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Ingrid und Mutter Stina wanderten durch den dunklen Wald. Sie waren schon vier Tage unterwegs und hatten drei Nächte in Sennhütten geschlafen. Ingrid sah müde und erschöpft aus, ihr Gesicht hatte eine durchsichtige Blässe, ihre Augen waren eingesunken und glänzten fieberhaft. Die alte Anna Stina warf ab und zu verstohlen einen unruhigen Blick auf sie und bat Gott in ihrem Herzen, die Kräfte des Mädchens aufrecht zu erhalten, damit es nicht an einem Mooshügel niedersinken und sterben müsse. Bisweilen konnte die Alte sich auch nicht enthalten, einen scheuen Blick hinter sich zu werfen. Sie hatte ein unheimliches Gefühl, als ob der Sensenmann hinter ihnen her durch den Wald schleiche, um sich das Mädchen doch noch zu holen, das ihm durch das Wort Gottes und die hinuntergeworfenen drei Hände voll Erde vermählt worden war. Mutter Anna Stina war klein und breit und hatte ein großes, viereckiges Gesicht, das aber so klug aussah, daß es beinahe schön war. Abergläubisch war sie nicht: sie wohnte ganz allein mitten im Walde und fürchtete sich weder vor Zauberern noch vor Gespenstern. Wie sie aber so neben Ingrid herging, fühlte sie, so sicher, als ob es ihr jemand gesagt hätte, daß sie neben einer ging, die nicht mehr zu dieser Welt gehörte. Dieses Gefühl hatte sie sofort beschlichen, als sie am Montag morgen das Mädchen in ihrer Hütte fand.
Sie war am Sonntag nicht nach Hause gekommen, weil drunten im Pfarrhaus die Pfarrfrau plötzlich erkrankt war, und so war Mutter Anna Stina, die sich gut auf Krankenpflege verstand, dort geblieben, um bei ihr zu wachen. Die ganze Nacht hindurch hatte sie die Kranke davon phantasieren hören, daß Ingrid ihr erschienen sei; aber die Alte hatte es nicht geglaubt.
Und als sie endlich heim kam und das Mädchen in ihrem Stübchen fand, wollte sie sogleich wieder ins Pfarrhaus zurückgehen, um dort zu sagen, daß es kein Gespenst gewesen sei, was die Pfarrfrau gesehen hatte. Als sie aber mit Ingrid darüber sprach, geriet diese in einen solchen Zustand, daß Mutter Anna Stina ihre Absicht nicht auszuführen wagte; es war, als wolle in Ingrid das Leben verlöschen, wie die Flamme eines Lichtes, das bei einem Windstoß flackert und am Ausgehen ist. Sie hätte sterben können, so leicht wie ein gefangener Vogel. Der Tod schien nach dem Mädchen auf Raub auszugehen, darum kam alles darauf an, es zu behüten und vorsichtig zu behandeln, wenn man es am Leben erhalten wollte.
Die Alte wußte, wie gesagt, selbst kaum mehr recht, was sie von Ingrid glauben solle; ob sie nicht doch ein Gespenst sei, so wenig Leben schien noch in ihr zu sein. Sie gab es dann vollständig auf, sie zur Vernunft zu bringen, und willfahrte ihrem Verlangen, niemand wissen zu lassen, daß sie noch lebe. Und dann sann die Alte darüber nach, was nun am besten zu tun wäre. Sie hatte eine Schwester, die auf einem großen Gute in Dalarne Haushälterin war, und beschloß daher, mit Ingrid zu dieser zu gehen und Schwester Stafva zu überreden, dem Mädchen einen Platz auf dem Gute zu verschaffen, Ingrid müsse sich dann damit begnügen, eine geringe Dienstmagd zu werden. Einen anderen Rat wisse sie nicht.
Und nun waren sie auf dem Wege nach diesem Herrenhof. Mutter Anna Stina kannte die Gegend so genau, daß sie nicht auf der Landstraße zu gehen brauchten, sondern einsame Waldpfade einschlagen konnten. Aber da war es ihnen auch schlecht gegangen. Ihre Schuhe waren niedergetreten und zerrissen, ihre Röcke beschmutzt und unten aufgestoßen. Ein kleiner boshafter Tannenzweig hatte einen langen Schlitz in Ingrids Jackenärmel gerissen.
Am Abend des vierten Tages kamen sie aus dem Walde heraus auf einen Hügel, von wo aus sie in ein tiefes Tal schauen konnten. Drunten im Tal breitete sich ein See aus, und nahe am Strande lag eine hohe Insel, auf der ein weißes Herrschaftshaus aufragte. Als Mutter Anna Stina das Haus sah, sagte sie, es heiße Munkhyttan, und dort wohne ihre Schwester.
Da oben auf dem Hügel versuchten die beiden sich nun so hübsch als möglich zu machen. Sie knüpften ihre Kopftücher um, wischten ihre Schuhe mit Moos ab und wuschen sich in einem Waldbach. Und Mutter Anna Stina versuchte an Ingrids Aermel eine Falte zu legen, damit man den Riß nicht sehen sollte.
Aber die Alte seufzte, als sie das Mädchen ansah, und der Mut wollte sie verlassen, und zwar nicht allein, weil Ingrid in den Kleidern, die sie ihr geliehen hatte, und die ihr gar nicht paßten, so sonderbar aussah, sondern sie fürchtete, Schwester Stafva würde sie nie in ihren Dienst nehmen, denn sie sah entsetzlich schwach aus. Es wäre nicht viel anders gewesen, als wenn sie einen Windhauch hätte dingen wollen. Das Mädchen konnte nicht mehr leisten als ein kranker Schmetterling.
Sobald sie fertig waren, gingen sie den Berg hinunter und auf den See zu. Es war nur eine kurze Strecke, dann waren sie auf dem Boden des Herrenhofes.
Aber welch ein Herrschaftssitz war das!
Große, verwahrloste Aecker, von denen der Wald allmählich wieder Besitz ergriff, erstreckten sich ringsum. Die Brücke, die zu der Insel hinüberführte, war so morsch, daß sie meinten, sie werde kaum noch so lange halten, bis sie darüber gegangen seien. Die Allee, die von der Brücke zum Wohnhaus führte, war mit Gras bewachsen wie ein Wall, und ein vom Sturm gefällter Baum lag quer über dem Weg.
Schön war es freilich auf der Insel, so schön, das gut ein Schloß hätte darauf stehen können. Aber im Garten gab es nicht eine einzige gepflegte Blume, in dem weiten Park erstickten die Bäume, und große, schwarze Schnecken krochen über die grünen, feuchten Pfade.
Anna Stina wurde unruhig, als sie sah, wie verfallen alles hier war, und sie murmelte vor sich hin: »Was ist das? Ist Schwester Stafva tot? Wie ist es möglich, daß sie es hier so aussehen läßt? Da sah es vor dreißig Jahren, als ich zuletzt hier war, ganz anders aus. Was in aller Welt fällt denn Stafva ein?«
Sie konnte gar nicht begreifen, daß an einem Orte, wo Stafva wohnte, eine solche Unordnung einreißen könnte.
Ingrid ging langsam und zögernd hinter Mutter Anna Stina her. In dem Augenblick, wo sie den Fuß auf die Brücke setzte, hatte sie gemerkt, daß nicht nur zwei, sondern drei darüber gingen.
Es war ihr jemand entgegengekommen, der dann aber wieder umwandte und mit ihr zurückging.
Ingrid hörte keine Schritte, aber der, der mit ihr ging, zeigte sich unklar an ihrer Seite; sie konnte sehen, daß jemand da war.
Sie erschrak heftig und wollte Mutter Anna Stina bitten, wieder umzukehren; sie wollte ihr sagen, hier sei alles so verzaubert, daß sie nicht weiter zu gehen wage. Aber ehe sie ein Wort hervorbrachte, kam der Fremde so dicht an sie heran, daß sie ihn erkennen konnte.
Und die Gestalt, die vorher nur ganz schattenhaft gewesen war, wurde nun klarer und klarer, und schließlich sah sie, daß er es war, der Student!
Nun war es nicht mehr gespensterhaft und unheimlich für sie, daß er da ging. Herrlich und feierlich war es, daß er ihr entgegengekommen war. Es war, als sei er es gewesen, der sie hierhergeführt hatte, und ihr dies nun zeigen wollte, indem er kam und sie begrüßte.
Er ging mit ihr über die Brücke, durch die Allee und sogar mit in das Haus hinein.
Ingrid konnte nicht widerstehen, sie mußte den Kopf immer wieder nach der linken Seite drehen: Da sah sie ja sein Gesicht dicht an ihrer linken Wange. Es war eigentlich nicht einmal ein Gesicht, sondern nur ein wundervolles Lächeln, das ihr zärtlich nahe kam. Wenn sie aber den Kopf wandte, um es deutlich zu sehen, dann war es nicht mehr da. Nein, das war nichts, das sich vollkommen deutlich sehen lassen konnte. Sobald sie jedoch wieder geradeaus schaute, schimmerte es aufs neue dicht neben ihr.
Er, der sie begleitete, sprach nicht. Er tat auch nichts, er lächelte nur; aber das war ihr genug. Ja, es war ihr mehr als genug, denn er zeigte ihr, daß es auf der Welt jemand gab, der sie mit inniger Liebe festhielt.
Sie fühlte seine Nähe als etwas so Wirkliches, daß sie fest überzeugt war, er beschütze sie und wache über ihr. Und vor diesem seligen Bewußtsein wich all die Verzweiflung, die die harten Worte ihrer Pflegemutter in ihr erweckt hatten.
Ingrid fühlte sich dem Leben von neuem zurückgegeben. Wenn jemand sie liebte, hatte sie wieder ein Recht zu leben.
Und daher kam es, daß sie mit einem zarten Rot auf den Wangen und mit strahlenden Glanz in den Augen in die Küche von Munkhyttan eintrat: zart und gebrechlich und durchsichtig, aber so schön wie eine eben erblühte Rose.
Sie ging noch immer wie im Traume und wußte nicht recht, wo sie war, aber was sie am meisten wunderte und sie beinahe aus diesem traumartigen Zustand aufweckte, war, daß drüben am Herde eine zweite Mutter Anna Stina stand. Sie stand dort, klein und breit mit großem, viereckigem Gesicht, gerade wie die andere. Aber warum war diese so fein in einer weißen Haube mit einer großen Schleife unter dem Kinn und in einem schwarzen Bombasinkleid? Ingrid war es so zum Schwindeln wirr im Kopfe, daß sie eine ganze Weile brauchte, bis ihr klar wurde, daß dies Jungfer Stafva sein mußte.
Sie fühlte, wie Mutter Anna Stina unruhige Blicke auf sie richtete und versuchte, sich zusammenzunehmen und guten Tag zu sagen, aber sie kannte und konnte an nichts anderes denken, als daß er zu ihr gekommen sei.
Hinter der Küche war ein winzig kleines Kämmerchen mit blau gewürfelten Bezügen auf den Möbeln. Hier wurden sie hineingeführt, und Jungfer Stafva gab ihnen Kaffee und etwas zu essen.
Mutter Anna Stina rückte auch gleich mit ihrem Anliegen heraus. Sie redete sehr lange, sagte, sie wisse, in welchem Ansehen ihre Schwester bei der Frau Bergrat stehe, die daher die Wahl der Dienerschaft ganz der Jungfer Stafva überlasse.
Jungfer Stafva erwiderte nichts darauf, sie warf nur Ingrid einen Blick zu, der so viel sagte, als daß ihr diese Sache nicht anvertraut worden wäre, wenn sie Leute gewählt hätte, die Ingrid geglichen hätten.
Dann rühmte Mutter Anna Stina Ingrid und sagte, diese sei ein brauchbares Mädchen. Bis jetzt habe sie in einem Pfarrhaus gedient, nun aber, wo sie erwachsen sei, möchte sie gern etwas Ordentliches lernen, und da habe Mutter Anna Stina gedacht, sie wolle sie zu jemand bringen, bei dem sie mehr lernen könnte, als bei irgend jemand anderem, den sie kenne.
Auch darauf erwiderte Mutter Stafva kein Wort. Aber ihre Blicke verhehlten ihre Verwunderung darüber nicht, daß ein Mädchen, das in einem Pfarrhaus gedient haben sollte, keine eigenen Kleider hatte, sondern solche von Mutter Anna Stina hatte entlehnen müssen.
Da erzählte die Alte, wie sie selbst allein im Walde gesessen habe, von allen den ihrigen ganz verlassen. Und wie da dieses Mädchen an manchem Abend oder früh am Morgen zu ihr herausgelaufen war, um nach ihr zu sehen. Deshalb habe sie nun geglaubt und gehofft, daß sie ihr einmal zu einem guten Plätzchen verhelfen könne.
Nun sprach Jungfer Stafva und sagte, es sei recht schade, daß sie einen so weiten Weg gemacht hätten, um einen Dienst zu suchen. Wenn das Mädchen brav wäre, könnte es sicher auf einem Gut in ihrem Heimatsbezirk eine Stelle finden.
Nun verstand Mutter Anna Stina, daß ihre Sache schlecht stand, und sie begann daher einen feierlichen Ton anzuschlagen:
»Hier hast Du nun Dein Leben lang in größter Bequemlichkeit und im Ueberfluß verbracht, Stafva, während ich mich in bitterer Armut durchgekämpft habe. Aber bis zum heutigen Tag habe ich Dich noch nie um etwas gebeten. Und nun willst Du mich wie eine Bettlerin fortgehen lassen, der man etwas zu essen gibt, aber weiter nichts.«
Jungfer Stafva lächelte ein wenig, dann sagte sie:
»Schwester Anna Stina, warum sagst Du mir nicht die Wahrheit? Ich bin auch aus Raglanda, und ich möchte wohl wissen, in welcher Bauernstube dort solche Augen und ein solches Gesicht wüchsen?«
Sie deutete auf Ingrid und fuhr fort:
»Ich verstehe recht gut, daß Du einer helfen möchtest, die so aussieht, aber ich verstehe nicht, wie Du glauben kannst, Deine Schwester Stafva sei so schwach im Kopf geworden, daß Du sie betrügen könntest?«
Mutter Anna Stina erschrak so, daß sie kein Wort mehr hervorbrachte. Ingrid aber beschloß, sich der Alten anzuvertrauen, und fing sogleich an, mit leiser, schöner Stimme ihre Geschichte zu erzählen.
Und kaum hatte Ingrid mit ein paar Worten berichtet, wie sie im Grab gelegen und wie da der Dalekarlier gekommen sei und sie gerettet habe, als Jungfer Stafva ganz rot wurde und sich schnell vorbeugte, um es zu verbergen. Es dauerte nur einen Augenblick, aber es mußte etwas Gutes bedeutet haben, denn sie sah nun ganz freundlich aus.
Sie begann auch gleich, umständlich nach allem zu fragen, und vor allem wollte sie wissen, ob Ingrid sich vor dem Irrsinnigen gefürchtet habe.
Ach nein, sagte Ingrid, er tue keinem Menschen etwas zu leide. Er sei auch gar nicht verrückt, er könne ja kaufen und verkaufen, er sei nur verschüchtert.
Am schwersten aber wurde es Ingrid, das zu erzählen, was sie die Pflegemutter hatte sagen hören; aber sie berichtete es aufrichtig, wenn auch mit schluchzender Stimme.
Da stand Jungfer Stafva auf, trat zu ihr, schob ihr das Kopftuch zurück und sah ihr tief in die Augen. Dann streichelte sie ihr die Wange und sagte:
»Ueberspringen Sie das nur, Kleine, das brauche ich nicht zu wissen. Aber nun müssen meine Schwester und Fräulein Ingrid entschuldigen,« fügte sie hinzu, »ich muß der gnädigen Frau den Kaffee bringen. Ich komme aber gleich wieder und höre dann die Fortsetzung.«
Als sie wieder zurückkam, sagte sie, sie habe der Bergrätin von dem jungen Mädchen erzählt, das im Grabe gelegen habe. Und nun möchte ihre Frau Ingrid gerne sehen.
Sie wurden die Treppe hinauf geführt ins obere Stockwerk und in den kleinen Salon der Frau Bergrat.
Mutter Anna Stina blieb in dem feinen Zimmer an der Tür stehen, Ingrid aber war gar nicht schüchtern, sie ging gleich auf die alte Dame zu und gab ihr die Hand. Sie war vor anderen, die viel weniger vornehm aussahen, oft recht verlegen gewesen, aber hier fühlte sie sich gar nicht bedrückt. Sie empfand nur ein unendliches Glück, daß sie hierher gekommen war.
»Das ist also die Kleine, die begraben gewesen ist?« fragte die Bergrätin und nickte ihr freundlich zu. »Wenn es Dir nicht zu viel ist, dann erzähle mir Deine Geschichte, mein Kind. Ich lebe hier so einsam, daß ich nichts sehe und höre.«
Und Ingrid fing von neuem an zu erzählen. Aber sie war noch nicht weit gekommen, als sie unterbrochen wurde. Die gnädige Frau machte es gerade wie Jungfer Stafva. Sie stand auf, schob Ingrid das Kopftuch zurück und sah ihr in die Augen.
»Ja, ja,« sagte sie, mit sich selbst sprechend, »ich kann es verstehen. Ich begreife, daß er diesen Augen gehorchen mußte.«
Zum erstenmal in ihrem Leben wurde Ingrid wegen ihres Mutes gelobt. Die Bergrätin meinte, sie sei sehr mutig gewesen, daß sie gewagt habe, sich einem Verrückten anzuvertrauen.
Sie habe allerdings ein wenig Angst gehabt, erwiderte Ingrid, aber noch mehr habe sie sich davor gefürchtet, daß die Menschen sehen könnten, wie sie damals aussah, und er tue ja niemand etwas zu leide, er sei fast ganz richtig, und er sei sehr gut.
Nun wollte die gnädige Frau wissen, wie er heiße, aber das wußte Ingrid nicht. Sie hatte nie einen anderen Namen gehört als »Geißbock«.
Mehrere Male fragte die Bergrätin, wie er sich betrage, wenn er seine Waren anbiete, und ob sie nicht über ihn gelacht habe und gedacht, er sehe abschreckend aus, der – »Geißbock«.
Es klang ganz sonderbar, die gnädige Frau das Wort Geißbock aussprechen zu hören. Sie sagte es mit unendlicher Bitterkeit, und doch wiederholte sie es einmal ums andere.
Nein, sagte Ingrid, er sei ihr gar nicht abschreckend vorgekommen. Und sie lache nicht über solche Unglückliche.
Die Bergrätin sah immer freundlicher aus, je länger sie mit Ingrid sprach.
»Es scheint, daß Du Dich auf irrsinnige Leute verstehst, mein Kind,« sagte sie. »Das ist eine große Gabe, die meisten fürchten sich vor solchen armen Menschen.«
Sie hatte Ingrids Erzählung bis zum Schlusse zugehört und saß nun nachdenklich da.
»Da Du nun kein anderes Heim hast, mein Kind,« sagte sie schließlich, »so biete ich Dir an, bei mir zu bleiben. Ich alte Frau wohne hier ganz allein; Du kannst mir Gesellschaft leisten, und ich werde dafür sorgen, daß Du alles erhältst, was Du brauchst. Was sagst Du dazu, mein Kind?«
»Es kann eine Zeit kommen,« fuhr die gnädige Frau fort, »da wir Deine Eltern benachrichtigen müssen, daß Du noch lebst, aber vorläufig soll alles bleiben, wie es ist, damit Du Zeit hast, Dich zu beruhigen. Und Du darfst mich Tante nennen, aber wie soll ich Dich nennen, meine Liebe?«
»Ingrid, Ingrid Berg.«
»Ingrid,« wiederholte die Bergrätin nachdenklich. »Ich möchte Dich lieber anders nennen. Als Du mit Deinen Sternenaugen hier eintratst, dachte ich gleich, Du müßtest Mignon heißen.«
Als dem Mädchen nun klar wurde, daß es hier eine wirkliche Heimat finden sollte, war es ihr eine neue Bekräftigung dafür, daß sie auf übernatürliche Weise hierhergeführt worden war. Und sie flüsterte einen Dank ihrem unsichtbaren Beschützer zu, noch ehe sie der Bergrätin, Jungfer Stafva und Mutter Anna Stina dankte.
Ingrid schlief in einem Himmelbett, schaukelte sich auf anderthalb Ellen hohen Federkissen, hatte daumenbreite Hohlsäume am Bettuch und eine seidene Decke, die mit schwedischen Kronen und französischen Lilien bestickt war. Das Bett war sehr breit, so, breit, daß sie liegen konnte, wie es ihr behagte, der Länge oder der Quere nach, und es war so hoch, daß sie zwei Stufen hinaufsteigen mußte, um hineinzukommen. Oben am Betthimmel schwebte ein Amor und ließ bunte Gardinen über sie herabwallen, und unten auf den Bettpfosten saßen andere Amoretten und hielten den Stoff in Bogen in die Höhe.
In dem Zimmer, wo das Bett stand, war auch eine alte, geschweifte, mit Zitronenholz eingelegte Kommode, und aus dieser durfte Ingrid weißes, duftendes Linnen herausnehmen, so viel ihr behagte. Außerdem war ein Schrank da voll schöner, bunter Kleider aus Seide und Musselin, die nur zu warten schienen, welches von ihnen sie anzuziehen beliebe.
Wenn sie am Morgen erwachte, stand neben ihr ein Kaffeebrett, das von Silber und altem, ostindischen Porzellan schimmerte. Und jeden Morgen bissen ihre kleinen, weißen Zähne in feines Weizenbrot und herrliches Mandelbackwerk. Jeden Tag kleidete sie sich in ein leichtes Musselingewand mit kreuzweis gebundenem Spitzentuch. Ihr Haar wurde im Nacken hoch aufgesteckt, und um die Stirne und an den Schläfen trug sie kleine Korkzieherlöckchen.
An der Wand zwischen den Fenstern hing ein Spiegel mit einem schmalen Glas in breitem Goldrahmen; da konnte sie sich besehen, ihrem Bilde zunicken und fragen: »Bist Du das? Bist Du es wirklich? Wie bist Du hierher gekommen?«
Tagsüber, wenn Ingrid das Zimmer mit dem, Himmelbett verlassen hatte, pflegte sie in dem schönen Salon zu sitzen und zu sticken oder auf Seide zu malen, und wenn sie dessen müde wurde, spielte sie auf der Guitarre und sang kleine Lieder dazu, oder sie unterhielt sich mit der Bergrätin, die sie französisch lehrte und sich ein Vergnügen daraus machte, sie zur feinen Dame auszubilden.
Aber ein verzaubertes Schloß war es doch, in das sie gekommen war. Es wurde ihr schwer, sich von diesem Gedanken los zu machen. Sie hatte ihn von dem ersten Augenblick an gehabt, und er überkam sie immer aufs neue.
Kein Mensch kam herein, keiner zog hinaus. In dem großen Hause wurden nur ein paar Zimmer bewohnt. Die anderen betrat niemand. Niemand ging in den Garten, niemand pflegte ihn. Auf dem ganzen Hof gab es nur einen Knecht und einen alten Mann, der Holz hackte. Und Jungfer Stafva hatte nur zwei Mägde, die ihr in der Küche und bei der Milchwirtschaft halfen.
Aber es gab stets feine Gerichte auf dem Tisch, und die gnädige Frau und Ingrid waren immer bedient und angekleidet wie feine, vornehme Damen.
Und wenn auch sonst nichts auf dem alten Herrschaftssitz gedieh, so war es doch jedenfalls ein Ort mit fruchtbarem Boden für Träume. Und wenn auch niemand Blumen und Kräuter hier pflegte, so sorgte doch Ingrid treulich für ihre Traumrosen. Diese wuchsen um sie her, sobald sie nur eine einsame Stunde hatte. Da war es ihr, als bildeten rote Traumrosen einen Thronhimmel über ihr.
Rings um die Insel herum, wo die Bäume sich über das Wasser beugten, so daß ihre langen Zweige tief zwischen das Schilfrohr hinabhingen, wo Büsche und hohe Bäume standen, die hier ganz besonders üppig emporwuchsen, führte ein Fußpfad, den Ingrid besonders liebte. Hier erschien ihr alles so wunderbar: die Bäume, deren Stämme mit eingeschnittenen Buchstaben bedeckt waren, die alten Bänke und Ruheplätze, sowie ein paar morsche Gartenhäuschen, die dem Einstürzen nahe schienen, so daß sie sie nicht zu betreten wagte.
Wie merkwürdig war es doch, sich zu denken, daß es hier einst Menschen gegeben haben sollte, Menschen, die gelebt, geschwärmt und geliebt hatten, und daß hier nicht immer ein verzaubertes Schloß gewesen war!
Hier am See war die Verzauberung am stärksten. Hier kam jenes Antlitz mit dem Lächeln zu ihr. Hier konnte sie ihm, dem Studenten danken, daß er sie hierher geleitet hatte, wo sie so glücklich war, wo man sie lieb hatte und sie vergessen machte, wie hart andere sie behandelt hatten.
Wenn er es nicht so eingerichtet hätte, würde man ihr sicherlich nicht erlaubt haben, hier zu bleiben; das wäre unmöglich gewesen.
Sie wußte, daß er es sein mußte. Noch niemals hatte sie solche wilde Gedanken gehabt; sie hatte immer an ihn gedacht, aber nie hatte sie gefühlt, daß er ihr nahe sei und sie beschütze.
Eines nur hätte sie gerne gewußt. Wann er selbst kommen würde? Denn kommen mußte er ja einmal. Es war nicht unmöglich, daß er hierherkam. In diesen Alleen hatte er einen Teil seiner Seele zurückgelassen.
* * *
Der Sommer verging und der Herbst auch. Weihnachten rückte heran.
»Fräulein Ingrid,« sagte Jungfer Stafva eines Tages, etwas geheimnisvoll, »ich glaube, Sie sollten wissen, daß der junge Herr, dem dieses Gut gehört, zu Weihnachten nach Hause kommt. Wenigstens pflegte er zu kommen,« fügte sie mit einem Seufzer hinzu.
»Die gnädige Frau hat doch niemals erwähnt, daß sie einen Sohn hat,« sagte Ingrid.
Aber eigentlich war sie nicht überrascht. Die Antwort, das habe ich schon lange gewußt, lag ihr auf der Zunge.
»Bis jetzt hat ihn niemand vor Fräulein Ingrid erwähnt,« sagte Jungfer Stafva, »weil die gnädige Frau uns verboten hat, von ihm zu sprechen.«
Und mehr wollte Jungfer Stafva auch nicht sagen.
Und Ingrid wagte nicht weiter zu fragen, denn sie scheute sich davor, etwas Bestimmtes zu erfahren. Sie hatte ihre Erwartungen so hoch gespannt, daß sie selbst fürchtete, sie könnten versagen. Es wäre vielleicht gut, wenn sie die Wahrheit erführe; aber diese konnte auch bitter sein und ihre schönsten Träume zerstören.
Nach dieser Unterredung aber war er Tag und Nacht um sie. Sie hatte kaum Zeit, mit anderen zu sprechen, so unausgesetzt mußte sie mit ihm zusammen sein.
Eines Tages sah sie, daß in der Allee der Schnee weggefegt war. Da erschrak sie beinahe. Kam er nun vielleicht?
Am nächsten Tage saß die Bergrätin vom frühen Morgen an am Fenster und schaute auf den Weg hinaus. Ingrid hatte sich etwas tiefer ins Zimmer gesetzt. Ihre Unruhe war so groß, daß sie nicht am Fenster zu sitzen wagte.
»Weißt Du, wen ich heute erwarte, Ingrid?« fragte die Bergrätin plötzlich.
Das Mädchen nickte, sie traute ihrer Stimme nicht, um zu antworten.
»Hat Jungfer Stafva Dir auch gesagt, daß mein Sohn sonderbar ist?«
»Er ist sehr sonderbar – – er – – Ich kann nicht darüber sprechen, ich kann nicht – – – Du mußt es selbst sehen –«
Das klang herzzerreißend. Ingrid wurde es ganz unheimlich zu Mute. Was war es nur, das hier auf dem Hof alles so sonderbar machte? War es etwas Entsetzliches, von dem sie nichts wußte? Waren Mutter und Sohn entzweit? Was war es, was war es?
In dem einen Augenblick war sie überglücklich, in dem nächsten wie vom Fieber geschüttelt vor Angst und Zweifel. Sie mußte die ganze lange Reihe der Erscheinungen herbeirufen, um wieder zu fühlen, daß er, der Student, es sein mußte, der kam.
Sie konnte durchaus nicht sagen, warum sie so sicher glaubte, daß gerade er der Sohn des Hauses sein müsse. Er konnte ja ebensogut auch ein ganz anderer sein. Ach, wie schwer war es doch, daß sie nie seinen Namen gehört hatte!
Das wurde ein langer Tag. In einer einzigen stillen Erwartung saßen die beiden bis zum Abend.
Da kam der Knecht mit einer Fuhre Weihnachtsholz angefahren; das Pferd blieb auf dem Hof stehen, während das Holz abgeladen wurde.
»Ingrid,« rief die gnädige Frau mit heftigem, befehlenden Ton, »lauf hinunter und sage Anders, daß er das Pferd augenblicklich in den Stall führen soll! Schnell, schnell!«
Das Mädchen eilte die Treppe hinunter und trat auf die Veranda. Aber dort angekommen, vergaß sie, dem Knecht zu rufen. Gerade hinter der Holzlast tauchte ein großer Mann in einem Schafpelz, einen großen Sack auf dem Rücken, auf. Sie hätte nicht zu sehen brauchen, wie er dastand und knickste und knickste, um ihn wieder zu erkennen.
Aber, aber – sie legte die Hand an die Stirne und atmete schwer. Wie sollte sie das jemals verstehen lernen? Hatte die gnädige Frau sie um dieses Menschen willen heruntergeschickt? Und warum führte der Knecht das Pferd in so großer Eile weg? Und warum nahm er die Mütze ab und grüßte? Was ging der Verrückte die Leute auf dem Hofe an?
Dann brach die Wahrheit plötzlich über Ingrid herein, so schlagend, so vernichtend, daß sie hätte laut aufschreien können. Nicht der Geliebte hatte über ihr gewacht, nein, dieser Verrückte war es gewesen. Und weil sie so gut von ihm gesprochen hatte, deshalb hatte sie hier bleiben dürfen. Weil seine Mutter eine gute Tat vollenden wollte, die er angefangen hatte!
Der »Geißbock« – das war der junge Herr!
Aber zu ihr würde niemand kommen. Niemand hatte sie geleitet, niemand sie erwartet. Träume, Hirngespinnste, Augentäuschungen waren es gewesen!
Ach, wie bitter war das! Wenn sie ihn doch nur niemals erwartet hätte!
In der Nacht jedoch, als Ingrid in dem Himmelbett unter den bunten Vorhängen des Baldachins lag, träumte sie einmal ums andere, daß sie den Studenten hereinkommen sähe.
»Du warst es nicht, der kam,« sagte sie dann.
»Doch ich war es,« erwiderte er.
Und im Traum glaubte sie ihm.