten, stand Leutnant Lagerlöf schon vor dem Ladentisch und sprach mit einem jungen Verkäufer.
»Nein, kaufen will ich nichts«, sagte er, »aber im Schaufenster liegen so viele schöne Sachen, und da konnte ich der Lust nicht widerstehen, hereinzukommen und zu bitten, auch die andern schönen Sachen, die Sie noch hier haben, sehen zu dürfen.«
Der junge Mann, mit dem er sprach, sah etwas betreten aus und wußte nicht, was er erwidern sollte. Und Frau Lagerlöf und Mamsell Lovisa hatten beide die Hände auf des Leutnants Schultern gelegt und versuchten, ihn wieder mit sich auf die Straße zu ziehen.
Da kam der Besitzer des Ladens selber aus dem Ladenstübchen. Er hatte wohl gehört, daß mehrere Leute in seinen Laden eingetreten waren, und dachte, er könne ein gutes Geschäft machen. Er stellte sich neben den jungen Verkäufer, legte die flachen Hände auf den Tisch und sagte einladend:
»Was steht zu Diensten?«
Leutnant Lagerlöf erklärte noch einmal, was er wünschte. Er fragte, ob er sich die schönen Sachen ansehen dürfe, die ringsum stünden, obgleich er nicht in der Lage sei, etwas zu kaufen.
Der Goldschmied drehte den Kopf ein wenig und sah schräg an dem Leutnant hinauf.
»Der Herr ist gewiß ein Wermländer?« fragte er.
»Potz Tausend noch einmal, was sollte ich denn sonst sein!« versetzte Leutnant Lagerlöf. »Natürlich bin ich ein Wermländer.«
Da fingen alle an zu lachen, alle miteinander, die in dem großen Laden standen. Alle Verkäufer und Kontoristen versammelten sich lachend um Leutnant Lagerlöf, und aus einem inneren Zimmer trat eine feingekleidete Dame, die Frau des Goldschmieds, und wollte auch hören, was es Lustiges im Laden gebe.
Aber Frau Lagerlöf und Mamsell Lovisa Lagerlöf waren in der größten Verlegenheit, lieber wären sie wieder voll Angst und Beben in der Kutsche gesessen oder hätten sich im Sturm auf dem Wenersee schaukeln lassen, als hier in dem vornehmen Laden zu stehen. Und so versuchten sie aufs neue, den Leutnant aus dem Laden herauszubringen.
»Komm doch, Gustav!« baten sie. »Laß uns doch um Gotteswillen gehen!«
»Nein, nein«, sagte der Goldschmied in liebenswürdigstem Ton, »bleiben Sie, bleiben Sie! Wir bitten, Ihnen alles zeigen zu dürfen, was wir haben.«
Er gab dem Verkäufer Anweisungen; und da wurden Schränke geöffnet und Leitern erklettert und herabgeholt, was auf den oberen Regalen stand. Bald war der große Ladentisch bedeckt mit Gold- und Silbersachen. Der Goldschmied und seine Frau suchten eifrig aus, was besonders beachtenswert war, zeigten es ihren Besuchern und berichteten dabei, wozu die einzelnen Sachen dienten und wie sie gearbeitet waren.
Leutnant Lagerlöf putzte seine Brille mit seinem seidenen Taschentuch, um besser sehen zu können. Er bestaunte und bewunderte, nahm schwere silberne Kannen in die Hand und betrachtete ihre Verzierungen.
»Siehst du, Lovisa«, sagte er, »hier ist es noch viel großartiger als in der Propstei zu Sunne!«
Ein andermal hielt er Back-Kajsa eine silberne Schale vor die Augen und rief: »Der Riese im Åsberg speist sicherlich nicht auf feinerem Geschirr, Kajsa!«
Alle Verkäufer kicherten und lächelten und machten sich über die Fremden lustig. Der Goldschmied und seine Frau waren ebenfalls munter und vergnügt, aber auf andere Weise. Sie waren freundlich, und Leutnant Lagerlöf gefiel ihnen offenbar sehr gut. Es dauerte nicht lange, da wußten sie, wer er war und wer die waren, die er bei sich hatte, und daß er nach Strömstadt wollte, um dort Heilung für sein Kind zu suchen, das ein Hüftleiden hatte und nicht gehen konnte.
Als Frau Lagerlöf und Mamsell Lovisa merkten, wie gut alles ablief, beruhigten sie sich und halfen bewundern. Frau Lagerlöf war voll Freude, als sie an silbernen Löffeln dasselbe alte Muster sah, das sie in ihrem Elternhause gehabt hatten, und Mamsell Lovisa war jetzt von einer Zuckerdose ebenso begeistert wie vorhin von dem Schwanenpelzhut.
Als sie sich endlich sattgesehen hatten und Abschied nahmen, war es gerade, als schieden sie von alten Freunden. Der Goldschmied und seine Frau und alle Verkäufer begleiteten sie bis auf die Straße hinaus; die Vorübergehenden glaubten sicherlich, hier seien Einkäufe von viel tausend Kronen gemacht worden.
»Ja, und nun bitte ich Sie noch vielmals um Entschuldigung«, sagte Leutnant Lagerlöf, als er die Hand zum Abschied ausstreckte.
»Keine Ursache, Herr Leutnant«, erwiderte der Goldschmied.
»Wir haben Ihnen soviel Mühe gemacht«, warf Frau Lagerlöf in entschuldigendem Ton ein.
»Sie haben uns eine sehr angenehme Stunde bereitet«, sagte der Goldschmied. »Lassen Sie es sich ja nicht gereuen. Man darf doch auch einmal etwas zu seinem Vergnügen tun, wenn man auch im Laden stehen muß.«
Als Leutnant Lagerlöf nun den Weg durch die Osthafenstraße fortsetzte, saß ihm der Hut noch tiefer im Nacken als gewöhnlich. Er schwang seinen Stock und war sichtlich stolz auf sein Abenteuer.
Aber Frau Lagerlöf sagte leise zu Mamsell Lovisa: »Ich kann dir gar nicht sagen, wie bange ich war, denn ich glaubte gewiß, wir würden hinausgeworfen werden.«
»Ja, ein andrer als Gustav hätte das auch nicht fertig gebracht«, erwiderte Mamsell Lovisa. »Aber er ist eben ganz und gar unwiderstehlich.«
Ums Essen brauchten sich die Reisenden keine Sorge zu machen; man ging nur auf den Markt und kaufte ein. Sie brauchten sich nicht darüber zu beunruhigen, ob die Kühe genügend fraßen und ob der Hafer wuchs, denn jetzt lebten sie zwischen kahlen Felsen und Wasser und hatten vergessen, daß es Äcker und Wiesen auf der Welt gab. Auch brauchten sie keine auswärtigen Besuche zu beherbergen und nicht in der Küche zu stehen und Festessen zu kochen, oder sich den Kopf zu zerbrechen, wo man die Gäste unterbrachte und ob die Bettstücke auch reichten. Wenn das Vieh krank wurde oder die Haushälterin sich mit dem Dienstmädchen zankte, so wußte die Familie Lagerlöf jetzt nichts davon. Man war frei und ungebunden und lebte nur der Gesundheit, dem Vergnügen, ohne alle Sorgen und Kümmernisse.
Noch nie hatten sie es so gut gehabt. Frau Lagerlöf, die etwas mager und angegriffen nach Strömstadt gekommen war, setzte an und bekam rote Wangen. Sie sah auf einmal zehn Jahre jünger aus und fühlte sich auch so. Mamsell Lovisa, die dick und langsam und so schüchtern war, daß sie in Gegenwart Fremder kaum den Mund öffnete, magerte sichtlich ab, taute auf und wurde umgänglich. Johann und Anna fanden viele Freunde unter den Strömstädter Kindern; Johann war ganz vernarrt ins Krabbenfischen, und Anna war glückselig über ihre Freundschaft mit zwei Mädchen, den Töchterchen des Zuckerbäckers, die ihr immer Bonbons anboten, so daß die Geschwister erklärten, nicht wieder heim zu wollen.
Was das kleine kranke Mädchen betraf, so konnte man freilich keinerlei Besserung an ihr bemerken, aber das bekümmerte die Kleine selbst nicht im geringsten, sondern sie war ebenso glücklich wie die andern. Sie hatte es jetzt so, wie sie sich's wünschte: Back-Kajsa und sie waren wieder unzertrennliche Freunde. Sie durfte ihr befehlen und wurde wieder ebenso verwöhnt wie in der ersten unvergeßlichen Zeit ihrer Krankheit.
Am allerbesten aber von allen ging es Leutnant Lagerlöf. Freilich bekam er in den ersten Wochen manchmal abweisende Blicke und kurze Antworten, wenn er mit dem ersten besten Menschen, dem er begegnete, ein Gespräch anknüpfte, nicht anders als ginge er auf den Wegen bei Mårbacka spazieren. Aber er ließ sich nicht abschrecken. Das wäre ihm gegen die Ehre gegangen, wenn er mit den Strömstädtern nicht gut Freund geworden wäre. Auf die Dauer konnten sie ihm auch nicht widerstehen; nach kurzer Zeit schon flog ein Lächeln über das Gesicht der strengen Weiber, wenn sie ihm auf der Straße begegneten, denn er war bei ihnen in ihren Hütten gewesen, hatte sich nach ihren Männern erkundigt, hatte die Kinder gelobt und sich zum Kaffee einladen lassen. Eine ganze Schar kleiner Jungen zog auf der Straße hinter ihm her, weil sie entdeckt hatten, daß er stets die Tasche voll Kupfermünzen hatte. Auch mit den Fischern stand er auf höchst freundschaftlichem Fuße; einer nach dem andern lud ihn ein, auf den Makrelenfang mitzufahren. Alle alten ausgedienten Schiffskapitäne, die daheim bleiben mußten, sich aber immer noch hinaussehnten aufs Meer, luden ihn zum Grog auf ihre kleinen Veranden ein und berichteten ihm, wie sie sich früher unter Gefahren und Abenteuern in der Welt draußen getummelt hatten.
Leutnant Lagerlöf war eine menschenfreundliche Natur, und er wollte immer wissen, wie die Leute sich hier am Ende der Welt durchs Leben schlügen. Er scheute sich weder vor hoch noch niedrig, an Gesprächsstoff mangelte es ihm auch nie, und dabei sah er stets äußerst gutmütig und freundlich aus; so war es durchaus nicht verwunderlich, daß ihn die Bewohner von Strömstadt auch gern leiden mochten.
Aber niemand hätte auch von ihm sagen können, er sei sich seiner Macht nicht bewußt gewesen.
Die Mårbackaer hatten auf dieser Reise wirklich Glück. Unter anderem hatten sie gute alte Freunde aus Wermland getroffen, mit denen sie nun tagtäglich zusammen waren. Magister Tobiäson aus Filipstadt mit seiner Frau und zwei Schwestern, sowie ein unverheirateter Magister Lundström gehörten auch mit zu ihrem Kreise.
Mit diesen bildeten sie eine Bootsgesellschaft, und jeden Tag oder jeden zweiten Tag wurden weite Segelfahrten unternommen. Diese Ausflüge machten den Kindern ungeheuern Spaß. Dann pflegte Leutnant Lagerlöf alles zu berichten, was die Leute in Strömstadt Lustiges zu ihm gesagt hatten. Die einen hatten ihn angeschnauzt, andere aber hatten ihm gesagt, es sei recht schade, daß so ein Prachtkerl wie er kein Segelschiffer sei. Außerdem befanden sich stets ein paar große Henkelkörbe mit im Boot, und wenn die Gesellschaft des Segelns müde war, gingen sie irgendwo an Land und hielten auf einer Felseninsel ein Festmahl. Dann sammelten die Kinder eifrig Muscheln. Sie hatten noch nie welche gesehen und waren über die Maßen erstaunt, weil sie von diesen Schätzen einheimsen durften, soviel sie wollten. Sie machten ihnen ebensoviel Freude wie Wiesenblumen oder Beeren.
So waren sie wieder einmal draußen auf einer Segelfahrt. Wind und Wetter waren günstig, die Henkelkörbe standen im Boot, Leutnant Lagerlöf war voll geladen mit Geschichten, und alle freuten sich auf den herrlichen Nachmittag.
Unglücklicherweise bemerkte einer von der Gesellschaft, man sei ja noch nie an der kleinen Insel gelandet, die Strömstadt gerade gegenüberliege und den Namen »Holmen Grå« führte. Und sofort wurde beschlossen, diesmal auf der Rückfahrt an diesem Holm anzulegen und dort einen Imbiß einzunehmen.
Nun lebte aber vor mehreren hundert Jahren auf dieser Insel die berüchtigte Hexe Kitta Grå, die mächtiger war als der Teufel selbst, und solange sie lebte, durfte kein Mensch einen Fuß auf die Insel setzen. Wenn es jemand dennoch einmal wagte, traf ihn sofort ein Unglück; er brach den Arm oder das Bein oder glitt von den schlüpfrigen Klippen ins Meer hinab.
Jetzt aber, da Kitta Grå längst tot und verschollen war, konnte doch sicherlich ein Besuch auf Holmen Grå nicht mehr gefährlich sein. Der Bootsmann warnte allerdings vor einer Landung; denn im letzten Frühjahr war er mit ein paar andern Burschen quer durch die Insel gegangen, und gleich war einer in eine Schlucht gestürzt und hatte das Bein gebrochen.
Aber das ließ den Ausflüglern die Insel nur noch verlockender erscheinen. Sie sehnten sich geradezu danach, den Fuß auf Holmen Grå zu setzen.
Das Boot kreuzte zu der Insel hinüber, glitt unter den Felswänden hin, und der Bootsführer suchte nach einer geeigneten Landungsstelle.
In diesem Augenblick zupfte die kleine Anna Lagerlöf ihre Mutter am Arme.
»Mama«, sagte sie, »Selma weint.«
Ja, wirklich, das kranke Kind saß da und weinte! Sie hatte sich doch während der Fahrt gar nicht gefürchtet, erst jetzt war die Angst über sie gekommen. Sie hatte es sich wie die andern gar schön gedacht, auf Holmen Grå an Land zu gehen; aber ach, unter diesen Felswänden sah es gar so dunkel und unheimlich aus! Nur die Felswände schreckten sie, sonst fehlte ihr nichts.
Die andern fragten, warum sie weine, aber sie wollte nicht antworten. Sie konnte doch nicht sagen, daß sie sich vor einer Felswand fürchtete.
Die Antwort wurde ihr auch erspart; da der Schiffer soeben einen Landungsplatz gefunden hatte, gab es anderes zu denken.
In dem Augenblick, wo das Boot an Land stieß, stand Magister Lundström aus Filipstadt auf und sprang mit der Trosse an Land. Aber wie wenn ein unsichtbares Wesen am Ufer gestanden und ihm einen Stoß vor die Brust versetzt hätte, prallte er zurück und stürzte von der Felsenplatte, auf der er stand, rücklings ins Meer.
Das war ein Entsetzen, ein erschrecktes und ängstliches Rufen! Doch die Angst war nur kurz. Der Schiffer beugte sich mit der Schnelligkeit einer fischenden Möwe über den Bootsrand, erfaßte den Rockkragen und zog den langen Magister pudelnaß aber unversehrt aus dem Wasser heraus.
Alle waren natürlich aufs höchste erregt über den schrecklichen Anblick, einen Menschen so geradewegs in die tödliche Tiefe stürzen zu sehen, und obgleich nun die Gefahr vorüber war, konnte niemand die vorige Munterkeit wiederfinden.
Magister Lundström selber schlug vor, die ganze Gesellschaft solle nun an Land gehen und ihm das Boot überlassen, damit er nach Strömstadt zurückfahren und trockene Kleider anziehen könne. Es sei ja nicht weit, und das Boot könne auf Wunsch unverzüglich zurückfahren und die andern holen.
Aber darauf wollte niemand eingehen. Alle miteinander hatten genug von Holmen Grå. Niemand hatte Lust, auf die schlüpfrigen Felsplatten zu steigen oder an den drohenden Felswänden emporzuklettern.
So fuhr man denn nach Strömstadt zurück, und jedes überlegte im stillen, ob wohl etwas Wahres an den alten Geschichten sein könne. War es nicht sonderbar, daß der Unfall gerade hier geschehen mußte? Man war doch fast an allen den Inseln der Strömstädter Schären an Land gegangen, und stets war alles gut abgelaufen.
»Mir kam es gleich so unheimlich vor, als die Kleine zu weinen anfing«, sagte eines der Fräulein Tobiäson. »Da schwante mir sofort, daß uns etwas zustoßen würde«
»Ja, Herr Leutnant, was sagen Sie nun zu dieser Geschichte?« sagte das andere Fräulein Tobiäson, indem es sich an den Angeredeten wandte.
»Was ich dazu sage?« antwortete dieser. »Ich sage, es hätte nicht gut anders gehen können, wenn wir einen solchen Schulfuchs an Land schickten. Das war doch nicht der Mann für Kitta Grå.«
»Sie meinen also«, sagte Mamsell Tobiäson, »wenn ein anderer – wenn der Herr Leutnant selber an Land gesprungen wäre, so würde der Empfang besser ausgefallen sein?«
»Ja, zum Kuckuck, das mein' ich!« rief Leutnant Lagerlöf.
Lieber Gott, gab das ein Gelächter! Die düstere Stimmung im Boot war auf einmal verflogen. Sie malten sich das Zusammentreffen des Leutnants mit Kitta Grå aus.
Ja, ja, der Herr Leutnant wußte, daß er unwiderstehlich war.
Lieber Gott, wie herzlich sie jetzt alle lachten!
Die Familie Lagerlöf bewohnte ein ganz kleines Häuschen am oberen Ende der Karlstraße und fühlte sich da äußerst behaglich. Leutnant Lagerlöf und die Kinder beschlossen sogar, das Häuschen Klein-Mårbacka zu nennen. Das war gewiß der höchste Ehrentitel, den ein Haus in einer fremden Stadt bekommen konnte.
Vor dem Häuschen war ein von einem Lattenzaun umgebener Baumgarten, in dessen Schatten man das Frühstück und das Abendessen einnahm, denn diese beiden Mahlzeiten wurden daheim zubereitet. Hinter dem Hause war noch ein kleines Stück Land, das mit Kartoffeln bepflanzt war. Und hinter diesem, dicht an der steilen Berglehne, stand ein Hüttchen, nicht viel größer als die Kajüte auf dem »Uddeholm«. In diesem Hüttchen wohnte die Hauswirtin, Frau Kapitän Bergström.
Die Familie Lagerlöf hatte erfahren, daß Frau Bergström im Winter das größere Haus selber bewohnte, es aber während des Sommers an Badegäste vermietete und solange in dem kleinen Hüttchen wohnte. Dort saß sie nun vom Morgen bis zum Abend zwischen großen blühenden Oleanderbäumen, und alle Tische und Wandbretter standen ganz voll der wunderbarsten Dinge aus fremden Ländern, die Kapitän Bergström mit heimgebracht hatte.
Wenn Frau Lagerlöf und Mamsell Lovisa bei ihren Freunden Kaffee tranken und Leutnant Lagerlöf draußen beim Makrelenfang war, Anna sich zu den Zuckerbäckertöchtern begeben hatte und Johann zu seinen Krabben, dann nahm Back-Kajsa ihr kleines Mädchen auf den Arm und wanderte hinauf in das Häuschen zu Frau Bergström.
Das kleine Mädchen fühlte sich bei Frau Bergström zwischen den Oleanderbäumen ganz so behaglich und geborgen wie daheim auf Mårbacka, wenn sie neben der Großmutter im Ecksofa saß. Frau Bergström konnte zwar keine Märchen erzählen, aber sie hatte viele merkwürdige Dinge, die sie ihr und Back-Kajsa zeigte: Große Muscheln, in denen es rauschte und sang, wenn man sie ans Ohr hielt, Porzellanmänner mit langen Zöpfen und langen Schnurrbärten, die aus China stammen sollten, und zwei riesige Schalen, von denen die eine eine ausgehöhlte Kokosnuß, die andere ein Straußenei war.
Back-Kajsa und Frau Bergström unterhielten sich meistens über ernsthafte und fromme Dinge, von denen das Kind nichts verstand; aber zuweilen führten sie doch auch einfachere Gespräche. Dann erzählte Frau Bergström von ihrem Mann und seinen Reisen. Die beiden Gäste erfuhren, daß der Kapitän ein großes, schönes Schiff besaß, das »Jakob« hieß, und daß er gerade jetzt unterwegs nach St. Ybes in Portugal war, um Salz zu holen.
Back-Kajsa fragte, ob Frau Bergström denn ihre Seelenruhe bewahren könne, wenn ihr Mann da draußen auf dem greulichen Meere herumfuhr? Aber Frau Bergström erwiderte, es lebe ja doch einer, der ihren Mann beschütze. Sie sorge sich, wenn er an Bord seines Schiffes sei, nicht mehr um ihn, als gehe er durch die Straßen von Strömstadt.
Gleich darauf wendete sich die gute Frau Bergström zu dem kleinen Mädchen und sagte, ihr Mann werde hoffentlich bald heimkommen, denn auf dem »Jakob« sei etwas, was die Kleine gewiß gern sehen möchte, nämlich ein Paradiesvogel.
Das beschäftigte natürlich das Kind gewaltig. »Was ist denn das, ein Paradiesvogel?« fragte es.
»Du hast doch deine Großmutter schon vom Paradies erzählen hören, Selma«, sagte Back-Kajsa.
Ja gewiß, jetzt erinnerte sich Selma wieder. Die Großmutter hatte ihr vom Paradies erzählt, und sie hatte gedacht, es müsse dort ungefähr so aussehen wie in dem Rosengarten an der westlichen Giebelseite von Mårbacka. Gleichzeitig wurde sie sich auch bewußt, daß ja das Paradies mit dem lieben Gott in Verbindung stand, und nun drängte sich ihr ein neuer Gedanke auf: Der Frau Bergströms Mann beschützte, so daß die gute Frau ganz unbesorgt sein konnte, ob er sich nun auf dem »Jakob« befand oder daheim in Strömstadt umherging, war gewiß niemand anders als der Paradiesvogel.
Diesen Vogel wollte Selma wirklich gern sehen. Vielleicht konnte er auch ihr helfen. Alle Leute bedauerten ihren Vater und ihre Mutter, weil sie ein krankes Kind hatten. Und diese teure Reise war auch nur ihretwegen unternommen worden.
Sie hätte so gerne Back-Kajsa oder Frau Bergström gefragt, ob sie meinten, der Paradiesvogel werde etwas für sie tun, aber sie hatte das Herz nicht dazu. Sie fürchtete, ausgelacht zu werden.
Aber sie vergaß das Gespräch nicht. Jeden Tag wünschte sie, der »Jakob« möchte ankommen, damit der Paradiesvogel an Land fliegen könne.
Und siehe, wenige Tage später hörte sie, nun sei der »Jakob« wirklich angekommen.
Das war eine große Freude für die Kleine; aber sie redete mit niemand darüber, denn für sie war das etwas sehr Feierliches. Sie dachte daran, wie ernsthaft Großmutter gewesen war, als sie von Adam und Eva erzählt hatte. Auch wollte sie Johann und Anna nichts von dem Vogel aus dem Paradiese sagen, der an Bord des »Jakob« war und den sie bitten wollte, sie zu heilen. Nein, nicht einmal Back-Kajsa!
Doch der Vogel ließ sich nirgends sehen, und das war höchst sonderbar. So oft Selma zu Frau Bergström kam, erwartete sie, ihn auf den Oleanderbäumen sitzen zu sehen, aber er war nie dort.
Sie fragte Back-Kajsa nach ihm, aber Back-Kajsa meinte, er sei eben noch auf dem »Jakob«.
»Aber du darfst ihn bald sehen«, sagte sie, »denn der Herr Leutnant sagte, wir würden morgen alle miteinander an Bord des ›Jakob‹ gehen.«
Back-Kajsa hatte wahr gesprochen. Kapitän Bergström war kaum einen Tag daheim, als er und Leutnant Lagerlöf auch schon die dicksten Freunde waren. Der Leutnant war schon mehrere Male draußen auf dem »Jakob« gewesen, und es gefiel ihm ausnehmend gut dort. Nun sollte aber auch die ganze Familie sehen, wie herrlich es dort war.
Als sie von Hause weggingen, hatte sich keines von ihnen richtig klar gemacht, was es heißen wolle, an Bord des »Jakob« zu gehen. Das kleine kranke Mädchen wenigstens glaubte, er werde genau so am Bollwerk liegen wie die großen Dampfer.
Aber das war nun nicht der Fall. Der »Jakob« lag weit draußen in See, und sie mußten sich in ein Boot setzen und zu ihm hinrudern lassen. Auch war es höchst sonderbar: je näher man dem Schiffe kam, desto höher wuchs der »Jakob« empor. Schon lag er da so still wie ein Berg, und es schien rein unmöglich, aus dem kleinen Ruderboot zu ihm hinaufzuklettern.
Tante Lovisa meinte gleich, wenn dieses hohe Schiff das Ziel ihrer Fahrt sei, dann könne sie ganz gewiß nicht mit an Bord kommen.
»Wart' nur, Lovischen«, sagte der Leutnant. »Du wirst sehen, es geht besser, als du glaubst.«
Aber Mamsell Lovisa erklärte, da könnte sie ebensogut versuchen, an der Flaggenstange auf Laholmen hinaufzuklettern. Und sie meinte, es wäre sicher am besten, man kehrte wieder um.
Frau Lagerlöf und Back-Kajsa gaben ihr recht und stimmten dafür, gleich wieder heimzufahren.
Aber Leutnant Lagerlöf war hartnäckig und gab nicht nach. Nein, nein, sie müßten an Bord kommen, es sei gänzlich ohne Gefahr. Vielleicht sei dies das einzige Mal, wo sie ein großes Handelsschiff zu sehen bekämen, und diese Gelegenheit dürften sie nicht versäumen.
»Ja, und wenn wir auch an Bord kommen, so kommen wir doch niemals wieder herunter«, sagte Tante Lovisa.
Während der Fahrt begegnete ihnen ein Boot, das mit Säcken beladen war.
»Siehst du das Boot?« sagte Leutnant Lagerlöf zu seiner Schwester. »Weißt du, was in den Säcken ist?«
»Nein, lieber Gustav, wie sollte ich das auch wissen?« erwiderte Mamsell Lagerlöf.
»Nun, das sind Salzsäcke vom ›Jakob‹, berichtete ihr Bruder. »Sie haben weder Arme noch Beine; aber wenn sie aus dem Schiff herunterkommen konnten, so wird es dir wohl auch gelingen.«
»Jawohl, trag du einmal eine Krinoline und lange Röcke, dann wird dir deine Keckheit schon vergehen«, versetzte Mamsell Lovisa.
So neckten sie sich während der ganzen Fahrt. Das kleine Mädchen, das so gern den Paradiesvogel sehen wollte, wünschte von ganzem Herzen, Tante Lovisa und die andern möchten sich doch entschließen, an Bord zu gehen; aber wie die andern hielt auch sie es für unmöglich.
Jedenfalls legte nun das Boot unter der schaukelnden Fallreeptreppe an, und ein paar Matrosen des »Jakob« sprangen ins Boot, um den Besuchern beim Hinaufsteigen behilflich zu sein. Die erste, die sie ergriffen, war die kleine Kranke. Einer der Matrosen reichte sie einem seiner Kameraden hinauf, der sie die Treppe, oder wie man das Ding heißen mochte, emportrug und sie auf dem Deck des »Jakob« niedersetzte. Dort verließ er sie, um den übrigen Gästen zu helfen, und sie blieb allein da stehen.
Sie war entsetzt, denn da war nur ein schmaler Rand des Decks, auf dem sie stehen konnte. Vor ihr öffnete sich ein großes, gähnendes Loch, und in der Tiefe lag etwas Schneeweißes, das in Säcke gefüllt wurde.
Lange Zeit stand sie allein da oben, im Boote unten mußte sich noch Widerstand gegen den Aufstieg erhoben haben. Niemand war zu sehen, und als sie sich ein wenig gefaßt hatte, fing sie natürlich an, nach dem Paradiesvogel auszuschauen.
Zuerst schaute sie hinauf ins Takelwerk. Sie hatte sich gedacht, er müsse mindestens so groß sein wie ein Truthahn, und so könne es nicht schwer sein, ihn zu finden.
Aber als kein Vogel zu erblicken war, wandte sie sich an Kapitän Bergströms Kajütenjungen, der in der Nähe stand, und fragte ihn, wo denn der Paradiesvogel sei.
»Komm mit, dann darfst du ihn sehen«, sagte der Junge. Er reichte ihr die Hand, damit sie nicht in den Laderaum hinabstürzte. Dann ging er rückwärts nach der Kajütentreppe, und sie folgte ihm.
Unten in der Kajüte war es riesig fein. Möbel und Wände ringsum waren aus glänzendem Mahagoni, und da war auch richtig der Paradiesvogel.
O dieser Vogel! Er war noch wunderbarer als Selma sich's hatte träumen lassen. Er lebte zwar nicht, stand aber doch in ganzer Größe und Pracht mit allen seinen Federn vor ihr.
Sie kletterte auf einen Stuhl und von diesem auf den Tisch. Und da setzte sie sich neben den Paradiesvogel und betrachtete seine Schönheit. Der Kajütenjunge stand daneben und zeigte ihr die langen, glänzenden, hängenden Federn. Dann bemerkte er:
»Siehst du, man könnte meinen, er käme aus dem Paradies. Er hat gar keine Füße.«
Das paßte sehr gut in die Vorstellung des Kindes vom Paradies, daß man dort nicht gehen müsse, sondern sich mit zwei Flügeln fortbewege, und sie betrachtete den Vogel in tiefer Andacht. Dann faltete sie die Hände, wie wenn sie ihr Abendgebet sprechen wollte. Alsdann überlegte sie, ob der Kajütenjunge wohl wisse, daß es der Vogel sei, der den Kapitän Bergström beschützte. Aber sie wagte nicht zu fragen.
Den ganzen Tag hätte sie voll übergroßer Bewunderung so sitzen können, aber jetzt wurde sie durch lautes Rufen auf Deck aufgescheucht. Es klang, als riefe man: »Selma, Selma!«
Gleich darauf kamen die andern eilig und eifrig in die Kajüte gelaufen, der Leutnant Lagerlöf, Back-Kajsa, Frau Lagerlöf und Mamsell Lovisa, Kapitän Bergström, Johann und Anna. Es waren ihrer so viele, daß die ganze Kajüte voll war.
›Wie bist du hierhergekommen?‹ fragten sie und sahen ganz bestürzt und verdutzt aus.
Und nun kam es auch ihr selbst zum Bewußtsein, daß sie über das Deck gegangen, die Treppe herunter gegangen, in die Kajüte gegangen war, und daß niemand sie getragen hatte.
›Komm herunter auf den Boden‹, sagten sie, ›damit wir sehen, ob du wirklich gehen kannst.‹
Sie kroch vom Tisch auf den Stuhl und vom Stuhl auf den Boden, und als sie auf dem Boden angelangt war, konnte sie stehen und gehen.
Ach, was war das für ein Glück! Nun war der Zweck der Reise erreicht, das kostspielige Unternehmen war nicht vergeblich gewesen! Das Kind würde kein hilfloser, unglücklicher Krüppel bleiben, sondern ein richtiger Mensch werden.
Da standen nun die Großen mit Tränen in den Augen um die Kleine herum und sagten, das herrliche Bad in Strömstadt habe die Heilung bewirkt. Sie priesen die Luft und das Meer und die ganze Stadt und waren glücklich, hierhergekommen zu sein.
Das kleine Mädchen aber hatte seine eigenen Gedanken. Sie fragte sich, ob es wirklich der Paradiesvogel sei, der ihr geholfen habe. War es das kleine Wunder mit den wehenden Schwingen, das aus dem Lande gekommen war, in dem man keiner Füße bedurfte, das sie gelehrt hatte, auf dieser Erde zu gehen, wo Füße doch etwas so sehr Notwendiges waren?
Sie hatten Frau Bergström Lebewohl gesagt und Abschied von Klein-Mårbacka genommen. Die Kinder hatten ihre kostbaren Muscheln eingepackt und die Großen ihre Koffer verschnürt. Nun waren sie im Begriff, sich auf das Dampfschiff zu begeben, das sie von Strömstadt wegführen sollte.
Am Bollwerk stand eine Menge Leute. Nicht nur Kapitän Bergström und seine Mannschaft, auch sonstige bekannte Badegäste und viele andere.
»Ich glaube, alle Lotsen und Seekapitäne und Fischer aus der Stadt sind hier versammelt«, sagte einer der Herren, der mit ihnen zu segeln pflegte.
»Ja, und überdies noch alle Badefrauen und Fischermadamen«, bemerkte ein anderer.
»Sie sind wohl gekommen, um Gustav Lebewohl zu sagen«, sagte Frau Lagerlöf, »er ist mit Gott und der Welt bekannt.«
Leutnant Lagerlöf mußte sich von so vielen verabschieden, daß er fast nicht mehr mit aufs Schiff gekommen wäre. Alle ringsumher wußten, warum er nach Strömstadt gekommen war: nämlich um Heilung zu suchen für ein Kind, das nicht gehen konnte, und jetzt wollten ihn alle noch beglückwünschen.
»Welch eine Freude ist es doch, das kleine Mädchen da auf Deck neben den andern stehen zu sehen!« sagte ein Fischer.
»Sicherlich sind es deine Weißfische, die sie gesund gemacht haben«, erwiderte der Leutnant schlagfertig.
»Ja, Weißfische sind ein gutes Essen«, versetzte der alte Fischer.
Der Leutnant hatte sich schon zu einer Gruppe von Badefrauen gewandt.
»Nehmt alle unsern herzlichen Dank!« sagte er. »Ihr habt auch teilgehabt an dem guten Werk.«
»Du mußt jetzt rasch an Bord kommen, Gustav!« rief Frau Lagerlöf vom Deck herab. »Es hat schon zum drittenmal gepfiffen.«
Im allerletzten Augenblick kamen zwei hübsch gekleidete Mädchen über die Landungsbrücke gelaufen. Sie eilten auf die Lagerlöfschen Kinder zu, knixten, reichten ihnen die Hand, wünschten glückliche Reise, übergaben jeder ein kleines Päckchen und sprangen an Land zurück.
Das waren die beiden Zuckerbäckertöchter, mit denen Anna den ganzen Sommer verkehrt hatte, die aber das kleine kranke Mädchen kaum kannten. Dieses war ganz überwältigt, daß die beiden Mädchen auch ihr eine Abschiedsgabe geschenkt hatten.
Als sie das Papier auseinanderwickelte, sah sie etwas sehr Schönes: ein rotseidenes Band, auf dem ein Stück Papierstramin mit einigen in schwarzer Seide gestickten Buchstaben darauf festgeklebt war. »Das ist ein Buchzeichen«, sagte Back-Kajsa, »das kannst du in dein Gesangbuch legen.«
» Zum Andenken steht darauf«, sagte die Mutter; »damit du das kleine Mädchen nicht vergißt, das für dich das Band gestickt hat.«
Das rote Seidenband mit dem Papierstraminstreifen und den schwarzen Buchstaben lag auch viele Jahre in dem Gesangbuch der Kleinen. Und wenn sie das Buch später in der Kirche aufschlug und das Zeichen darin liegen sah, wanderten ihre Gedanken immer gern in die alten Zeiten zurück.
Sie atmete wieder die Seeluft, sie sah vor sich Schiffe und Schiffsvolk, das Meer selbst zwar am wenigsten, aber dafür alle Arten von Muscheln, Quallen, Krabben, Seesternen, Weißfischen und Makrelen.
Zugleich stieg das hellrote Häuschen in der Karlstraße aus der Vergessenheit empor. Sie sah den Paradiesvogel, die Frau Kapitän Bergström, das Schiff ›Jakob‹, Holmen Grå, die Osthafenstraße, das Dampfboot ›Uddeholm‹ und die drei Pferde, die den schweren Kutschwagen zogen.
Zum Schluß sah sie auch noch den Wagen an einem großen grünen Grasplatz vorbeifahren, der von niedrigen roten Gebäuden umgeben und von einem weißen Lattenzaun umfriedigt war. Sie hielten vor einem langen roten Wohnhaus mit kleinen Fenstern und einer kleinen Veranda, und sie hörte alle, die mitgekommen waren, aus einem Mund rufen: »Gottlob, daß wir wieder daheim sind!«
Dies war Mårbacka, das merkten alle außer ihr sofort. Wenn sie allein gewesen wäre, hätte sie nicht gewußt, wo sie sich befand. Daß sie eine Heimat hatte, das wußte sie wohl, aber sie hatte noch nie zuvor gesehen, wie sie aussah.
Auf der Veranda stand eine kleine, gebeugte, weißhaarige, schöne alte Frau in einem gestreiften Kleid und einer schwarzen Jacke. Es war die Großmutter. An sie erinnerte sich das kleine Mädchen auch sehr gut, wußte aber durchaus nicht, daß sie so aussah.
Und ebenso war es mit dem Bruder Daniel und dem Kleinsten und der Haushälterin und Othello. Alle waren etwas ganz Neues für sie. Sie erinnerte sich ihrer, aber gesehen hatte sie sie noch nie.
Sie wurde zur Großmutter hingeführt und mußte zeigen, daß sie jetzt gehen konnte. Später, wenn sie in der Kirche von Ost-Ämtervik über das Buchzeichen gebeugt dasaß, wurde ihr eines klar: während der Reise nach Strömstadt hatte sie nicht nur gehen, sondern auch sehen gelernt.
Dank der Reise wußte sie nun, wie alle ihre Lieben aussahen, zu der Zeit, wo sie noch in der Blüte ihrer Jahre standen und sich ihres Lebens freuten. Wäre die Reise nicht gewesen, so wäre alles aus jener Zeit ihrem Gedächtnis entschwunden.
Aber dank dem roten Band lebten alle die andern auch immer weiter. »Laß nicht das Gras der Vergessenheit über all dies wachsen!« sagte es zu ihr. »Erinnere dich deiner Eltern und wie es ihnen am Herzen lag, daß ihr kleines Mädchen frisch und gesund und ein ganzer Mensch werden sollte, und wie sie sich keine Ruhe gönnten, ehe sie es erreicht hatten. Denk an Back-Kajsa und ihre große Liebe und Geduld und an all das Schreckliche zu Wasser und zu Lande, das sie um deinetwillen durchmachen mußte!«