Isolde Kurz
Die Pilgerfahrt nach dem Unerreichlichen
Isolde Kurz

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Achtzehntes Kapitel

Den Du nicht verlässest –

Ich hauste wieder wie in meinen einsamen Jungmädchentagen in dem unsichtbaren Turmgemach, wohin ich mich aus der deutschen Not und Ohnmacht und Selbsterniedrigung geflüchtet hatte. Dort schauten zu allen Fenstern die Türme und goldenen Kuppeln eines höheren Deutschland herein, jenes von Geisterhänden hoch in die Lüfte hinaufgebauten Überdeutschlands, das keine Weltkatastrophe erschüttern konnte. Das Buch der Zeitgeschichte schlug ich zu, ich las nach dem Versailler Frieden keine Zeitung mehr. Stumpfheit deckte jetzt alle Gebreiten. Das Ungeheuere, das wir erlebt hatten, war wie nie geschehen. Der Durchschnitt der Menschen ist klein und erträgt die Erinnerung des Großen nicht auf die Länge. Deutschland war nicht gewesen, an seiner Stelle war eine ungeheuere Leere, in der Larven durcheinanderschrien. Die Heimkehrer selber schwiegen, man durfte sie jahrelang nicht nach dem Krieg fragen. Sie hatten zu Gräßliches gesehen, sie mußten es vergessen lernen wie einen Traum, sonst hätten sie nicht leben können.

– Was nun beginnen? Was war übrig für das man streben 633 und wirken konnte in einer entadelten Welt? Eins war übrig, das Heiligste von allem, die deutsche Sprache. Ihr dienen dürfen, ihr immer aufs neue dienen, war das nicht der höchste Dienst? Mögen auch Grenzen zerbröckeln, wenn sie nur bleibt, die Seele unseres Volks. Dieses edelste Instrument, das jeden tieferen Wohllaut der Erde hergab dem, der es verstand zu spielen, war mir geblieben, mit ihm konnte ich nie verarmen. In dem weltweiten Überdeutschland, das wieder mein wurde, gab es auch keine Feindvölker, sie waren alle aus der Zeit gerückt. England war nicht mehr das Land des Baralong, sondern wurde langsam wieder das Land Shakespeares. Und so die andern. Der Schleier fiel ab, mit dem ich mir hatte Italien verhüllen müssen, und die andere Hälfte meines Ichs wuchs mir wieder zu. Ich solle unter Menschen gehen, mir wieder einen Kreis schaffen, rieten die Freunde, ich hätte schon vor dem Krieg vielzulange außerhalb Deutschlands gelebt und würde nun ohne persönlichen Rückhalt Tag um Tag mehr von der literarischen Bühne abgedrängt, wo ständig um jeden Fußbreit gerungen würde. Ich wußte es längst, denn ich bekam die Ausschließung scharf genug zu fühlen. Aber ach, ich hatte anderes zu tun als nach den Stellen zu rennen, wo sie sich jetzt gegenseitig die Kränze und Kronen verteilten. Nach dem Hingang des geliebtesten Wesens, das mich so lange Jahre vom Weltverkehr fernhielt, und nach dem Unglück der größeren Mutter Deutschland hatte ich unter Menschen nichts zu suchen. Jetzt durfte ich nur noch auf jenen unsichtbaren Führer und Schutzgeist hören, der mir sagte: Laß alles hinter dir, tritt heraus aus der Zeit. Zurück, zurück in den eigentlichen Tag!

634 Wenn ich mich besinne, welches die schönste Zeit meines Lebens gewesen, finde ich keine seligere als die wo ich die »Nächte von Fondi« schrieb. Erschütternd, die Schönheit des Südlands nach dem langen Fernsein in der Erinnerung wie durch einen magischen Spiegel wiederzusehen, der alles noch schöner und wahrer macht. Vielleicht haben mich die leichten Lüfte Italiens nie zärtlicher umspielt, als während ich sie im rauhen Münchner Winter zurückrief. Auch das Atmosphärische war wieder dabei, die glühende Mittagsstille, die überschwenglichen Sternennächte, der Duft der Orangengärten wie nicht minder die Zwiebelgerüche der Garküchen, der Schrei des verliebten Esels und die Gitarrenklänge der Serenaden. Ein Jahr nach Friedensschluß war ich ja wieder dort gewesen und hatte für ein paar Wochen die Lüfte meiner Jugend geatmet. Mit dem Nachtzug fuhr ich über den Apennin in einem ganzen Wagen voll Betrunkener, die von einem Feste kamen und sangen und selig waren und weitertranken. Die Männer umarmten sich untereinander, gerieten in Zank und versöhnten sich mit dramatischer Zärtlichkeit. Der Wagen dritter Klasse war so voll, daß man den Fuß nicht auf den Boden setzen konnte, nur auf ausgestreckte Menschenbeine, aber sie halfen, schafften Platz, erkundigten sich, ob ich auch bequem säße und ob ich nicht vielleicht durstig sei, kurz, sie behandelten mich wie etwas ihnen Anvertrautes – meine Kenntnis des Volkscharakters gab mir die Gewißheit, daß bei keinem der Rausch in Roheit ausarten würde. Und als ich in Pistoja ausstieg, um dort zu schlafen, sprang ein halbes Dutzend meiner fröhlichen Beschützer mit heraus, stellte meine Sachen sorglich auf den Boden, rief den Dienstmann und verabschiedete sich unter 635 guten Ratschlägen. Es schien mir, als sei ich im Italien Eichendorffs gelandet. Dann fuhr ich im kleinen Einspänner durch die nach Mitternacht noch fröhlich belebten Straßen, an lampenerhellten Wirtsgärtlein voll singender lichtgekleideter Menschen vorüber, nach der nächtlichen Dunkelheit Münchens ein feenhafter Anblick, schlief in einem nach Frische und Lavendel duftenden toskanischen Riesenbett, erwachte in der Frühe an dem markdurchdringenden Schreien eines Esels und sprang vom Lager, ob das kein Traum sei, – oft hatte ich ja so geträumt, aber diesmal war es Wahrheit: da stand das edle Grautier mit seinem Karren voll Grünzeug, und eben öffnete der Barbier als erster seinen Laden, Dienstmädchen hantierten mit Gesang und Scheuerlappen am offenen Fenster, alles war wie es sein sollte; ich befand mich im Lande der ewigen Jugend. Von Krieg und Völkerhaß schien man nichts mehr zu wissen, nur als ich in Lucca an einem Tage dreimal gefragt wurde, ob ich Französin sei, und auf die Antwort: Nein, Deutsche! die Mienen sich entspannten, merkte ich, daß zwischen den lateinischen Schwestern wieder einmal nicht alles zum Besten stand. Aber ich fragte nicht, ich wollte in alle Ewigkeit nichts mehr von Politik wissen. Noch war es nicht so, daß ich hätte bleiben können, mein Haus war noch beschlagnahmt, ich auf Gastfreundschaft angewiesen, aber mein Herz war gesundet, ich lebte wieder zeitlos im reinen Sein, am Herzen der Dinge. So konnten auch die Gestalten wieder zu mir finden.

Zwei traten jetzt heran, die seit lange auf eine geweihte Stunde warteten. Giulia Gonzaga, die Frau, um deren Schönheit eine Stadt in Asche gelegt wurde, und der junge Kardinal im 636 Kriegergewand, Ippolito de' Medici, das adlige Menschenpaar, das in einer Zeit wilden Genußlebens schön und unglücklich liebte. Aus dem langen Warten und Abstandhalten traten sie jetzt von selbst hervor, sie brachten mir mein ganzes Lichtland mit, überhöht von einer Ära gesellschaftlicher Hochzucht, wo das geistige Leben in hundert farbige Strahlen zerfiel und wo die Schönheit Gefahr und letzte Verpflichtung war. Mit dieser Stoffwahl, die mir erlaubte, noch einmal die sinkende Renaissance mit einer Welt voll beinahe ariostischer Abenteuer zu beschwören, gab ich vor allem mir selber ein Fest. In dem letzten Sprößling der alten großen Linie des Mediceerhauses, von dessen kurzem Leben die Geschichte nur ein flüchtiges Aufleuchten bewahrt hat, ließen sich noch einmal alle die Züge wecken, die den Namen Medici groß gemacht haben; das Wesen der Frau entstand von selbst als der sittliche Gegenpol zu der Unbegrenztheit des Mannes, indem sie gegenüber dem Zeitgeist, den er in der bezwingendsten Gestalt verkörpert, die höhere Macht der sittlichen Idee vertritt.

Meine Absicht war diesmal nur mit zartem Stift zu umreißen, wie man Märchenfiguren zeichnet. Aber einmal gerufen, gab es kein Halten mehr, sie drängten sich persönlich durch mit ihrem südlichen Lebenswillen und der Farbenglut, die ihnen nun einmal gehörte. Ich mußte, wie sie wollten. Ich fühlte mich deutlich als ihr Medium. Ihre Nähe nahm mir oft den Atem; der geistsprühende, bestrickende Jüngling und die seelenvolle Frau mit dem unerfüllten Eros, der zwischen ihnen zittert. Sein Schatten trat so nahe heran, daß ich ihn einmal in einem Wachtraum leibhaft an meiner Seite gehen 637 sah und die halb ausgelassenen halb schwermütigen Reden hörte, mit denen er das Herz der geliebten Frau bedrängte. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen, denn seine Bilder überzeugten nicht, auch nicht der berühmte Tizian im Pitti, dessen düsterer Ernst mit der strahlenden Liebenswürdigkeit, die dem Urbild nachgesagt wurde, nicht im Einklang stand. Daher erschien er mir immer nur in der Bewegung, wofür alles, was ich je an Adel der Haltung und an ritterlicher Anmut auf südlichem Boden gesehen hatte, das Vorbild ergab. Ich war schon weit in der Arbeit, als mir auf der Münchner Staatsbibliothek ein altes italienisches Buch in die Hände kam, das neben den anderen jüngeren Mitgliedern des Mediceerhauses auch den Kardinal Ippolito nach Erinnerungen von Augenzeugen schilderte. Das brachte mich in peinlichen Zwiespalt. Lesen? Vergleichen? Wäre mir nur das Buch von Anfang an zugänglich gewesen. Aber wenn nun die Mitwelt ihn äußerlich ganz anders kannte, als ihn meine Vorstellung gebildet hatte, so mußte mich das gewaltig stören, vielleicht geradezu den Fortgang hemmen, denn wo ich mir selber nicht felsenfest glauben konnte, da sank meine Hand herunter; obgleich es ja gewiß nichts Unrechtes war, sich eine wenig bekannte geschichtliche Persönlichkeit nach Dichterbedarf zurechtzumodeln. Aber kaum daß ich zwischen die Blätter geschielt hatte, ergriff mich eine Art Erschütterung, so genau stimmten die überlieferten Züge zu dem erfundenen Bild, als wären unsichtbare Helfer für mich am Werke gewesen. Denn auch der Biograph hatte den Allbewunderten nur durch die Bewegung gemalt: wie er den Kopf trug, wie er hereintrat und mit schnellem Blick die Menschen im Bann hatte, ganz so 638 wie er auch auf meinen Blättern erschien. Dabei war freilich nur das eine sonderbar, daß ich wirklich in einer Art von Trance mit gespannter Aufmerksamkeit einen Schatten abzukonterfeien glaubte und Scheu trug, auch nur einen Strich zu verzeichnen. Nach der Frau, deren Hoheit und ernste Anmut einer ganzen verderbten Gesellschaft die Waage hielt, brauchte man nur ihre Bilder zu befragen, sie wußten mehr von ihr als die Schmeicheleien der Höflinge, aber auch die Bilder lernte ich erst als Bestätigung kennen, nachdem ihr inneres Bild in mir fertig war. Mitunter, während ich schrieb, hielt ich beklommen vor der Nähe der Schatten inne, ob es nicht unzart sei, in die innerste Heimlichkeit ihrer Herzen einzudringen und zu fragen, wonach man keinen Lebenden fragen darf. Aber die Strömung ging weiter, was ich als Zustimmung zu meinem Tun empfand.

Kurz bevor ich die »Nächte« zu schreiben begann, hatte eine junge Frau gegen mich die Bemerkung gemacht, wie es nur komme, daß in den modernen Romanen kein Held mehr auftrete, in den man sich verlieben könne. Ich sagte, das liege an dem analytischen Verfahren der »Modernen«, wonach der Verfasser vor dem Helden wie sein Kammerdiener stehe, der ihm seine Schwächen abluchst und ihn gerupft vor die Öffentlichkeit bringt. Dem Bedürfnis nach einem verführerischen Helden war mit dem Erscheinen der »Nächte« für eine Weile abgeholfen. Die Anziehungskraft, die der junge Kirchenfürst im Leben ausgeübt hatte, blieb ihm auch im Buche treu. Ich bekam unzählige Liebesbriefe für ihn aus der lesenden Frauenwelt, man suchte in Rom und Fondi seine Spuren, man wallfahrtete zu seinem Grab und setzte die 639 Kanoniker von San Lorenzo in Damaso, die nicht wußten, wo sie es suchen sollten, in Verlegenheit, bis ein deutscher Kunsthistoriker, der selber Priester war, es wirklich wieder auffand. Ja, zu meinem nicht geringen Ergötzen erschien er sogar einmal in Berlin bei einer Spiritistensitzung, wo sich der ehemalige Arbiter elegantiarum über die mangelnde Eleganz im Berliner Straßenbild, und daß die heutigen Herren den Damen in der Elektrischen keinen Platz machten, mit Nachdruck beschwerte.

 

– Glückliche Stunden waren es auch, als ich den Band »Legenden« schrieb. Da war es köstlich, von aller rationaler Bindung frei über der Wirklichkeit zu schweben und nur innig und gläubig mit den Mächten der Seele zu schalten. Ich gestehe, daß mir die berühmten Gottfried Kellerschen Legenden immer ein wenig wehe getan haben wegen des überlegenen Lächelns mit dem sie erzählt sind; mich dünkt, daß Legenden nur schön sein können mit dem Ausdruck argloser Wundergläubigkeit; für die Ironie gibt es ja anderwärts Spielraum genug. – Um der Farbenlust willen knüpfte ich meine Erfindungen lose in einen geschichtlichen Zusammenhang ein, wodurch ich die mannigfachsten Gegensätze frei spielen lassen konnte: italienische Sinnenfreude und deutsche Innerlichkeit, griechische Ekstase und römischen Weltverstand, unschuldige heidnische Nacktheit und christliche Askese.

Selten wird sich wohl ein Leser darüber klar sein, wie viel dem Dichter die richtige Namenswahl für seine Gestalten bedeutet. Auf diesem Punkt hat die Historie viel vor der Dichtung voraus: jeder geschichtliche Name paßt seinem Träger wie 640 angegossen, wir empfangen ihn, als könnte es gar nicht anders sein. Aber der Dichter muß, wenn ihm der Name nicht als Geschenk vom Himmel fällt, oft lange suchen, bis er den rechten hat, dessen Klangfarbe Gleichnis ist und unlöslich mit der Figur verwächst. Eine meiner Legenden, die »Gnadeninsel«, hatte ich des Nachts mit ihrem ungefähren Inhalt geträumt und nahm mir gleich beim Erwachen vor, den Traum durchzugestalten und niederzuschreiben. Aber ich stieß auf ein seltsames Hindernis. Dem frevelhaften Helden meiner Geschichte hatte nämlich der Traum den vertrackten Namen Terodak gegeben, und es war natürlich mein erstes ihm einen anderen, vernünftigeren zu suchen. Allein umsonst, ich kam keinen Schritt weiter, der Traum ließ sein Recht nicht fahren: der Bengel hieß Terodak oder er war überhaupt nicht, denn er wollte auf keinen andern Ruf erscheinen. Ich gab die Geschichte auf. Nach Monaten nahm ich sie doch wieder vor, ich war auf den Gedanken gekommen, sie in die Zeit der Königin Johanna von Neapel zu verlegen und den rauhen Helden zu einem provenzalischen Kriegsknecht zu machen, der beutesuchend umherzieht. Als solchem wuchs ihm der ausgefallene Name ganz natürlich auf den Leib, ich brauchte ihn nur für das Auge französisch zu schreiben, für das Ohr blieb er das gleiche: Théraudac wie Terodak.

Nahm die zünftige Literatenwelt seit dem Krieg von meinem Dasein keine Kenntnis mehr, so hielt mir das Schicksal eine Vergütung bereit, die keine Bitterkeit aufkommen ließ. In der Inflationszeit, die für viele schwerer zu ertragen war als die Kriegsjahre selbst, weil Handel und Wandel stockten und die eingenommenen Milliarden in der Hand zerschmolzen, 641 bevor man sie in Waren umsetzen konnte, durfte ich auf langen Vortragsreisen mein Vaterland der Länge und Quere nach durcheilen. Die Herzenswärme des Empfangs, auf die ich in meiner Einsamkeit gar nicht gezählt hatte, volle, meist übervolle Säle, ein reichgeschmücktes Podium, freudige Begrüßungen, Blumen, Ansprachen, Gedichte, Briefe, die mir noch nachfolgten um mir zu erzählen, daß der Abend einen Trauernden gehoben, einen Leidenden gestärkt habe oder einem jungen Menschenwesen den Weg zu sich selber und zu seiner Laufbahn gezeigt –, das war mehr als die papierenen Lorbeerkronen, die über mein Haupt hinweg verteilt wurden. Ich konnte ja Menschen nicht zwingen mich zu lieben, die ich auch nicht liebte –, von Ausnahmen abgesehen! Mochten sie mich totsagen, mochten sie künstlichen Staub auf den pochenden Puls meiner Bücher streuen. Was tat's! Ich fühlte mich sicher im Herzen meiner Nation. Meinen erzürnten Freunden konnte ich die witzigen Worte des alten Cato zu Gemüt führen, der auf die Klage seiner Anhänger, daß sein Bild nicht im Kapitol stehe, zur Antwort gab, es sei doch besser, daß man frage, warum es nicht dastehe, als daß man früge, warum es dastehe. Das war die Zeit des literarischen Hexensabbats, wo beide Geschlechter sich in Blocksbergsprüngen überboten. Damals schien es, als sollte die deutsche Jugend nunmehr haltlos in dem Morast versinken, auf dem die literarischen Miasmen wie lockende Irrlichter tanzten. Das Leben artete sich nach der Literatur und diese zog neue Zersetzungsstoffe aus dem Leben. Damals blühten die jugendlichen Liebeskonventikel, wo die Liebe nicht paarweise, sondern im Chassez-Croisez reihumging. Aber das war noch Natur, wenn auch tierische. 642 Die Kunst mußte »dämonisch« sein, und was sie unter diesem Kennwort verstanden, das bedurfte einer satanassischen Einweihung.

Der Einzelne war machtlos gegen die Verderbnis. Konnte ja auch Herkules die Ställe des Augias nicht mit eigenen Händen reinigen; er leitete den Strom des Landes hindurch. Jetzt hieß es nur Tür und Fenster schließen gegen die Ausdünstung. Bis unerwartet mit Gewalt ein gänzlich veränderter Zeitstrom hereinbrach und von dem Vaterlandsboden den Unrat wegschwemmte für eine künftig zu erhoffende neue gesunde Saat.

*

Im Frühsommer 1923 erlebte ich ein italienisches Intermezzo, das die graue deutsche Notzeit phantastisch unterbrach und mir eine bedeutsame Dichterbekanntschaft vermittelte. Einem gastfreundlichen Rufe folgend kam ich für ein paar glühend heiße Sommerwochen nach San Remigio am Lago Maggiore, dem verwunschenen Prachtsitz des Marchese Silvio della Valle di Casanova. Bei Pallanza, hoch über dem See, der mich mit den edelgestuften Profilen des jenseitigen Ufers an griechische Gewässer erinnerte, erhob sich über breiter Plattform die Villa mit ihren Kunstschätzen und musealen Altertümern. Aber nicht diese machten den Ruhm von San Remigio aus, sondern die einzigartigen hängenden Gärten, die durch Treppen verbunden die ganze vordere und die seitlichen Hügelflanken bedeckten. Unter übermächtigem tropischem Wachstum und verwirrendem Blumenduft stiegen die gemauerten, mosaikbelegten Terrassen bergan, eine Orgie der Gartenkunst, von erregender, beinahe quälender Schönheit. 643 Palmengruppen durchschnitten mit ihren messerscharfen Blättern die blaue Luft, zwischen immergrünen Gewächsen fremder Zonen zackten sich granitene Nadeln und Säulen empor, von denen Drachenmäuler züngelten, steinerne Götterfiguren des Seicento waren wie zum Bacchanal zusammengeladen und stimmten mit der Bewegtheit ihrer Gesten in die fiebernde Unruhe ein, daß mich die ganze Wunderschau anmutete, als sei da etwas geschaffen, was es gar nicht gebe. So greifbar wirklich das alles war, erschien es doch wie aus dem Leben entrückt, von keinem Leben bewohnt. Es paßte gut zu der umgebenden Phantastik und der märchenhaften Stille, daß ich einmal zusah, wie ein stolzer Pfau sich bei seinem Hochmut nicht entblödete, der Katze listig das Futter aus der Schüssel zu stehlen, bis diese heranfauchte; da schwang er sich in die Luft, indem er noch lange Maccheronischlangen im Schnabel nachzog. – Man sagte mir, auch D'Annunzio habe einmal den Wundersitz besucht und sich vorübergehend mit einem Roman getragen, worin bezeichnenderweise diese barocke Herrlichkeit zum Versteck einer blutschänderischen Geschwisterliebe gemacht werden sollte.

Der Herr und Schöpfer der Wundergärten hatte sie sich mit seiner kunstsinnigen englischen Gemahlin als ein Abbild seiner eigenen Seele, überschwenglich, launenhaft und schönheitstrunken wie er selber war, mit zähem Willen aus dem Gestein geschürft. Dieser Mann war ein unlösbares Problem für sich und für die anderen. Ritterlich von Gemüt, aber schroff und schwierig im Verkehr, hatte er nichts von der leichten Umgänglichkeit des Italieners, sondern erinnerte eher an einen französischen grandseigneur des ancien régime. Die 644 Gegensätze, die in ihm stritten, ließen ihn zu keiner inneren Harmonie kommen und machten seine Nähe beunruhigend. Er stammte aus neapolitanischem Hochadel, war Sohn einer Engländerin und selber in glücklicher Ehe einer Engländerin verbunden, lebte dauernd in Italien, das Italienische war ihm Verkehrssprache, das Englische Haus- und Herzenssprache, aber er hatte sich's zum höchsten Ziel seines Ehrgeizes gesetzt, ein deutscher Dichter zu sein; und doch hatte er das Deutsche erst als Erwachsener bei einem Aufenthalt in Deutschland erlernt. Allein sobald er die ersten Laute vernommen hatte, stand es in ihm fest: dieses ist meine Sprache, mir von Urbeginn bestimmt, nur durch einen Irrtum der Natur bin ich in einer anderen geboren. Und nachdem es ihm niemals eingefallen war, weder auf italienisch noch auf englisch zu dichten, ergreift ihn nun ein unwiderstehlicher Zwang, seine inneren Gesichte in deutscher Dichtersprache zu formen. Was der feste Glaube vermag, das bewies er durch ihre Handhabung im Vers. Wie liebt er aber auch diese Sprache. Mehr als irgendein Ausländer empfindet er, daß im deutschen Wort das Ding selber lebt, daß die Worte anderer Sprachen nur das Zeichen dafür geben. Seine eigene schöne Muttersprache war ihm nichts dagegen. Wenn ich diese gegen ihn verteidigte, so ärgerte er sich. Nehmen Sie nur das Wort »Blume«, sagte er mir einmal und ließ es verzückt auf der Zunge zergehen, da haben Sie die Blume selbst. Was sagt dagegen fiore? Es kann alles bedeuten und darum bedeutet es gar nichts. – Weil ihm in Stuttgart, wo er auf dem Konservatorium Musik studierte – deutsche Musik, die allein zu ihm sprach –, diese Neugeburt zuteil geworden war, machte es ihm ein besonderes 645 Vergnügen, sich einen Schwaben und das Schwabenland seine Heimat zu nennen. Aber er hatte sich nun als Dichtersprache die schwerste von allen erkoren, die, von der Goethe das unheimliche Wort sprach, er wäre ein Dichter geworden, »hätte die Sprache sich nicht unüberwindlich gezeigt«. Da kam nun dieser kühne Fremdling, dessen Kindermund kein deutsches Wort gestammelt hatte, in dessen Ohr kein Spruch einer deutschen Ahnfrau raunte, und riß mit der Leidenschaft eines Eroberers die deutsche Sprache an sich, ja, und oft genug vergewaltigte er sie. Durch und durch Musiker, breitete er seine Dichtungen wie weitangelegte Symphonien aus, in denen er die Stimmen der Natur zu brausenden Chören anschwellen ließ und mit einer Wortfülle und Lautmalerei, die an die verzückten Hymnen seines Landsmanns D'Annunzio erinnerten. Er schwelgte in kühn gewagten eigenen Wortbildungen, teils köstlich gelungenen, teils barbarisch mißlautenden, das deutsche Ohr zerreißenden. Um sein Sprachgehör zu läutern und sein Dichtertum rein zu entwickeln, hätte er müssen ganz in Deutschland leben, sich dem deutschen Volk enge verbinden, die Sprache von Kinderlippen und im Volkslied hören. Er kehrte jedoch nach Italien zurück, führte seine englische Jugendliebe heim und schuf die Wundergärten von San Remigio, die Zwillingsgeschwister seiner Dichtungen, die ihn für immer an die Ufer des schönsten Sees banden. Das Schicksal ist erfinderisch, wenn es gilt, den Dichtern Hemmungen zu schaffen; den einen lähmt es durch Not und Entbehrungen, diesem legte es durch Besitz und Familienglück eine Schlinge. In dem südlichen Sinnenrausch und Prachtüberschwang verging er nach der Schattenstille der deutschen Wälder. Seinen 646 Park hielt er großzügig allen Durchreisenden offen, aber Freude machte es ihm nur, wenn er Deutsch vernahm. Ihn rührten sogar die deutschen Hochzeitspärchen mit der naiven Öffentlichkeit ihrer Gefühle, die den ansässigen Landsleuten so peinlich sind. Seine Liebe galt dem deutschen Volk ebenso wie seiner Sprache, es war ihm das Volk der Völker, dessen Sache er zu der eigenen machte. Für die Dauer des Krieges begab er sich auf das Schweizer Ufer hinüber, denn er wollte nicht in einem Lande leben, das gegen Deutschland kämpfte. Zurückgekehrt, fühlte er sich auf seinem Wundersitz doppelt unzufrieden. Jetzt kamen nur noch die Angehörigen der siegreichen Ententevölker und er hörte keinen deutschen Laut mehr. Die lebendige Sprache verebbte in seinem Ohr, er holte sie sich für sein Werk aus alter und neuer Literatur, aus Wörtersammlungen und anderen Hilfsmitteln wieder herbei, aber ohne Rücksicht auf die landschaftliche Herkunft noch auf den Rangwert der Worte, daß man mitunter erschrak, als trete ein Bauer mit Nagelschuhen mitten in eine erlauchte Gesellschaft oder als hülfe ein vierschrötiger Schiffer von der Waterkant mit Pfeife und Südwester schlanken braunen Südländern die Netze ziehen. Ich habe nie mit beklommeneren Gefühlen ein Manuskript in der Hand gehalten als eine mir anvertraute unvollendete Dichtung Casanovas. Immer mußte man die Sprachmusik und ihren strömenden Reichtum bewundern, der nie ein leeres oder abgebrauchtes Wort mit sich führte, aber vieles einzelne war erschütternd verfehlt. Man durfte ihm nichts sagen, er ertrug es nicht, und ich fühlte, wie er von der ausbleibenden vollen Anerkennung litt; ich selber litt nicht minder und konnte doch nicht gegen mein Gewissen 647 reden. Ich sah nur einen Weg: daß er baldmöglichst nach Deutschland zurückkehrte, zu den Freunden seiner Jugend, die seine Entwicklung miterlebt hatten und von denen er Rat und Wink und Hilfe annehmen würde. So geschah es auch zu seiner Zeit, und kurz bevor der glühende Freund Deutschlands aus dem Leben schied, wurde ihm die Genugtuung zuteil, sein Werk in geläuterter Gestalt, schlackenfrei auf dem deutschen Parnaß eingeführt zu sehen, von Hermann Hefele, der sein Freund war und dessen Urteil vor vielen wog, mit Feuerworten bewillkommt. Wird ihr Widerhall sich im deutschen Schrifttum ausbreiten? Ihr Dichter hat es um Deutschland verdient. Allein zu dem tragischen Zwiespalt, der sein ganzes Schaffen begleitete, gesellt sich die weitere Tragik, daß diese Gedichte so durch und durch undeutsch, so ganz romanisch gefühlt sind, daß das Volk, zu dem sie sprechen, sie innerlich nicht miterleben kann. Sie haben keine Heimlichkeit, kein keusches Verschweigen, kein Dämmerlicht, worin die deutsche Seele wesen kann. Sie sind lodernde brennende Sinnenglut bei kühlem Herzen, Liebesekstasen ohne Liebe. Freilich will Casanova nicht eigentlich Dichtung geben, nur Sprachrhythmus und Musik ohne menschlichen Inhalt, endlos bewegtes Element, das um seiner selbst willen da ist. Weil aber das deutsche Wort bedeutungsgeladener ist durch seine inneren Schichten als das italienische, so kann es nicht auf die Länge als reiner Naturlaut das Gehör entzücken wie D'Annunzios Prachtkaskaden, es wirkt bei zu großer Häufung ermüdend. Nur im Sappho-Zyklus erhebt sich der Dichter über das rein Elementarische hinaus und läßt trotz des Peinlichen, das er ohne Not aus dem Überlieferungsstoff herübernahm, ein 648 erhöhtes, ja überschwengliches Seelenleben aufleuchten. Denn diese Frau liebt er wirklich, ihr gibt er sich hin, Jahrtausende sind ja für Dichterliebe keine Schranken. Wundervoll der Grabgesang des Meeres um die versunkene Sappho her, unendlich wie das Meer selber, jede Welle ein Preis der Einen. Er hat das Meer um Lesbos, in dem er sie sterben läßt, nie gesehen, vielleicht überhaupt kein Meer, denn er reiste nicht. Aber von seinem neapolitanischen Ursprung her trägt er das Meer, das warme südliche, im Kreislauf seines Blutes, um es in deutschen Lauten meisterhaft nachzugestalten. Gelegentlich schwimmt ihm auch so ein fremdartiges Wortungetüm dazwischen wie ein Meeresungeheuer, man läßt es gut sein, es gehört zum Ganzen. Wenn das endlose Lied schon am Strande entschlafen ist, erhebt es sich nochmals und abermals, um von Sappho weiterzusingen. Und so klingt es auch echt und wirkt trotz der Sonderbarkeit nicht lächerlich, wenn er verkündigt, daß künftig die Kinder mit Sapphos Namen auf den Lippen geboren werden müssen, weil er in einem Freundeshaus ein kleines Kind Laute stammeln hört, die ihm wie »Sappho« klingen.

Niemals hat mir meine unglückliche Anlage, das Leiden anderer durch unmittelbare Übertragung im eigenen Innern fühlen zu müssen, so schwer zu schaffen gemacht wie damals. Ich konnte den schönen Aufenthalt nicht mehr genießen, die Tragik dieses Dichterherzens, die niemand überschauen konnte als ich, ließ mir keine frohe Stunde. Wie sehr hätte ich gewünscht, diesem nach Deutschland sich Verzehrenden deutsche Luft und die Fülle der lebendigen Sprache zuzuführen, aber meine Bemühungen steigerten nur die innere Dissonanz. 649 Wollte ich ihn begütigen, so nannte er mich eine Pan-Italienerin und sich einen Alldeutschen.

Dieses Leiden ging mir um so näher, als ich ihm ja nicht nur für seine tiefe Liebe zu meinem unglücklichen Vaterland verpflichtet war, sondern auch für die Mühe, die er sich um mein zur Zeit noch beschlagnahmtes Eigentum in Forte gab. Er und die Marchesa versäumten keine Gelegenheit, einflußreiche Persönlichkeiten, die in die Nähe kamen, zu Tische zu ziehen und ihnen meine Sache ans Herz zu legen. Wogegen ihr feiner Takt mir jede Begegnung mit Angehörigen der siegreichen Völker ersparte. Nur einen besonderen Gast gab mir einmal die Marchesa nach vorangegangener Verständigung zum Tischnachbarn: den entlassenen, in Ungnade gefallenen italienischen Oberbefehlshaber Cadorna, der den Krieg gegen Deutschland von langer Hand vorbereitet und die unglücklichen Isonzoschlachten kommandiert hatte. Er war kein bedeutender Mann, aber es lag über ihm die Tragik des besiegten Feldherrn, der seinem Land für ungeheure vergebliche Blutopfer verantwortlich ist. Als Gutsnachbar und alter Freund Casanovas kannte er dessen Leidenschaft für Deutschland. Daß dieser ihn beim ersten Wiedersehen nach dem Kriege mit einem stürmischen »Deutschland, Deutschland über alles!« am Klavier empfing, wie mir Freunde erzählten, ist ein Zug, der im Bilde des merkwürdigen Mannes nicht fehlen darf.

Nach der Rückkehr ließ ich es mein erstes sein, die empfangene Gastfreundschaft durch einen Liebesdienst von größerem Gewicht zu vergelten. So entstand das Capriccio »Die Gärten des Helios«, worin versucht ist, die fiebernde labyrinthische 650 Schönheit des Parks von San Remigio in Worten nachzubilden und von daher zugleich die geistverwandte Dichtung des Schöpfers zu beleuchten. Dieser schrieb erfreut, daß ich ihn mit seiner Gartenschöpfung, die ihm längst schon leid und lästig geworden sei, wieder ausgesöhnt hätte; daß ihm die Rühmung seines Dichtertums in einem so weitverbreiteten Blatte wie der Wiener Neuen Freien Presse, wo die Schrift erschien, wohltat, versteht sich von selbst. Er veranlaßte auch auf eigene Hand einen Wiederabdruck der »Gärten des Helios« in dem von Werner von der Schulenburg herausgegebenen Monatsheft Italia, dem er einige photographische Aufnahmen aus den schönsten Stellen des Parks beigab. Und ich dachte nun wieder mit leichterem Herzen an die dornigen Tage von San Remigio zurück, weil die Dissonanzen harmonisch gelöst waren.

*

Währenddessen stieg in unserem armen Deutschland die Inflation höher und höher. Unverwischbar haftet in mir das Bild einer wohlgerundeten Frau aus dem kleinen Mittelstand, die in der damals wenig begangenen Ludwigstraße ein Kohlhaupt von gewaltigem Umfang ans Herz gedrückt hielt und fort und fort zum Himmel hinaufrief: Zehn Milliarden! Zehn Milliarden! Viele dieser armen Frauen, deren Gehirn nicht auf solche Zahlen eingerichtet war, gingen den Weg ins Irrenhaus. Millionenscheine wurden von Kindern in der Gosse eingeweicht, man hätte kein Zündholz mehr damit kaufen können. Vor den Lebensmittelgeschäften standen so lange Schlangen, daß nur die Vordersten die Ware zu dem außen angekündigten Preis erhielten, die Entfernterstehenden 651 fanden ihn schon höher hinaufgeschnellt, und so ging es weiter bis zum Ende. Wer nun gar ungenügend mit Geld versehen war und noch einmal nach Hause mußte, der fand vielleicht bei der Rückkehr den ganzen Vorrat erschöpft. Es konnte aber auch geschehen, daß mit einer empfangenen Zahlung überhaupt nichts mehr anzufangen war: so stand ich einmal im Tietzschen Warenhause mit einem gekauften Schwamm, den ich mit einer Handvoll Milliardenscheine nicht bezahlen konnte, weil diese mir vor Antritt einer kurzen Vortragsreise ausgehändigt worden waren, aber bei meiner Rückkehr schon nichts mehr galten. Zuweilen griffen freundliche Amerikaner mit Dollarsendungen ein; das waren unfaßbare Schätze, aber kaum gewechselt, verfielen auch sie dem Gesetz der Verflüchtigung. Damals hatten eigentlich nur die Staatsangestellten mit fester Besoldung und die Handarbeiter, die stehenden Fußes entlohnt werden mußten, sicher zu leben; am schlimmsten fuhren die freien geistigen Berufe und unter diesen, wie sich's versteht, am allerschlimmsten die Schriftsteller. So rutschte man tiefer und tiefer, bis mir eines Tages eine wohlverdiente Billion in Gestalt Einer Rentenmark überreicht wurde. Da dankte ich Gott, denn ich wußte, daß es jetzt wieder aufwärtsging.

Bei allen Nöten war das Leben doch immer noch reich, es gebar sich immerzu neu aus sich selber, denn die Eingebungen rissen nicht ab, ich konnte arbeiten. Wenn man das arbeiten nennen kann, was reine Götterfreude ist und schöner als jede andere Form des Lebensgenusses. Durch Jahre wurde mir die Esse nicht mehr kalt. Es gab ja so unendlich viel nachzuholen, die Zeit wurde so unsäglich kostbar. So viele unausgeführte 652 Pläne von lange her, Entwürfe, schon vorbereitete, die der Krieg umgeworfen hatte und die jetzt verändert wieder auftauchten. Und um die Esse her, deren Feuerschein mir die Welt verklärte, wuchs noch ein blühender Garten von Liebe und Freundschaft. Neben dem edlen Bruder, der mir als letzter übrig war und der, obschon in ein weit entlegenes eigenes Haus am Südende der Stadt verzogen, mir doch innerlich naheblieb, und dem lebensvollen, in allen Sätteln gerechten Neffen hatte ich ja noch den Jugend- und Lebensfreund, den Einen, den das Schicksal mir zum Ausgleich für so viele und schwere Verluste an der Wende aufgestellt hatte, wo die Wege öder werden, weil uns die Mitwandernden verlassen und neue Begegnungen selten mehr zu wetterfester Freundschaft führen. Da war es trostvoll, sich in zwei Augen zu spiegeln, für die man von Kindesbeinen an durch alle Jahrzehnte des Lebens, welche Wege man gehen mochte, ohne Dank noch Verdienst, das Schönste auf Erden gewesen ist. Als ein Mann von stattlicher Erscheinung mit dem Ausdruck unausschöpfbarer Milde und Seelengüte erweckte er noch bis in sein achtzigstes Jahr, bis an den Rand des Grabes, Neigungen in der Frauenwelt. Er sah es für Ritterpflicht an, sich dankbar zu erweisen, die kulinarischen und andere sichtbare Liebeszeichen durch Geistes- und Seelenspeise zu vergelten und auf anschmiegsames Hilfesuchen mit zartem Trost zu erwidern. Jedoch sein innerer Magnet zeigte unverrückt auf den einen festen Pol, von dem keine Macht der Erde, keine Bewerbung, kein Ränkespiel noch ein Dazwischentreten irgendwelcher Art ihn jeweils abwendig machen konnte. Wenn die drei Göttinnen vom Olymp mit dem goldenen Apfel vor ihn getreten wären, so hätte er jeder 653 aufs liebenswürdigste gedankt, den Apfel aber hätte er der Gespielin seiner Jugend überreicht. Denn er sah nicht das mangelhafte menschliche Abbild in ihr, sondern irgendein von weither gespiegeltes Urbild, gegen das auch der Wandel der Jahre machtlos war. Bei seiner unendlich geselligen Natur trieb es ihn immerzu unter die Menschen, und am liebsten suchte er sich bedürftigere Geister, die nach Erweiterung und Wegweisung verlangten. Diesen brachte er meine Bücher und ließ sie auch, wo es anging, an den mancherlei zwischen uns besprochenen Gedankengängen teilnehmen; und wenn es dann einmal geschah, daß er in den aufgesperrten Schnabel einen stärkeren Bissen steckte, als dieser fassen konnte, und deshalb Widerspruch erfuhr, so ging er erst recht für mich ins Zeug, denn das betrachtete er als eine ihm auferlegte Sendung. So schuf er mir eine kleine aufmerksame Gemeinde in Kreisen, zu denen sonst kaum ein Wort von mir Zugang gefunden hätte. Da war es natürlich, daß mir dieser eine, immer bereite Freund eine ganze Schar von Freunden ersetzte, vielmehr die Freundschaft an sich verkörperte und keinen Wunsch nach Erweiterung des Umgangs in mir aufkommen ließ. Ernst Mohl mit seiner Glücksnatur gehörte zu den ganz seltenen Männern, die man nicht zu »behandeln« brauchte. Da er keine Nerven hatte, die ihn verlassen konnten, und keine Schwächen, die zu schonen waren, außer einer allzugroßen Nachgiebigkeit gegen Gerechte und Ungerechte, die er aber schon selbst verurteilte, war er in jeder Stunde der gleiche; seelenruhig, tiefgründig, in Tun und Reden etwas langsam, aber immer aus dem Inneren lebend und unerschütterlich zuverlässig. Die Abwehrorgane, die ihm für sich selber fehlten, 654 wuchsen dem Sanftmütigen nur zu, wenn es galt, für die Freundin einzutreten. Denn er war bei aller Nachgiebigkeit kein Halber, kein Zusammengesetzter, der irgend auseinanderbröckeln konnte. Dafür stand sein gewurzeltes Schwabentum und der Zeitcharakter seiner Jugendtage, der die geschlossene Menschenart hervorbrachte. Obwohl es mir nach seinem Hingang vergönnt war, das Lebensbild des Edlen noch unter dem frischen Eindruck für die Öffentlichkeit zu zeichnen und ihm damit viel posthume Liebe und Verehrung zu gewinnen, so bin ich mir selber doch jetzt nach zehn Jahren erst im Vergleich mit den heute Lebenden der ganzen Einmaligkeit dieser Erscheinung bewußt geworden, denn wo gäbe es in dem neuen Zeitgeschlecht eine Persönlichkeit von solchem wissenschaftlichen Können und dabei so anmutiger poetischer Anlage, ganz ohne Drang in weiten Kreisen zu glänzen, nur liebevoll mit der praktischen Kleingärtnerarbeit des Säens und Pflanzens befaßt? Als er während des Kriegs schon nahe den Siebzig noch einmal die Mühsal einer Gymnasialprofessur übernehmen mußte um leben zu können, bedauerte ich ihn aufs tiefste, denn lieber hätte ich auf dem Feld die Scholle gebrochen, als harte Knabenschädel urbar zu machen. Aber er sagte mir mit freundlichem Lächeln: Du irrst dich, das tue ich mit Leidenschaft.

Daß ein solcher begabten Schülern unschätzbare Werte fürs Leben hinterließ, versteht sich von selbst. Die liebevolle Sorgfalt aber, die er den Unbegabten, ja den ganz und gar Unzulänglichen, die lösende auftauende Milde, die er den Verstockten und Verbitterten zuwandte, für diese muß ihn im Himmelreich ein besonderer Platz erwartet haben. Wenn ihm 655 die Vorstellung nach den ewigen Fluren zu folgen sucht, so sehe ich ihn nicht unter den griechischen Weisen, mit denen er von je gelebt hat, sitzen, sondern im Kreis der Seligen Knaben, die ihn um singen: Dieser hat gelernt / Er wird uns lehren.

 

So viel habe ich die Druckerpresse niemals in Anspruch genommen wie in den Nachkriegsjahren, die noch in der Wärme dieser seltenen Freundschaft blühten. Ein fertiges Erzeugnis ums andere drängte sich mir ans Licht. Da war in dem Wettlauf der Stoffe einer, der jetzt den anderen den Rang ablief, weil er seelisch aufs tiefste selbsterlebt war und ich den Entwurf auch schon vor Kriegsausbruch durch sachliche Studien unterbaut hatte. Es ging um den Zwiespalt zwischen dem schöpferischen Auftrag des Dichters und den heiligsten Pflichten des Lebens, den schmerzlichen Zwiespalt, an dem ich selbst so schwer gelitten hatte, immer nach Ausgleich ringend, um meinem Herrn und Gebieter ohne Gewissensstich dienen zu dürfen. Dieser Zwiespalt, im Roman auf männliche Schultern gelegt, mußte sich unlösbar tragisch verschärfen, weil der Genius in der Brust des Mannes zum kompromißlosen Despoten wird: im vorliegenden Falle läßt er den von ihm besessenen Dichter-Soldaten sogar den Ruf des Vaterlandes überhören, macht ihn nach tapferer kriegerischer Vergangenheit im halben Wahnsinn des Schaffens zum Fahnenflüchtigen, der, nachdem sein alter Vater zur Sühne für den entarteten Sohn bei Gravelotte geblutet hat und seine ihn blind vergötternde Frau am Herzeleid gestorben ist, zuletzt mit dem zerschellten Wrack seiner Dichtung untergeht, von einem ungeheuren Wollen nichts zurücklassend als einen namenlosen 656 Grabstein, auf dem nur die Klage der Freundschaft wie ein kleiner Vogel singt. Daß es die ganz große vaterländisch-heroische Tragödie ist, womit der Dichter in flauer Zeit, die das Große nicht mehr kennt, einer höheren Pflicht gegen das Vaterland als der einfachen Soldatenpflicht zu genügen glaubt, das mindert zwar für sein empfindende Freunde den Vorwurf dieser Wahl, steigert ihn aber für die Alltagsmenschen durch den Gegensatz bis zum Grotesken, wo nur völliger Sieg noch hätte retten können, wo aber durch die furchtbare Zerrüttung im Innern des Dichters der Sieg unmöglich wird. Der Weltkrieg hatte mir die Stimmung des Jahres Siebzig, das ich als halbes Kind miterlebte, wieder aufgefrischt, und durch meine Wanderungen mit Mohl im Teutoburger Wald waren mir die Vorgänge der Varusschlacht, die meinen Dichter beschäftigen, lebendig geworden, wodurch das Zusammenspielen der erdichteten mit den wirklichen Schlachtfeldern dem Roman zum Vorteil gereichen konnte.

Wäre das Buch in eine Zeit nationaler Aufgewühltheit oder dichterischer Hochspannung gefallen, so hätte es trotz der Abseitigkeit des Motivs und der ethischen Herbheit, die ihm anhaftet, Verständnis gefunden. Aber es geriet in eine verweichlichte, ermattete Umwelt, die das Vaterländische verachtete, das Kriegerische verpönte, strengen sittlichen Konflikten aus dem Wege ging, die also weder den Drang des Dichters nach der großen unzerspaltenen Kunst, noch die Qual seiner unbezahlten Schuld an das Vaterland begreifen konnte, weil ihr das eine wie das andere bedeutungslos war. Lauter überständige Dinge waren das, die in keinerlei »Komplexen« untergebracht werden konnten. Wogegen wiederum die 657 Beharrenden, Unbedingten nicht einsahen, daß es in diesem Buch zweierlei Recht und Wahrheit geben mußte, zwischen denen am Ende das Zufällige die letzte Entscheidung herbeiführt, die nicht durchaus als Gottesgericht zu werten ist. Denn nicht aus Mangel an Gestaltungskraft, wie unkundige Leser meinten, noch minder an den rasch wieder abgestreiften Fesseln des Eros, zerbricht das Werk dem Dichter und verdammt damit selber seine Wahl sondern am Zusammenbruch seiner inneren Welt. Die Gesetze, woraus der Schöpferische mit seinem feineren seelischen Gefüge lebt und an denen er untergeht, bleiben dem Unschöpferischen immer verborgen.

Vielleicht hätte das Buch ein besseres Glück verdient wegen der vielseitigen Belichtung, die aus dem Künstlerischen, aus dem Politischen, aus dem Metaphysischen auf den ungewöhnlichen Gegenstand fällt. Allein wenn der Dichter einen Stoff wählt, der dem Durchschnittsmenschen nichts zu sagen hat und der dem literarisch Geweckten zu einer Stunde begegnet, wo dieser auf gänzlich anderen Spuren wittert, so darf er sich nicht wundern, wenn der eine wie der andere achselzuckend vorübergeht. Und ich wunderte mich nicht. Wenn mir nur das Eisen nicht wieder kalt wurde, sollte mich nichts anfechten. Ich ließ den Ernst hinter mir und eilte mich in einem heiteren Stoff zu verjüngen, einen lachenden Reigen verliebter mutwilliger Jugend zu führen. Ich schrieb nach einer im Bandello gefundenen Anregung die in Neapel spielende Novelle »Die Liebenden und der Narr«. – Wenn die Bezeichnung »Novelle« so zu deuten ist, daß sie den Verfasser zu einem völlig neuen, noch nie dagewesenen Fund verpflichtet, so war gewiß in diesem Falle, wo die Funde sich wie 658 in der Komödie häuften und der Vorgang sich abrollte wie im Film, die Forderung erfüllt. Die Novelle geriet jedoch ebenso wie ihr nächster Nachfolger, der Dolomitenroman »Der Caliban«, in einen nicht geeigneten Verlag, bis nach Jahren Rainer Wunderlich in Tübingen sich der »Liebenden« annahm, sie mit anmutigen Zeichnungen im Zeitstil zu einem schmucken kleinen Buch gestaltete, wodurch diesem lachenden Schalk von Novelle erst die Pforte ins Leben geöffnet war. Ununterbrochen glühte indessen die Esse weiter, und ein Gebild ums andere entstand, bald ein neuandrängendes, bald eines das lange Zeit schemenhaft mit mir gegangen war, denn jetzt durfte es keinen Verschub mehr geben; immerzu tönte mir das Carpe diem ins Ohr. So gewann nun endlich auch »Solleone« Gestalt, die Verdichtung des mittäglichen Sonnenzaubers, die seit meinen Sommerferien in den toskanischen Hügeln um 1890–91 immer leise fortgeglüht hatte.

Damals hatten schon bei dem Lebensfreunde, der mit seiner Person den leergewordenen Platz meiner Lieben füllte und den rauhen Luftzug des Lebens von mir abhielt, das Leiden begonnen, das den Abbau beschleunigte. Er war eines Tages krank von einem Ausflug mit russischen Damen zurückgekommen, wobei diese an die Ritterlichkeit des Sechsundsiebzigjährigen rücksichtslose Forderungen gestellt hatten, und obwohl das Übel, das er verheimlichen wollte, mir sogleich aus seinem kranken Blick entgegensah und ohne Verzug der Arzt zur Stelle war, konnte er sich doch von diesem Stoß niemals wieder ganz erholen. Seine Privatstunden, für die er nach Abgabe seines Provisoriums bis Starnberg zu fahren hatte, mußten zu seinem größten Herzeleid aufgegeben werden. Auf 659 Spaziergängen, in Gesellschaft befielen ihn plötzlich Schüttelfröste, deren Herkunft den Ärzten dunkel war. Wer ihn kannte, dem schnitt es ins Herz, den Immerfreudigen, der auch jetzt das Lächeln nicht verlernte, so langsam auf der Straße hinschleichen zu sehen. Sein Geist war noch ganz jung, wo er sich in der Vergangenheit ergehen konnte, aber die Gegenwart wurde ihm nach und nach zu vielfältig. Mein Schaffen, dem er sonst so innig nahe war, konnte er nicht mehr begleiten. Der »Despot« hatte ihn zuletzt noch lebhaft angesprochen, schon durch die Rückbeschwörung der Tübinger Zeit, des Studentenverkehrs im Kaffeehaus Molfetta, in dem sich leicht das Café Voigt erkennen ließ, über dem unsere einstige Wohnung lag. Aber was ich ihm Neuentstandenes brachte, besonders wenn der Gegenstand italienisch war, nahm er nicht mehr auf, er sagte dann in seiner liebevollen Art entschuldigend: Ich bin dem nicht gewachsen. Das hatte schon bei den »Nächten« leise begonnen. Die höfische, im sichtbar Schönen und Künstlerischen ebenso wie im Reingeistigen wurzelnde, der ethischen Fesselung widerstrebende Renaissancekultur war ihm unheimlich. Weder unser enges Schwabenländlein noch sein weitmaschiges aber barbarisches Rußland hatte ihn innerlich dafür vorbereitet. Auf diesem Boden war ihm zumut, als ob ich ihm gleichsam entglitte, was einmal bei einem Fieberanfall, der seine heimlichsten Gedanken freimachte, schmerzlich aus ihm hervorbrach. Einzig die in seiner eigenen Jugendwelt spielende »Passionsblume«, zu der er selber mir erlebte Züge geliefert hatte, erweckte noch einmal einen starken Widerhall in ihm. Er las sie wiederholt und erzählte noch gerne aus seinen halbhumoristischen Erinnerungen an 660 jene grundprosaische, unduldsame, beim Himmel festversicherte Muckerwelt, aus deren selbstgewisser Gotteskindschaft dann doch irgendeinmal ein echter Glaubensbote oder eine Blumenseele wie meine Blanka hervorging. Dabei erkannte ich eigentlich zum erstenmal, welche innere Entschiedenheit dieses nachgiebige, fast willenlos weiche Jünglingsherz hatte aufbieten müssen, um ohne Schwanken noch Vorbehalt aus der Enge seiner ersten Umwelt in die Luft des Kurzschen Hauses hinüberzuwechseln.

Zu meinem siebzigsten Geburtstag schrieb er mit müder, fast versagender Feder den Festgruß, um den ein Münchner Blatt ihn angegangen hatte. Aber in voller Frische mit freiester Sicherheit übersetzte er zu derselben Gelegenheit einige meiner Gedichte ins Griechische, und seine gleichfalls für mich verfaßte Übersetzung des Schlußchorus von Faust II erregte das Staunen der Fachgelehrten. Wie auch sein Blickfeld sich nach innen zog, sein Griechisch, sein Latein, sein Ohr für die Klangschönheit der antiken Verse verließ den glänzenden Philologen nie. Ich habe in meinem kleinen, ihm gewidmeten Buche, »Ein Genie der Liebe«, das Leben und Sterben dieses einzigartigen Freundes erzählt, der auf jeder Wegstrecke ein unbewußtes Beispiel reinsten Menschentums war, bis er aus dem Schwerkranken am Ende in den Weisen oder Heiligen hinüberwuchs, zu dem die suchenden Seelen in die Klinik wallfahrteten. Das war sein verklärtes Leiden und Sterben wie er selbst es erlebte. Die andere mir zugekehrte Seite war die traurigere. Es ging wieder wie bei der langen Leidenszeit meiner Mutter, daß kein Opfer, keine noch so aufmerksame Pflege mehr erreichte als gelegentlich eine schnell vorübergehende 661 Besserung. Die innere und die fachärztliche Medizin, die Homöopathie, die von ihm selbst verordneten Diätkuren, alles versagte. Das Leiden hatte so viele Ausgangspunkte, daß es immer wieder als ein anderes erschien. Schon seit Jahren wagte ich nicht mehr die Stadt zu verlassen, außer wenn auswärtige Verwandte den Leidenden zu sich einluden und ihn liebevoll pflegten. Seit seiner Überbringung ins Schwabinger Krankenhaus gehörte meine ganze Zeit ihm. Herzbeklemmend waren die täglichen Fahrten dorthin, der Weg über die endlosen Gänge mit den harten Steinfließen und den schrecklichen Gerüchen der Männerabteilung bis zu seinem entfernten, gleichfalls hartgepflasterten Zimmer, wo zwar durch das Fenster die Bäume des Gartens hereinschauten, die Vögel bis zum Krankenbett um ihre Brocken geflogen kamen, Blumen und Früchte auf dem Tische prangten, wo er aber doch trotz der täglichen anregenden Besuche nach seiner Wohnung in der Ainmillerstraße, nach Bücherschränken und Schreibtisch verging. Immer wieder fragte er, wann ich ihn zurückholen würde. Ich mußte vertrösten, mußte versprechen, was ich nicht halten konnte. Denn er bedurfte nicht nur der fortgesetzten klinischen Überwachung und Behandlung, sondern auch eines männlichen Wärters, und woher Raum und Mittel für einen solchen nehmen? Falsche Freunde hatten ihm schon vor dem Krieg sein gesamtes Vermögen abgenommen; was tätige Liebe aufbrachte, blieb zumeist in den Händen notleidender russischer Emigranten hängen, denen er nicht nein sagen konnte. Gleichwohl gingen alle Besucher getröstet und erhoben von diesem Kranken, der niemals von seinem Leiden sprach, sondern immerzu, mehr noch als in gesunder Zeit, 662 geistigen Samen aus immer bereitem Vorrat streute. Es kamen auch noch bessere Tage und Wochen, die mit neuer Hoffnung schmeichelten, aber der körperliche Niedergang war unaufhaltsam. Ich machte wieder den verzweifelten Pakt mit dem Schicksal, daß es mir den Kranken lassen müsse, so lange ich imstand wäre, ihn mit meiner Willenskraft zu halten, und nun spannte ich wieder alle Nerven um den letzten Menschen, den ich mein eigen nennen konnte, dem Tode abzukämpfen. Es war am Ende wie ein körperliches Ringen, aber die tägliche Anstrengung und die fürchterlichen Gerüche aus den anstoßenden Räumen, die mich in ständiger Übelkeit hielten, und mehr noch das hoffnungslose Leidensehen zermürbten die Nerven und brachten eine Art Rauschzustand hervor, wobei es mir vorkam, als zöge ich Tag für Tag den schweren Körper aus einem tiefen Schacht empor, aber oben angekommen, entgleite er den kraftlos gewordenen Armen. Ist es nicht grausam so den Sterbenden aufzuhalten? fragte ich mich dann, denn ich stand durchaus unter dem seltsamen Eindruck als ob ich selber das alles machte. Aber er liebte ja noch immer das Leben, auch unter folternden Schmerzen. Erst als während eines Anfalls, im Augenblick, wo ich ihm ein Glas Wasser reichen wollte, die Qual so groß wurde, daß er mich schreiend anflehte, das Zimmer gleich! gleich! zu verlassen – denn er wollte so nicht von mir gesehen sein –, und als die Schwestern mir gestanden, daß er in meiner Abwesenheit nach dem Ende schreie, da konnte ich nur noch denken: So nimm ihn, Tod, und lege ihn sanft. Mein Wille ging von mir und ich sah ihn sterben, wissend, daß es so sein mußte.

Als die Todesnebel sich lichteten und ich mir des Ablaufs auch 663 der eigenen Tage wieder bewußt wurde, tönte das Carpe diem lauter und herrischer als jemals in meinem Ohr. Noch zu Lebzeiten des Freundes hatte ich das umfangreiche Gewebe begonnen, worin ich einmal den Inbegriff meiner aus vielen Welten bestehenden inneren Welt zu einer Gesamtschau zusammenfassen wollte. Aber die täglichen Schmerzensgänge nach dem Krankenhaus hatten die Fortarbeit unmöglich gemacht. Dem Verewigten hatte ich nicht mehr von diesem Werk gesprochen, das ich zur Seite legte, um ihm meine Zeit widmen zu können, schon weil ich Unfertiges zu berühren scheute, aber ebenso weil er auch hier nur zum Teil einen ihm vertrauten Boden gefunden hätte. Aber kaum hatte ich meine Schifflein mit den vielen farbigen Fäden wieder in Bewegung gesetzt, so zog mir ein neuer Zwischenfall die Hand zurück. Der Nachruf, den ich dem Dahingegangenen in einem großen Münchner Blatt widmete, hatte so starken Widerhall erweckt und so viele Fragen aus Leserkreisen nach der einzigartigen Erscheinung zur Folge gehabt, daß der damals noch ganz junge Rainer Wunderlich Verlag in Tübingen, der schon das meiner Mutter zum hundertsten Geburtstag geschriebene Büchlein mit Erfolg verbreitete, wegen Erweiterung des Nachrufs zum Lebensbild an mich herantrat. Das gab einen erneuten Zwiespalt zwischen dem großen Buch, worein ich den Ertrag meines Lebens gießen wollte, und der nahen Liebespflicht. Denn es lag auf der Hand, daß die neue Aufgabe nicht warten konnte, bis der Roman, der vielleicht Jahre brauchte, vollendet war, weil unterdessen die Unmittelbarkeit der Erinnerung verblaßt wäre. Ich wählte – wie immer mit dem Herzen, und das Glück wollte, daß die Wahl 664 nach beiden Seiten gut war. »Dem toten Freunde zur Wohnstatt« schrieb ich das »Genie der Liebe«, in dessen Blättern noch die wärmende und heilende, dabei auch so heiter lächelnde Seelenkraft des großen Menschenfreundes strahlt. Wie hätte ich ihn dürfen zu den Namenlosen hinabsinken lassen, deren nach dem Hingang der Nächsten bald schon niemand mehr gedenkt! Wer einen Tröster und Helfer braucht, wem ein edles Vorbild den Weg erleuchten kann, wem Seelenschönheit das Herz erhebt und erquickt, der mag ihn dort im Schrein der Erinnerung wie lebend finden, denn sein Engel stand dabei und führte die Hand der Schreibenden. »Über allen Gnaden die Gnade der Liebe.«

Allein das treue, mir tiefer als jemals ein anderes zugewandte Herz fuhr noch im Grabe fort, mich mit Grüßen seiner Liebe zu wärmen. Oder wie soll man es deuten, daß, während ich an seinem Lebensbilde schrieb, etwas Rührendes, Ureigenes geschah, das man fast als einen Gegengruß des Geschiedenen verstehen konnte? Aus dem fernen Inneren Rußlands kam eine bis dahin unbekannte Stimme wie ein Echo der eben verstummten Stimme. Ein naher Freund des Verstorbenen, dessen Namen ich ihn nur selten hatte nennen hören und niemals in bezug auf mich, stellte sich brieflich vor als stiller Teilhaber unseres Freundschaftsbundes, in dem er seit vierzig Jahren der mir unbekannte Dritte gewesen. Er hatte, wie er mir schrieb, als Jüngling mit Mohl zusammen am Gymnasium in Wenden gelehrt und zu dem etwas älteren Kollegen als zu seinem Leitstern aufgeblickt. Dieser weihte ihn in seine Tübinger Jahre ein und erzählte ihm von dem blonden Mägdlein, das mit ihm in dreißig Tagen entzückt die griechische 665 Ilias gelesen hatte und das seine Erinnerung mit einem Strahlenkranz umflocht, der den jungen Freund so blendete, daß er sie gleichfalls zum Idol erhob und durch alle Jahre seines Lebens nicht satt wurde, von ihr zu hören. Der Briefwechsel der beiden Freunde, von dem später der eine seinen Beruf in Petersburg, der andere in Charkow ausübte, handelte immerzu von ihr, gemeinsam errichteten sie ihr einen Altar, dessen Feuer nicht erlosch, auch als schon jeder der Freunde sein Hauswesen gegründet hatte. Der Kult für die Weitentfernte, Ahnungslose, war etwas Geheimes, ihnen allein Eigenes, das ihrer Freundschaft eine noch größere Weihe gab. Alles, was der getreue Ernst durch die Feder meiner Mutter aus Florenz oder Forte erfuhr, teilte er dem Freunde mit, der auf diese Weise immer auf dem Laufenden blieb. Daß dieser als Lehrer am humanistischen Gymnasium aus dem gleichen Kulturbezirk herkam wie der verewigte Freund, und daß er gleich ihm bei vierzigjährigem Aufenthalt in Rußland dem überschwenglichen russischen Briefstil verfallen war, das ließ die neue Stimme, die so viel aus meiner Jugend wußte, die alles kannte und liebte, was ich geschrieben hatte, fast geisterhaft erscheinen. Ob er ganz aus eigenem Antrieb kam oder ob der Geschiedene ihn aufgefordert hatte, wenn er nicht mehr sei, aus der Dunkelheit hervorzutreten, damit er all die unbegrenzte Ergebenheit, an die das liebende Herz mich gewöhnt hatte, nun seinerseits über mich ausgieße und mir das Gefühl des Alleingebliebenseins fernhalte? Durch eine längere Reihe von Jahren setzte dieser Briefwechsel sich mit kurzer Pause fort, gewiß kostete er den Armen, der wie alle Dortigen am russischen Hungertuch nagte, einen schwer entbehrlichen Teil 666 seiner Einnahmen, aber er bildete, wie ich sah, sein letztes Glück. Ich kam mit Antworten kaum nach, da ich ohnehin den Tag über am Schreibtisch saß. Das Carpe diem war stündlich hinter mir her mit seinem: Spute dich, du lebst nicht ewig.

In den Briefen dieses Mannes, die mit einer erschreckenden Offenheit in die russischen Zustände hineinleuchteten, tat sich ein Abgrund von Elend und Entbehrung des Allernotdürftigsten auf, woneben unsere Kriegsnot für einen bescheidenen Wohlstand gelten konnte . . . Als eine liebevolle Verwandte Mohls ihm berichtete, mit welcher Aufmerksamkeit sie sein Grab betreue, schrieb er an mich: Wenn es doch nur die Lebenden in Rußland halb so gut hätten wie in Deutschland die Toten!

Aber der deutsche Idealist erhob sich hoch über den Jammersumpf und sandte immer wieder der fernen Frau seine gläubigen Hymnen. In ihr, die er niemals mit Augen würde schauen können, sah er ein Himmelszeichen, das ihm aus dem Chaos von Untergang und Verwesung unverrückt nach den höchsten Menschheitszielen deutete. Daher seine oft wiederholte, mir zuerst ganz übertrieben dünkende Versicherung, wenn er meine Bücher nicht hätte und nicht wüßte, daß ich bin, so hätte er nicht mehr den Mut zu leben. Daher auch seine Sorge, wenn ich einmal länger schwieg, es möchte mir etwas zugestoßen sein. Ich durfte nicht verschwinden, ich war Symbol. Und weil der verewigte Freund ihm stets von mir als einer nie Alternden gesprochen hatte, denn seine vergötternde Liebe sah mich wirklich so – als ich ihn einmal auf die Verwandlung der Jahre hinwies, lehnte er ernsthaft ab: Solche Dinge sind 667 für mich nicht vorhanden –, so kam es, daß ich auch dem armen Kulturverbannten in Rußland, der mich nur durch Mohls Augen kannte, in ewiggleicher Jugendgestalt vorschwebte. Ich durfte es mir gern gefallen lassen, denn da war keine Gefahr, daß man sich jemals lebendig begegnen konnte. – Es ging schlechter und schlechter, man durfte auch keine Labung schicken, weil die Annahme strengstens verboten war; doch er schrieb noch immer, wenn auch seltener. Aber als einmal zwei Monate ohne eine Zeile vergangen waren, wandte ich mich an seine gleichfalls in Rußland lebenden Angehörigen und erhielt die traurig-tröstliche Nachricht, daß ihn im Familienkreise mitten im Plaudern der Tod ereilt hatte. So war nun auch die fremde Stimme für immer verstummt, aus der das Herz des Jugend- und Lebensfreundes noch so lange über das Grab hinaus zu mir gesprochen hatte.

 

Unterdessen war mir das Schicksal hold gewesen, daß ich den lange gehegten, oft von der Ungunst der Stunde zurückgedrängten großen Roman endlich anfassen konnte, in dem ich einen von der echten epischen Art, der mit Recht den Namen trüge, als weitgespannten bilderreichen Teppich zu schaffen hoffte. In diesen die Summe des eigenen Lebens hineinzuwirken, nicht biographisch, sondern als bildliche Umgestaltung, das war so ungefähr der innerlich empfangene Auftrag, der sich aber im Schreiben mehrfach änderte. Lange Zeit hatte es mir nicht gelingen wollen, in den wallenden Urstoff hineinzugreifen, weil mir kein Name für die Heldin des Buches paßte, und solange sie keinen Namen hatte, stak sie ungreifbar, unerlösbar im Ungeformten. Vom Namen hängt ja, was 668 ich schon bei der »Gnadeninsel« erfahren mußte, die Menschwerdung ab. Während im Leben mit der Zeit der Name sich so nach seinem Träger artet, daß auch eine ganz gebräuchliche, an sich nichtssagende Lautgruppe einen dem Ohr bedeutsamen Klang erhalten kann, wird das dichterische Werk unweigerlich durch die Namenswahl bedingt. Wenn Michelangelos Schöpfergreis nach dem erwachenden Adam den Finger ausreckt, meint man zu hören, wie er ihn zugleich mit Namen aus dem Nichtsein ruft. Alle mir bekannten Namen versagten für meine Heldin. Ein gebräuchlicher kam nicht in Frage, ein romantischer, der gleich gewisse Vorstellungsreihen weckt, war ebenfalls unbrauchbar, klassische gaben zuviel Schwere. Da sprang mir eines Tages aus Grimms Mythologie der zuvor schon gekannte und wieder vergessene Name Vanadîs entgegen. Und alsbald stand das Bild der Heldin vor meiner Seele. Vanadîs als wenig gekannter Beiname unserer schönen, aus dem südlichen Wanenvolk zu den rauhen Asen vergeiselten Freya, die zugleich Liebesgöttin und walkürenhafte Herrin der Toten war, bedeutete die Dîs oder Göttin der Wanen. Denn Dîs ist ein altes Wort für Göttin, das sich noch mehrfach in Ortsnamen findet. Die beiden hellen Anfangsvokale, die so viel Auftrieb gaben, waren die Flügel der Göttin, ihr Falkenhemd; das Helle, Ausstrahlende, und die Phantasiekraft, die das Leben nicht auf Schultern, sondern auf Schwingen trägt, waren mit diesem Wahrzeichen der Heldin auf den Weg gegeben. Es kam nur darauf an, daß niemand mir während der langen Arbeit den Namen vorwegnahm: ich hütete ihn wie das zärtlichste und gefährlichste Geheimnis; nicht einmal Ernst Mohl, der Sprach- und 669 Namenforscher, sollte ihn mehr erfahren, so sehr die Wahl nach seinem Herzen gewesen wäre. Nun hieß es auch für die Familie, in der ein solches Mädchen aufwachsen konnte, den Namen finden. Wieder kam Grimm zu Hilfe mit Folkwang, dem Saale der Freya, was mir merkwürdig nach einem Familiennamen klang. Für die übrigen Mitspieler fanden sich die Namen leicht, sie mußten abwechslungsreich, auch zum Teil aus dem Alltag sein. Eine Familie, deren Name aus der alten Götterwelt des Nordens stammt, konnte nicht aus Durchschnittsmenschen bestehen: die Folkwangs sind ein tapferes Geschlecht, das seiner Zeit, dem Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts, weit vorauseilt und darum schon mit den Fragen ringt, die heute die Geister bewegen. »Im Hause Folkwang stirbt man nicht stückweise, man geht mit seinen Idealen wie ein Schiff mit seiner Fracht unter«, sagt die Heldin am Schluß. – –

Im Roman ist die Entwicklung nicht im voraus gegeben wie in der Novelle, die eigentlich beim Schluß beginnt, so daß der Charakter des Helden nach dem Ende sich richtet. Im Roman hängt umgekehrt der Schluß, wenn er nicht wie beim geschichtlichen Stoff schon im voraus feststeht, von der Entwicklung der Charaktere ab, und diese wachsen wie der lebendige Mensch nach ihren inneren Gesetzen und äußeren Einflüssen, ihr Schöpfer kann sie nicht nach einem festgesetzten Schema führen. Er kann nur noch ordnend eingreifen, im übrigen läßt er sie handeln, wie sie aus innerem Zwang müssen; so geschah es auch mit der Vanadîs.

Daß ein Kind aus solchen Bedingungen heraus nur ein besonderes Kind, ein besonderes Mädchen, eine besondere Frau 670 werden kann, versteht sich von selbst. Als Patengeschenk mußte sie von ihrer Schutzherrin die Unwiderstehlichkeit mitbringen, die sie von klein auf zum Mittelpunkt der Herzen macht. Aber auch in dem Schicksalhaften, das sie schon als Kind umwittert, muß sich die Macht der Göttin äußern, zu fremdem und des Kindes eigenem Leid, weil ihre Anziehung schon in ihrer Frühzeit, wenn auch nur durch Zufall solchen, die sie lieben, zum Verhängnis wird; und solange sie lebt, ereignet sich immer um sie das Ungewöhnliche. Sie sollte gar nicht etwa durch öffentliche Tätigkeit als bedeutende Frau vor ihrer Mitwelt stehen, ihre Gaben verströmt sie unbewußt ins Leben, das überall durch sie reich und bedeutend wird. Von vielen geliebt, von keinem, der sie kannte, je vergessen, sollte sie dennoch nie durch Liebe glücklich werden, aber noch im letzten Leiden und Sterben in einem eben erwachenden Jünglingsherzen eine heilige Flamme entzünden, die ihm zum Leitstern für sein Leben wird und die Ausstrahlung ihres Wesens ins Unabsehliche weiterträgt. Auch ihre poetische Begabung sollte nicht den Durchbruch ins Schöpferische finden, erst in der religiösen Inbrunst der Scheidestunde entbindet sich für einen Augenblick das nie erlöste dichterische Vermögen und läßt den verendenden Schwan sein eigenes Sterbelied singen.

Bei diesem Roman, so starke Anforderungen er an die innere Sammlung stellte, weil die vielverschlungenen Fäden sich nicht verwirren noch abreißen durften, erlebte ich eine seltsame, nicht wiederholbare Fügung. Was zu allen meinen Lebenszeiten meiner Arbeit den schwersten Abbruch tat, die Störung von außen, das wurde ihr bei der Vanadîs zum Heil. Schon daß sie beim ersten Anlauf noch einmal dem »Genie 671 der Liebe« weichen mußte, gereichte ihr zum Vorteil, denn das Leben brachte mir unterdessen Eindrücke, die den ersten Entwurf noch wandelten und vertieften. Und mehr als einmal im besten Zug des Schaffens sprang eine Unterbrechung völlig unerwartet dazwischen, ich mußte schnell eine unvermeidliche Reise machen, oder Besuche hielten mich wochenlang vom Schreibtisch fern. Als sie gingen, hatten sie mir unwissentlich irgendein Gastgeschenk hinterlassen, ein kleines Motiv, das sich entwickeln ließ und an irgendeiner Stelle die bis dahin fehlende Lösung brachte. Zu solchem Geschenk wurde sogar einmal ein wundervoller paradiesvogelähnlicher Papagei einer lieben Nachbarin in Forte, der mir gerade zur rechten Stunde in den Weg kam. Ich steckte ihn ohne weiteres in einen Käfig, mit dem ich den zerlumpten Vagabunden Roderich den toskanischen Sommersitz seiner Eltern ersteigen ließ: der Papagei erbrachte die ohne ihn unmögliche Lösung der grundverzwickten Lage. Währenddessen kreischte und radebrechte das lebendige Urbild des schönen Vogels fröhlich im Nachbargarten, und als seinen unglücklichen Doppelgänger – leider, leider – die Katze zerriß, focht ihn das nicht im geringsten an.

Solange ich an der Vanadîs schrieb, trug mich sicher der immer schwellende und sich verbreiternde Strom. Er führte vieles mit sich, das er erst auf seinem Laufe fand; ich wollte dem nicht steuern, weil es ja um ein Gleichnis des Lebens ging, das uns täglich mit eben solcher Fülle umwogt. Noch entrückter als an den »Nächten« arbeitete ich an diesem Buch, und ich ging nur ungern dem Abschluß entgegen, als ob ich mich von meinen lebenden Lieben trennen müßte. Die 672 Hauptgestalten fielen auch danach nicht gleich von mir ab, ich begegnete ihnen noch mitunter leibhaft im Traum, als schon das Buch gedruckt war, was sonst dem Losreißen eines Kindes von der Mutterbrust gleichkommt. Ja, ich trug mich sogar eine Zeitlang mit dem Gedanken, den einen oder den anderen durch ein späteres Buch als alten Bekannten noch einmal hindurchspazieren zu lassen, gab ihn aber als ungereimt wieder auf. – Wenn ich an alle die Stunden zurückdenke, wo ich wonnevoll berauscht über meinen wachsenden Gebilden saß, so muß ich mir selber gestehen, daß ich zwar niemals nur eine Stunde im Leben glücklich gewesen bin, aber oft genug selig.

Als ich die Vanadîs begann, da wußte ich schon mit Bestimmtheit, daß ich sie niemals würde fertig in die Hände meines Getreuesten legen können. Aber auch der letzte, und ich darf wohl sagen der brüderlichste meiner Brüder, weil er nicht so ausschließlich wie die anderen für sich selber lebte – mein Erwin, sollte das Erscheinen des Buches, nach dem er sich oftmals erkundigte, nicht erleben. Wenn ich des Sonntags nach Großhesselohe hinausfuhr, wo er mit der Frau seiner Jugend unter den Bäumen und den selbstgezogenen Blumen seines Gartens ein spätes, friedlich-schönes Idyll genoß, dann wußte ich, daß ich zur Zeit noch eine Heimat auf der Erde hatte –, im treuen Blau seiner Augen hatte ich sie, wenn er mir noch auf der Rückfahrt in der Straßenbahn eine Weile nachsah. Aber jedesmal fragte ich mich: Wie lange noch? – Mit den zwei Worten: Heimat, fahrwohl! finde ich seine Einäscherung in meinem Denkbüchlein verzeichnet.

Am 12. Oktober 1931 schied er nach langer schmerzhafter, aber mit Lächeln überwundener Krankheit aus einem Leben, 673 das von mancherlei Mißgeschick durchkreuzt aber bis zuletzt von schöpferischer Kraft getragen war. Sein Schicksal glich darin dem meinigen, daß er erst in seinen spätesten Jahren freies Fahrwasser für seine umfangreichsten und bedeutsamsten Arbeiten gewann. Nach einer meisterlichen Reihe von Büsten und Rundplastiken kamen nun die großen Monumentalwerke innerhalb und außerhalb Münchens, für die häufig sein Thole die architektonische Gegebenheit schuf. Was das Schicksal damit gemeint hatte, daß es ihm in der Jugendkraft durch häusliches Glück und häusliche Sorge die Flügel band, das zeigte sich an dem genialen Sohn: es hatte wohl so sein müssen. Von unserem Vater, dem so frühe der Sang im Mund verstummte, hatte Heyse das Wort geschrieben: »Der Dichter war gelähmt, der Mensch vollendet«. In Erwin vollendete sich zuerst gleichfalls der Mensch, dann aber reifte dem Künstler noch eine letzte Vollendung. Reicher und frischer als in der Jugend strömte ihm die Erfindung im Alter. Auch als schon die von den Ärzten lange nicht erkannte tödliche Erkrankung unheilbar geworden war, fuhr er noch Tag für Tag nach seiner weit entfernten Werkstatt an der Luisenstraße und machte die vier lustigen Buben für den Häuserblock Tholes in der Wendlstraße, die er seine vier Lausbuben nannte, fertig. Und als er am Ende Modellierholz und Meißel gänzlich niederlegte, feierte er darum doch nicht, er griff wieder zu Pinsel und Palette, seinem frühesten Handwerkszeug, und malte von den Freunden, die ihn besuchten, höchst lebendige Bildnisse, bildhauerisch gesehen, aber um so ausdrucksvoller. Sein eigenes Leidensbild aber, das er mit grausamer Künstlerfreude vor dem Spiegel nicht graß genug 674 herausbringen konnte, zerriß dem Beschauer das Herz, denn er malte in die Zerrüttung der Züge, die in der Wirklichkeit gar nicht so stark hervortrat wie auf dem Karton, den fest ins Auge gefaßten Tod hinein. Man hätte glauben können, er habe sich's zum Ziel gesetzt, sogar noch die Mutter an lächelnder Heiterkeit der Sterbewochen zu überbieten. Solange er bei Bewußtsein war, suchte er den Seinen die Schmerzen und sein Wissen vom Ende zu verheimlichen. Als er schon vor Schwäche nicht mehr aufrecht im Lehnstuhl sitzen konnte und immer vornübersank, erzählte er noch komische Anekdoten und freute sich, wenn die Hörer hell auflachten. So die närrische Geschichte von dem Maler, der ein leidenschaftlicher Sonntagsjäger war: als ihm endlich einmal ein Häslein schußgerecht kam, warf er ärgerlich die rote Kugel weg, weil sie zu dem gelben Fell des Hasen nicht passe. Von gewissen Dilettanten, die gleich mit ihren Gedichten anrücken, sagte er: Es gibt Menschen, die so unpoetisch sind, daß sie sogar selber dichten. Aber ungleich der Mutter, die ein so zauberhaftes Lächeln mit hinübernahm, prägte sich in seinen entschlafenen Zügen keine Heiterkeit aus, sondern ein schwerer, tiefer Ernst wie in den Zügen seines Vaters. Es war der Niederschlag eines in strenger Selbstzucht verbrachten Lebens und mancher geheimen tieferen Wunde. Erwin war ausnehmend weich und gütevoll im Herzen, viel weicher als er gerne sehen ließ, viel zu harmoniebedürftig und friedliebend, um für seine äußeren Ansprüche einzutreten, nur unerbittlich in Fragen der Kunst und von eherner Strenge gegen seine Schüler, die ihn aber darum ganz besonders liebten und verehrten. An äußeren Ehren wurde ihm zuteil, was man seinen Leistungen nicht 675 vorenthalten konnte, aber nichts von dem, was nur die Gunst vergibt. Er sprach nie ein Wort über solche Dinge. Zu meinem steten Ringen um die Anerkennung unseres Vaters schüttelte er den Kopf; er begriff nicht, wie man sich so gegen die, wie er meinte, schicksalhafte Stumpfheit der Zeitgenossen zermürben möge.

Die Angehörigen wünschten, daß ich ihm einen Spruch in die Erde mitgebe. Der dafür vorgesehene Raum auf der Grabplatte war sehr klein, ich mußte das Notwendigste so knapp wie möglich zusammendrängen:

Ganz und klar bis zum Grund
Ganz im schaffenden Ernst
Ganz in lehrender Liebe
Im lächelnden Leiden ganz

Wenig ahnte der Sohn, der den Spruch auf den Stein zeichnete, daß ich nur anderthalb Jahre später, im Mai 1933, auf dem schönen Waldfriedhof von Grünwald seinem eigenen Mal neben dem des Vaters den Denkspruch würde schmieden müssen.

Undurchsichtig ist der Wille des Schicksals. Nicht durch die Heirat mit einem Bauernmädchen hätte mein Vater seinem alten reichsstädtischen Bürgergeschlecht mehr Frische und unverbrauchtes Blut zuführen können als durch das Kind eines irländischen Freiherrnhauses, das unsere Mutter wurde. Und doch sollte das auf so festen Säulen gegründete Haus das dritte Zeitgeschlecht nicht überdauern. Edgars Führernatur hinterließ keinen männlichen Sprossen, die Kinder Alfreds wurden Italiener, und Erwins Einzigen, unseren Thole, 676 riß auf der Höhe seines Könnens das blinde Ungefähr von hinnen. Mit ihm schließt sich die Reihe und niemand als die Schreiberin hat mehr den Schlüssel zu dem leergewordenen Hause. Ich habe es noch einmal durchwandert und die still gewordenen Bewohner gegrüßt. Jetzt hallen die Zimmer von Leere.

Aber dem Jüngsten von denen, die jetzt schweigen, muß ich auf seine Frage: Warum trugst nicht du selbst das Lämpchen weiter? in die Ewigkeit hinüber antworten: Weil mir das Wählen noch schwerer wurde als dir. Weil an meinem Horizont kein Lebender stand, der groß und stark genug war, daß ich hätte wünschen können, ihn in meinen Söhnen wiederzufinden. Wie hätte ich sie lieben sollen, wenn sie nicht zum mindesten meinen schönen und begabten Brüdern gleichgekommen wären? Trauriger Gedanke, ein so reich begnadetes Geschlecht in den eigenen Nachkommen verarmen zu sehen! Lassen wir es gut sein, beide. Das Lämpchen bringt auch einen Auftrag mit. Hat, wer ihn selber erfüllt, vielleicht weniger getan, als wer ihn einfach dem nächsten Zeitgeschlecht weiterreicht? Und überhaupt, kann denn nur das Blut zeugen? Zeugt der Geist nicht auch? Sind von dem jetzt leergewordenen Hause nicht Samen hinausgeflogen, die anderwärts keimen mögen? Warum kam alles, wie es gekommen ist? In meinen bängsten Lebenstagen war es mir tröstlich, daß ich, wenn das Scheiden kommt, keinem Wesen meines Blutes das Herz zerreißen muß, wie das meine zerrissen wurde. Es ist wohl alles gut so, es ist in allem ein Sinn gewesen.

*

677 Ich habe noch einmal den Strom des Lebens an mir vorüberziehen lassen, jede Welle ein Menschengesicht, das auftaucht und schnell von der nächsten verschlungen ist. Und ich habe mich bemüht, soviel mein Griffel erfassen konnte, von diesen Wellengesichtern festzuhalten. In so freier Vielfalt können ihresgleichen wohl sobald nicht mehr auf Erden erscheinen, und sie schauten alle so gerne noch einmal ins Himmelslicht.

Weit mehr ihnen als mir, meinem eigenen Tun oder Wollen und Leiden, habe ich dieses Buch gewidmet. Mein Turmgemach, das ich so nenne, weil es mich nur die Sterne und Wolken des Himmels, nicht die Straßen der Stadt wahrnehmen läßt, hielt unterdessen alles Eindringen der Außenwelt fern. Nur zuweilen, während ich schrieb, dröhnte der Taktschritt marschierender Kolonnen zu mir herauf und Geschmetter von Trompeten, daß ich mich fragte: Ist das Wahrheit? Und aus dem Traum des Gewesenen erwachend, erkannte ich: Ja, es ist Wahrheit. Das Schwert des Wälsungen ist wieder heil und hütet die Grenze. Es hat den Schimpf des Wehrlosseins in einer Welt, wo Recht ohne Macht nur Kinderspott ist, von uns genommen. Ohne die Scheide zu verlassen, hat es uns das Rheinland von fremder Einmischung wieder freigemacht. Und wieder wie im Schwertlied flehe ich es an, in der Scheide zu bleiben. Auch die Schlöte der alten Waffenschmiede rauchen wieder, und ich sage wie vor dem Ausbruch des Weltbrands aber zuversichtlicher als damals – weil die Erinnerung mit heilsamem Schrecken über den Völkern steht –: »Gesegnet, schafft ihr eine Wehr dem Frieden.«

Mit einemmal dröhnt es stärker, der Boden schüttert – 678 Mobilmachung! heißt es aus blauer Luft herunter und: die Unseren marschieren! Wohin? Man weiß es nicht. Man sieht nur, es geht nicht an den Rhein, was sollten sie auch dort, es ist ja Friede. Ihr Weg geht nach Osten, der Donau zu. Vor ihrem Schritt fallen die Grenzen ein, unermeßlicher Jubel durchbraust alle Räume deutscher Zunge, weil die zwei lange getrennten Brudervölker sich in den Armen liegen. Österreich, das abgeschnürte, verdorrende Glied, mit einem Male, über Nacht, zum Ganzen zurückgekehrt, sein Blut im Blutkreislauf der großen Mutter wieder mitkreisend. Der Traum der Väter erfüllt, der sie im Jahr 1848 in die Paulskirche nach Frankfurt führte.

Wo das Reich in Staub zerfallen,
Soll es neu geboren sein –

hatte damals Hermann Kurz in seinem »Vaterlandslied« gejubelt. Und wie gläubig er auch nach dem Einsturz dieser Hoffnung später das Reich Bismarcks begrüßte, Österreich konnte er innerlich nie verschmerzen. Gäbe es doch eine Funkverbindung nach den Elysischen Feldern, daß ich ihm Botschaft hinübersenden könnte: Österreich ist unser! – Hat nicht uns allen immer etwas gefehlt unter der straffen preußischen Führung? Das schönste Stück deutscher Süden hat uns gefehlt mit dem unwiderstehlichen Zauber, der an den Ufern der Donau wächst. Ruhm und Ehre dem Rhein, er ist ein stolzer, männlicher, kriegerischer Strom. Aber es ist etwas ganz Besonderes um die Donau, sie hat das geheimnisvoll Bestrickende der Weiblichkeit. Schon ihrer Kindheit ist ein schmeichelnder und zugleich bedeutsamer Reiz gegeben, wie sie sich in dem 679 engen Felsental durch blumige Wiesen hinspielt. Und die Burgen, die Alten, blicken lächelnd auf das Königskind, das schon seine künftige Krone ahnt, aber noch mit den gelben Uferblumen tändeln will, ehe es seinen langen Schicksalslauf beschleunigt, immer der Morgensonne entgegen. Daß unsere Grenzen sie jetzt länger halten, daß auch auf der Strecke, wo die Nibelungen zum König Etzel fuhren, deutsches Wasser fließt, das weitet uns allen die Brust. Und so weit die Herrliche wandert, sie trifft auf keinen Größeren, der ihr den Namen nähme, sie selber nimmt alle Begegnenden auf und trägt sie ins Meer, die Königin der Ströme, die große Mutter der Länder, die eine Tochter meiner Heimat ist.

Ich habe alle Ecken meines Turmzimmers mit freudigen Wimpeln besteckt für das Brudervolk an der Donau. Es wird nicht kümmern und dorren in seinen erstickenden Grenzen, es wird unseren weiteren Lebensraum und unsere tieferen Atemzüge teilen. Dagegen bringe es uns, was an den Ufern der Donau heimisch ist: die Anmut der Form, das Künstlertum seines Blutes, die schöne Gelöstheit, den Gesang, die Freude. Die Freude vor allem, die ihm naturhaft, ohne künstlichen Auftrieb, rein aus dem Glück des Seins erwächst.

Mit Österreich an Bord fahre nun, festliches Schiff Großdeutschland, unter Musik in die Zukunft hinaus. Das Glück ist mit eingestiegen, die mächtigste aller Gottheiten, und segnet dem Steuermann die märchenhaft kühne Fahrt.

Es ist stille geworden im Turmzimmer, das lang die Helle des Abendhimmels bewahrt. Vor mir liegt ein mächtiger Haufe von Blättern, darin die abgelegte Schlangenhaut, das Zeugnis der durchlaufenen Strecke. Sie wurde mir schon fremd, 680 während sie abfiel, und gleichzeitig gingen auch die Geister zur Ruhe. Wenn alle Uhren schneller gehen und überall die Tat mit Glockenzungen spricht, dann schrickt das Ich, dem andere Bereiche zugewiesen sind, in sich selbst zurück. Aber eine Stimme mahnt aus den Blättern: Was hast du aus deinem Leben gemacht? – »Wir sind nichts, was wir suchen, ist alles«, las ich vor kurzem in einem frühen Fragment des Hyperion. Diese Antwort eines Großen möchte ich mir ein wenig anders wenden: Was wir im Geiste schaffen, ist Versuch und Bruchstück; Bruchstück und Versuch ist unser Leben selbst. Daß wir nach einem Unerreichlichen pilgern müssen, das verbindet uns mit der ungekannten höheren Welt.

Was ich mit meinem Leben gemacht habe? Es war ja nie in meine Hand gegeben. Als ich zur Welt kam, standen die Figuren des Schachbretts schon so, daß nur ein Wunder das Spiel hätte ins Regelmäßige wenden können. Da war alles und jedes ganz verkehrt und vernunftwidrig eingefädelt, dann von lauter feindlichen Einflüssen durchkreuzt, auch aus sich selber so zweckfremd und unbewußt gelebt, daß es nach menschlicher Berechnungsfähigkeit durchaus auf der Fehlhalde hätte enden müssen. Diese Berechnung stellte aber niemand an, ich selbst am wenigsten. Wenn ich jetzt die Vergangenheit landkartenartig vor mir liegen sehe, mit allen Klippen, woran ich blind vorübergesteuert bin und den Sandbänken, an denen ich schließlich doch nicht hängenblieb, so liegt es in der menschlichen Natur, nach einem Faden in diesem Labyrinthe zu suchen und an überweltliche Schutzbemühung zu denken. Denn keine Hilfe sollte mir von außen kommen, nie machte Freundeshand einen Platz für mich frei, immer war's ein 681 unsichtbarer Arm, der mich herauszog. Wenn das Schicksal mich am tiefsten gestürzt hatte, dann kam von innen der Gegenstoß der Aufwärtsbewegung, nicht willenhaft, sondern wie geführt, und ließ mich meine eigene Erbin werden.

Viele Menschen gaben mir im Lauf der Jahre ihr Herz, weil um mich her die Luft immer leicht und helle war. Aber wie sehr ich nach Anschluß mich sehnte, daß ich oft, nur allzu oft mit meinem Besten zurückhielt, um nicht zu drücken –, niemand, niemand konnte die Einsamkeit von mir nehmen, die wie durch eine Verzauberung auf meine Jugend gelegt worden war. Nur wenn ich über meiner Arbeit saß, war ich zu zweien.

Eines der schönsten Goetheworte war für mich immer die Antwort der »Amazone« auf Wilhelm Meisters Frage, ob sie geliebt habe: »Nie oder immer«. Denn die Liebe entstammt der Überwelt und ist früher als der irdische Gegenstand. Aber dieses A und O des natürlichen Weibes hat wohl nie im Leben der schöpferischen Frau eine bleibende Stätte. Zwei Götter können sich nicht nebeneinander vertragen. Der Eros will seine Beute ganz und der Genius ebenfalls; sie können sich nicht auf Stundenteilung einrichten. Und der Eros bringt für die Frau unausweichlich die Dienstbarkeit mit, das Wesen des Genius aber ist Freiheit. Wie anders liegt der Fall für den schaffenden Mann. Er bedarf immer der sorglichen Frauenhand, ihrer umhüllenden Liebe. Der Frau kann nur eine andere Frau in voller Hingabe diese Wohltat erweisen. Der Mann, der ausschließlich ihrem Dienst leben wollte, hätte wohl Anspruch auf ihre tiefste Dankbarkeit, aber er würde wohl kaum so, wie er es wünschen muß, von ihr geliebt werden.

682 Edle lebenslange Männerfreundschaften gehören gewiß zum wertvollsten Besitz der Frau. Dieses ausgesuchte Glück hat mich durch die längsten Strecken meines Lebens begleitet. Es ist eine kostbare Pflanze, die feinfühliger Pflege bedarf, um sie ebenso vor der zerstörenden Zone der Leidenschaft wie vor dem Abgleiten in die Prosa der Kameradschaftlichkeit zu bewahren. Richtig gepflegt, vor Schädlingen behütet, begossen und beschnitten, ist sie das Wunder des Baumes, der immer blüht.

*

»Gibt es wirklich die Zeit, die zerstörende?« Ich habe immer geantwortet: Nein. Und ich sage es noch. Jeder Mensch wird mit dem Alter geboren, das er sein Leben hindurch behalten soll, das ihm schon vor der Geburt zugesprochen war. Wer kennt nicht die greisenhaften Jünglinge, die, wenn sie Väter werden, ihr Greisentum auf Söhne und Enkel übertragen? Und wer hat nie einen sogenannten Greis mit weißem Haar und blitzenden Augen gesehen, der allen Jüngeren voran zuerst gegen die Schanze lief? Das Alter ist eine von Menschen aufgebrachte böse Einflüsterung, die dem Wanderer von Jahrzehnt zu Jahrzehnt eine neue Schwelle zum Überschreiten vor die Füße legt. Wenn er ängstlich darauf tritt, nach vor- und rückwärts zählend, so hat er sich innerlich schon ergeben, während ein anderer mit demselben Gepäck von Jahren leichtfüßig darüberhineilt. Denn die Zahlen bedeuten nicht für jeden das nämliche. Dies jedoch ist das Geheimnis der Geistigen, über das der Unverstand der Menge lacht.

Noch ein Rat soll hier niedergelegt sein. Wer die Jugend 683 bewahren will, darf das Spielen nicht verlernen. Und niemals darf er sich zu würdig halten für das Lachen. Ridere fa buon sangue, sagt der lebenskundige Italiener (Lachen macht gesundes Blut). Es dürfte auch physiologisch richtig sein als eine Art innerer Massage, die das Vergiftete, Stockende wegräumt. Aber habe auch die gute Laune, vor Taktvollen einmal über dich selbst zu lachen. Wer das nicht vermag, der trägt schon den Pedanten mit sich, der ihn den Frohen und Freien lästig macht.

Oft ist mir jetzt, als hätte ich, erst über der Aufgabe, das geliebteste Wesen, das sich in seiner Kindlichkeit nicht selber steuern konnte, heil durchs Leben zu führen, dann im Zwang des Schaffens, der mich nicht mehr aufsehen ließ, die Erde, ihre Menschen, ihre Tiere und Pflanzen nicht genug geliebt, nicht genug die Herrlichkeiten der Kunst genossen, auch selber nicht genug mit meinem Pfund gewuchert, dem einen nachgehend mich dem anderen versagt, daß die Gebilde, die im Wettlauf der Stoffe zurückgeblieben sind – vielleicht wären sie meine Lieblingskinder geworden –, mir trauernd nachblicken werden.

Und ach, nicht ihnen allein werde ich Schuldnerin bleiben müssen, der unersättliche Mensch möchte gebend und empfangend zugleich allen alles sein. Ich kann nicht in ein Tierauge blicken ohne zu denken, was es an mich zu fordern hat. Würde mir eine neue Lebensbahn freigestellt, so möchte ich sie ganz den Tieren widmen. Wie unglücklich sind die Menschen, die nie ein Tier geliebt haben, nie mit der stummen Kreatur, die doch soviel zu sagen hätte, im Wechselverkehr gestanden. Wie arm ist der Wohlhabende, der ein Pferd aus dem 684 Mietstall holt und es wie einen Gegenstand behandelt, statt selber eines als Freund und lieben Hausgenossen zu betreuen und aus seiner gesammelteren Seelenwelt unendlich mehr zurückzuempfangen, als die arme hundertfach zerspaltene Menschennatur geben kann.

Menschlicher Hunger und menschlicher Hochmut haben dem Tier die Seele abgesprochen, um dem eigenen Gewissen auszuweichen; die Kirche und ihre Todfeindin, die materialistische Naturwissenschaft, sagten beide dazu ihr Ja. Auch unsere klassischen Dichter, die Anwälte der Menschheit, hatten kein Wort für die Kreatur übrig. Goethe spricht wohl an verschiedenen Stellen von der Tiervernunft, er meint es artmäßig. Darum waren mir die Tiere als typische Zerrbilder der Menschen im Reinecke Fuchs immer peinigend; sie verstellen den Blick auf die wirkliche Menschenähnlichkeit des Tieres. Daß es eine Tierseele gibt, daß das Tier innerhalb seiner Art ein Individuum ist, das bleibt auch ihm verschlossen –, der große Liebende der Natur, der dem Gestein und der Pflanze so suchend nachging, hat nie in Tieraugen geblickt. Nur das Märchen ahnte. In unseren Märchen erscheint das Tier nicht als Schützling, sondern als freier Helfer und Wohltäter der Menschen. Dazu hat es die Anlage, weil die Natur ihm näher angehört als uns. Das Tier keine Seele? Nie hat mich das ewige Geheimnis tiefer angeblickt als aus den Augen eines kleinen, in Qualen sterbenden Vogels. – Erst im zwanzigsten Jahrhundert wurde der Sinn den Menschen aufgetan. Sie begannen in die Augen der Tiere zu blicken und fanden darin sich selbst. Das Kind will einen Tierkameraden. An Stelle sentimentaler Erfindungen sind neue Tierbücher getreten, in 685 denen Forscher berichten, und ihr Erlebnis ist ergreifender als alle Poesie. Nun hat auch das Dritte Reich mit seiner gestrafften Macht den Tierschutz fester im Gesetz verankert. Aber die Tiere müßten noch in das volle Recht von Staatsbürgern eintreten, mit bestellten Vormündern und Vertretern, die ihre Sache mit allen Fasern ihres Herzens betreuen. Die Lauen sind zu diesem Amte nicht gemacht. Auch müßten wir uns alle abgewöhnen, Tiernamen zur Brandmarkung minderwertigen Menschentums zu benützen. Unsere unmündigen hilflosen Stiefgeschwister haben es nicht verdient, daß man sie durch den Vergleich beschimpft.

Das Schicksal der Tiere ist die offene Wunde im Herzen der Schöpfung. Damit sie nicht aufhöre, mich zu brennen, sehe ich vor mir mahnend zwei große Augen eines wunderschönen weißen Rindes, das ich einmal mit anderen kleineren seiner Art durch die Ludwigstraße fahren sah. Es stand hoch auf einem offenen Wagen neben seinen viel geduckteren Schicksalsgefährten, und die Augen in dem prächtig gehörnten Haupt blickten mit unsagbarem, ich möchte sagen: erhabenem Ausdruck auf die Paläste, an denen es vorüberkam, und auf die Welt, die es zum ersten- und letztenmal in solcher Freiheit sah. Das adelige Tier, Griechen hätten ihm die Hörner vergoldet und es am festlichen Tag den Göttern dargebracht. Bei uns wartete seiner ein minder heiliges Ende. Es ist heute Dienstag, am Mittwoch wird im Schlachthof geschlachtet, sagte meine Begleiterin. – Und weiter denke ich an die Augen eines jungen Hahns, die mich aus einem Korb auf dem Mercato von Forte in irrer verzweifelter Todesangst anblickten. Ich war trostlos, daß ich ihn nicht freikaufen konnte, denn wir 686 waren selber vor der Abreise, und wem hätte ich ihn übergeben können, der ihn nicht alsbald geschlachtet hätte? Eine alte Italienerin sagte mir einmal warnend, man dürfe kein Mitleid haben mit der Kreatur, es verlängere ihre Sterbequal. – Gott, den sie den Barmherzigen nennen, blick doch endlich drein und sieh, was du getan hast.

 

Glauben, daß du zugleich gütig und allmächtig seist –? Vielleicht hast du dich von deinem Werk, diesem Erdball, abgewendet wie der Bildhauer von dem verhauenen Block, aus dem er mit aller Mühe doch die Figur nicht mehr herausholen kann, und hast ihn nun dem Ungefähr überlassen, indem du selbst zu höheren Schöpfungen im Weltenraum weiterschrittest? Oder war's, daß du allein das beim ersten Anhieb geschehene Unheil nicht mehr wenden konntest, und daß es jetzt der Mithilfe des Menschen bedarf? Vielleicht hast du jedem von uns sein rohes Stück Lebenselement dazu gegeben, daß wir es, ein jedes an seinem Teil, dir veredeln, verfeinern, durchgeistigen und durchseelen sollen und dir als verbesserten, schon organisch gewordenen Werkstoff zurücklassen, damit du einmal in Sternenjahren, die für dich keine sind, edlere Gebilde daraus formen kannst, bis alles Lebende und die unfühlende Natur selber göttlich geworden, das Dämonische überwunden ist.

 

Die indische Weltanschauung hatte ehedem eine starke Anziehung für mich wegen ihrer Verkündigung vom inneren Einssein alles Lebens, das sich so nah mit meinem angeborenen Gefühl berührte, daß ich in allen Dingen sei und alle Dinge in 687 mir. Als gegen die Jahrhundertwende ein jüngerer Brahmane, Herr Tschattertschi, in Florenz erschien und öffentlich lehrte, war ich eine nie fehlende Hörerin. Doch kam ich zu der Überzeugung, daß zwar jede religiöse Anschauung an sich gut sei und auch irgendwie eine Entsprechung haben müsse, daß sie aber eigentlich doch nur denen zugehören könne, aus deren Umwelt und geistiger Beschaffenheit sie entsprungen ist. Von vornherein wurde die Begreifbarkeit der Lehre für die Hörer durch die Versicherung eingegrenzt, daß keine abendländische Sprache imstande sei, den Vollinhalt des indischen Wortes wiederzugeben, weil eine jahrtausendlange Schulung und die unendlich feine Begriffsspaltung des Inders zu der Hauptbedeutung immer auch verschiedene Nebenbedeutungen in das Wort einbezogen habe, die nicht in eine fremde Denkweise übertragbar seien und doch mit dazugehörten. Es konnten also die Grundbegriffe nur in Bausch und Bogen vermittelt werden. Von einer Vielfalt feiner und immer feinerer Hüllen war die Rede, aus denen die Seele des Menschen bestehe, und die nach dem Tode eine um die andere abgelöst werden mußten, damit das Karma, der ethische Gesamtertrag des gelebten Lebens, frei und ledig geworden, jeweils einen neuen Leib zur Wiederverkörperung ergreifen könne und in ihm zur Göttlichkeit sich veredeln oder zum Tier herabsinken. Aber ist das Gerechtigkeit, mußte ich fragen, wenn ich mein Karma leidlich heil aus Schiffbrüchen gerettet habe, daß ein anderer es aufnehmen und mir verschmutzen darf? Der Inder antwortet: Es gibt kein Ich und folglich kein »mein« und»mir«. Dem Karma sind durch das endlos rollende Rad der Geburten unendliche Möglichkeiten gegeben, sich vom tiefsten Fall 688 wieder zu erheben und am Ende zu solcher Vollkommenheit zu gedeihen, daß ihm als höchste Krone die Vollendung im Nimmerkehren und Nimmersein wird. – Und ist das alles? fragte der abendländische Mensch in mir. Daß so viel Mühen, Sichverkörpern und Entkörpern immer nur zum Ziele das Garnichtsein haben soll? Davor stand ich mit Kopfschütteln – Nein, der Buddhismus war nicht für mich. Ich trage nur das bezaubernde Bild mit mir, wie der große Erleuchtete am letzten Tag unter seinem Urwaldbaum sitzt, nachdem er umsonst gewartet hat, ob nicht sein Lieblingsschüler ihn bitten wird, zum Heil der Welt noch einen Äon weiterzuleben, in welchem Fall er sich noch einmal hingegeben hätte; jener aber schwieg in Benommenheit und verpaßte die Stunde, da geht in Gegenwart einer Myriade von kleinen unsichtbaren Göttern der Natur, die weinend und händeringend rings auf Halmen sitzen, der Unvergleichliche in die Erfüllung ein. Poetisch die schönste Lösung, aber löst sie auch das Rätsel der Welt? Nur mir selber kam ich dabei auf die Spur, meinem Hang mich doch nur von dem, was dichterisch ist, ganz stark berühren zu lassen, also von dem eigentlich Lebendigen, Bildlichen, abseits vom reinen Begriff.

 

Ist nun nicht Goethes von den Griechen übernommene Entelechie – das im Sein erhaltende Streben – der äußerste Gegensatz zu der indischen Abtötung? Als Lohn der Taten die immer neue Tat!

Freilich Goethe, der Aristokrat, fand, daß die Natur nur ihm und seinesgleichen auch drüben den Raum zum mitschöpferischen Weiterwirken schuldig sei. Die Geister 689 minderer Ordnung mochten sehen wo sie unterkamen. »Wer keinen Namen sich erwarb, noch Großes will, gehört den Elementen an« –

Karma oder Entelechie – jeweils ein anderer Scheinwerfer an einem Firmament von grenzenloser Ausdehnung, der nichts zurückläßt als die Erfahrung der Weite. Wie sollte er auch? Wie sollte die Linse des Endlichen die Unendlichkeit einfangen? Wir leben in Geheimnissen, wird ein Zipfel des Schleiers gelüftet, so sinkt das Geheimnis in noch tiefere Tiefen.

*

Ein asiatischer Despot hatte einmal einen bösen Traum. Da rief er seine Wahrsager und Traumdeuter. Der erste sagte ihm: Unglücklicher König, alle deine Verwandten werden vor dir sterben. Dem legte er den Kopf vor die Füße. Der zweite sagte: Glücklicher König, du wirst alle deine Verwandten überleben. Dieser wurde mit Gold und Gnade überhäuft. War er so ganz im Unrecht mit seiner Unterscheidung, der Despot? Es ist zweierlei, ob man die Geschicke nur dumpf erleidet, oder ob man überwindend daraus hervorgeht und das Verlorene mit sich trägt in die kommenden Tage hinein. Die Liebe der Meinigen ist immer um mich geblieben, sie spricht bald aus dieser, bald aus jener Stimme zu mir. Zur Zeit bedient sie sich am liebsten eines Kanarienpärchens, Bimba und Bubsi, das mich morgens, wenn ich ins Zimmer trete, holdselig begrüßt. Die Bimba teilt mir gleich ihre Wünsche für ihr Frühstück mit, er, Bubsi, erzählt gern aufgeregte Geschichten, etwa von einer großen Amsel, die zum Fenster 690 hereingeschaut hat oder von einem seltsam steifen Riesenvogel, der ganz hoch oben am Himmel mit mächtigem Geschnatter hingestrichen ist. Er fliegt fast immer frei, der kleine Draufgänger, damit er sein Temperament austoben kann, da knabbert er alle Pflanzen im Zimmer an und schlägt sich täglich mit seinem Widersacher und Nebenbuhler in dem spiegelnden Fensterglas herum, bis er sich müde, aber immer noch zornig, abkehrt; nur darf er alsdann nicht mehr zurückblicken, sonst schießt ihm alsbald der Feind wieder entgegen und der Kampf beginnt von neuem. Ich habe ihn im Verdacht, kein scharfer Denker zu sein, weil er der Sache immer noch nicht auf die Spur kommt, aber er hat ein goldenes Herz. Seine Lieblingsbeschäftigung ist vor der Bimba zu singen und zu tanzen. Aus Leckerbissen, die er erschnappt, bereitet er in seinem Kröpfchen eine köstliche Speise für sie, die sie sich mit dem Schnäbelchen selber herausziehen darf. Das Verfahren ist nicht einfach, denn da sie leider von Tisch und Bett getrennt leben, muß er entweder vom Dach ihres Bauers aus oder in der unbequemsten Stellung außen an einer Gitterwand angeklammert, sein Köpfchen so weit durch die engen Stäbchen schieben, daß sie sich aus seinem Kröpfchen bedienen kann. Für sie ist ihm kein Dienst zuviel, denn sie ist ein Geschöpf voll himmlischer Anmut. Dazu hat sie einen Gesichtsausdruck, der jede Seelenregung vom heiteren Gleichmut bis zum tiefsten Kummer spiegelt. Sie hat schon Schweres erlebt, das zarte Wesen; als Bubsis Vorgänger, unser unvergeßlicher »Vogi«, von uns ging, da bangten wir lange für ihr Leben. Auch der schöne schlanke hochgestielte junge Bubsi (seine zarten und festen Ständerchen sind wie Blumenstiele) kann ihr den 691 heißgeliebten ersten Freund, obwohl sie ihn fast nur krank gekannt hat, nicht ersetzen. Es ist noch nach Jahren nicht geraten, Vogis Namen vor ihr zu nennen. Da kann sich plötzlich ihr Gesichtchen trüben und sie mit großen dunklen Augen regungslos vor sich hin starren. Die Menschen sagen, Vogelherzen seien leicht, – Vogelherzen können vor Leid brechen, was Menschenherzen nur in der Dichtung tun. – – –

Aber um mir ganz die Wahrheit des Apostelwortes zu beweisen, daß die Liebe nimmer aufhöre, haben die unsichtbaren Helfer sie leibhaft neben mich gestellt. Vom Totenbett meines Bruders weg, den sie mitbetreut hatte, durfte ich sie zu mir holen, zuerst als Aschenbrödel das sie gewesen, aber schon damals merkwürdig durch die starke Liebe, mit der alles Getier sich von weither zu ihr drängt, und durch die heilenden Hände, unter denen nicht nur kranke Vögel genesen, sondern auch verdorrte Pflanzen aufgrünen und das längst verlernte Blühen wieder lernen. Aber bald in der warmen Atmosphäre meines Hauses blühte sie auch selber auf und wuchs naturhaft zu der inneren Gleichheit empor, die ihr gestattet mich auch auf den Wegen des Geistes zu begleiten, wie sie mein verlängerter Arm ins Leben hinaus geworden ist. Und da sie von dem vorigen Platz her auch die verschwundenen Gestalten der Familie kennt und liebt und als fromme Katholikin sie in ihr Gebet einschließt, lebe ich noch immer im Elternhause.

 

Aber ferne sei das Rasten, solange noch so viel Dankesschuld an die Hoheit des Lebens zu bezahlen ist. Die drängendste habe ich endlich abgetragen: die Huldigung vor dem Reiter von 692 Bamberg, der mich wie ein Stück der eigenen Seele rief, seitdem ich, spät genug, von seinem Dasein erfahren hatte. Denn leider ist es so – ich habe die Tatsache schon einmal berühren müssen –, daß auch das Große, Ewige bei uns kein unsterbliches, wandelloses Leben in der Zeit führt, sondern es gehorcht dem Wechsel der Gezeiten, die es bald hochheben, bald wieder untertauchen, damit es später aufs neue hervorsteige. Was wußte man im 19. Jahrhundert von Bamberg, von Naumburg, von der wunderbaren klassischen Kunst der Stauferzeit? Auch unter Künstlern war nie von ihr die Rede. Und finde ich nicht zurückblätternd auf den Seiten dieses Buches selbst meine eigene Überzeugung ausgesprochen, daß niemals mehr auf Erden eine so tiefe und innige Seelenkraft zum Ausdruck gekommen sei wie in der Kunst der Griechen? Aber gern lasse ich mich vom Augenschein belehren und schwöre den Irrtum ab: hier im Dom von Bamberg lebt eine Seelenkraft im Stein, die an Adel der griechischen gleichkommt und sie an Ausdruckstiefe noch übertrifft, weil im geschlossenen Raume wirkend. Und mit der Höhe der Kunst begegnet sich zum ersten und letzten Male – denn wann wäre das sonst in Deutschland geschehen? – eine Herrlichkeit der menschlichen Erscheinung, wie sie nur der Stauferzeit angehören konnte, wo deutsche Art unter der Sonne des Südens zu hellenischer, fast mehr als hellenischer, weil beseelterer Schönheit reifte. Man fragt nicht nach dem Namen des Meisters, der diesen Reiter schuf, man fragt nur, wer er selber sei. Wie unter einem Tarnhelm muß er durch sieben Jahrhunderte im Dom zu Bamberg geritten sein, bis der Nebel sich zerteilte und er sichtbar heraustrat, die eine Hand am Zügel, die andere in der 693 Mantelschlinge und die kaiserliche Krone auf dem Haupt, der »künec Philippes schöne«:

»swer nû des rîches irre gê,
der schouwe wem der weise ob sime nacke stê«:

Ja, der Waise steht ob sime Nacke, daß alle Fürsten ihm Gefolgschaft leisten müssen, denn vom Besitz des Waisen hängt das Thronrecht ab. Vom Nacken her zeigt er auch seine allerschönste und edelste Seite: wie er den Kopf über die schön geschwungene rechte Schulter dreht, ein Linienfluß von dem erhobenen Haupt bis hinab zu dem gestreckten Fuß im Bügel; wie die köstlichen Mantelfalten in dem ziervollen Sattel verschwinden; dazu die königliche Grazie und Selbstsicherheit, die keine Betonung der Majestät erfordert, weil sie von sich selber herrscht, so wie sie da ist, »eins keisers bruoder und eins keisers kint in einer wât«; die sprechende geistreiche Belebtheit der edlen Züge unter dem reichen Gelock und das übermütige Stauferlächeln, das schon tragisch gefärbt ist von der nahen Stätte seines Untergangs – welcher Staufer wäre nicht tragisch gewesen? Nur ungern reißt das Auge sich los, um auch die anderen Gebilde zu erfassen, und kehrt gleich wieder zu ihm zurück. Wie möchte man den Schleier der Zeit heben und schauen, was Herr Walthers Zunge zu schmelzendem Wohllaut hinriß: jene Weihnachtsmesse im Dom zu Magdeburg, als der »junge süeze man« mit Krone und Reichsapfel einzog:

»er trat vil lise, im was niht gâch:
im sleich ein hohgeborniu küniginne nâch, 694
rôs âne dorn, ein tûbe sunder gallen.
diu zuht was niener anderswâ« –

Man glaubt es gern: die griechische Kaiserstochter, der Barbarossasohn, wo gäbe es eine höhere Zucht! Auch mit der unglücklichen Irene verbindet von früher her mich ein geheimnisvolles Etwas, vielleicht weil sie auf meinem heimatlichen Hohenstaufen, wohin sie nach dem feigen Mord von Bamberg floh, bald hernach ihren letzten Seufzer aushauchte; auch kam ich seinerzeit dazu, als im Klösterlein Lorch, der hohenstaufischen Grablege im Remstal, ihre Gruft geöffnet und ausgeräumt worden war. Der dort gefundene Ring von erlesenster Schönheit und einem wahrhaft staufischen Kunstgeschmack war in den Besitz einer königlichen Prinzessin übergegangen, aber eine Nachbildung in unechtem Material, die zum Verkauf auslag, hätte ich gerne als Erinnerungsstück mitgenommen, wären die zwei Mark, die er kosten sollte, in jener Notzeit erschwinglich gewesen. – Der unglückliche junge Fürst, den die Geschichte als den gütigsten, liebenswertesten des Staufergeschlechtes rühmt! Warum mußte er, statt seine milde, baldergleiche Herrschaft über Deutschland zu festigen, auf dem bischöflichen Hochsitz da drüben einer elenden Privatrache sinnlos zum Opfer fallen! Aber war es wirklich sinnlos? Die Weltgeschichte weiß die Antwort. Und die übergewaltige Sibylle hier um die Ecke wußte sie wohl noch früher, denn ihresgleichen sitzt im Rate der Götter und sieht weit hinaus das Wie und das Warum. Aber sie mußte schweigen, darum hält sie den Mund so fest zusammengepreßt. Ja, im Dom zu Bamberg gehen besondere Dinge vor.

695 Diese Sibylle mit den Augen, die groß und weit offen und gewölbt sind wie die einer Athene, hat sie nicht selbst etwas Stauferisches, etwas Geistverwandtes mit der furchtbaren Größe des alleswollenden, alleswissenden, allesvermögenden, zu unendlicher Einsamkeit erhöhten und verdammten zweiten Friedrich? Deutlicher hat die Pepromene nie gesprochen: um Ihn zu erhöhen, mußte der Holde, Liebenswürdige, der hier vor unseren Augen wie ein Frühlingsgott zu Pferde sitzt, den Platz räumen, damit das unausdenkbare, alle Kulturen umfassende staufische Weltreich, das kurzdauernde Wunder aller Zeiten, würde. Damit es den Erdball mit ungeheurem Glanz blendend erfülle und in einer Welt- und Riesentragödie für immer verlösche. Jene Spanne, wo die Menschen Götter waren, nicht gute Götter, was wir heute unter dem Wort verstehen, aber Götter. Unter den Tritten ihrer Pferde zitterte allenthalben die Erde und trieb zugleich die seltensten Blumen hervor. Waffenklang und Minnesang, wohin sie traten. Waffenklang und Minnesang durchhallt für das vernehmende Ohr auch das Kirchenschiff zu Bamberg, wo ein Staufer reitet. Der fromme kaiserliche Stifter auf seiner Gruft ist machtlos gegen das weltliche Fest des Lebens.

O kraftstrotzendes, farbenfrohes Mittelalter, o glutvolle blütenvolle Stauferzeit, wie lebt ihr hier auf unter dem sichtbaren leibhaften Zeugen! Die Staufer haben keine Kirchen gebaut, die die Ehrfurcht hütet, höre ich ihnen vorwerfen. Dieses immer gebannte, den Bann verachtende, dem Bann erliegende Geschlecht baute nur Schlösser, die verfallen! Aber aus diesen verfallenden Schlössern tönt ein nie verhallender Trauergesang, den die Menschheit nicht aufhört mitzusingen, 696 denn Strahlenderes, als was da unterging, hat sie nie gesehen.

Jetzt aber heißt es aufbrechen, damit die Geisterstimmen uns nicht um die gesunde Vernunft raunen. Da steht noch so ein Entschlafener mit Mitra und Bischofsstab an der Pfeilerwand, sein edles trauriges Gesicht mit den niedergeschlagenen Augen ist tief geneigt, er sucht uns noch aufzuhalten, als hätte er etwas Besonderes zu sagen. Allein wir gehen vorüber, damit er uns nicht unverlangte Kunde bringt aus Reichen, die wir alle früher oder später ohne ihn kennenlernen.

Jetzt stehen wir wieder außen auf dem Domplatz von Bamberg, aber die Wallfahrt ist damit noch nicht zu Ende. Wir suchen im Straßengewirr, das unter uns liegt, die Sankt-Otto-Kirche, die unser Thole gebaut hat auf der Höhe seiner jugendlichen Manneskraft und seiner freudigen Siegesbahn. Wie sollen wir sie herausfinden? Da stößt meine Genossin, die gleichfalls geistersichtig ist, den mystischen Ruf aus: Da steht er! Sie hat in einem schlanken, hochragenden, einzelstehenden Turm mit schönem Helm und reichen Zieraten das Ebenbild des Erbauers gesehen. Denn als Sohn des Hauses, wo sie vordem schaffte, hat sie ihn wohl gekannt und ihn, wie alle, die ihm näherstanden, mit seiner Kraft und seinen Schwächen liebgehabt. Wir steigen also wieder ein und streben dem winkenden Riesenfinger entgegen. Mitten in einer höchst alltäglichen grundprosaischen Verkehrsstraße steht ein Bau, so jung, so eigensinnig, so ganz persönlich, wie er nur aus Tholes Phantasie entsprungen sein konnte. Schon der niedere gedrängte Vorbau mit den kurzen stumpfen Säulen, aus denen sich etwas Pflanzenartiges aufschwingt, wie um 697 die Last zu heben – es weht eine so seltsame Luft um ihn, ich weiß nicht, warum ich an eine Nillandschaft und an Pharaonen denken muß; aber wie ich nun den Kopf zurücklege, traue ich meinen Augen nicht. O verrückt, grundverrückt! – Hätte man mir davon erzählt, so würde ich's nicht geglaubt haben: Da steht der schöne Turm mit dem geschmückten Helm und dem blitzenden Halsgeschmeide, den schlanken reichen Fenstern. Aber sein Partner, was ist dem geschehen? Er hat dem großen Bruder nachgewollt, da hat die Hand des Baumeisters ihn gehemmt, hat ihm gleichfalls eine Haube aufgesetzt, und da steht er nun als Zwerg bei dem Riesen und darf nicht weiter. Ich glaube gern, daß alle Welt, die Kollegen voran, sich gegen den tollen Einfall verwahrten, er aber setzte den Kopf auf – Thole vuole! – und führte es durch, und es ist zum Lachen schön. Die zwei ungleichen Brüder sind ein übermütiger Dichtergedanke.

Innen ist der Erbauer erst recht wie persönlich zugegen. Er empfängt uns mit dem Dreiklang von Größe, Wucht und Grazie, die seinen besten Werken eignen. Der Raum ist klein, aber die Formen machen ihn groß. Nichts strebt hier ins Übersinnliche hinauf, alles ist reich, in sich erfüllt und beschlossen. So habe ich seinen Geist von je gekannt. Mit seiner gewohnten Ungeduld läßt er mir kaum Zeit zur Überschau, denn schon hat er mich am Arm und zieht mich hierhin und dorthin: Was sagst du zu meiner Decke? Gefällt sie dir? – Deine Decke ist schön. Ihre dunkle Wucht müßte drücken, wenn nicht die hellgeschmückten Balken an ihren ziervollen Bändern frei und schwebend darunter hinliefen. Deine Decke gleicht einem Gedicht in elegischem Maß: Bewegtheit in der Schwere.

698 Jetzt möchte ich mich in die Orgelempore vertiefen, aber schon fühle ich mich wieder anderswohin gezogen: Hast du dir die Beleuchtungskörper angesehen? Schwingen sie nicht wie geschmiedetes Spitzenwerk um den ganzen Raum? – Ja, Thole, du hast deinen ganzen Schmucksinn hineingelegt. Sie müssen wie ein Reigen fackeltragender Tänzerinnen sein, wenn sie brennen. – Während ich mich bei dem geschnitzten Gestühl verweile, führt er meine Begleiterin die Stufen zum Hochaltar hinauf, er will ihr etwas ganz Besonderes zeigen. Die Lisa spürt seine Gegenwart fast noch mehr als ich, sie nimmt ihr fast den Atem, hinter jeder Säule meint sie ihn stehen zu sehen, denn die Lisa ist ein Naturwesen, und solche wittern die Nähe der Geister. Fast laufend kommt sie zurück und holt mich in Eile. Sie hat das Allerschönste gesehen, das Gitter der Kapelle. Zart wie Spitzengewebe von Burano ist es geschmiedet und seine überreiche Ornamentik singt. In allen den unendlichen Verschlingungen wiederholt sich auf dem Kreuzungspunkt wie vielstimmiger Nonnengesang der Anruf: Ave Maria!

O Thole, jetzt weiß ich, warum dein südlicher Schönheitssinn so gern katholische Kirchen baute. Du hast größere, bedeutendere, berühmtere geschaffen als die Otto-Kirche, aber diese ist der Spiegel deiner Seele, und es ist ein hübscher Zufall, daß sie den gleichen Namen trägt wie du. Hier weht auch eine Luft, die mich irgendwie an den Geist unseres Hauses erinnert. Es ist wohl das Selbstwillige, das Andersmachen als die anderen bei strengstem Sinn für die Eigengesetzlichkeit der Dinge. Ich könnte mir denken, daß alle, die zu dem Geschlecht des Hermann Kurz und der Marie von 699 Brunnow gehören, sich hier nächtlicherweile ein freudiges Stelldichein gäben.

*

Unterdessen ist auch auf unserer rauhen Münchener Hochebene der späte Frühling eingezogen mit seinen grünen und bunten Prächten. Er hat die langen schweren Winternachtsträume, in denen noch einmal Menschenart ihr wirres Spiel trieb, mit allen Erinnerungsspuren hinausgefegt. Die freigewordene Seele möchte sich wie ein junger Flieger hinaufschrauben in das ausgespannte Ätherblau: Näher, mein Gott, zu dir!

Kaum daß ich die Worte denke, so braust von fern her der Sterbechoral der Titanic durch mein inneres Gehör und ich sehe das Riesenschiff mit den verzweifelten Menschenseelen mitten in dem ungeheuren Untergang, durch den sich doch aus Menschenwerkzeugen siegreich bis zuletzt die Töne inbrünstigen Vertrauens heben. Des Vertrauens zu dem Unbekannten, Unfaßbaren, dem wir alle angehören, gleichviel wie Menschen ihn töricht streitend benennen.

Das kann nicht nicht sein, was so wie ein Tau die versinkende Zeitlichkeit mit dem Ewigen verknüpft.

Näher zu dir! Du hast mich ausgeatmet, du wirst mich einatmen. Möchte dann mein letzter Atem rein geworden wie Atem der Kindheit in den deinigen zurückfließen.

 


 


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