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Eros, du Allmächtiger, du weißt wohl, daß es oft aussieht, als wenn ein Mensch sich ganz von deiner Herrschaft befreit hätte. Alle die weichen Gefühle, die die Menschen vereinen, scheinen in seinem Herzen erstorben zu sein. Der Wahnsinn streckt seine Krallen nach dem Unglücklichen aus, aber da kommst du in deiner Allmacht, du Schutzpatron des Lebens, und das eingeschrumpfte Herz grünt und trägt Blüten wie der Stab des Heiligen.
Niemand kann geringer sein als der Pfarrer von Broby, niemand kann durch Schlechtigkeit und Unbarmherzigkeit mehr von den Menschen getrennt sein. Seine Stuben stehen den ganzen Winter ungeheizt, er sitzt auf einer ungestrichenen, hölzernen Bank, er kleidet sich in Lumpen, lebt von trocknem Brot und wird rasend, wenn ein Bettler über seine Schwelle tritt. Er läßt das Pferd im Stall hungern und verkauft das Heu; seine Kühe nagen das trockne Gras vom Wegesrande und das Moos von der Wand des Hauses; bis auf die Landstraße hinaus kann man das Blöken der hungrigen Schafe hören. Die Bauern werfen ihm die Speisen hin, die ihre Hunde nicht essen wollen, und die Kleider, die ihre Armen verschmähen.
Seine Hand ist ausgestreckt, um zu betteln, sein Rücken gekrümmt, um zu danken. Er bettelt von den Reichen und leiht den Armen. Sieht er ein geprägtes Geldstück, so brennt ihm das Herz vor Ungeduld im Leibe, bis es in seiner Tasche ist. Wehe dem, der am Tage des Verfalls nicht zahlen kann!
Er verheiratete sich spät, und es wäre besser gewesen, wenn er es niemals getan hätte. Vergrämt und überanstrengt starb seine Frau. Seine Tochter dient jetzt bei fremden Leuten. Er wird alt, doch das Alter bringt ihm keine Ruhe. Der Wahnsinn des Geizes verläßt ihn niemals.
Aber eines schönen Tages zu Anfang August kommt eine schwerfällige Kutsche, von vier Pferden gezogen, den Brobyer Hügel hinan. Ein feines, altes Fräulein kommt in voller Gala gefahren mit Kutscher und Diener und Kammerjungfer. Sie kommt, um den Pfarrer in Broby zu besuchen. Ihn hat sie in ihren jungen Tagen geliebt.
Während er Hauslehrer im Hause ihres Vaters war, liebten sie einander, aber die stolze Familie trennte sie. Und nun kommt sie den Brobyer Hügel hinangefahren, um ihn zu sehen, ehe sie stirbt. Alles, was das Leben ihr bieten kann, ist ein Wiedersehen mit dem Jugendgeliebten.
Das kleine, feine Fräulein sitzt im Wagen und träumt. Sie fährt nicht die Brobyer Hügel hinan nach einem kleinen armseligen Pfarrhof. Sie ist auf dem Wege zu der kühlen, dichten Laube unten im Park, wo der Geliebte wartet. Sie sieht ihn, er ist jung, er kann küssen, er kann lieben. Jetzt, wo sie weiß, daß sie ihn sehen wird, steigt sein Bild mit seltener Klarheit vor ihr auf. Wie schön er doch ist! Er kann schwärmen, er kann glühen, er erfüllt ihr ganzes Wesen mit dem Feuer des Entzückens.
Jetzt ist sie gelbbleich, welk und alt. Er kennt sie vielleicht gar nicht wieder, sechzig Jahre alt, wie sie ist, aber sie kommt nicht, um gesehen zu werden, sondern um zu sehen, um den Geliebten ihrer Jugend zu sehen, den der Zahn der Zeit unberührt gelassen hat, der noch immer jung, schön, herzenswarm ist.
Sie kommt aus so weiter Ferne, daß sie nie etwas von dem Pfarrer zu Broby gehört hat.
Und dann rasselt die Kutsche die Hügel hinan, und jetzt wird der Pfarrhof oben auf der Spitze sichtbar.
»Um Gottes Barmherzigkeit willen«, jammert ein Bettler am Wegesrande, »gebt dem armen Manne einen Schilling.«
Die vornehme Dame gibt ihm eine Silbermünze und fragt, ob der Brobyer Pfarrhof in der Nähe liegt.
Der Bettler sieht sie mit einem schlauen, scharfen Blick an. »Der Pfarrhof liegt dort«, sagt er, »aber der Pfarrer ist nicht zu Hause, es ist niemand dort zu Hause.«
Das feine, kleine Fräulein sieht aus, als sollte sie ohnmächtig werden. Die kühle Laube verschwindet, der Geliebte ist nicht da. Wie konnte sie auch glauben, daß sie ihn nach vierzigjährigem Warten dort wiederfinden würde?
»Was führt das gnädige Fräulein nach dem Pfarrhof?«
Das gnädige Fräulein war gekommen, um den Pfarrer zu besuchen. Sie hatte ihn in früheren Zeiten gekannt.
Vierzig Jahre und vierzig Meilen haben zwischen ihnen gelegen. Und mit jeder Meile, die sie zurückgelegt hat, hat sie ein Jahr mit seinen Lasten, Sorgen und Erinnerungen abgeschüttelt, so daß sie jetzt, wo sie den Pfarrhof erreicht hat, wieder zum zwanzigjährigen Mädchen geworden ist, ohne Sorgen, ohne Erinnerungen.
Der Bettler steht da und sieht sie an, und vor seinen Augen verwandelt sie sich von zwanzig Jahren in sechzig und von sechzig wieder in zwanzig.
»Der Pfarrer kommt heut nachmittag nach Hause«, sagt er. »Das gnädige Fräulein würde am besten daran tun, nach dem Gasthof in Broby zu fahren und heute nachmittag wiederzukommen. Ich stehe dafür ein, daß der Pfarrer heute nachmittag zu Hause sein wird.«
Einen Augenblick später rollt die schwere Kutsche mit der kleinen welken Dame die Hügel zum Gasthof hinab, der Bettler aber steht da und sieht sie an, am ganzen Körper bebend. Es ist ihm, als könne er auf die Knie fallen und die Wagenspuren küssen.
Fein, frisch rasiert, geputzt, in Schuhen mit blanken Spannen, mit seidenen Strümpfen, mit Jabot und Manschetten steht der Pfarrer von Broby am Mittag desselben Tages vor der Pröpstin in Bro.
»Ein feines Fräulein«, sagt er, »eine Grafentochter; wie kann die Frau Pröpstin glauben, daß ich armer Mann sie zu mir einladen kann? Meine Fußböden sind schwarz, meine Staatsstube ist ganz leer, die Decke im Saal ist grün von Schimmel und Feuchtigkeit. Helfen Sie mir, liebe Frau Pröpstin! Denken Sie doch nur daran, daß sie eine vornehme Grafentochter ist!«
»Können Sie denn nicht sagen lassen, daß Sie verreist sind, Herr Pfarrer?«
»Liebe Frau Pröpstin, sie ist vierzig Meilen weit gereist, um mich armen Mann zu sehen. Sie weiß nicht, wie es mit mir steht. Ich habe ihr kein Bett anzubieten. Ich habe keine Betten für ihre Dienerschaft.«
»Nun, so lassen Sie sie wieder reisen.«
»Liebe, gute Pröpstin! Verstehen Sie denn nicht, was ich meine? Ich gebe lieber alles hin, was ich besitze, alles, was ich mit Fleiß und Mühe zusammengescharrt habe, als daß ich sie wieder fortreisen lasse, ohne sie unter meinem Dach empfangen zu haben. Sie zählte zwanzig Jahre, als ich sie zuletzt sah, und das sind nun vierzig Jahre her; bedenken Sie das doch, Frau Pröpstin! Helfen Sie mir, daß ich sie bei mir aufnehmen kann. Hier ist Geld, wenn Geld helfen kann, aber Geld allein tut es auch nicht.«
Oh, Eros, die Frauen lieben dich. Sie legen lieber hundert Schritte für dich zurück, als einen für die andern Götter.
Im Propsthofe wurden die Zimmer und die Küche und die Speisekammer geleert. Im Propsthofe wurden Arbeitswagen beladen und nach dem Pfarrhof gefahren. Wenn der Propst von seinem Konfirmandenunterricht heimkehrt, kann er in den leeren Stuben umhergehen und in die Küche hinausgucken, um nach seinem Mittagessen zu fragen, aber er wird nichts finden. Kein Mittagessen, keine Pröpstin, keine Mädchen. Was ist dazu zu sagen? Eros hat es so gewollt, Eros, der Allmächtige.
Am Nachmittage kommt dann die schwere Kutsche die Brobyer Hügel hinaufgehumpelt. Und das kleine Fräulein sitzt da und denkt, ob jetzt wohl kein neues Unglück wieder eintreffen wird, ob es wirklich wahr ist, daß sie jetzt der einzigen Freude ihres Lebens entgegengeht.
Und dann biegt die Kutsche auf den Pfarrhof ein, im Tor aber hält sie still. Der große Wagen ist zu breit, das Tor ist zu schmal. Der Kutscher knallt mit der Peitsche, die Pferde ziehen an, der Diener flucht, aber das hinterste Rad der Kutsche sitzt fest und kann nicht wieder loskommen. Die Grafentochter kann nicht auf den Hof des Geliebten gelangen.
Aber da kommt jemand – da kommt er. Er hebt sie aus dem Wagen, er trägt sie auf seinen Armen, deren Kraft noch ungeschwächt ist, er drückt sie so warm und zärtlich an sich wie vor vierzig Jahren. Sie schaut in ein Paar Augen, die genau so strahlen wie damals, als sie erst fünfundzwanzig Lenze geschaut hatten.
Da braust ein Sturm von Gefühlen über sie hin, wärmer denn je zuvor. Sie entsinnt sich, daß er sie einmal die Treppe zur Terrasse hinaufgetragen hat. Sie, die glaubte, daß ihre Liebe alle diese Jahre hindurch gelebt, sie hatte doch vergessen, was es war, in starke Arme geschlossen zu werden, in junge, strahlende Augen zu schauen.
Sie sieht nicht, daß er alt ist. Sie sieht nur die Augen, die Augen.
Sie sieht nicht die schwarzen Fußböden, die Decken, die grün sind von Feuchtigkeit, sie sieht nur seine strahlenden Augen. Der Brobyer Pfarrer ist ein stattlicher Mann, und in diesem Augenblick ist er ein schöner Mann. Er wird schön, nur weil er sie ansieht. Sie hört seine Stimme, seine klare, starke Stimme; die klingt wie Liebkosungen. So spricht er nur zu ihr. Wozu braucht er die Möbel aus dem Propsthof für seine leeren Zimmer? Wozu braucht er Speisen und Dienstboten? Das alte Fräulein würde kaum etwas von alledem vermißt haben. Sie hörte seine Stimme und sieht seine Augen.
Niemals, nie zuvor ist sie so glücklich gewesen.
Wie zierlich er sich verneigt, zierlich und stolz, als sei sie eine Fürstin und er ihr begünstigter Liebling. Er bedient sich der vielen stehenden Redensarten der Alten, wenn er mit ihr redet. Sie lächelt nur und ist glücklich.
Gegen Abend bietet er ihr den Arm, und sie lustwandeln in seinem alten, verfallenen Garten. Sie sieht nichts Häßliches, Vernachlässigtes. Verwachsene Büsche werden zu beschnittenen Hecken, das Unkraut breitet sich als weiche, smaragdgrüne Rasenflächen aus, lange Alleen beschatten sie und in Nischen von dunklem Laub schimmern weiße Statuen – die Jugend, die Treue, die Hoffnung und die Liebe.
Sie weiß, daß er verheiratet gewesen ist, aber sie denkt nicht daran. Wie könnte sie auch wohl an so etwas denken? Sie zählt ja zwanzig Jahre und er fünfundzwanzig. Er ist sicher nur fünfundzwanzig Jahre alt, jung und sprudelnd von Kraft. Soll er wirklich der geizige Pfarrer von Broby werden, er, dieser lächelnde Jüngling! Zuweilen saust es ihm vor den Ohren – eine Mahnung an eine finstere Zukunft. Aber der Jammer der Armen, die Flüche der Betrogenen, die spöttischen Bemerkungen der Verachtung, Schmählieder, Hohn, das alles existiert noch nicht für ihn. Sein Herz erglüht nur in reiner, unschuldiger Liebe. Dieser stolze Jüngling wird das Gold niemals so lieben, daß er in dem schlimmsten Schmutz danach kriechen, es von den Vorüberfahrenden erbetteln wird, Demütigungen erleiden, Schmach erleiden, Kälte und Hunger darum erleiden wird. Wird er wohl sein Kind hungern lassen, seine Frau peinigen für dies elende Geld? Das ist unmöglich. So kann er nicht sein. Er ist ein guter Mensch wie alle andern. Er ist kein Ungeheuer.
Die Geliebte seiner Jugend geht nicht neben einem verachteten Schuft, der des Amtes unwürdig ist, das er zu übernehmen gewagt hat. Das tut sie nicht. Nein, Eros, du allmächtiger Gott, heute abend ist er nicht der Pfarrer von Broby, auch nicht am nächsten und an dem darauffolgenden Tage.
Am nächsten Tage reist sie. Das Tor ist breiter gemacht. Die Kutsche rollt die Brobyer Hügel so schnell hinab, wie nur Pferde laufen können, die geruht haben.
Welch ein Traum! Welch ein herrlicher Traum! Keine Wolke in diesen drei Tagen!
Sie kehrte lächelnd heim in ihr Schloß und zu ihren Erinnerungen. Sie hörte seinen Namen nie wieder nennen, sie fragte niemals nach ihm. Sie wünschte nur, solange sie lebte, diesen Traum noch einmal zu träumen.
Der Pfarrer von Broby saß in seinem einsamen Hause und weinte wie ein Verzweifelter. Sie hatte ihn jung gemacht. Sollte er nun wieder alt werden? Sollte der böse Geist zurückkehren, sollte er wieder verächtlich werden – verächtlich, wie er gewesen war?