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Die Eintagsfliege entschlüpfte dem Wasser, kroch langsam ans Ufer und reckte die feinen Flügel in der Junisonne. Eine Lebensform war beendet, eine andere begann. Wie ein ferner Traum verblaßte in ihr das Dasein als Larve, ein Dasein voll Raubgier und Hunger, beschwert und gefesselt durch die Dichtigkeit des Wassers. Etwas Neues begann, etwas immer Erahntes und doch erst heute Wirkliches. Leichtigkeit und Licht waren die ersten Frohgefühle dieser Wandlung, und Sinn des Lebens waren nun die blitzenden Schwingen in blauer Luft und goldenem Sonnenschein. Frei von dem, was sie einst selber war, lockte das neue Dasein sie zum Sylphentanz im Äther für ein ganzes, langes Leben von Morgen, Mittag und Abend – und flugfroh zitterten ihre Flügel, bereit zum Aufstieg in die durchsonnte Unendlichkeit.
An einer sumpfigen Stelle des Wassers, dem die Eintagsfliege zu neuem Leben entstiegen war, hockte ein dicker grüner Frosch und sah mit erheblichen Augen und völlig andersgearteten Gefühlen auf das seltsame Geschöpf.
Das ist eine fette Person, die muß ich unbedingt aufessen, dachte er, und sein reichlich bemessener Mund klappte appetitvoll auf und zu. Langsam und vorsichtig schwamm er näher, mit der Übung des beruflich Ausgebildeten.
Die Eintagsfliege dehnte wieder die Flügel und streckte die Glieder. Irgendeine Schwere war noch zu überwinden, schien es ihr, und plötzlich, einem unbewußten Willen folgend, kroch sie aus sich heraus, häutete sich und stand nun, neugeboren in jedem einzelnen Glied bis auf die federnden Schwingen, vor ihrer eigenen Maske, dem Abguß dessen, was sie gewesen und nun nicht mehr war.
»Nanu?« sagte der Frosch, »jetzt hat sich die fette Person verdoppelt. Das ist ja unerhört. Am Ende werden es noch drei? Welche ist fetter? Welche esse ich?« murmelte er und blieb unbeweglich sitzen, mit der ganzen Geduld des reifen und erfahrenen Frosches.
Am Uferrand pilgerten eine Ameise und ein Käfer. Es wanderten auch sonst noch an diesem schönen Junitage viele mehrbeinige Leute umher; aber diese beiden hatten sich zu einer zwanglosen Unterhaltung zusammengefunden. Natürlich hatte die Ameise sich vorher genau vergewissert, daß der Käfer Vegetarier war. Man weiß ja bei dieser vielfältigen und beinreichen Familie nie, ob es nicht gerade jemand ist, der Ameisen verspeist – die Fühler zittern einem, wenn man es nur ausspricht – , und unterhalten kann man sich überhaupt erst in Ruhe, wenn man sorgsam geprüft hat, wer wen frißt. Aber dies hier war ein harmloser Pilger in einfachem braunen Kleide, ein wohlwollender Getreidekäfer.
»Ich muß immer so viel denken, wenn ich pilgere«, sagte der Käfer, »geht es Ihnen nicht auch so? Es ist alles so merkwürdig.«
»Das ist eine ganz ungesunde Lebensauffassung«, meinte die Ameise, die mühsam einen Strohhalm mit sich schleppte, »man muß tätig sein und immer das Staatswohl im Auge haben, das rein Praktische, wissen Sie.«
»Es kommt aber doch auf gewisse Punkte an«, sagte der Käfer, »diese Punkte sind eben das, worüber man unbedingt nachdenken muß. Ich bin, zum Beispiel, sehr bescheiden gekleidet, wie Sie gewiß bemerkt haben; aber ich habe auch Punkte auf meinen braunen Flügeln, sehen Sie, hier – und hier – drei Punkte.«
Er zeigte mit dem einen Vorderbein rückwärts auf seine Flügeldecken.
Dem Frosch quollen die Augen. Sollte da neue Nahrung angekrochen kommen? Was verschluckt man nun? Wie ist das Leben doch verwickelt!
»Schauen Sie bloß«, sagte die Ameise und zeigte mit dem Fühler auf die Eintagsfliege und ihre zurückgelassene Haut, »da sitzt jemand und sitzt noch einmal da! So etwas ist mir noch nicht vorgekommen.«
»Erstaunlich, sehr erstaunlich«, sagte der Käfer, »man wird die Punkte suchen müssen, die hier aufzuklären sind. Es muß doch einen Punkt geben, von dem aus man ...«
»Ach, hören Sie auf mit Ihren Punkten«, sagte die Ameise, »das muß man praktisch betrachten, volkswirtschaftlich. Das eine muß die Person sein, das andre die Garderobe. Die Garderobe bewegt sich auch gar nicht, und die Person wackelt mit den Flügeln. Es muß eine leichtsinnige Person sein, so bewegt man die Flügel nicht in anständiger Gesellschaft. Aber diese Ähnlichkeit, welche die Garderobe mit der Person hat! Nein, so etwas ist mir doch noch nicht vorgekommen, und dabei habe ich den staatlichen Eierkursus durchgemacht und bin geprüfte Larvenpflegerin.«
Im kleinen Käfer regte sich eine große Ahnung. Hatte er nicht auch einmal so in der Enge einer Larve gesessen, und dann war er frei geworden, frei, mehrbeinig und mit Punkten? Wie war das bloß gewesen?
»Mir ist doch so, aber ich weiß nicht, wie – mir ist aber wirklich so, nur kann ich mich nicht darauf besinnen«, sagte er und kratzte sich nachdenklich den Kopf mit dem Fühler.
»Das muß ich ergründen«, sagte die Ameise energisch, »ich gehe schnell mal hinüber, bewachen Sie so lange mein Beingepäck!«
Die Ameise lief eilig zur Eintagsfliege.
Dem dicken Frosch, der noch immer zusah, traten die Augen sozusagen aus ihren Ufern.
»Sie interessieren mich volkswirtschaftlich«, sagte die Ameise, »sind Sie das hier noch einmal, oder ist das Ihre Garderobe?«
»Ich weiß nicht«, sagte die Eintagsfliege, »es ist etwas von mir, was unwesentlich war. Was ich selbst bin, fliegt in ein Leben von Sonnenschein.«
»Machen Sie nicht solche Phrasen«, sagte die Ameise, »es handelt sich hier um eine volkswirtschaftliche Frage, die sich vielleicht unseren staatlichen Prinzipien nutzbar machen läßt. Wovon leben Sie?«
»Von Luft, Licht und Sonne«, sagte die Eintagsfliege.
»Das ist Schwindel«, sagte die Ameise, »davon kann man einen Tag leben, nicht länger.«
»Ich lebe auch nur einen Tag«, sagte die Eintagsfliege, »einen Morgen, einen Mittag und einen Abend. Das ist endlos, gar nicht auszudenken, nicht wahr?«
»Ein anständiges Geschöpf lebt Jahre«, sagte die Ameise, »Frühling, Sommer, Herbst und Winter.«
»Ich weiß nicht, was das ist«, sagte die Eintagsfliege, »vielleicht gebrauchen Sie nur andere Ausdrücke. Alles Leben ist doch nur Morgen, Mittag und Abend. Ich kann mir nichts anderes vorstellen.«
»Sie sind eben nicht volkswirtschaftlich und staatlich gebildet«, sagte die Ameise.
»Haben Sie den Punkt gefunden?« rief der Käfer hinüber.
»Ach, Sie mit Ihrem Punkt!« sagte die Ameise, »bewachen Sie lieber mein Beingepäck, das ist der einzige Punkt, um den Sie sich eben zu kümmern haben. Wenn ich wiederkomme und ich finde mein Beingepäck nicht mehr, dann trommle ich Ihnen auf Ihren drei Punkten herum, daß Sie alle anderen Punkte vergessen.«
»Ich sitze auf Ihrem Beingepäck«, sagte der Käfer, »mehr kann man wahrhaftig nicht tun – aber es muß doch einen Punkt geben ...«
Der Frosch konnte sich jetzt nicht mehr beherrschen. Er sprang mit einem Satz auf die Hülle der Eintagsfliege zu. Diese von den beiden fetten Personen schien ihm am fettesten. Die Eintagsfliege spannte die Flügel weit aus und flog in Licht, Luft und Sonne hinein, und hinter ihr blieb, wesenlos und unwesentlich, das, worin sie einmal war – ihr Kleid. Ein neues Dasein begann – Morgen, Mittag und Abend.
»Das ist ja gar keine Person, sondern ein Futteral«, quakte der Frosch wütend und setzte erbost ins Wasser zurück.
Die Ameise war zum Käfer zurückgeeilt und nahm ihr Beingepäck wieder in Empfang, ohne sich zu bedanken. »Die Person sagt, sie lebt von Luft und Sonne«, erzählte sie, »sie lebt nur einen Tag, sagt sie, Morgen, Mittag und Abend. Es ist eine Schwindlerin. Ich dachte es mir gleich, als sie so mit den Flügeln wackelte, es ist eine leichtsinnige Person.«
»Morgen, Mittag und Abend«, sagte der Käfer und rieb sich den Kopf mit dem Fühler. »Man muß aber doch einen Punkt finden können, irgendeinen Punkt ...«
Mehrbeinig und mühsam pilgerten beide weiter. Der Frosch saß dick und grün im Sumpf und hatte eine geschwollene Kehle vor lauter Ärger. Die Eintagsfliege gaukelte mit blitzenden Schwingen im Lichterglanz eines neuen Daseins – für einen Tag, für Morgen, Mittag und Abend.
Aber was ist ein Tag? Ein Augenblick und tausend Jahre sind gleich flüchtig und wandelbar – man muß doch wohl den einen Punkt finden, wie der kleine, pilgernde Käfer sagte, irgendeinen Punkt ...
Sind wir nicht alle Eintagsfliegen, lassen wir nicht auch Larven zurück, die uns gleichen, und haben damit doch nur Erde und Sumpf verlassen, um unsere Schwingen zu spannen im blauen Äther durchsonnter Ewigkeit? Jede Gegenwart trägt ihr rätselvolles Zeichen des Künftigen, und in allem Dasein atmet die große Ahnung kleiner Käfer: alles Leben ist Morgen, Mittag und Abend und, über Nacht, das Frührot einer neuen Sonne – alles Leben ist ewiges Ostern.