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Ein Vermächtnis mit einem Brief als Vorwort.

Erinnern Sie sich, liebe Freundin, wie Sie vor Zeiten einmal mit dem Schreiber dieser Blätter das kleine Friedhöfchen von La Tour de Peilz am Genfer See besuchten? – Die ersten Vogelstimmen waren in der Luft, und die Bäume zeichneten ihr zartes Geästel noch laublos, aber schon mit verdickten, drängenden Knötchen wie mit abertausend Perlen in den tiefblauen Äther. Sie sprachen nur die zwei Worte: Heiliges Leben! Dann aber blickten Sie mich fragend an, weil ich vor einem namenlosen Grabstein mit befremdender Inschrift stehen blieb. Und Ihr alter Freund versprach, Ihnen von dem Schläfer zu erzählen, dessen Ruhe diese Grabschrift hütet. Ein Menschenalter verging, bevor er dazu die Muße fand. Jetzt, da er sich selber anschickt, in den dunklen Nachen zu steigen, sendet er Ihnen diese Blätter. Verfahren Sie damit nach Ihrem Ermessen: streichen Sie, kürzen Sie nach Bedarf, lassen Sie Jahre, Jahrzehnte vergehen, lassen Sie die ganze Welt sich wandeln; jener Tote hat Zeit zu warten. Nur einmal noch soll er im Glanz der Jugendtage wieder aufstehen, ehe die einst so verheißungsvollen Züge für immer verlöschen.

Kann sein, es lebt noch da und dort einer, der ihn gekannt und geliebt und dann verurteilt hat. Kann sein, es sind noch irgendwo Spuren seines Werkes erhalten. Dann findet er vielleicht spät noch das Verstehen und die Lossprechung, die dem Lebenden versagt waren.

Sein Freund und der Ihre
Ewers.    


Was waren das für goldene Tage, meine Tübinger Studententage. Denke ich daran zurück, so höre ich tausend Lerchen zwitschern!

Als Sohn deutscher Eltern in Amerika geboren, hatte ich schon ein Menschenleben hinter mir, als ich mit wenig mehr als zwanzig die kleine Universität am Neckar bezog. Denn ich war seit frühester Jugend auf eigenen Füßen gestanden, hatte als halbwüchsiger Junge in den Pampas kleinere Jungen unterrichtet, war dreizehnjährig in den Sezessionskrieg entlaufen, hatte mit den Indianern gelebt, war Zeitungsberichterstatter geworden, alles ohne noch jemals einen regelrechten Unterricht genossen zu haben. Da war dann plötzlich inmitten des tätigen Lebens mein deutsches Blut in mir erwacht, das nach gründlicheren Kenntnissen und einer wissenschaftlichen Ausbildung dürstete, und ich fuhr nach Europa, um mit einer kleinen Erbschaft, die mir zugefallen war, auf einer deutschen Hochschule durch Geschichte, Literatur und verwandte Fächer die Lücken meiner Weisheit zu stopfen.

In Tübingen fehlte es mir aber zunächst an einem passenden Umgang. Zwischen einem Menschen von meiner buntscheckigen Vergangenheit und den Familiensöhnen, die ganz warm aus dem engen häuslichen Nest auf die Hochschule kamen, war die Kluft zu groß. Ich ließ mir zuweilen einen der harttrabenden »Philistersgäule« satteln und ritt in den sonnigen Spätherbsttagen allein in die reizvolle Gegend hinaus. Im übrigen lebte ich still über meinen Büchern und fand mich inmitten des lauten Studententreibens einsam wie im Urwald.

Man spricht soviel vom Blitzstrahl der Liebe. Daß es auch einen Blitzstrahl der Freundschaft gibt, werden wenige verstehen, ich aber sollte es in jener Zeit erfahren.

Eines Morgens, als ich in einer der langen Alleen spazierenging, die in dreifacher Reihe dem Städtchen vorgelagert sind, begegnete ich einem jungen Mann von ungewöhnlich anziehender Erscheinung, der in Gang und Haltung etwas Soldatisches an sich hatte, womit ein seltsam abwesendes, verträumtes Auge im Widerspruch stand. Er war mir durch sein edles Äußere schon früher in den Straßen aufgefallen; auch zu Pferde hatte ich ihn mehrmals gesehen und bemerkt, daß er kein Sonntagsreiter war, sondern mit bequemer Selbstverständlichkeit im Sattel saß. Aber als er jetzt in dem raschelnden Kastanienlaub nahe an mir vorüberging und mich mit einem schnellen Blick streifte, da durchfuhr mich's: diesen oder keinen suchst du dir zum Freund. Ich nahm es für eine gute Vorbedeutung, daß ich ihn noch am selben Vormittag in einem Kolleg über ältere deutsche Literatur wiederfand. Er saß nur wenig von mir entfernt, und ich war die ganze Zeit über mehr mit ihm als mit dem Vortrag beschäftigt. Ich hätte es kaum in Worte fassen können, was mich so ganz eigen zu ihm hinzog. Aber alles an ihm fesselte mich: die Stirn, die unter dem dichten Haar mit edler Wölbung in den Schädel überging, die dunklen, über der Nase leise zusammentreffenden Augenbrauen, die Art, wie er den Kopf trug, lauter Äußerlichkeiten, die mir der Ausdruck für etwas waren, wofür ich noch keinen Namen hatte. Während die anderen mit vorgeneigten Köpfen emsig kritzelten, hielt er die Augen ruhig auf den Vortragenden geheftet und machte nur dann und wann eine rasche Aufzeichnung. Von da ab saßen wir fast einen Winter lang zweimal wöchentlich im gleichen Hörsaal beisammen, ohne je ein Wort zu tauschen. Mein Herz brannte danach, ihn anzureden, aber sein abgeschlossenes Wesen benahm mir den Mut. Und doch war ich sicher, daß auch er mich bemerkt hatte, denn bei jedem besonderen Anlaß begegneten sich unsere Augen. Ich will ihn Gustav Borck nennen, es ist der Name, den er sich später gewählt hat; warum ich seinen wirklichen Namen, dem ein »von« vorgesetzt war, nicht nenne, wird sich aus seiner Geschichte von selbst erklären. Außer dem Namen konnte ich nichts von ihm erkunden, als daß er Norddeutscher war, als Jurist immatrikuliert, und daß er ein Türmchen hart am Neckar bewohnte, worin ein Unsterblicher in vierzigjähriger geistiger Umnachtung gelebt hatte. Dort konnte man vom jenseitigen Flußufer aus zuweilen seinen dunklen Kopf am Fenster erkennen.

Was sich anzieht, muß sich endlich finden. Bei einem Festkommers zu Ehren eines scheidenden Lehrers ergab es sich, daß wir beide nebeneinander zu sitzen kamen. Ich stellte mich vor, wie ich's die andern tun sah:

Gestatten Sie – – mein Name ist Ewers.

Er erhob sich: Mein Name ist Borck.

Eine Verbeugung, dann setzten wir uns, aber durch die dürre Formel hindurch grüßten sich unsere Seelen.

Sie sind Amerikaner, ich weiß von Ihnen, sagte er verbindlich. Sie sind so glücklich, einem großen Gemeinwesen anzugehören und schon viel gesehen zu haben. Ich beneide Sie.

Die leise Bitterkeit dieser Worte war die Folge der unsäglich beengenden Verhältnisse des damals noch ungeeinten Deutschland. Ich aber fühlte mich dadurch gehoben, als ob man mir ein Adelsdiplom auf den Tisch gelegt hätte.

Jene Nacht wurde die Geburtsnacht einer Freundschaft, die durch eine Reihe von Jahren den stärksten Inhalt meines Lebens gebildet hat. Wir schlossen uns zusammen, wie wenn jeder dem andern bisher zu seinem Dasein gefehlt hätte. Ich bewunderte ihn als Vorbild altvererbter, veredelter Kultur, er sah in mir, wonach sein heftiges Verlangen stand: Freiheit und Weltweite.

Sie haben noch gar nichts gedacht, aber Sie haben gelebt, pflegte er mir unter den verschiedensten Formen immer wieder zu sagen. Ich, der nicht leben darf, wandere mit dem Geist durch Raum und Zeit; so geben wir zwei zur Not einen ganzen Menschen.

Gustav Borck stammte aus altpreußischem Militäradel, für den es sich von selbst verstand, daß der einzige Sohn einer töchterreichen Offiziersfamilie, deren Vorfahren die Schlachten Friedrichs mitgeschlagen hatten, in der Kriegsschule erzogen wurde. Allein dieser feurige und selbstherrliche Mensch war wie durch ein Versehen der Natur in seine steifleinene Umwelt hineingeboren; statt wie die Kameraden mit vollen Lungen den Kastengeist einzuatmen, behielt er auch in der Anstalt seinen eigenen Geist, mit dem er bei Vorgesetzten und Mitschülern anstieß. Zu Hause in den Ferien war es fast noch schlimmer, denn da herrschte dieselbe strengsoldatische Lebensauffassung, und er konnte sich weder mit den Eltern noch mit den Schwestern verstehen, die die Dienstordnung auswendig wußten und von nichts redeten als von Übungsplatz und Truppenschau. Sein Vater, ein Veteran aus den Schleswig-Holsteinschen Kämpfen, der mit einer Kugel im Bein, die er sich vor den Düppler Schanzen geholt hatte, und dem Oberstenrang verabschiedet war, erwartete im stillen Großes von diesem Sohne, behandelte ihn aber mit Strenge, um sein Freiheitsgefühl und die Neigung zu außermilitärischen Dingen in ihm niederzuhalten. Es half nichts, daß dieser in der Anstalt nicht bloß als begabtester Kopf, sondern auch als bester Reiter und Fechter galt; was sein Vater an ihm vermißte, konnte und wollte er sich nicht geben. Nur an seine frühesten Jugendjahre, die er bei einem mütterlichen Oheim in Paderborn zubrachte, dachte er mit Freude als an die einzig glückliche Zeit seines Lebens zurück. Der alte Herr war Justizbeamter, hatte aber so etwas wie ein Poetengemüt und widmete seine ganze freie Zeit der Erkundung und Sammlung vaterländischer Altertümer. Seine umfangreiche Bibliothek, worin der frühreife Knabe ungehindert wühlte, und die Stille der norddeutschen Ebene gaben seiner Phantasie eine überschwengliche Nahrung und förderten den Hang zum Grenzenlosen, der von Natur in ihm lag. So konnte er sich in einem Beruf, wo jeder Schritt von oben gelenkt und nirgends Raum für das Persönliche war, nicht anders als todunglücklich fühlen.

Da kam das Jahr Sechsundsechzig. Mit Jubel zog er von der Kriegsschule weg ins Feld, denn der Krieg bedeutete ihm Freiheit und Leben. Er fand bei der schweren Verwundung seines unmittelbaren Vorgesetzten die Gelegenheit, sich auszuzeichnen und kehrte mit den Achselstücken und der Aussicht auf eine rasche Laufbahn im Generalstab nach Hause. Jetzt war das Entzücken der Familie groß, aber nach zwei Jahren voll Zwiespalt und Pein machte er allem Wünschen und Hoffen ein jähes Ende, indem er den bunten Rock auszog, um zu studieren. Jener Mutterbruder, dem er die schönen Jahre seiner Kindheit verdankte, hatte bei dem Entschluß mitgewirkt. Damit wurde die Kluft zwischen ihm und seinem Elternhause unausfüllbar; die Mutter zog sich scheinbar noch weiter von ihm zurück als der Vater, sie schämte sich, dem Mann, den sie liebte, keinen Sohn nach seinem Herzen geboren zu haben. Mit solchem Riß im Leben lief Gustav Borck in den ersehnten Hafen der Hochschule ein. Nach Rat und Beispiel des Oheims wählte er die Jurisprudenz, der er denn auch mit Pflichtgefühl oblag, aber nur um jetzt am Ziel seiner Wünsche zu erkennen, daß ihn das Rechtswesen genau so öde anblickte wie das Soldatenspiel im Frieden. Nur an den brotlosen Nebenfächern, die er um so feuriger trieb, erlabte sich seine lechzende Seele. In die kleine Universitätsstadt am Neckar hatte ihn, wie so manchen Norddeutschen, der Ruf gezogen, daß dort wohlfeil zu leben sei, auch war einer der juristischen Lehrstühle glänzend besetzt; den Ausschlag mochte jedoch der Wunsch gegeben haben, so weit wie möglich von seiner Familie entfernt zu sein.

So kam es, daß Gustav Borcks Lebensweg sich auf diesem Kreuzungspunkt mit dem meinen treffen mußte, und von all den vielgestalten Begegnungen meines Lebens ist keine innerlich bedeutungsvoller für mich geworden als diese. Auf allen Gebieten des Geistes, die ich als tastender Neuling betrat, gehabte er sich wie ein König im angestammten Reiche. Gingen wir nach der Vorlesung noch eine Strecke zusammen, so vernahm ich aus seinem Munde manches Wort über den gleichen Gegenstand, das mir hundertmal mehr zu denken gab, als die Worte des Lehrers, und vieles hat sich damals meinem Gedächtnis eingeprägt, was ich erst in reiferen Tagen richtig verstehen konnte. Es schien mir dann immer, als hätte er einen Geheimschlüssel zu all den Dingen, vor deren Tür die andern im Dunkel tappten.

Eines Tages nach einem trockenen Shakespeare-Kolleg, das ich jedoch pflichtschuldig nachgeschrieben hatte, sollte ich plötzlich inne werden, was für ein Schlüssel das war.

O die Methode! die Methode! sagte er. Die Erbsünde der Deutschen! Mit was für Hebeln und Schrauben gehen sie dem armen Genius zu Leibe. Der aber macht sich schlank und schlüpft ihnen aus den Händen und läßt die ganze staunenswerte Gelehrsamkeit im Dunkeln suchen und raten, wie er zu Werke geht.

Wie geht er nach Ihrer Ansicht zu Werke? fragte ich, nach jedem seiner Worte begierig wie nach einem Goldkorn haschend.

Er lachte leise vor sich hin.

So ist's recht. Sie fragen wie ein Mohikaner, ohne alle Gelehrsamkeit, aber zum Zweck. Wie geht er zu Werke? Gar nicht geht er zu Werke. Er sucht nicht die Poesie, sie kommt zu ihm, er atmet sie ein und aus, er findet nur sie im Leben, weil er alles andere als leere Schale liegen läßt.

Aber auf welchem Wege kommt sie zu ihm?

Durchs Ohr.

Durchs Ohr?

Jawohl, durch das offene Ohr, in das alles Lebende seine Beichte flüstert. Warum sind Goethe, Shakespeare, Dante so groß, als weil sie die größten Beichtväter des Menschengeschlechtes waren? Und keiner ist berechtigt, sich einen Dichter zu nennen, dem es nichts von seinen geheimsten Heimlichkeiten anvertrauen mag. Es sind ausgeplauderte Beichtgeheimnisse, womit uns Shakespeare oft so jählings bis ins Mark erschüttert.

Meinte nicht der trockene Herr auf dem Katheder etwas ähnliches, als er von des Dichters Lebenskenntnis und Beobachtung sprach?

Lebenskenntnis! Beobachtung! rief er empört, als wäre er persönlich beleidigt. Ist denn der Dichter ein Detektiv? Was sollte er mit der Beobachtung? Nichts, was das Leben liefert, kann die Dichtung, so wie es ist, gebrauchen, und doch sind alle ihre Gebilde schon irgendwo auf Menschenbeinen gegangen. Verstehen Sie, lieber Unkas, wie ich es meine?

»Unkas« nannte er mich nach dem »Letzten Mohikaner« aus dem »Lederstrumpf«, wenn er mir besonders wohlwollte.

Ich mußte bekennen, daß ich ihn ganz und gar nicht verstand, es schien mir vielmehr, als ob er sich geradezu widerspreche.

Der Stoff, den der Dichter zu kneten bekommen hat, sagte er mit Nachdruck, mehr und mehr in Feuer geratend, ist immer nur er selbst. Wohl findet er auch in seiner Umwelt die lebendigen Ansätze zu seinen Charaktergebilden, und wo ihm ein solcher begegnet, da schießen ihm gleich die verwandten Züge von allen Seiten zu. Aber den zeugenden Urstoff, in dem sie sich zur unlöslichen, naturgewollten Einheit zusammenfinden, den Lebensfunken, der sie erst stehen und gehen macht, holt er aus dem eigenen Innern. Denn in sich hat er das Zeug zu allen Charakteren und Leidenschaften, er umspannt mit seiner Natur die ganze Stufenleiter der Menschheit und reicht von der einen Seite bis an den Heiligen, mit der andern an den Verbrecher. Diese Fähigkeiten aber, die ihm nicht des Handelns wegen gegeben sind, ruhen zunächst unbewußt und untätig in ihm; sie wollen erst aufgeregt und befruchtet sein. Dafür ist nun das Leben da. Es berührt ihn mit irgendeiner Erfahrung, einem inneren Erlebnis, das vielleicht für einen anderen gar keines wäre, denn was ein rechter Poet ist, der erlebt fort und fort, von außen und von innen. Solch ein Erlebnis, sei es ein Vorgang oder vielleicht nur ein Wort, eine erhaschte Gebärde, irgendein Laut aus den Tiefen der Menschenbrust, ein Blick, der stärker getroffen hat, springt wie ein Keim in seine Seele. Da bleibt er unbewußt liegen, aber er ruht nicht, er verwandelt sich ganz leise und unbemerkt, er ist in Bälde nicht mehr, was er ursprünglich gewesen. Er wächst immer weiter, indem er verwandte Stoffe des Innern an sich zieht. Von diesen formlosen, aber innerlich befruchteten Zellengebilden ist des Dichters Seele ganz voll, sie tauchen beständig in ihm auf und nieder, er greift hinein, wenn er ihrer bedarf. Sie sind gleichsam der Urnebel, aus dem er seine Gestalten formt. So meinte ich das. Habe ich mich jetzt verständlich gemacht?

Ich nickte, um ihm nur nicht ganz als Böotier zu erscheinen. Aber tatsächlich schwankte mir das Hirn. Ich raffte alle meine Geisteskräfte zusammen, um zu der naheliegenden Frage zu kommen: Woher wissen Sie denn, wie dem Dichter zumute ist?

Weil ich auch einer bin.

Ich sah ihn mit scheuem Staunen von der Seite an. Alle Arten von Menschen hatte ich schon gesehen, Kaufleute und Soldaten, Richter, Geistliche und Zeitungsschreiber, einen Dichter niemals. Aber augenblicklich stand es in mir fest: Ja, er ist einer, so muß ein Dichter aussehen.

Gustav aber lachte plötzlich laut und bitter auf und schlug sich mit der Faust auf den Mund.

Ich ein Dichter? – Ein Bruder Langohr bin ich, der seinen Sack zur Mühle trägt wie die anderen auch. Vergessen Sie, was ich Ihnen da vorgeschwatzt habe. Wer darf überhaupt von solchen höchsten Dingen reden? Es geht alles irre, ist alles nur Gestammel und Widerspruch.

Wenn ich meinem neuen Freund auch nicht immer auf seinen Denkwegen folgen konnte, so danke ich es doch ihm, daß ich nicht wie tausend andere mit einem Ranzen voll fertiger Begriffe, woran sich hernach nichts mehr ändern läßt, von der Hochschule gekommen bin. Denn nie ließ er mich ungestört die bequeme Straße einschlagen, auf der die Mehrzahl der studierenden Jugend hinter den Worten des Meisters herwandelte, immer wies er auf irgendeinen abseitigen Fußpfad, der nach einem einsamen Aussichtspunkt führte.

Allmählich fand sich ein kleiner Kreis von jungen Leuten zusammen, die alle in der gleichen Gedankenwelt lebten. Wir trafen uns des Abends in dem beliebten Studentenkaffeehaus Molfetta. Ein kleines Seitengelaß, nicht größer als ein Alkoven, hart neben der Anrichte, wo die Schwester des Wirts, eine schöne blasse Südtirolerin, den Kaffee braute, das köstlich duftende Getränk von Mokka, Portoriko und gebranntem Zucker, für das sie eben so berühmt war wie für ihre dunklen, schwermütigen Augen, war der Schauplatz unserer Zusammenkünfte. Dieser bescheidene Raum hörte damals manchen anregenden Gedanken, manches ungewöhnliche Wort, das man gern in sein späteres Leben hinübergenommen hätte, zum Genuß des Augenblicks verrauschen. Denn dort saßen wir die halbe Nacht hindurch, fünf, sechs junge Gesellen mit Gustav Borck als unserem König.

Wenn ich an die Tafelrunde bei Molfetta zurückdenke, so drängen sich vor allem drei blonde, echt germanische Häupter in meine Erinnerung. Da war ein großer, hagerer Rheinländer mit bleichem Gesicht und starken Backenknochen, der einen verkürzten Arm hatte, Kuno Schütte, der nachmalige bekannte Theosoph. Er war schon damals ein Sonderling, der es liebte, nie genau wissen zu lassen, was er tat, und sich einen Anschein von Allgegenwart zu geben, indem er immer auftauchte, wo man ihn nicht erwartete. Er hatte denselben unwiderstehlichen Zug zu Gustavs Wesen wie ich, legte ihn aber auf seine eigene mystische Weise aus, indem er sich einbildete, ihm irgendwann in abgelebten Zeiten nahegestanden zu haben. Da war der stämmige, blatternarbige Heinrich Sommer, Preuße von Geburt und ehemaliger Theologe, der sich lange mit religiösen Zweifeln gequält hatte und noch in hohen Semestern zur Medizin übergegangen war, um später ein namhafter Chirurg zu werden. Da war endlich unser Benjamin, der rührend jugendliche und schöne Olaf Hansen, ein Landeskind, aber von schwedischen Ureltern stammend. Die übrigen waren mehr oder weniger Strohmänner, stumme Personen, und gehörten nicht zum festen Bestand unseres Kreises. Wir Fünfe aber hingen fest zusammen, durch Gustavs Überlegenheit wie mit einem gemeinsamen Stempel geprägt. Nach Studentenbrauch standen wir alle bald auf Du; nur Gustav Borck blieb außer der Vertraulichkeit und immer von einem letzten Rätsel wie von einer geheimnisvollen Wolke umgeben. Er beherrschte das Gespräch, auch wenn er schwieg, was oft halbe Abende lang der Fall war; er wirkte dann durch seine bloße Gegenwart geistig ein. Kam es zu Redekämpfen, so gab sein Wort den Ausschlag, und dabei fiel mir auf, daß er selten etwas ganz Außerordentliches, sondern meist nur das scheinbar Naheliegende sagte, das wir anderen übersehen hatten. War es ausgesprochen, so verstand es sich von selbst. Einzig Olaf Hansen traf zuweilen den Nagel noch besser auf den Kopf, aber bei ihm klang es, wie wenn ein Kind etwas Tiefsinniges sagt, dessen Tragweite ihm selber verborgen ist.

Am glücklichsten war ich, wenn Borck ein Buch aus der Tasche zog und aus Shakespeare oder Kleist vorlas. Er besaß zwar nicht die Gabe, von einer Rolle in die andere zu schlüpfen und dem Dichterwort mit der Stimme Körper und Farbe zu geben, dafür war sein nordisches Wesen zu spröde, aber er lebte dann so ganz in der Dichtung, daß keine Schönheit ungefühlt vorüberging, und der Raum füllte sich mit übermenschlichen Gestalten. Mitunter las er auch Gedichte vor, in derselben gleichmäßig gehobenen Tonart, und verlangte unser Urteil zu hören. Wir ahnten, daß es die seinigen waren, und da wir alle unter seinem Banne standen, so fanden wir die Gedichte wundervoll und lobten sie über die Maßen. Nur Olaf sagte gelegentlich in seiner einfachen Art, daß ihn dies oder jenes nicht befriedige, doch ohne sein Urteil begründen zu können. Dann zerriß Borck das Blatt auf der Stelle. Ich glaubte, es geschehe aus Ärger, und machte ihm einmal Vorwürfe darüber, wobei mir die Bemerkung entfuhr, daß Olaf doch zu jung sei, um mit seiner Meinung ernst genommen zu werden.

Die Jahre tun nichts zur Sache, antwortete Gustav abweisend.

Auch Olaf machte Verse, die er uns dann und wann vortrug. Er sagte sie mit leiser, etwas zitternder Stimme ganz kunstlos her, wobei er die Augen schloß und sehr bleich wurde. Es klang nur, wie wenn ein Bächlein über Kiesel murmelt. Ich wunderte mich, daß Gustav Borck mit wahrer Andacht zuhörte, denn für uns andere war es nur ein Gestammel.

Die Verse des guten Jungen sind aber doch gar zu kindlich, äußerte ich einmal gegen ihn, da sah er mich seltsam an und erwiderte: Gott ist mehr im Säuseln der Blätter als im Heulen des Sturmes. Lassen Sie mir Olafs Verse ungerupft.

Wenn wir anderen auch mit Olafs Gedichten nicht viel anzufangen wußten, für die lebendige Poesie seiner Gegenwart hatten wir alle eine Empfindung. Wenn er hereintrat, so war's, als würde ein Veilchenstrauß auf den Tisch gestellt. Junge Mädchen, auch die lieblichsten und unschuldigsten, schienen im Vergleich zu ihm irdischer und minder rein. Von der Welt wußte er so gut wie nichts und mißtraute niemand. Er sah aus, als ob er die Sprache der Tiere verstünde und mit den Naturkräften auf du und du sei. Er hatte kein eigentliches Fachstudium, sondern hörte nur wenige Kollegien, die ihn besonders anzogen, aber er las viel, um die Mängel seiner Vorbildung auszugleichen, weil er durch Kränklichkeit am regelrechten Schulbesuch verhindert worden war. Zukunftspläne machte er auch keine, und er glich einer Pflanze, die nur zum Blühen, nicht zum Früchtetragen bestimmt ist. Es war ein offenes Geheimnis, daß er mit schwärmerischer Verehrung an der blassen Adele hing, die ihrerseits nur Augen hatte für Gustav Borck. Wenn sie mit der Bedienung der Korpsstudenten, die im großen Saale über uns ihren Stammsitz hatten, fertig war, kam sie herunter und setzte sich zu uns an den Tisch, um Gustav vorlesen zu hören.

Er nahm aber ihr Wohlgefallen kalt auf, und als ich ihn einmal damit neckte, sagte er obenhin:

Es gilt ja doch alles bloß der Montur (womit er seine stolze männliche Erscheinung meinte), für das Beste in uns haben die Mädchen keine Fühlhörner.

Überhaupt gefiel er mir in Frauengesellschaft am wenigsten. Ohne irgend frech zu sein, lag doch in seiner Stellung zum weiblichen Geschlecht so etwas wie eine leise Mißachtung.

Olaf Hansen sah dies auch, und es kränkte ihn für die mit Andacht Geliebte, weshalb er Gustav lange Zeit mit Zurückhaltung begegnete. Auch mochte das straffere, zielbewußte, norddeutsche Wesen den harmlos vor sich Hinlebenden befremden. Er war der einzige, der sich, freilich in der sanftesten Weise, seiner Herrschaft entzog. Dagegen beugte sich jener stolze Geist vor Olafs Kinderseele, und seltsam war es, daß, während wir anderen Olaf liebten und hegten, Gustav aber bewunderten, dieser der zarten, verletzlichen Menschenblume eine Art von Ehrfurcht entgegenbrachte. Die mißverstandenen Griechen, sagte er einmal, wußten wohl, warum sie im Jüngling, nicht in der Jungfrau, die aufgebrochene Blüte der Menschheit verehrten. Das Mädchen ist das unfertige, der Jüngling das vollendete Gebild. Seine Unschuld ist nicht Naturzustand wie die ihre, dumpf und pflanzenhaft, sie ist ein Zustand der Gnade, sehend, allumfassend wie das Sonnenlicht; in ihr spiegeln sich die ewigen Dinge.

Und später, setzte er wegwerfend hinzu, glaubt der Mann fortzuschreiten, weil er die vergänglichen besser sieht.

Eines Abends gesellte sich ein Durchreisender zu uns, der durch einen von der Gesellschaft eingeführt war. Er gehörte nicht zu den akademischen Kreisen, hatte aber dafür ein Stück Welt gesehen und betrug sich vorlaut und taktlos. Als es gegen Mitternacht ging und er schon mehrere Gläser Likör geleert hatte, begann er sich in Zweideutigkeiten zu gefallen, die Fräulein Adele veranlaßten, sich unauffällig in ihren Anrichtwinkel zurückzuziehen. Trotz der kalten Aufnahme, die er fand, und trotz der ablenkenden Zwischenreden des Verwandten, der ihn mitgebracht hatte, blieb der Eindringling in der angeschlagenen Tonart und begann gewisse Histörchen zu erzählen, die er für witzig hielt, die aber nur gemein waren.

Sei's, daß uns der Kopf schon schwer war vom genossenen Punsch, sei's, daß die Ödigkeit seines Sprechens sich lähmend auf uns legte, wir saßen angewidert aber stumm und fanden nicht den richtigen Augenblick, ihm das Wort zu entziehen; er brachte auch nichts geradezu Grobunanständiges vor, es war nur wie leises Einsickern von schmutzigem Wasser und dazu noch ganz unsäglich albern. Olaf legte den Kopf gegen die Stuhllehne und schloß die Augen, als ob ihm körperlich übel würde.

Da erhob sich Borck, der bisher mit verächtlich zuckenden Mundwinkeln gesessen hatte, und bewegte sich nach dem unteren Tischende. Ich glaubte, er wolle seinen Hut vom Nagel nehmen, um fortzugehen, aber er packte den Eindringling am Kragen, schüttelte ihn mit einer Kraft, die niemand hinter seiner schlanken Gestalt gesucht hätte, und stieß ihm den Kopf auf die Tischplatte, riß ihn dann wieder in die Höhe, drückte ihn abermals auf den Tisch, und so sechs- bis siebenmal in regelmäßigen Absätzen, daß es dröhnte und dem Gemaßregelten Hören und Sehen verging. Dann kehrte er gelassen an seinen Platz zurück, als wäre nichts geschehen. Niemand sagte ein Wort zu dem seltsamen Auftritt, auch nicht der Gezüchtigte selbst, der eine Zeitlang ganz benommen saß, mit blöden Augen vor sich hinglotzte und sich dann taumelnd entfernte.

Wir waren noch alle stumm nach diesem unerwarteten Strafgericht, als Olaf sein Kelchglas erhob und feierlich sagte:

Auf Ihr Wohl, Borck!

Da sprangen alle auf die Füße und stießen mit an, auch jener Mitgast, der den Unhold eingeführt hatte und sich jetzt seines Schützlings schämte.

Als wir aufbrachen, glitt Adele wie eine Lazerte herbei und sagte, indem sie dem Helden des Abends den Hut reichte:

Das haben Sie großartig gemacht, Herr von Borck. Ich werde es nie vergessen, wie Sie den garstigen Menschen packten. Und ich muß Ihnen sehr, sehr danken.

Zum Danken liegt kein Grund vor, antwortete er kühl. Glauben Sie denn, ich möchte selber im Schmutzwasser baden? Ganz zerknickt schlich die Ärmste an ihren Anrichttisch zurück und hob die Augen nicht mehr auf, aus denen langsam zwei große Tränen herabrollten.

*

Studententage! Fülle des Daseins, wie ich sie nirgends wiedergefunden habe. Äußerlich fast unbewegt, aber mit geheimnisvollen Schätzen in der Tiefe, wie ein glatter Seespiegel über kristallenen Wunderpalästen. Alles war unser im Diesseits und Jenseits, wohin wir mit unseren Gedanken reichen konnten; Homer und Goethe, Platon und Schopenhauer, Kunst, Liebe, Unsterblichkeit. Durch Gustavs Nähe besaßen wir das alles. Mit seiner übermächtigen Phantasie zog er wie die thessalischen Zauberer Mond und Sterne zu sich herunter und hängte sie als Tafelbeleuchtung auf, daß wir oft nicht mehr wußten, in welcher Welt wir waren.

Vom Genius der Völker sprach er gern, und wie das eine sich vom anderen unterscheide. Wenn ich mich wunderte, woher er all diese Kenntnis eines Weitgereisten brachte, so lachte er mich aus:

Im kleinsten Teil ist das Ganze enthalten. Zeigt einem Künstler eine Hand, einen Fuß, er erkennt daraus die ganze Gestalt. Gebt mir ein einziges Dichterwerk eines Volkes, so weiß ich dieses Volkes Wesen und Wollen.

Frankreich lobte er, aber er liebte es nicht. Es war ihm das Land der großen Schriftsteller und der kleinen Dichter. Sein Schrifttum verglich er einem breiten, künstlich angelegten Berieselungsfeld, wo bei äußerster Ausnützung mäßiger Naturmittel eine reiche Ernte erzielt wird. Das war die Einleitung zu Anklagen feuriger Liebe gegen das eigene Volk.

Deutschland, du ewig morgiges, sagte er, du Widerspruch der Natur, Kind des Überflusses und der Not, das seine Fülle nicht beherrschen kann, die ihm immer überströmt, zerrinnt, daß es mit leeren Händen steht, und o Schmach! bei den ärmeren Nachbarn borgen geht.

Bei solchen Worten erhob sich dann wohl ein Sturm des Widerspruchs, aber er ließ sich nicht irremachen.

Welch ein Edelgut liegt verschüttet in unserem Boden: Kleist, Hebbel, Grabbe, Hölderlin! Wer nennt ihre Namen draußen in der Welt, und wer kennt sie bis heute im Vaterland! Und noch immer wächst die Zahl der Unverstandenen. Was wird das für ein Augenblick sein, wenn sie einmal alle aufstehen zur Geisterschlacht, ein Heer von lauter Feldherrn, um zusammen die Welt zu erobern.

Mit Kuno Schütte und Olaf Hansen begegnete er sich in dem Wunschtraum von einer kommenden Weltherrschaft des germanischen Geistes, der ohne Unterdrückung, ohne weltliche Macht alle anderen als ein großes Band der Einheit umschlingen sollte. Keine Erinnerung an die gemeine Wirklichkeit des Völkerlebens hemmte den Flug dieser Geister, von Weltbegebenheiten war nie die Rede; um die Luft rein zu erhalten, las man nur selten eine Tageszeitung, man lebte, dachte, sprach, als ob es gar keine Staatsgebilde gäbe, die eifersüchtig sind und wachsen wollen. Kein Schaumwein konnte erregender sein als Gustav Borck, wenn er einmal überfloß. Er war imstande, sich Abende lang mit Kuno Schütte, dem Eddabeflissenen, in Stabreimen zu unterhalten; es klang schaurig und geheimnisvoll wie dunkle Weissagungen einer nahenden Weltwende. Auch Olaf Hansen warf gelegentlich einen Spruch dazwischen, der noch ahnungsvoller und ureigener war, wie ein verwehter Ton aus unbekannten Reichen. Wir anderen konnten nur zuhören und staunen. Die dunkeläugige Adele saß, den Kopf in beide Hände gelegt, mit am Tisch und horchte andachtsvoll.

Andere Abende gab es, wo nur von Selbsterlebtem geredet werden durfte, das irgend den Stempel des Besonderen trug. Kuno Schütte erzählte seine Geistergeschichten, an die er damals selber noch nicht völlig glaubte. Heinrich Sommer gab schaurig-schnurrige Anekdoten aus dem Seziersaal zum besten, Gustav spornte die anderen, doch er selber schwieg.

Unser rührender Olaf wollte zuweilen auch etwas erzählen, aber er stotterte, verwirrte sich und blieb stecken. Er wußte zwar, bevor er zu reden anfing, immer ganz genau, was er sagen wollte, aber sobald er damit vor die Menschen treten sollte, verstand er sich selbst nicht mehr. Wir deckten immer einmütig sein Mißlingen mit unserem Beifall zu.

An solchen Abenden war ich's, der den Vogel abschoß. Meine Tage bei den Indianern gaben allein schon einen unerschöpflichen Stoff. Da war unter anderem die Fest- und Friedensrede des großen Häuptlings, genannt »der fliegende Tod«, über den Unterschied zwischen dem roten und dem weißen Manne, die ich ihn selber hatte halten hören, als er inmitten befrackter Gäste in seiner Stammestracht dasaß, von oben bis unten mit Skalpen behängt, die auf den ersten Blick wie unschuldiges Pelzwerk aussahen. Diese Rede mit ihrem ungesuchten Bilderreichtum, voll natürlichen Adels und stellenweise von blumenhafter Anmut entzückte unseren Gustav so, daß ich sie für ihn niederschreiben mußte.

Glückliche Amerikaner, seufzte er voller Neid, ihr lebt die Poesie, wir anderen schreiben sie. Überall flutet euch das Leben frei wie eure großen Ströme. Heute Kaufmann, morgen Soldat, übermorgen Schulmeister, ihr taugt zu jedem Beruf, weil ihr euch keinem verschreibt, ihr kommt nicht als Angestellte zur Welt, sondern als Menschen.

In solchen Augenblicken konnte ich glauben, ihm innerlich ganz nahe zu sein, ich sollte ihn aber bald auch von einer völlig anderen Seite kennenlernen.

Am Ostersonntag war ich frühmorgens nach einem Ort im Schönbuch geritten, dessen Name mir entfallen ist, hatte mein Pferd im Wirtshaus eingestellt und war dann in den Wald hinausgewandert, wo schon die Knospen schwollen und zwischen den Pfützen des gehenden Schnees das erste Grün hervorsah. Auf einer Waldblöße sollte ich des Försters Töchterlein erwarten, ein keckes Blut, das bei den Studenten »das schwarzbraune Mädchen« hieß und das ich vom Eislauf her kannte. Da es aber noch früh war und die Kirche nicht zu Ende sein konnte, stieg ich seelenruhig – denn mein Herz war nur mäßig beteiligt, weil ich wußte, daß ich nicht der einzige war, der ihr gefiel – in den höheren Wald hinauf, wo die dünne Kruste noch harsch war. Da sah ich abseits vom Wege Gustav Borck auf einem Baumstamm sitzen, wie er ganz versonnen mit dem Stock allerlei Runen in den Schnee zeichnete. Er ließ mich herankommen, ohne den Kopf zu erheben; als ich ihn aber anrief und in unschuldiger Freude über die unerwartete Begegnung mich nähern wollte, fuhr er wütend auf:

Wer sind Sie? Was wollen Sie? Gibt es keinen anderen Platz im Wald, wo Sie sich niedersetzen können?

Ganz verdutzt rief ich ihn mit Namen und nannte ihm meinen eigenen, aber er sprang auf, sah mich mit völlig fremden Augen an, die wie aus Weltenferne herausblickten und sagte:

Wer gibt Ihnen das Recht, mich anzureden?

Er ist wahnsinnig, Gustav Borck ist wahnsinnig geworden, sagte ich voll Entsetzen zu mir selber und trat langsam, unschlüssig zurück. Da rief er wild:

Bleiben Sie meinetwegen, ich trete Ihnen den Platz ab, – raffte ein Heft an sich, das neben ihm lag, und stürmte mit langen Schritten davon.

Ich blieb wie versteinert stehen, die würzige Morgenluft, die schwellenden Knospen, das schwarzbraune Mädchen, alles ward zunichte vor dem einen Gedanken: Gustav Borck ist wahnsinnig geworden! In die Stadt zurückgekehrt, war es mein erstes, Heinrich Sommer aufzusuchen und ihm den Vorfall mitzuteilen. Aber der Mediziner lachte mich aus.

Nicht geisteskrank ist er, sagte er grimmig, sondern der Hochmutsteufel reitet ihn. Glaubst du denn, er habe dich nicht erkannt? Wie oft ist er an mir vorbeigegangen, als ob ich Luft wäre, auch wenn wir noch den Abend zuvor beisammen saßen. Verwöhnt haben wir ihn, das ist seine ganze Krankheit, und nun läßt er sich in jeder Laune gegen die Freunde gehen.

Zwischen Borck und Sommer hatte nie ein rechtes gegenseitiges Verständnis geherrscht, deshalb überzeugten mich seine Worte nicht. Unser kleiner Kreis war der Ferien wegen auseinandergeflogen, nur Olaf und Kuno fanden sich noch des Abends am gewohnten Platze ein, Borck blieb schon seit geraumer Zeit aus, und Adele bekannte uns jetzt, daß sie lange vor uns die Anzeichen einer wachsenden Gemütsveränderung an ihm wahrgenommen habe. Sein Blick sei oft so fremd und gestört gewesen, als ob er etwas Verlorenes suche, und man habe ihm deutlich angesehen, daß er nur mit dem Körper in unsrer Mitte sei. Um ihr gefällig zu sein, zog Olaf bei Gustavs Hauswirtin, einer treubesorgten Studentenmutter, die mit Begeisterung an ihrem schönen Mietsherrn hing, Erkundigungen ein, und diese erzählte, daß es allerdings mit Herrn v. Borck seit längerer Zeit nicht richtig sei, man höre ihn Nächte lang im Zimmer umherfahren, laut und heftig mit sich selber reden, daß es ganz schaurig durch die Zimmer töne, auch sei jeden Morgen die Lampe bis auf den Grund niedergebrannt. Die Tage verbringe er bei geschlossener Tür und wolle nicht an die Essensstunde erinnert sein; man dürfe überhaupt nicht mit ihm sprechen, und beim leisesten Geräusch gerate er außer sich. Er habe ja schon öfter solche Zustände gehabt, aber so schlimm wie diesmal sei es noch nie gewesen, man könne nichts tun, als ihn ganz sich selber überlassen, bis die Aufregung sich lege.

So machte denn auch niemand einen Versuch, über die Schwelle des Einsamen zu dringen, aber ich pendelte manche Nacht in der Platanenallee auf und ab, um zu seinen Fenstern hinaufzuspähen, die zu jeder Stunde erleuchtet waren und wo ab und zu ein Schatten unruhig vorüberfuhr. Einmal sah ich auch in später Nachmitternachtsstunde eine weibliche Gestalt am Flußufer stehen und nach dem erhellten Turmzimmer hinaufschauen. Bei meinem Näherkommen glitt sie wie ein Schemen hinweg, ich erkannte Adele.

Nun stehe ich eines Tages ganz vertieft vor der Auslage einer Buchhandlung, als sich von hinten leise eine Hand in die meine schiebt und ich mich beim Umdrehen dem alten Gustav Borck gegenüber sehe, der mir ernst und freundlich in die Augen blickt.

Was müssen Sie neulich von mir gedacht haben! fing er an. Aber wenn Sie wüßten, welchen Einsturz Ihre unvermutete Anrede in mir bewirkte, so würde Ihnen gewiß mein Betragen in milderem Lichte erscheinen.

Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: ich hatte ihn in einer Stunde der Empfängnis gestört, und alles, was wir für Anzeichen von Geistesverwirrung hielten, die Abkehr von den Freunden, die langen Nachtwachen, das Sprechen mit sich selber, das waren die Geburtswehen des Dichters. In meiner Unschuld war es mir noch nie eingefallen, daß die Kunstwerke mit Schmerzen geboren werden, und ich kam mir selber ganz wunderlich vor, als ich jetzt aus Gustavs Munde vernahm, wie es einem Schaffenden zumute ist.

Er sagte mit gerunzelter Stirne: Sie sehen in mir einen von der gequälten Menschengattung, die einen Despoten mit sich durchs Leben trägt, – ich weiß nicht, darf ich ihn meinen Genius oder muß ich ihn meinen Dämon nennen. Ich weiß nur, daß er mich hat, daß ich nicht frei bin wie ihr andern und daß ich doch meine Sklaverei nicht für alles Glück der Erde hergeben möchte. Er bestimmt gebieterisch jeden meiner Schritte. Zum Leben läßt er mir keinen Raum, wie ich auch danach dürste; die schönste Gegenwart zerrinnt mir ungenossen, weil er mich zwingt, fort und fort in die quirlende Urmasse hineinzuhorchen, aus der meine ungeborenen Geschöpfe sich mir mit halbem Leibe entgegenrecken. Wie kann ich ein gleichmäßig gestimmter guter Kamerad sein, wenn ich mich heute als ein Halbgott, morgen als ein Wurm empfinde, je nachdem der Despot mich ansieht und meine Träume ausfallen! Ich fühle es selber am besten, wie beschwerlich oft mein Wesen den anderen sein muß. Ich bin ja keiner von den Glücklichen, denen es leicht wird. Meine Wehen sind schwer und schmerzhaft. Wenn ich es gar nicht mehr aushalte, dann renne ich hinaus in die Wälder, denn die inneren Stimmen werden vernehmlicher, wenn keine äußeren dazwischentönen. Wer mich da stört, wer mich da anrührt, der ist mir in diesem Augenblick der ärgste Feind, und wenn er mein Bruder oder meine Geliebte wäre. Ich weiß dann gar nicht, wen ich vor mir habe, denn ich bin ja nicht der Mann, den Sie kennen, Gustav Borck, ich bin die Traumgeburt, die mich gerade beschäftigt.

Dafür leben Sie das Menschenleben hundertfach, sagte ich, und lassen in guten Stunden Ihre Freunde daran teilnehmen. Wer möchte so kleinlich sein, mit Ihnen um Äußerlichkeiten zu rechten? Ich habe kein Talent als das zur Freundschaft, lassen Sie mich es ausüben in guten und bösen Stunden.

Oh, Sie kennen mich noch nicht ganz. Diese Äußerlichkeiten sind das geringste. Wenn Sie in mein Inneres blicken könnten, so würden Sie mit Entsetzen sehen, wie nutzlos Sie Ihre schöne Freundschaft verschwenden. In den Augenblicken, wo ich am meisten ich selber bin, d. h. wo Er mich ganz hat – denn ich bin nur, was ich sein soll, wenn ich mich völlig an ihn verliere –, da gibt es für mich gar keine menschlichen Bande. Ich würde alles, was andern heilig ist, Freunde, Eltern, Geliebte, Vaterland, unbedenklich dem Fürchterlichen opfern. Ich sähe mit Freuden meine Liebsten im Sarge liegen, wenn der Schmerz um sie mich meinem Ziel nur um eine Stufe näher brächte. Ich bin ein Unmensch, ich weiß es selber, und wenn Sie mir nach diesem Geständnis Ihre Freundschaft entziehen wollen, so darf ich Sie nicht tadeln. Aber glauben Sie mir, daß keiner in der Kunst etwas Großes erreichen wird, der nicht von dieser tödlichen Leidenschaft für sie besessen ist.

Du Märtyrer, dachte ich zwischen Bewunderung und Grauen. Aber wenn mir auch bei seinen Worten ein Kartenhaus zusammenbrach, wie hätte ich ihm dafür gram sein können! Was wäre das für eine armselige Freundschaft, die täglich wie ein Kaufmann ihr Soll und Haben buchen wollte! Ja, und auch so wären wir noch immer als die Gewinnenden erfunden worden. Von ihm ging ja aller Reichtum aus, womit wir anderen unser Schatzkästlein füllten.

Ich bin kein Freund von großen Worten, sagte ich, aber ich glaube an Sie, wenn ich auch noch keine Zeile von Ihnen gelesen habe: ich bin gewiß, wenn ein Geist, wie der Ihre, der Welt etwas geben will, so kann es nur das Außerordentliche sein.

Wir saßen in Gustavs Zimmer auf dem durchgedrückten Kanapee, das schon dem irren Dichter zur Benützung gedient hatte, und es ergriff mich mit einem Schauer, daß in diesem Raum ein Großer in die Nacht hinabgestiegen war und vielleicht jetzt eben ein anderer Großer hier seinen einsamen Gang zur Höhe antreten sollte. Ob nicht an den Wänden oder an der rauchgeschwärzten Decke vielleicht noch etwas Geistiges haftete, das nach einem neuen Sinneswerkzeug verlangte, um zu den Menschen zu reden?

Ich selber habe schon mitunter Ähnliches gedacht, besonders zur Nachtzeit, wenn es mir plötzlich wie verwehte Rhythmen in die Ohren tönt, entgegnete der Freund auf meine Bemerkung hin. Am tiefsten empfand es Olaf, als er zum erstenmal hier eintrat: Hier also wohnte der Eine, der mit nichts Irdischem verwandt war; und er wohnt noch immer hier! sagte er mit einer Miene und einem Ton, die ich nie vergesse. Und hernach konnte er kein weiteres Wort mehr in dem Raume sprechen.

Warum sind Sie so unmitteilsam, fragte ich nach einer längeren Stille.

Ach, lieber Harry, sagte er, bei der Erziehung büßen wir alle ein Stück unseres natürlichen Wesens ein. In meinem Elternhause mußte ich mein Talent wie einen Aussatz verheimlichen. Das hat mich in mich selbst zurückgeschreckt, daß ich jetzt wie hinter einer Mauer lebe. Aber haben Sie Geduld, Sie werden vielleicht noch mehr von meinen Arbeiten hören müssen, als Ihnen lieb ist. Mit meinen Gedichten werde ich niemand mehr behelligen. Seit ich Olaf Hansen kenne, weiß ich erst, woran es mir fehlt. Dagegen habe ich jetzt ein fertiges Lustspiel druckreif im Pult, um das ich mit einer Bühne in Verhandlung stehe.

Der Ton, womit er dies sagte, klang aber so obenhin, fast geringschätzig, daß ich gleich fühlte, mit dem Besten hielt er noch zurück; sein Ziel, das er mir aus der Ferne andeutete, mußte ein viel höheres, mußte die Tragödie großen Stiles sein.

Er gab zu, daß ein gewaltiger vaterländischer Stoff ihn ganz ausfülle.

Was für ein Stoff? wagte ich zu fragen.

Er nahm einen schweren Gegenstand, der einen Stoß beschriebener Blätter zusammenhielt, vom Tisch und reichte ihn mir:

Wofür halten Sie dieses Ding?

Es war ein gebogenes, abgebrochenes Stück Eisen von rauher Oberfläche, stark verwittert.

Für ein Hufeisen des Pegasus, antwortete ich scherzend, das seinem Finder Glück bringen möge, wie sich's für ein Hufeisen gehört.

Er nahm es mir gleich wieder ab und wog es mit einem Ausdruck von Ehrfurcht in der Hand.

Wohl ist es ein Hufeisen, und zwei Menschenschicksale sind damit verknüpft. Das eine ist an dem Fund zugrunde gegangen. Welches Glück es dem andern bringen wird, muß die Zukunft zeigen. Ich war als grüner Junge mit dabei, wie man dieses Eisen mit vielen andern aus der Erde grub. Das geschah beim Bau einer Wasserleitung im Detmoldischen, als ich eben bei mütterlichen Verwandten dort zu Gaste war. Man fand ihrer so viele, daß sie in ganzen Karrenladungen beiseitegeschafft und als altes Eisen nach auswärts verkauft wurden. Von meinem Onkel Paul habe ich Ihnen schon erzählt, der ein feuriger Altertumsforscher war. Ich benachrichtigte ihn von dem Fund, und er kam zwei Tage später aus Paderborn herüber, um die Hufeisen zu sehen. Er war sehr erregt, denn er hatte schon vor Jahren einen ähnlichen Fund in dieser Gegend vorausgesagt. Es waren nur noch wenige im Ort zu finden, und ich mußte ihm alle von mir gesammelten überlassen, bis auf dieses hier. Er sprach die Hufeisen für römische an und die Auffindungsstelle für den Ort, wo die Reiterei des Varus unter Vala Numonius vernichtet wurde; auch deutete er auf andere Punkte in der Umgebung hin, wo noch weitere Ausbeute in der Erde harrte, die einige Jahre später auch wirklich zutage trat. Ich durfte ihn auf langen Gängen begleiten und begeisterte mich wie er für den Gedanken, daß die Gegend, in der wir uns befanden, der vielumstrittene Schauplatz der Varusschlacht sei. Mein Onkel Paul war ein Mann von hinreißender Überzeugungskraft, der erst in vorgerückten Jahren durch Eigenstudium zu germanischer Altertumskunde gekommen war und schon deshalb die Mehrzahl der Fachleute gegen sich hatte. Welche Genugtuung, als nach jahrelangen Zurücksetzungen der stumme Erdboden selber sich auftat, um für ihn zu zeugen! Der Erfolg verzehnfachte seine Willenskraft, er ging wie mit einer unsichtbaren Wünschelrute umher und zog die verborgensten Dinge aus der Tiefe. Aus alten Urkunden brachte er vergessene Orts- und Flurnamen zutage, in denen die Spuren eines furchtbaren Völkergerichts fortlebten. Da gab es im westfälischen Platt einen »Knochenbach«, einen »Leichenhügel«, einen »Todesgarten«, nach seiner Ansicht lauter Erinnerungen an die Teutoburger Schlacht. Die beiden Lagerplätze des Varus, wie sie sich sechs Jahre nach der Schlacht den Legionären des Germanikus darstellten, die bleichenden Gebeine der Erschlagenen, die noch lagen, wie sie gefallen waren, die Altäre, an denen man die römischen Legaten geschlachtet hatte, die Anhöhe, von der herab der Sohn des Segimer seinen schrecklichen Gerichtstag hielt, – alles rief seine lebendige Einbildungskraft aus den friedlichen Wiesen und Moorgründen hervor. Ich will nicht behaupten, daß er in allem und jedem recht hatte, mein Onkel war eine Poetennatur, die sich von der Phantasie fortreißen ließ, aber daß man ihn seiner allzu raschen Schlüsse wegen als Narren und Nichtswisser behandelte, hat er nicht verdient.

Seine Untersuchungen über die Örtlichkeit der Varusschlacht entfesselten nämlich unter den Forschern einen heißen Streit, der mit vergifteten Waffen geführt wurde. Ihm sind seine Forschungen zum Unheil geworden, in mir aber weckten sie den schlummernden Funken. Damals trat mir der Cheruskerheld, dessen Gestalt mir vorher so dämmerhaft wie etwa Dietrich von Bern gewesen war, leibhaft aus dem Dunkel. Ich lernte ihn persönlich kennen, er ließ mich einen Blick in seine tief verschlossene Seele tun. Und seitdem ist er mir näher, als es jemals ein lebender Mensch sein wird. Ich gelobte ihm meine ganze Kraft, wenn ich einmal reif sein würde. Ich wartete und schulte mich und nährte ihn still mit meinem Blut, und wenn ich mich da und dort künstlerisch versuchte, so war's nur, was ein Manöver ist gegen einen Schlachttag. Jetzt ist die Zeit gereift, für die mein ganzes bisheriges Leben nur die Vorbereitung war. Während meine Eltern mich tief ins Corpus juris versenkt glauben, schlage ich die Varusschlacht. Das gilt einen Sturm, der heißer ist als der auf die Düppler Schanzen. Ich denke, sogar mein Vater, so wenig er auf die Dichtkunst hält, wird aufhören müssen, mich als einen verlorenen Sohn zu betrachten, wenn einmal auf der ganzen Linie Sieg geblasen wird.

Er redete mit überstürzenden Worten und einer flackernden Röte im Gesicht, seine Augen brannten. Ich staunte seine Kühnheit an, aber ich war ein viel zu großer Verehrer Kleist's, um zu begreifen, wie man nach ihm noch eine Hermannsschlacht sollte dichten können.

Er sah mich groß an:

Kleist hat keine Hermannsschlacht gedichtet.

Wie? fragte ich verblüfft.

Kleist lebte in Tagen höchster vaterländischer Hochspannung, in seiner Seele brannte das Schandmal der Fremdherrschaft, er dichtete aus seinem eigenen grimmigen, unersättlichen Haß heraus. Und sein Racheschmerz gebar ein Gedicht, so groß wie Sie nur irgend wollen, aber keine Hermannsschlacht. Was war ihm das Deutschland vom Jahre 9 unserer Zeitrechnung? Was gingen ihn die Römer an? Er sah nur die Franzosen von 1806 und 7, er gab sich kaum die Mühe, ihnen ein römisches Mäntelchen umzuhängen. Und seine Germanen! Hören Sie einmal sein Bardenlied. Mit Händen, die vor Erregung zitterten, riß er ein Buch vom Gestell, das er hastig durchblätterte, und begann die Strophe zu lesen:

Wir litten menschlich seit dem Tage –

Als er aber an die Stelle kam:

Wir übten nach der Götter Lehre
Uns durch viele Jahre im Verzeihn,

da warf er das Buch auf den Tisch und rief:

Ist das germanisch, sind das Wotanspriester? Sind das nicht vielmehr verkappte evangelische Pastoren? Wann hätten unsere alten Siegsgötter Verzeihung und Unterwerfung gelehrt? Und danach sollte kein andrer mehr nach dem Kranz aller Kränze greifen dürfen? Ich werde meinen Cheruskern einen Schlachtgesang in den Mund legen, in dem die Hammerschläge Thors dröhnen.

Er ging mit großen Schritten durchs Zimmer, seine Augen flammten. Dann blieb er vor mir stehen.

Mißdeuten Sie mich nicht. Kleist hatte als Dichter das Recht, zu verfahren, wie er verfuhr, und niemand bewundert ihn mehr als ich. Aber er hat noch Raum gelassen für meine Dichtung und dafür danke ich ihm mehr als für alles Große, was er selbst geschaffen hat. Und ich bin gleichfalls im Recht, wenn ich es völlig anders anfasse. – Mir sind wie dem Vater Homer Sieger und Besiegte gleich sangeswürdig. Der germanischen Heldengröße will ich die römische entgegensetzen. Den Zusammenprall zweier Welten will ich darstellen, einer reifen, höchst verfeinerten, mit allem Glanz und allen Lastern ausgestatteten, und einer rohen urtümlichen, die aber den Hauch der Jugend, die höhere sittliche Kraft und die keimende Zukunft für sich hat. Und beide will ich in solchen Gestalten verkörpern, daß um Freund und Feind dieselbe tragische Glorie scheinen soll.

Um ihn selber, den schönen Menschen, lag es wie ein Glorienschein, als er im Zimmer auf und nieder gehend mir den Plan seiner Trilogie »Der Befreier« entwickelte. Ich war wieder ganz von ihm berauscht. Ist es möglich, dachte ich, daß ein Sterblicher soviel von der Natur empfangen hat, und wer bin denn ich, daß ein solcher Mensch sich mir hingibt! Noch ohne eine Zeile von seinem Werk zu kennen, war ich schon überzeugt, daß es den größten Dichtungen aller Zeiten zum mindesten ebenbürtig sein müsse, und nach dem Stolz zu schließen, der aus seinen Augen blitzte, teilte der Verfasser, wenigstens für diesen Abend, meine Überzeugung.

Der kürzere erste Teil »Die Norne« war schon fertig, der zweite »Die Varusschlacht« eben im Werk. Der dritte, der noch keinen Namen hatte, sollte dann den Helden zeigen, wie er nach dem Abzug des Germanikus und dem völligen Sturz der Römerherrschaft in Deutschland an dem Versuch, die Stämme unter einer starken Faust zu einigen, bei der Balderfeier am Sonnwendtag durch Verwandtenmord zugrunde geht.

Lassen Sie nur erst die Varusschlacht etwas weiter vorgerückt sein, sagte er, so sollen Sie einen Vorschmack vom Ganzen bekommen. Sie und Olaf und unsern treuen Schütte habe ich mir immer als meine ersten Zuhörer gedacht. Ihr seid auch meine heimlichen Mitarbeiter, Ihr drei, aber das wird Ihnen erst beim Lesen aufgehen.

Seine Aufgeräumtheit wurde immer fieberhafter, er ließ mich nicht mehr fort, und da ihm jetzt plötzlich einfiel, daß er seit dem Frühstück noch nüchtern war, holte er aus dem Schrank eine Flasche Wein und etwas Zwieback, seine einzige Nahrung in jenen Tagen des Überschwangs. In der Aufregung stieß er ein Familienbild, das auf der Kommode stand, herunter, daß es klirrend zerbrach.

Ich nehme das böse Omen für sein Gegenteil, rief er mit wilder Lustigkeit, während wir die Scherben auflasen. Wenn die Götter eingezogen sind, müssen die Götzen fallen. Die Familie ist der Obergötze, der die Kindlein auf seine glühenden Molocharme nimmt, daß sie verkohlen. Wie anders wäre ich geworden ohne diesen rotgeheizten Bal. Betrachten Sie sich einmal den alten Herrn hier auf dem Bilde. Gleichen wir uns nicht wie zwei Wassertropfen, abgesehen vom Lebensalter? Sind das nicht dieselben Augenknochen, derselbe harte Schnitt von Kinn und Nase? Es ist die Folge der langen Züchtung und Zucht, daß ich kein anderes Gewand bekommen konnte, daß ich nun auch die vererbte preußische Uniform durchs Leben mit mir trage. Ebenso hätte man mir die Seele nach altem Familienmuster gemodelt, wäre ich nicht mit dem Geist des Widerspruchs geboren. Und doch, was machen Gewohnheit und Erziehung aus! Von meinem vierten Jahre an führte mich der alte Herr zu meinem Geburtstag jedesmal vor ein Glasschränkchen, worin zwei Familienstücke lagen: das Eiserne Kreuz, das der Großvater sich bei Leipzig geholt hat, auf rotem Sammetkissen, und auf einem schwarzen die Pistole, mit der sein eigner Bruder sich wegen unbezahlter Ehrenschulden auf väterlichen Befehl erschoß. Die nachträgliche gewissenhafte Tilgung der Schuld hat die Familie in Armut gestürzt und das Gemüt des Alten verhärtet. Die erste Stunde Müßiggang, pflegte er mir mit erhobenem Finger zu sagen, ist der erste Schritt auf dem Weg zum Abgrund. »Müßiggang« war ihm alles, was nicht zum Dienst gehörte. Sollten Sie es glauben, daß ich noch jetzt unter dem Dichten plötzlich den Eindruck habe, als sähe der alte Herr mir drohend über die Schulter, und ich müßte schnell mein Blatt vor ihm verstecken, um irgendein Generalstabswerk oder das Corpus juris zur Hand zu nehmen. Ich werde noch Zeit genug brauchen, bevor ich mir für mein Werk das freie Gewissen erobere.

Er verschloß das beschädigte Bild im Schubfach und füllte die Gläser. Ich mußte mit ihm anstoßen auf die glückliche Geburtsstunde seines Cheruskers.

Schlagen Sie den Daumen ein, daß mir kein anderer zuvorkommt, sagte er. Seit ich im Zuge bin, meine ich, tausend Hände müßten sich nach diesem Stoffe ausstrecken, der der höchste Vorwurf unserer tragischen Muse ist. Wenn einer nachsinnend unter den Platanen da drüben auf und ab geht, so frage ich mich, ob er nicht eben an einer Hermannsschlacht dichtet. Ermorden könnte ich den Dieb, der das wagte, denn dieser Stoff ist mein. Er hat ja mich gewählt, nicht ich ihn. Sie sehen mich verwundert an? Wissen Sie denn nicht, daß die Kunstwerke ihr Eigenleben haben und immer lange vor ihren Schöpfern dagewesen sind? Echte Dichtung ist kein Menschenwerk, sie ist von Urbeginn vorhanden. Sie ist nur stumm, bis sich das rechte Saitenspiel findet, auf dem sie tönen kann. Erinnern Sie sich, was Kuno Schütte einmal vorbrachte von den ungeborenen Seelen, die im All umherstäuben, um sich ihre Erzeuger zu suchen? Er hat völlig recht, nur daß es auf die Kunstwerke geht, was er von den Menschenseelen glaubt. Immer schweben die Flügel der ungeborenen Dichtungen um uns her, zuweilen hören wir ihr Rauschen, ein halbes Wort, ein wortloser Rhythmus dringt an unser Ohr, eine Gestalt wird zur Hälfte sichtbar, dann weiß ich, das sind die Meinen, die mich suchen, die ich suchen soll, weil sie ohne mich nicht leben können. Es war ja doch kein Zufall – und wo gibt es einen solchen? daß ich damals zu dem Fund der Hufeisen kam. Es war die ungeborene Arminiusdichtung, die mich an jene Stelle zog, um meinen Geist zu wecken. Meinen Freund und Erzieher hat mich das gekostet, den einzigen Führer meinem Jugend: er glaubte den Schatz in anderer Gestalt zu heben und wurde das Opfer seines Wahns, denn der Auserwählte, dem es galt, war ich.

Ist das Genie oder Wahnsinn oder beides? dachte ich, und um nur wieder den Boden unter den Füßen zu fühlen, fragte ich schnell:

Was ist aus Ihrem Blutsfreund geworden?

Der Unglückliche hatte sich mit seinen Untersuchungen über die Örtlichkeit der Varusschlacht auf ein Gebiet gewagt, wo er nicht von Hause aus zuständig war, und das verzeiht die schulmäßige Wissenschaft schwer. Da er gegen die Meinungen namhafter Gelehrter anstieß, wurden die seinigen geringschätzig abgetan und die Fachzeitschriften verschlossen seinen Entgegnungen die Spalten. Aber er war nicht der Mann, sich unterkriegen zu lassen, er verfaßte eine Reihe von Streitschriften, die er unentgeltlich versandte, und um sich ganz dem zu widmen, was er für seine Lebensaufgabe hielt, legte er sogar sein Amt nieder. Er ließ auf eigene Kosten Grabungen ausführen und nahm selbst den Spaten in die Hand. Dabei kam eine Münze aus der Zeit Augusts und ein längliches, stark zerfressenes Eisenstück zutage, das er sofort für ein Römerschwert erklärte, das aber freilich alles andere ebenso gut sein konnte. Diese Funde bestärkten ihn in einer ganz vermessenen Hoffnung: er hatte sich nichts Geringeres vorgesetzt als jenen römischen Adler auszugraben, den an dem Schreckenstag der Adlerträger von der Stange brach, um sich mit ihm in den blutgetränkten Sumpf zu stürzen. Wehe dem, der ihm entgegenhalten wollte, daß nach einem späteren Bericht der Adler wieder aufgefischt und nach Rom zurückgeschickt worden sei. Lug und Trug ist alles, rief er mit rollenden Augen; ein freches Gaukelspiel des Germanikus, der den römischen Hochmut kitzeln wollte. Und er konnte gegen den Germanikus toben, als ob er sein Zeitgenosse wäre. Ohne den Spott der Einwohnerschaft und der Presse zu beachten, ließ er Sümpfe und Moorgründe des Teutoburger Walds durchwühlen und arbeitete trotz seiner Jahre immer selber mit. Den Adler fand er nicht, dagegen holte er sich den Keim eines schweren Typhus, der den alten Mann dem Tode nahe brachte. Zwar riß er sich durch, aber nicht zu seinem Heil: von der Krankheit blieb ihm eine Reizbarkeit und phantastische Sprunghaftigkeit, die ihm vorher ganz fremd gewesen war. Jeder Widerspruch brachte ihn außer sich, er konnte sich kaum noch mit den Nächsten vertragen und verbiß sich in längst widerlegte Irrtümer, die auch den wertvollen Teil seiner Forschungen in schiefes Licht setzten. Ich war der einzige Mensch, der ihn noch zu behandeln verstand, wenn ich auf Urlaub nach Paderborn herüberkam, und er hielt auch treu zu mir. Er verschaffte mir noch die nötigen Geldmittel, die ich sonst nirgends auftreiben konnte, als ich meine Absicht wahr machte und den Soldatenrock auszog. Damals hat mich niemand verstanden als er, es waren die letzten schönen Tage, die wir zusammen verlebten. Wir durchwanderten noch einmal gemeinsam sein Arbeitsfeld, besuchten die alten, unbegreiflichen Externsteine, in die er die ganze germanische Götterwelt hineinrätselte, und er war so froh und hochgestimmt wie im Besitze eines glückbringenden Geheimnisses. Da konnte er im Wandern plötzlich stehenbleiben und in dunkel raunendem Ton die Eddaworte sprechen: Wohl ist den Wahlgöttern, wißt ihr, was das bedeutet? – Wenn ich aber fragte: Was bedeutet es, Onkel Paul? so legte er lächelnd den Finger auf den Mund. Später erfuhr ich, was mit ihm umging. Er hatte sich auf das Studium des Isländischen geworfen, um die Edda im Urtext zu lesen, und war zu einer ganz anderen Auslegung der dunklen Stellen gekommen als die Übersetzer. Er glaubte entdeckt zu haben, daß viele Lieder der Edda geheime Anspielungen auf den Untergang des Varus enthielten, und daß die Gestalt des Siegfried nur eine mythische Spiegelung des geschichtlichen Arminius sei, wie Dietrich von Bern die des großen Gotenkönigs. Siegfrieds Kampf mit dem Drachen auf der Gnitahaide war ihm die symbolische Umdeutung der Varusschlacht, und die Gnitahaide glaubte er, auf eine alte isländische Reisebeschreibung gestützt, in die Nähe von Paderborn verlegen zu dürfen, ebendahin, wo er sich von je das Schlachtfeld des Varus gedacht hatte. So suchte er eine gewagte Hypothese durch eine noch gewagtere zu stützen und hielt das Ineinandergreifen beider für die unanfechtbare Gewähr ihrer Richtigkeit. Aber als er mit diesen neuen Forschungen hervortrat, wurde die Ablehnung der Presse zum Hohngelächter; auch seine Anhänger sagten ihm die Gefolgschaft auf. Das steigerte ihn nur noch mehr, seine Flugschriften, womit er die Gegner überschüttete, bekamen einen immer beißenderen Ton und zogen ihm noch kostspielige Beleidigungsklagen und andere Unannehmlichkeiten zu. Diese Aufregungen erschütterten ihn so, daß er zuletzt in Prozeßwut und Verfolgungswahn fiel und in geistiger Umnachtung endete. Sein beträchtliches Vermögen, das später einmal mir zufallen sollte, war fast ganz verpulvert, kaum, daß der Witwe die Mittel zum Leben blieben. Was schadet's? Mein wahres Erbe ist der Schatz auf der Gnitahaide, der Geist des Arminius, der von mir erlöst werden will. Es braucht nur wie für jedes Beschwörungswerk Ort und Stunde. Der Ort ist glücklich gefunden: das Stübchen des irren Dichters, aber die Stunden sind nicht alle gleichwertig und wehe, wenn die rechte ungenutzt verstreicht.

Ja, jetzt begreife ich, was es Ihnen sein muß, wenn ein Dritter sich zwischen Sie und Ihre Gestalten schiebt, antwortete ich.

Ort und Stunde, das ist's, fuhr er wie zu sich selber redend fort: das ist das einzige, was der Dichter selber dazu tun kann, alles andere ist Eingebung, kommt ihm von außen. Es heißt nur aufmerken, Augen und Ohren offen halten, unverwandt und treu und reinen Sinnes, damit nichts Unechtes sich eindrängt, nichts, was der eigene Verstand, der Stümper, gemacht hat, denn das ist Falschmünzerei. Nur das soll Einlaß finden, was von selbst zur Erscheinung ringt! Nicht bloß das Ganze des Werkes ist von Uranfang da, jeder kleinste Teil ist es auch bis zum einzelnen Wort herunter, das durch kein anderes ersetzt werden kann. Ich fühle es gleich, wenn auch nur an einer Stelle ein angeflicktes Wort steht. Weg mit dem Einschiebsel! Wachen und harren, bis das rechte sich einstellt!

Ja, dieser ist wirklich ein Gefäß der Gottheit, sprach es in mir. Aber was macht er aus seinem reichen begnadeten Ich, was macht er aus seinem eigenen Leben!

Es war, als hätte ich laut gedacht, denn er fiel ein:

Das ist das Dämonische an den großen Dingen, daß, wer nur einmal ihr Angesicht aus der Nähe geschaut hat, ihnen für immer verfallen ist und keinen, aber auch keinen Genuß vom Dasein finden kann als durch sie. Welches schwächliche Strohfeuer ist dagegen die Liebe! Ich verlange nichts vom Leben als nur mein Werk. Ich verzichte im voraus auf Weib und Kind und alles, was man sonst Lebensglück nennt, ich will nur den »Befreier« vollenden, mag ich danach zugrunde gehen. Aber nicht eher, nicht eher! Ich wage kaum des Abends mich schlafen zu legen, aus Furcht, der Tod könnte mich unversehens im Schlaf überfallen und mein Werk könnte unfertig zurückbleiben. Mein tägliches Morgen- und Abendgebet heißt: Mein Gott, nimm mir alles, mache mich, wenn es sein muß, blind und taub, aber laß mich nicht sterben, bevor der Arminius vollendet ist.

Warum nennen Sie ihn immer mit seinem römischen Namen? fragte ich.

Er fuhr sich mit beiden Händen an die Schläfen. Weiß ich denn, wie er geheißen hat? stöhnte er. Weiß es irgendwer? Jeden Namen kann er gehabt haben, nur nicht den Namen Hermann. Das sagt unser Grimm, der am besten Bescheid wußte. Oh, ich möchte den frommen Ludwig, den Pfaffenkaiser, aus dem Grabe kratzen, um ihn zu martern, weil er mit den Heldenliedern unserer heidnischen Väter auch den echten Namen des Befreiers vernichtet, der Vergessenheit überliefert hat. Nun ist von unserm deutschesten Ruhm die deutsche Schande unzertrennlich, daß wir ihn nur mit dem Namen nennen können, den ihm der Römer gab, und daß ohne das Zeugnis des Feindes jede Spur von ihm verweht wäre. Ehre sei den Römern, daß sie ihren Todfeind zu ehren wußten und mehr für ihn taten als sein eigenes Volk.

Aber da nun einmal der Name Hermann so angenommen ist, wandte ich ein, wäre es da nicht besser, es beim alten zu lassen wie Ihre Vorgänger, die doch wohl auch von diesen Bedenken wußten?

Was sie wußten oder nicht wußten, geht mich nichts an, sagte er, unruhig durchs Zimmer gehend. Ich kann nicht lügen. Wo ich nicht glaube, da erstarre ich. Der Name Hermann tönt nicht in meiner Seele, also kann er auch nicht echt sein. Und zudem haben ihn die Bierbankpatrioten längst zu Tode gebrüllt.

Freilich, setzte er lächelnd hinzu, Onkel Paul würde wüten wegen des Namens und nicht minder wegen der Rolle, die ich seinen Abgott spielen lasse. Für ihn war der Cheruskerheld eine ganz einfache Seele, blind und taub für die Schönheit einer höheren Bildung, ungerührt von allen Reizen und Lockungen Roms, inmitten aller italischen Herrlichkeit nur für die rauhen heimatlichen Wälder glühend, kurz, ein Mann wie er selber war, aus Einem niederdeutschen Eichenscheit geschnitzt. Mein Armin hat ein völlig anderes Gesicht, ein zerrissenes, aber ein größeres. Der römische Ritter, der unter den Edlen Roms als Gleicher stand und an all ihren Ehren teilhatte, konnte nicht verbissener Römerfeind von allem Anfang sein. Die Hermannsschlacht mußte erst in dem Busen des Cheruskers geschlagen werden, ehe sie durch die Wälder von Teutoburg tobte. Er bewundert die Römer, aber er vernichtet sie. Das ist seine wahre Größe; daher sein dämonisches, erbarmungsloses Wüten, weil er gegen sich selber, gegen einen Teil seines eigenen Wesens wütet.

Seine Gedanken verloren sich allmählich ins Weite. Es gebe gar keine Vergangenheit, sagte er unter anderem, wir brauchten nur unser kurzes Sehfeld über den Horizont des Tages hinaus zu verlängern, so sei alles Gewesene noch vorhanden. Alles Schöne und Große, was je auf Erden geblüht habe, müsse wieder sichtbar gemacht und in den Kreislauf des Lebens zurückgeholt werden. Das sei die Aufgabe des Dichters und symbolisch im Orpheusmärchen vorgebildet.

Aber nur dem festen, nie wankenden Glauben gelingt das Wunder. Wehe, wenn er zweifelt und sich umschaut! Alsbald versinkt der beschworene Schatten, der ihm nur folgt, solange er glaubt.

Dann kam er auf Märchen und Symbole zu sprechen, hinter denen immer eine höhere Wahrheit stehe, denn der menschliche Geist als Ausfluß von Gottes eigenem Geist, behauptete er, könne sich niemals täuschen, und alles was er je geahnt habe, müsse sich einmal irgendwie auf Erden selbst erfüllen – ein Wort, an das ich oft zurückdachte, seitdem die großen Erfindungen der Technik das Leben immer märchenhafter umgestaltet haben.

Aber als er seine Kreise weiter und weiter zog und geheimnisvoll vom inneren Einssein aller Dinge zu reden anhub, das er die Grundselbigkeit nannte, da verging mir am Ende Hören und Sehen, und ich begann für meine eigene Selbigkeit bange zu werden.

Wir standen zusammen am offenen Fenster und schauten in die Frühlingsnacht hinaus; der Neckar rauschte leise am Fuß des Turmes vorbei, und die noch unbelaubten Platanen überm Flusse drüben neigten sich im Wind. Gustavs Stimme, die er dämpfte, um von den Nachbarfenstern nicht vernommen zu werden, war wie ein magisches Raunen um mich her. Unten glitt ein Boot mit unkenntlichen Gestalten, von denen eine die Mundharmonika blies, auf dem dunklen Wasser hin; mir war's als zögen Helden und Barden der Vorwelt, von ihm beschworen, leibhaft vorüber. – –

In den Flugschriften seines Verwandten, die er mir auf meine Bitte mit nach Hause gab, lernte ich gleichfalls einen merkwürdigen Menschen kennen, der mich in vielem an den Neffen erinnerte. Es war dieselbe rücksichtslose, fanatische Hingabe an die Sache beim einen wie beim andern. Besonders zog mich seine letzte Schrift über die Gnitahaide an. Sie trug das Motto: Wohl ist den Wahlgöttern, wißt ihr, was das bedeutet? Dieses dunkle Eddawort bedeutete nach ihm den Jubel der Germanenstämme über den Untergang der Legionen. Allmähliche Verdunkelung und Verwirrung der mündlichen Überlieferungen und die Furcht vor dem Fanatismus der christlichen Priester, in denen die Römermacht sich verkappt aufs neue eingeschlichen habe, um alle altheiligen Erinnerungen des Volkes auszutilgen, seien für die späten Sammler auf Island der Anlaß gewesen, die geretteten Reste der alten Heldenlieder in so geheimnisvolle Hüllen zu verstecken. Aber ein Merkmal hätten sie doch dem Siegfried angeheftet, das ihn als Armin verrate: das strahlende Auge, das Siegfriedsauge, dem niemand standhält, mache den Recken der Niflunge als den geschichtlichen Stammeshelden kenntlich, dem nach dem Zeugnis des Todfeinds das ungewöhnliche Feuer der Seele aus Augen und Antlitz strahlte. Die Schrift war fesselnd geschrieben, und solange man las, stand man im Banne des Verfassers. Aber am Schlusse war man doch froh, wenn man sich schütteln konnte und Arminius wieder Arminius, Siegfried Siegfried war. Augenscheinlich war ein geistreicher Einfall, der den ganzen Untersuchungen zum Ausgangspunkt gedient hatte, in der Schrift so dargestellt, als ob er vielmehr deren Endergebnis wäre, und die Früchte einer seltenen Belesenheit waren willkürlich aneinandergereiht, um gewaltsam diesen Einfall zu stützen. Das mußte von vornherein den schroffsten Widerspruch der Fachleute herausfordern. Auch ließ der überreizte Ton das Verhängnis ahnen, dem der unglückliche Forscher entgegenging.

*

Dann kam der Abend, wo Gustav in seinem Stübchen mir, Olaf Hansen und Kuno Schütte bei verschlossener Tür den fertigen Teil seiner Dichtung vorlas. Armer Shakespeare, noch ärmerer Kleist, was wart ihr an jenem Abend gegen Gustav Borck! Unser Dichter war ja ein Jüngling und Jünglinge waren die Hörer; wo aber Jugend gibt und nimmt, da geht es überschwenglich her. Und wieviel wunderbarer in die Esse zu blicken, wo die rotdurchglühten Gestalten der Dichtung sich zu formen beginnen, als das schönste Werk fertig vor sich zu sehen. Denn das Fertige steht da, als wäre es von je gewesen, im entstehenden Werke glaubt man den heißen Hauch der Gottheit selber zu spüren. Mag aber auch zu unserem Rausch die eigene Jugend und der Glaube an den Verfasser das meiste getan haben, doch fühle ich noch heute in der Erinnerung etwas von dem Zauber jenes Abends, wo ich glaubte, dem Aufgang eines neuen Zeitalters in der Dichtung anzuwohnen.

Wir lernten einen glänzenden, römisch gebildeten Arminius kennen, der den Römern unverdächtig ist, weil ihn nicht nur die hohe Auszeichnung des römischen Bürgerrechts und der römischen Ritterwürde, die ihm allein vor allen Barbarenfürsten verliehen ist, sondern mehr noch die eigene Anlage über sein Volk hinausgehoben und den Überwindern zugesellt hat. Aber als langjähriger Lagergenosse des Tiberius hat er von den Römern nicht nur die Kriegskunst gelernt, sondern auch die Kunst des Beobachtens und Abwartens, des leisen Auftretens und des harten Anpackens. Und das Römertum klebt ihm nicht auf der Haut wie seinem Bruder Flavius, der den Dienst bei den fremden Herrn als Ehre empfindet, es ist nur ein Mantel, der auch abgeworfen werden kann. Wird der junge Held ihn abwerfen? Diese Frage stellten die ersten Szenen in beklemmender Spannung auf. Zu der römischen Verführung hatte der Dichter noch eine andere Macht hemmend in seinen Weg gestellt: die Liebe. Segestes, der Römerknecht, durchschaut allein den Zwiespalt in der Brust des Jünglings, und um ihn fügsam zu erhalten, hat er ihm die herrliche Tochter anverlobt, aber die Hochzeit dem Ungeduldigen unter immer neuen Vorwänden verschoben. Für einen Augenblick scheint das Schicksal von Thuiskoland an der Dünne eines Frauenhaares zu schweben. Denn schon zieht Varus über den Rhein, und seine ersten Botschaften, die wie Befehle klingen, enthüllen dem Cheruskerfürsten die Absichten Roms und die Rolle, die ihm selbst als Vollstrecker zugeteilt ist. Und hier beginnt seine entschlossene Umkehr zu den heimischen Altären. Doch der Held will nicht zwischen der Liebe und der Freiheit wählen, sondern beide besitzen. Aus ihrer väterlichen Burg an der Weser raubt er mit kühnem Handstreich die Braut und feiert seine Hochzeit mit ihr, während im Nachbarland die ersten Flammen der brennenden Dörfer aufprasseln, die Varus bei seinem Durchgang im Rücken läßt. Flüchtende Weiber und Kinder, der Rauch geplünderter Siedelungen kündet sein Kommen an. Der junge Fürst verbirgt seinen Zorn in tiefster Seele und verschließt den Hilferufen der Seinen das Ohr; als Freund zieht er dem Römerfeldherrn entgegen, der gleichfalls unter dem Deckmantel der Freundschaft kommt, um, von Segestes gerufen, die ewigen Grenzhändel der deutschen Stämme friedlich zu schlichten. Darüber sind auch dem Nachbarkönig Marbod die Augen aufgegangen, er sendet heimlich Boten, um den Sinn des Cheruskers zu erforschen. Dieser aber hält sie mit halben Worten in der Schwebe, denn schon wälzt er in der verschlossenen Brust Entwürfe, die keinen Marbod zum Mitwisser wollen. Mit dem Erscheinen eines spukhaften alten Weibleins, halb Seherin, halb Norne, das dem Helden einen Stab mit alten Runenzeichen überreicht, endigte der erste Teil, der nur ein kurzes Vorspiel darstellte.

Breit und mächtig, vielleicht nur allzu breit, war das zweite Stück, die Varusschlacht, angelegt. Die Handlung begann mit römischer Schwelgerei im Sommerlager des Varus, den seine ersten Worte als beschränkten, selbstgefälligen, in sein Römertum blind verliebten Gecken zeigten. Ohne einen Tropfen Soldatenblut im Leib und mit einer lächerlichen Juristenader behaftet, die ihn treibt, aus dem Schein des Gerichthaltens und Händelschlichtens Ernst zu machen. Die Unterwerfung Germaniens, die das römische Schwert begonnen hat, soll nach seiner Meinung das römische Recht vollenden. Mit Todesurteilen und entehrenden Strafen sucht er die Freigeborenen heim, schamlose Erpressung geht nebenher. Wie das Volk beschaffen ist, in dessen Mitte er sich niederläßt, wie es denkt und empfindet, danach fragt er nicht, wenn es nur die Steuern zahlt, die er ihm auferlegt. Vergeblich warnt Segestes, dem das dumpfe Grollen der Unterdrückten nicht entgeht, Varus verschließt ihm das Ohr, denn neben dem verblendeten Prokonsul steht als sein Schicksal Arminius, der den Leichtherzigen, Sorglosen, ganz vom römischen Geist Erfüllten um so glücklicher spielt, als er nur darzustellen braucht, was er einmal in Wirklichkeit gewesen. Aus dem getäuschten Vertrauen ist ihm der wütende unversöhnliche Haß herausgewachsen. Mit raschen, leichten Schritten einer Tigerkatze umgeht er sein künftiges Opfer. Er bestärkt den Römer in jeder Maßregel, durch die er sich noch verhaßter machen kann, und während Varus seine Ränke spinnt, ist er selber schon von einem viel gefährlicheren Gespinst umstrickt. Die Cherusker, die er für halbe Tiere hält, umdrängen ihn mit gespielter Wildeneinfalt und tragen ihm erdichtete Händel vor, über deren Schlichtung er seine Feldherrnpflichten versäumt. Die knifflichsten Rechtslagen werden mit einem wahrhaft diabolischen Humor erörtert, wobei dem Dichter seine Kenntnis des Corpus juris zu statten kam, und der Spruch lautet jedesmal für Kläger und Beklagte: Zahlen! Arminius aber dankt für die Mühewaltung und preist die Weisheit römischer Rechtspflege, die jetzt Streitigkeiten schiedlich beilegt, für die es sonst nur den Austrag durch die Waffen gab.

Verwandelt sind die Menschen, seit du kamst,
Sie lernen Ordnung und Gesetz verehren,
Des Friedens pflegen. Und nicht sie allein:
Verwandelt selbst ist die Natur, mein Land
Erkenn' ich kaum, so milde Lüfte wehen,
So herrlich reift die Ernte unsrer Sichel.
Italiens Himmel brachtest du mit dir,
Die ältsten Leute in Cheruska sahen
Solch einen Sommer nie. Walhalla lächelt,
Weil Romas Götter unsre Gäste sind,
Und für die Menschen tagt ein neues Leben.

Und Varus, der an Verbindlichkeiten nicht zurückstehen will:

Sind denn die Cherusker Menschen? fragt er.

Nichts Menschenähnliches seh' ich an ihnen
Als Stimm' und Antlitz, und auch diese kaum,
So häßlich ist ihr Wuchs und ungeschlacht.
Ihr Gang braucht gleich des halben Heerwegs Breite.
Ein Taumeln ist's, kein Geh'n. – Sprichst du sie an,
Wie Klötze stieren sie minutenlang,
Eh' sich der träge Geist zur Antwort sammelt,
Und Dunst von Meth umweht sie wo sie stehen.
Das sollen Menschen sein!
Dann seh' ich dich,
Armin, den Roma liebt, und frage mich,
Ob du Cherusker bist.

Armin

           Wohl bin ich's, Varus!

Varus

Du bist es nicht. Wie wär' dein Fuß so leicht?
Wie wär' dein Geist so rasch, daß er das Wort
Versteht, bevor die Lippen es gesprochen?

Armin

Die Edlen unsres Volks erlernen früh
Den Waffentanz: durch aufgesteckte Schwerter
Die Leiber werfen mit verweg'nem Schwung,
Da heißt es flink und doch behutsam sein,
Das bildet mit dem Körper auch den Witz.
Dann üben wir die Kunst – 's ist unsre einzige –
Im vollen Rosseslaufe abzuspringen,
Zu Fuße, Speere werfend, Schritt zu halten
Und wieder aufzuspringen nach Bedarf.

Varus

Das möcht' ich sehn.

Armin

           Ich brenn', es dir zu zeigen.

Varus

Nein, nein, du bist nicht Sohn des Segimer.
Zu Drusus' Zeiten zogen die Legionen
Durch dies Gebirg', der schönste Reiteroberst
Gefiel der Fürstin – zwar dein Aug' ist blau,
Doch römisch ist der Geist, der ihm entstrahlt.

Armin

Mein Feldherr, du verpflichtest mich zu tief.

Nach diesem Gespräch nehmen die markomannischen Gesandten eilends Abschied, um ihrem König zu berichten:

 Wohl geht Armin mit schweren Taten schwanger,
Da er die Mutter lästern hört und lächelt.

Das Blättchen, worauf diese Worte von des Dichters eigener Hand stehen – er hatte sie doppelt geschrieben –, ist das einzige sichtbare Andenken an jene Zeit, das ich von Gustav Borck besitze.

Der Dichter las und las, bis alle Kerzen niedergebrannt waren, während wir unbeweglich saßen und kaum zu atmen wagten. Keiner von uns lebte mehr in der Wirklichkeit, wir waren ins Lager des Varus entrückt, in das sich vorbereitende Verderben. So oft Gustav eine Pause machte, waren drei Paar Augen auf ihn mit Spannung gerichtet und baten: Weiter! Nicht der aufdämmernde Morgen, nur der Umstand, daß das Geschriebene zu Ende war, zwang uns endlich aufzubrechen.

In dieser Nacht zerschmolz das letzte Eis zwischen ihm und seinen Freunden, wir durften ihn fortan in unsere Brüderlichkeit einschließen. Mit überwallendem Herzen dankte er seinen Hörern und erklärte sich für unsern Schuldner, indem er jedem von uns für einen Beitrag verpflichtet sein wollte: mir für die Züge indianischer Wildenschlauheit, die er seinen Cheruskern lieh, Kuno Schütte für den Seherton der Alraune, unserm Jüngsten, der mit seinem Kindergemüt überall kleine reizvolle Erlebnisse hatte, für die Gestalt eines von der achtzehnten Legion aufgelesenen und gehätschelten Germanenkindes, denn ein ähnlich reizendes Naturwesen, das er als Knabe kannte, hatte dieser in seinen Liedern besungen.

So schenkte er jedem großmütig einen Anteil an seinem Glück. Unmöglich, sich in dieser Stimmung zu trennen. Es wurde beschlossen, Adele zu wecken, damit sie uns einen starken Kaffee braue, und unsere Sitzung bis Sonnenaufgang am Stammtisch fortzusetzen.

Unbarmherzig klingelten wir die Ärmste, die jede Nacht bis zwei Uhr auf den Beinen sein mußte, aus dem Morgenschlaf, und sie öffnete auch gehorsam, weil sie Gustavs Stimme vernommen hatte. Mit verschlafenem Gesicht, die dunklen Haare in kleidsamer Unordnung um den zierlichen Kopf geschlungen, erschien sie bald darauf mit dem dampfenden Kaffee. Aber keiner von uns, vielleicht Olaf ausgenommen, hatte einen Blick für diese verträumte Schönheit, so ganz standen wir noch unter dem Bann der heroischen Dichtung.

Niemals bis an mein Lebensende werde ich jenen frühen Maimorgen vergessen, wo wir vier mit übernächtigen Gesichtern und glühenden Augen, den Rausch der Dichtung noch in den Adern, in der kleinen Stube beisammen saßen. Eine so tiefe Spur hat er in mir zurückgelassen, daß noch heute der Duft von frischgebrautem Kaffee in der Dämmerfrühstunde genügt, ihn mir ins Gedächtnis zu rufen. In Gustav brannte das Feuer weiter, er sprach und sprach. Seine Gestalten wurden beim Reden noch lebendiger und durchsichtiger, als sie es während des Lesens waren, wir lernten wie von lebenden Menschen nach und nach jede Abschattung ihres Wesens kennen und sahen in das innerste Triebwerk ihres Seelenlebens hinein. Unsere Ungeduld fragte ihm auch die Fortsetzung ab, die erst im Szenarium entworfen war und die er uns bruchstückweise erzählen oder aus zerstreuten Aufzeichnungen seines Taschenheftchens lesen mußte. Beim Beginn des zweiten Aktes sahen wir römische Soldaten damit beschäftigt, zu Bauzwecken unwissentlich einen hochheiligen Eichenwald zu fällen, aus dem ihnen ein altes, wirr und wüste aussehendes Weib, die Schicksalsfrau aus dem Vorspiel, entgegentritt. Ein Veteran erkennt in ihr dieselbe Unholdin, die ein halbes Menschenalter zuvor durch ihr Erscheinen den Drusus zur Umkehr aus Deutschland bewogen und ihm seinen nahen Tod verkündet hat. Der Soldat glaubt, daß sie das Pferd verhext habe, das kurz darauf seinen geliebten Feldherrn zu Tode schleifte, und in dem Wortwechsel, der sich entspinnt, wird die Hexe erschlagen. Sterbend murmelt sie eine furchtbare Weissagung, aber die barbarischen Laute werden von den römischen Soldaten nicht verstanden und verlacht. Zwar trifft die römische Mannszucht in Gestalt eines Zenturionen wie ein Wetterstrahl den Schuldigen, und der Feldherr, von Armin bestärkt, redet sich ein, daß mit dem Blut eines römischen Legionärs das Blut eines alten germanischen Holzweibleins mehr als bezahlt sei. Aber das Holzweiblein war die allverehrte Seherin des Stammes gewesen, und ihr Tod ist für den Fürsten der willkommene Hebel, das Volk zum Aufstand zu bewegen. Rasch läßt er Runen schnitzen und ihre Weissagung von einem nahen unerbittlichen Strafgericht über alle umwohnenden Stämme verbreiten. Bis dahin hat er noch der germanischen Trägheit und Uneinigkeit mißtraut, jetzt, wo die Seherin erschlagen, die Heiligtümer geschändet sind, kann er den heiligen Krieg entbieten, und jetzt verläßt er sich fest auf seine Landsleute. Jedoch Segestes durchschaut den Anschlag und entdeckt ihn dem Varus. Alles scheint verloren. Varus aber ist nicht zu warnen. Sein Vertrauen in Arminius hat etwas Schicksalhaftes wie das des Friedländers in den Pikkolomini. Er hält es für unmöglich, daß einer, der die römische Ritterwürde trägt, seine heimischen Wälder und rohen Steinaltäre den vergoldeten Tempeln Roms und seinen geselligen Genüssen vorziehen sollte. Von allen Barbaren ehrt er nur diesen Einen als seinesgleichen. Auch der ergebene Segestes ist ihm nur der dummschlaue Wilde, dessen selbstische Absichten er durchschaut; in dem schönen, von Geist umleuchteten Cheruskerjüngling sieht er die wahre Stütze des Römertums und läßt sich ganz von seinen Ratschlägen leiten. Und völlig sicher, wie von einer höheren Macht geführt, geht der junge Held seine gefährlichen Wege. Er spielt noch in grausamer Lust mit den Römern, ehe er sie vernichtet. Varus hat ihm beim Gastmahl eine griechische Flötenspielerin an die Seite gelegt, und der Gatte Thusneldens tändelt mit dem schönen fremden Singvogel, von dem man ihn gefesselt glaubt, während schon alle Wälder und Schlupfwinkel von bewaffneten Cheruskern und ihren Verbündeten wimmeln. Thusnelda zürnt und fordert von dem Römergesetz die Scheidung, die ihr der germanische Brauch versagt, Armin beschwichtigt sie und verspricht ihr Sühne, doch in sein Geheimnis läßt er auch die Tochter des Segest nicht blicken.

Hier legte auf einmal Adele, das seltsame Mädchen, den Kopf auf den Arm und weinte. Vielleicht sagte ihr das weibliche Gefühl, daß ihr Dichter die Frauen nicht ernst nahm; weshalb auch die Liebesszenen immer die schwächsten Stellen des Dramas bleiben sollten. Man war übrigens Adeles Seltsamkeiten gewohnt und achtete nicht darauf. Am wenigsten Gustav, dessen Gedanken alle um den Cherusker kreisten. Er hielt ihm noch eine glühende Lobrede.

Zu denken, daß der deutsche Genius und die deutsche Sprache nicht mehr wären, daß es keinen Faust gäbe, daß nicht ein einziges deutsches Lied gedichtet werden könnte, wäre Er nicht gewesen, der unser Volkstum und unsere Muttersprache gerettet hat. Ohne ihn wären wir wie die unterworfenen Gallier zu Römern und Römeraffen geworden. Wenn einmal der deutsche Genius sein Weltreich antritt, zu dem er berufen ist, so dankt er es einzig dem Armin. Und seine Spur hat das siegreiche Christentum ausgelöscht mit allen großen Erinnerungen unserer Frühzeit. Die Lieder hat es vernichtet, die sein Volk auf ihn sang. Aber getrost, wir werden neue Lieder singen. – Und nun guten Morgen, Sie schläfrige Hebe, richten Sie den Kopf in die Höhe, die Sonne geht auf, da müssen auch die Blumenköpfchen sich heben.

Adele richtete sich folgsam auf und lächelte; sie glich nun wirklich einer Blume, die ihre betauten Kelchblätter dem Sonnenstrahl öffnet. Kuno und Olaf gingen heim, den versäumten Schlaf nachzuholen. Ich begleitete Gustav, der seinen heißen Kopf auf einem Frühspaziergang lüften wollte, nahm noch mit ihm ein Bad in dem eiskalten Flusse und sah ihn dann erfrischt ins Kolleg gehen, als ob er eben erst vom Bette aufgestanden wäre. Und die ganze folgende Nacht fiel wieder aus dem hohen Turmzimmer der Schein der Lampe über den dunklen Neckar.

*

In jenen Sommer, der ein rauher und stürmischer war, fiel Olafs schwere Erkrankung. Er hatte sich eben von einem Lungenkatarrh kümmerlich erholt, als ihn eine Rippenfellentzündung aufs neue niederwarf. Ein Wunder, daß der zarte Körper dem doppelten Angriff standhielt. Seine Mutter, die ihm auf die Universität nachgezogen war, pflegte ihn; eine zarte Frau, aber von stählerner Spannkraft. Sie glichen sich im Äußern merkwürdig, beide hatten den gleichen edlen Schnitt der Augen und das ährengelbe Haar, durch das der Jüngling von weitem auffiel. Die Freunde halfen bei der Pflege, und das sonnige Krankenzimmer war ein Ort stiller Erhebung für alle. Sogar Gustav, der immer mit sich selbst Beschäftigte, widmete dem kranken Olaf manche Stunde. Er las die ausgearbeiteten Szenen des dritten Aktes, so wie sie fertig wurden, an seinem Bette vor, und der Kranke lebte und webte mit ihm in dem entstehenden Werk. Immer zwingender entwickelte sich die Persönlichkeit des Helden und seine dämonische Macht über den Varus, den Segest vergeblich zu retten sucht, indem er den eigenen Schwiegersohn in Ketten legt, denn der Götterverblendete macht selbst seinen Vertilger frei. Auch dieser Zug war der römischen Überlieferung entnommen, von der Gustav sagte, daß sie tiefsinniger und dichterischer sei als alle spätere Dichtererfindung.

Unablässig wurden jetzt die Charaktere und Verwicklungen durchgesprochen, die wir zuerst nur so überwältigt hingenommen hatten wie etwas Gegebenes, wirklich Vorhandenes. Und der Eifrigste bei diesen Erörterungen war der Dichter selbst; seitdem das Eis gebrochen war, strömte ihm das Herz fortwährend über. Nachträglich muß ich mich wundern, wie eine werdende Dichtung so viel Beschreien vertragen konnte; Gustav war darin anders als alle andern schaffenden Geister, denen ich im Leben nähertrat. Unser Anteil hob und trug ihn, die Eingebungen strömten ihm stärker zu, wenn sie gleich auf andere wirkten, und kritische Einwände störten ihn nicht nur nicht, er forderte sie geradezu heraus. Dabei vergaßen wir alle, und er selbst am meisten, daß das Drama, dessen Wurf uns fortriß, großenteils noch gar nicht auf dem Papier stand, denn der Dichter pflegte zwischen Lesen und Erzählen abzuwechseln, und seine feurige Phantasie lief der Gestaltung weit voraus. Er arbeitete immer unter einem Wust von Zetteln, auf denen er seine Einfälle, wie sie ihm kamen, niederschrieb, aber das kunstmäßige Verwenden dieses Vorrats machte ihm eine unsägliche Mühe, weil er immer noch mehr hineinziehen wollte als der Rahmen faßte und doch viel zu feinfühlig war, um nicht die Überlastung augenblicklich zu empfinden. So arbeitete er viel schwerer, als man bei seiner wogenden Fülle hätte glauben sollen. Aber in seinen gehobenen Stunden vergaß er diese Hindernisse und ließ das Werk, das so gut wie fertig vor seinem Geiste stand, auch vor uns als fertig erscheinen.

Olaf hatte sich beim Vorlesen in die griechische Flötenspielerin verliebt, die er sich unter Adeles Zügen vorstellte.

Sie ist schön, hörte man ihn zärtlich sagen. Die Haare wachsen ihr rund um die Stirn, ihre Augenbrauen sind gerade – ach, und ihre Haut duftet nach Veilchen, setzte er mit geschlossenen Augen und einem tiefen, saugendem Atemzug wie in plötzlicher Entraffung hinzu.

Es schien ihm ein häßlicher Flecken im Charakter des Helden, daß der Dichter ihn das anmutige Kind, das sich von ihm geliebt glauben konnte, bei der Erstürmung des Lagers dem eifersüchtigen Zorn Thusneldens preisgeben ließ. Er wünschte sie durch ihn gerettet, und in der Tat brachte Gustav diesen weicheren Zug vorübergehend in sein Werk, um ihn später wieder auszumerzen, denn er schien ihm mit der dämonischen, allvertilgenden Wildheit, von der er seinen Armin besessen zeigte, nicht vereinbar.

Was wird aber aus deinem Helden, wenn er gesiegt hat? fragte Olaf einmal nachdenklich. Wie wird dem ehemaligen römischen Ritter, der die Kunst der Griechen kennt und über den Platon mitredet, das Leben im germanischen Urwald wieder munden?

Eine wohlberechtigte Frage, lächelte Gustav. Der Dichter wird dafür sorgen müssen, daß dem Helden keine Zeit bleibt, sie sich vorzulegen. Erst muß er die Römer unter Germanikus ein zweites Mal verjagen. Dann kommt der deutsche Dank. Die germanischen Stämme wollen ja gar kein gemeinsames Oberhaupt, am wenigsten eins aus eigenem Blute. Lieber römisch als cheruskisch, murrt es um ihn her. Das Murren wächst mit seinen Erfolgen. Und wofür sind die Verwandten da, der Oheim Ingomar und der Schwiegervater? Sein Weib den Römern ausgeliefert, sein ungeborener Sohn ein Sklave, um ihn selbst die Fallstricke der Verschwörung! und über seiner Leiche fallen die geeinten Stämme wieder auseinander.

Gustav, Gustav, was machst du? Das ist jammervoll, sagte Olaf.

Es ist Heldenlos, und vor allem deutsches. Oder weißt du es anders, Olaf? antwortete dieser.

Die langen Krankheitswochen reiften den Jüngling mehr als seine vier Semester Universität. Er redete jetzt ohne zu stocken über die höchsten und tiefsten Dinge, und aus seinen großen blauen Augen strahlte schon ein Licht aus anderen Welten. Er wußte, daß sein Tag sich neigte, aber er sprach nicht darüber. Nur einmal sagte er zu mir:

Gustav Borck wird ein ganz großer Dichter werden, und ihr alle werdet den Siegeszug seines »Befreiers« miterleben. Nur ich werde nicht dabei sein. Dann klatschet auch für mich, und du, Harry, schicke ihm in meinem Namen einen Lorbeerkranz.

Es war zum Lächeln und zum Weinen, wie der kindliche Mensch mir aus einem Beutelchen ein eingewickeltes Goldstück übergab und dazu den Finger an den Mund legte.

In einem milderen Klima wäre er vielleicht genesen. Aber an dergleichen dachte man in den damaligen engen deutschen Verhältnissen wenig. Man nahm den Ort, an den man vom Zufall gestellt war, als etwas Gottgegebenes, das nicht in Frage gezogen wurde.

Dennoch kehrte er noch einmal auf die Erde zurück und saß wieder die Abende im kleinen Stübchen neben der Anrichte, wo Adele, fühllos gegen sein stummes Liebeswerben, nur mit den Augen an Gustav Borck hing.

Dieser aber war in einer fürchterlichen Laune. Der reiche Gönner, der die Vorschüsse gab, bestand darauf, daß er im Herbst die erste juristische Prüfung ablege, und Gustav mußte gehorchen, denn es handelte sich um Sein oder Nichtsein. Über den Ausgang brauchte er sich bei seinem glänzenden Kopf keine Sorge zu machen, er hatte ja auch trotz dem poetischen Fieber, das ihn verzehrte, gewissenhaft seine Studien fortgetrieben. Aber der Arminius mußte ins Schubfach zurückwandern und die Gesichte verblaßten. – Man begriff seine Mißstimmung, und niemand verargte es ihm, wenn er als stummer Gast am Tische saß, mit finsterem Gesicht Rauchkringel in die Luft blies und Adeles köstliches Gebräu mit einer Miene schlürfte, als ob es Gift wäre. Aber geheuer war es in seiner Nähe nicht, und einer nach dem andern blieb weg. Zuletzt kam außer ihm und mir nur noch Olaf, und jeder las schweigend ein Stück der ausgelegten Zeitung, in die wir uns teilten. Auch in seinem verdüsterten Zustand zog es Gustav Borck zu Olaf Hansen, als ob bei ihm, bei seinem inneren Blühen, allein noch Frieden und Harmonie zu finden wären. Und Olaf, der gar nichts vom Leben forderte, genoß die letzten Atemzüge, die ihm noch verstattet waren, wie ein Geschenk der Götter.

Da brachte der dümmste, gemeinste aller Zwischenfälle das Verhängnis.

Eines Abends, als Olaf allein im Stübchen saß, kam ein Korpsstudent in angetrunkenem Zustand aus dem oberen Gelaß herunter und begann Adele in ihrer Anrichte auf täppische Weise zu belästigen. Olaf erhob sich bebend, um ihm entgegenzutreten, aber der Rohling, der ihn nicht kannte und wahrscheinlich für einen Knaben hielt, warf den Kranken lachend an die Wand. In diesem Augenblick trat Gustav herein, er stürzte sich auf den Angreifer und gab ihm einen Schlag ins Gesicht. Ein Lärm entstand, die Kommilitonen des Geschlagenen, der blindlings um sich hieb, eilten herunter und führten den Wütenden weg. Ein Zweikampf war unvermeidlich. Die Kartellträger gingen hin und her, der Geohrfeigte ließ Gustav auf Säbel fordern, dieser aber erklärte, obwohl er ein gewandter Fechter war, sich nur auf Pistolen zu schlagen. Vergebens suchten seine Freunde ihn anderen Sinnes zu machen im Hinweis auf das höhere Ziel, dem sein Leben gehörte.

Gerade deshalb, antwortete er und bestand auf seinem Willen.

Als wir nach dem Ort des Zweikampfes, einem Wäldchen bei Lustnau, fuhren, zeigte er eine Heiterkeit und Aufgeräumtheit, die man seit langem nicht an ihm kannte. Später gestand er mir, er habe das Duell als ein Gottesurteil zwischen sich und seinem Genius, der ihn verlassen zu haben schien, betrachtet.

Alles verlief streng nach dem Herkommen: die vorgeschriebenen Versöhnungsversuche der Sekundanten, das Laden der Pistolen usw. Beim zweiten Kugelwechsel erhielt Gustav einen Streifschuß in den linken Oberarm, denn er war mit der linken Seite vorgetreten, da er, wie ich erst jetzt entdeckte, ein Linkshänder war. Damit war der Zweikampf beendet. Die Wunde wurde verbunden, die Gegner versöhnten sich und wir fuhren in der glücklichsten Stimmung in die Stadt zurück zu einem Frühschoppen. Als ich nach Hause kam, hörte ich, Olafs Mutter habe nach mir geschickt. Die Aufregung hatte den Halbgenesenen aufs neue niedergeworfen, obwohl der Beleidiger so ritterlich gewesen war, ihn, ehe er zum Kugelwechsel mit Gustav Borck antrat, um Verzeihung bitten zu lassen. Ich eilte in Olafs Wohnung und fand die erste medizinische Größe an seinem Bett, die dem Kranken und seiner Mutter tröstliche Worte sagte, mir aber im Hinausgehen keinen Zweifel ließ, daß sein Zustand hoffnungslos war. Und doch wehrte sich die zarte Natur mit wunderbarer Widerstandskraft noch durch eine Reihe von Tagen. Auch Gustav und die andern Freunde kamen, denn er wollte alle noch sehen. Es schien uns unfaßbar, ihn zu verlieren, und daß das Schöne, das jetzt war, aufhören sollte zu sein. Denn je mehr seine Kräfte schwanden, desto blühender und seraphischer wurde sein ganzes Wesen.

Eines Tages, als es besonders schlecht mit ihm stand, las ich mehr in seinen Augen als von seinen Lippen die Frage nach Adele.

Blitzschnell dachte ich mir eine fromme Lüge aus.

Willst du sie sehen, Olaf? Sie kommt täglich nach dir fragen.

Sie kommt hierher? Zu mir?'

Sie wäre glücklich, dich zu sehen.

O bringe sie her. Bald, bald!

Ich ging ins Nebenzimmer, mich mit Gustav Borck zu besprechen, denn nun ward mir bange, ob sich sein Wunsch erfüllen lassen werde.

Bleib, sagte Gustav, der sehr blaß war, ich werde sie holen.

Willenlos, zitternd folgte ihm Adele. Er hatte ihr nicht einmal die Zeit gelassen, den Hut aufzusetzen und das Mäntelchen umzunehmen. Bloß ein schwarzes Schleiertuch lag auf ihren dunklen Haarwellen, als sie kam und in das Sterbezimmer trat, wie aufgelöst in Liebe für den Scheidenden. Wir gingen alle aus der Stube, auch die Mutter, während Adele sich am Kopfende des Bettes niederließ. Sie sprachen gedämpft, einige Minuten vergingen, dann hörte man den Stuhl rücken.

Bleich und schön wie ein Engel des Todes glitt sie hinaus. Die Mutter trat wieder zu Olaf.

Sie liebt mich, sie hat mich geküßt, flüsterte er mit seligem Lächeln, wandte sich zur Seite und verschied.

Das Lächeln aber blieb auf seinem Angesicht stehen und wurde in den nächsten Stunden noch immer strahlender, als ob ein übermenschliches Glück ihn mehr und mehr durchdringe. Wir hatten sein Ende beschleunigt, aber den letzten Augenblick zum schönsten seines Lebens gemacht, und die Mutter selber wünschte es nicht ungeschehen.

Es war ein rauher Herbsttag, verfrühte Flocken wirbelten durch die Luft, als wir unsern Olaf begruben. Der Zug, an dem sich die halbe Studentenschaft beteiligte, ging beim Läuten der Glocken die steile Neckarhalde herauf und gerade an dem Haus vorüber, wo seine Liebe wohnte. Adele stand im schwarzen Kleid unter der Tür und weinte heftig. Junge Mädchen sahen aus dem Fenster und warfen Blumen auf den Sarg.

In dem schönen stillen Totengarten, nicht weit vom Grabe Hölderlins, den er vor allen geliebt hatte, war sein Bett bereitet. Als der Geistliche geendet hatte, trat Gustav Borck, der den Arm noch in der Schlinge trug, ans offene Grab.

Olaf Hansen! begann er, –und dann noch einmal: Olaf Hansen! daß es uns durchlief. – Wir haben dich in unserer Mitte gehabt und können es nicht fassen, daß du von uns gegangen bist, denn es müßte immer einen Olaf Hansen geben, damit die Menschen an die Sonne und den Frühling glauben. Alles Schöne scheint wertlos geworden, seit wir es nicht mehr mit dir teilen, denn du selber warst das Schönste der Erde. In deiner Unschuld kanntest du dich selber nicht und wußtest nicht, welches Licht von dir ausstrahlte. Wir aber kannten dich, wenn wir auch nicht sein konnten wie du. Und ein Prüfstein warst du, denn nichts Unechtes, Gemeines konnte in deiner stillen Gegenwart bestehen. Dein reines Licht verzehrte alles Trübe. Ein niedriger Gedanke konnte nicht einmal zufällig durch deinen Geist huschen: er fand keine Tür, die ihn einließ. Aber du warst noch mehr als das, denn du hattest das Ohr des Dichters: wie den Wanderer um Mittsommer durch die Felder ein leises Summen von unzähligen unsichtbaren Wesen begleitet, so ging mit dir auf Schritt und Tritt ein leiser Gesang, in dem alle Stimmen der Natur zusammenflossen. –

Olaf Hansen, weißt du, welches Wort Odin dem toten Balder ins Ohr raunte, als sie ihn aufs Scheitergerüst hoben? Wiederkehren! Olaf Hansen, der Schnee fällt auf dein Grab. Wenn der Frühling kommt, werden wir dich in jeder Blüte grüßen. Toter Olaf, kehre wieder!

Am Abend saßen wir wie sonst im Stübchen beisammen, wo Adele mit verweinten Augen in tiefem Schwarz ihren Dienst versah. Niemand sprach ein Wort, bis Gustav eintrat. Da hob Kuno Schütte sein blasses Gesicht aus den Händen, seine Augen waren wie rotglühende Kohlen.

Wie meintest du das mit dem Wiederkehren, Borck?

Frage nicht, war die unwirsche Antwort. Es sprach aus mir heraus.

Mir schien es, als spreche Borck so, weil er nicht daran erinnert sein wollte, daß er von der Rührung übermannt worden war. Aber der andere faßte es augenscheinlich im mystischen Sinne.

Es sprach aus dir heraus! sagte er mit Ehrfurcht.

Es war eine schöne stille Totenfeier, die wir an jenem Abend begingen. Olafs Geist war unter uns, alle sahen wir ihn jetzt so, wie Gustav Borck ihn mit wenigen Strichen gezeichnet hatte, ein Jeder wußte irgendeinen bedeutsamen Zug von ihm zu erzählen. Sein Wesen, nicht mehr von der Beleuchtung des Augenblicks abhängig, war auf einmal in die feste Form geronnen, in der es uns alle durchs Leben begleiten sollte. Gustav fand aber auch das abschließende Wort.

Wir haben die lebendige Poesie, die unter uns wandelte, verloren, sagte er aufbrechend, wir müssen eilen, die Welt mit neuen Wunschbildern zu bevölkern.

*

Die juristische Prüfung war mit Glanz bestanden, aber von der Trilogie war auf einmal nicht mehr die Rede. Dagegen wurde ihm von anderer Seite eine angenehme Überraschung zuteil: sein Lustspiel war von der Stuttgarter Hofbühne zur Aufführung angenommen und sollte gleich zu Anfang des Winters die Lampen sehen. Die Proben waren schon im Gang und er fuhr jetzt des öfteren nach der Hauptstadt hinüber. Doch nahm er dieses Glück ziemlich gelassen auf und zeigte keine Spur von Unruhe über den Ausgang.

Es kann nicht schlecht gehen, äußerte er, da Selma Hanusch die Hauptrolle spielt; das Stück ist eigens für sie geschrieben in meinem ersten hiesigen Semester, als ich anfing um die Bühne zu werben, und sie hat sich auch persönlich dafür eingesetzt.

Selma Hanusch war die gefeierte jugendliche Liebhaberin, der Abgott der damaligen Theatergäste, ein bildschönes Wiener Kind. Wenn sie in einer ihrer Glanzrollen auftrat, so gab es einen Einbruch der studierenden Jugend in der Hauptstadt, wobei man dann meistens, um Geld zu sparen, durch den Schönbuch zu Fuß nach Stuttgart wanderte. Eine reizendere Minna von Barnhelm habe ich nie gesehen. Nur das Heroische lag ihr nicht, selbst die Thekla gab sie als Naive, nebenbei gesagt, die einzige wirklich lebenswahre Thekla, die ich je gesehen habe, wenn auch gewiß nicht die Thekla, wie Schiller sie gedacht hat.

Kuno Schütte und ich durften ihn mehrmals auf die Proben begleiten, was eine ganz neue Strömung in unser Leben brachte.

Dem Lustspiel selber konnte ich nicht viel Geschmack abgewinnen; wenn auch die Handlung gut erfunden war, so schien mir doch der Ton mehr geschraubt als witzig; die heitere Muse war unserem Dichter überhaupt nicht hold. Aber Selma Hanusch entfaltete in der Hauptrolle eine so entzückende Munterkeit, daß man die Mängel des Stücks vergaß, und daß auch die andern Gestalten durch sie verlebendigt wurden. Die erste Aufführung, zu der die Freunde vollzählig erschienen, war denn auch ein Sieg, in den sich eine heimliche Niederlage verkleidete, denn nur Selma hatte das Stück durchgerissen, das über die üblichen drei Vorstellungen nicht hinauskam.

Der Verfasser nahm sich die Schlappe nicht zu Herzen.

Ich sagte dir ja gleich, äußerte er gegen mich, daß das Stück nichts taugt, weil mein bestes Herzblut der Cherusker trank.

Schon während der Proben waren mir besondere Blicke aufgefallen, die zwischen der jungen Künstlerin und dem Dichter hin und her gingen. Als die beiden schönen Gestalten nach dem letzten Akt auf die Bühne traten, um für den Beifall zu danken, wurde mir's zur inneren Gewißheit, daß ich ein verbundenes Paar vor mir sah. Die Natur hatte gesiegt, der Frauenverächter war ein Mensch geworden wie andere.

Am späten Abend hielten wir zu Dreien noch eine kleine Nachfeier, und bei dieser Gelegenheit wurde ich in die Verlobung eingeweiht. Gustav wollte mit der Heirat warten, bis er seinen Dr. jur. gemacht und damit vor Verwandten und Gönnern sein Wort eingelöst hätte. Dann dachte er, sich neben Selma, die natürlich am Theater bleiben sollte, seine Stellung als Bühnendichter zu begründen.

Aber als er für ein paar Minuten weggerufen wurde, wandte sich Selma, die ganz in ihr Glück aufgelöst war, mit bittendem Gesicht an mich:

Sagen Sie ihm, daß er mich bald heiraten soll. Gleich! Wozu noch kostbare Jahre der Juristerei opfern, bei der er doch nicht bleiben will? Ich habe eine große Wohnung, wo für beide Raum ist, und ich werde ihn in nichts stören. Der Mann schreibt die Rollen, die Frau spielt sie. Und die Nähe des Theaters wird ihn viel rascher vorwärtsbringen, als die einsame Studierlampe im Türmchen über dem Neckar.

Es kam allerliebst mit leisem Wiener Anklang aus dem Munde des verwöhnten jungen Wesens, dieses verliebte Drängen, und überzeugend klang es auch; ich mochte mich aber doch nicht in so kitzliche Dinge mischen. Allein es war leicht zu sehen, daß Selma nicht ruhen würde, bis sie ihren Willen erzwungen hatte. Sie zeigte sich, wo sie nur konnte, an seiner Seite und setzte geflissentlich alle Zungen in Bewegung, um ihn zu einem rascheren Entschluß zu nötigen. Im ganzen Lande sprach man von der Wahl der gefeierten Künstlerin. Er brachte auch schon die meiste Zeit bei ihr in Stuttgart zu. Als er einmal ganze acht Tage zu Hause und bei der Arbeit blieb, kam sie selbst im Schlitten herübergefahren und versetzte mit der Pracht ihres Pelzwerks und dem reizenden Gesicht, das daraus hervorsah, das kleine Städtchen, das solchen Glanz noch nicht kannte, in wahren Aufruhr.

Grenzenlos war der Neid, den Gustavs Glück erregte.

Soll denn Einer alles habend sagte Heinrich Sommer voll Ingrimm, als er die Beiden am Gasthofstisch beisammen sitzen sah. Denn Gustav weigerte sich aus Ritterlichkeit, die schöne Braut auf sein Turmzimmerchen zu führen, wonach sie heftig verlangte.

Nur Kuno Schütte war aus entgegengesetzten Gründen außer sich über die Verlobung, die er Gustavs Abfall von seinem Genius nannte.

Diese Ehe wird sein Unglück werden, sie ist gegen seine Bestimmung, sagte er, und als ich erwiderte, daß sie vielmehr seiner Bestimmung entgegenkomme, weil sie für ihn der kürzeste Weg zur Bühne sei, erwiderte er düster:

Nein, nein, ich weiß es anders.

Fanatisch besorgt, wie er war für des Freundes Wohl, verlangte er von mir, ich sollte Gustav von der Verbindung mit Selma abraten, und da ich die Zumutung ablehnte, sagte er:

So bleibt mir nichts übrig, als selber mit ihm zu reden. Ich bin bestellt ihn zu warnen, aber es geschähe schonender durch dich.

Auf meine Frage, woher er denn das Recht ableite, sich gewaltsam in das Schicksal eines Freundes einzudrängen, antwortete er, es gebe besondere Fälle, die jede Unzartheit rechtfertigten, ja geböten.

Weißt du, was es ist, sagte er, das dich plötzlich mit unwiderstehlicher Gewalt zu einem Menschen zieht und dich für immer an ihn fesselt? Er hat dir vielleicht vor unvordenklichen Zeiten – sind's Jahrtausende, sind's Jahrmillionen? – einen ungeheuren Dienst geleistet, den du jetzt vergelten sollst, auch gegen seinen Willen. Du fühlst, daß du mußt, und fragst nicht weiter. So diene ich Gustav Borck und kann nicht anders. – Auch Gustav Borck hat solche Erinnerungen, von denen er nichts weiß. Warum schlug er sich für Olaf Hansen? Warum hieß er ihn wiederkehren? Denkst du noch an dieses Wort »Wiederkehren«, und wie es mich durchrieselte? Es sprach aus ihm heraus, er selber wußte es nicht.

Der seltsame Mensch ließ sich auch wirklich nicht abhalten und bestürmte den Freund, seine Verlobung rückgängig zu machen.

Die Kleinen mögen eilen sich ein kleines Glück zu schmieden, sagte er. Aber wer Großes will, muß einsam sein. Nur wenn du allein bist, gehörst du dir selbst und der Gottheit, der du dienen sollst.

Es scheint auch, daß seine Worte an eine zugängliche Stelle in Gustavs Gemüt rührten. Aber er war zu verliebt, und Selma zog zu stark, um ihn schwankend werden zu lassen.

Olafs Tod und Gustavs Verlobung hatten unsern schönen Kreis zersprengt. Es gab keine Sitzungen mehr bei Molfetta. Wenn ich ab und zu noch einmal aus alter Gewohnheit abends im Anrichtstübchen eintrat, fand ich nur Heinrich Sommer, der jetzt an Olafs Stelle Adele mit sehnsüchtigen Blicken ansah, was sich zu seinem groben blatternarbigen Gesicht recht komisch ausnahm. Adele aber achtete so wenig auf ihn, wie sie einst auf Olaf geachtet hatte. Sie ging jetzt immer ganz schwarz und hatte tiefumränderte Augen, in deren Blick etwas seltsam Starres lag. An ihren freien Tagen machte sie lange einsame Spaziergänge; man sah sie oft auf dem oberen Neckarsteg stehen und mit verschränkten Armen unverwandt ins Wasser blicken. Ich glaubte, daß sie so tief um Olaf traure, denn sie trug sein Bild in einer goldenen Kapsel um den Hals und trieb einen reuigen Kult mit seinem Andenken. Nach Gustav schien sie nicht mehr zu fragen, er setzte auch niemals wieder den Fuß ins Haus.

Als das Eis ging und die Frühjahrsgewitter kamen, trat plötzlich der Neckar aus seinen Ufern und überschwemmte weithin die flache Gegend zu seiner Rechten mit gelbbraunen Wassermassen, denen die sonst beinahe trockene Steinlach gewaltigen Zuwachs aus dem Gebirge brachte. Die dreifache Reihe der Baumstraßen ragte nur mit den kahlen Spitzen aus der Überschwemmung, auch der ferner gelegene Bahnhof stand tief im Wasser. Der hölzerne Steg war über Nacht eingebrochen, und die ehrwürdige Neckarbrücke wurde der Sicherheit wegen für den Verkehr abgesperrt, denn der tollgewordene Fluß brachte mächtige Tannenstämme mit, die er unterwegs einem unglücklichen Floß entrissen hatte, und berannte mit diesen die Brückenpfeiler. Während zweier Tage konnte man gar nicht zum Bahnhof gelangen, das Wasser hielt uns eingeschlossen wie ein Belagerungsheer. Aber es war ein großartiger Anblick, besonders von Gustavs vorgeschobenem Türmchen aus, gegen das die Wellen Sturm liefen.

Mit einemmal stand Kuno Schütte im Zimmer.

Wißt ihr, daß Adele verschwunden ist?

Gustav erblaßte auffallend.

Sie soll sich gestern abend spät entfernt haben, um dem Steigen des Wassers zuzusehen, und ist nicht mehr nach Hause gekommen. Die Ihren fürchten, daß sie mit dem Steg eingebrochen sei.

Die ganze Einwohnerschaft geriet in Bewegung, die Studenten voran, und man suchte mehrere Tage lang vergeblich die Ufer des schon wieder gefallenen Neckars ab. Erst, als die Wasser sich ganz verlaufen hatten, zog man sie bei Wannweil aus dem Rechen einer Mühle. Wir bestatteten sie zur Ruhe, nur wenige Schritte von Olafs Grab. Ihr Tod, der mit dem Einsturz des Steges in Verbindung gebracht wurde, galt für einen Unglücksfall. Gustav aber schien etwas anderes zu denken, es trieb ihn um wie ein böses Gewissen, daß er sein Stübchen kündigte und die Stadt verließ.

Später erfuhr ich durch Selma, die ihr eine herzliche Teilnahme widmete, das unglückliche Mädchen habe sich nach dem Duell in fesselloser Leidenschaft in Gustavs Arme stürzen wollen und sei von ihm, der keine Bindung wollte, herb zurückgewiesen worden. Sie fürchteten beide, daß sie durch Scham und Kummer in den Tod getrieben worden sei. Andere meinten, eine verspätete Liebe zu Olaf Hansen sei der Grund ihres Trübsinns gewesen. Die Wahrheit hat man nie erfahren, sie ruht mit ihr unter dem südlichen Myrtenbäumchen, das die dankbaren Gäste des Molfetta auf ihren Hügel pflanzten.

Nach Gustav Borcks Wegzug war auch meines Bleibens nicht mehr in Tübingen. Es zog mich nach Basel, wo damals Jakob Burckhardt lehrte.

Gustav gab dem Drängen Selmas nach, hing die Jurisprudenz an den Nagel und heiratete, was nun auch den äußeren Bruch mit seiner Familie nach sich zog. Im Sommer traf ich mit dem jungen Paar am Vierwaldstätter See zusammen, wo sie die Theaterferien verbrachten.

Ein Los der Götter schien den zwei Jungen, Schönen, Zukunftsreichen bereitet. Die Künstlerin, jetzt Frau Hanusch-Borck – nach dem letzten Zerwürfnis mit den Seinigen hatte der Dichter den bürgerlichen Decknamen angenommen, unter dem ich ihn eingeführt habe – strahlte von Glück und Liebe. Üppig blühend, doch mit schlanken Hüften, im blaßblauen Sommerkleid und bauschendem Reifrock, denn die Mode stand damals noch im Zeichen der Kaiserin Eugenie, so kam sie mir an der Dampfschifflände in Luzern entgegen. Ihr Haar war von dem Gelb des reifen Gerstenfeldes, und sie trug es wie einen Ährenkranz um das Haupt geflochten, dazu die dunkelblauen Kornblumen auf dem Florentiner Strohhut und der mohnrote Sonnenschirm, der mit seinem durchfallende Schein ihr Gesicht verklärte; eine jugendliche Ceres!

Gustav sah noch männlich schöner aus als früher im Hochgefühl seines aufgehenden Dichterruhms. Der Winter hatte ihm die erste ausgereifte Frucht getragen, ein bürgerliches Drama, dessen Hauptrolle abermals seiner Gattin auf den Leib geschrieben war. Es hatte darum bei der ersten Aufführung einen stürmischen Erfolg gehabt und sich den ganzen Sommer über auf dem Spielplan halten können; nur es auf auswärtige Bühnen zu bringen, mißlang, weil eben die Darstellerin fehlte, die ihm erst das rechte Leben gab. Dankbar erkannte er an, was er seiner Frau schuldete, und schrieb ihr sogar den Löwenanteil an seinem Erfolge zu, denn das Glück machte ihn immer gut und bescheiden. Mit mitleidigem Lächeln dachte ich an Kuno Schüttes Unglücksprophezeiungen. Konnte man sich eine schönere Eheharmonie und ein höheres Künstlerglück denken? Der Mann dichtete, die Frau verkörperte seine Träume, und die Hörerschaft warf ihnen Kränze zu, die jedes mehr dem andern als sich selber gönnte. Auch brauchte er nicht mehr ängstlich den Groschen zu sparen, denn Frau Selma bezog ein ansehnliches Gehalt, er selber nahm seine Gewinnanteile ein. Das war der höchste Stand, den Gustav Borcks Glücksstern äußerlich jemals erreichen sollte.

Nur nach der Trilogie wollte er nicht gefragt sein. Als ich von dem unvergeßlichen Eindruck jener ersten Szenen sprach und ihn an die Erfüllung des großen Versprechens mahnte, wurde er unruhig und gestand, daß er jetzt nicht zu so hohen Dingen gestimmt sei.

Selma, die fraulich sorgend ab und zu ging, blieb stehen und sagte vorwurfsvoll:

Wie? Eine Tragödie, von der ich nichts weiß?

Ich sagte ihr, daß sie den echten Gustav Borck noch gar nicht kenne, ehe sie seine »Norne« und den Eingang der»Varusschlacht« gelesen habe, und bat sie, dafür zu sorgen, daß er das Hauptwerk seines Lebens nicht versäume.

Aber Gustav wehrte ab und sagte ihr:

Laß das. Ich kann jetzt nichts dichten, was sich nicht auf dich bezieht. Du bist keine Thusnelda.

Die Schauspielerin streichelte ihn zärtlich ohne Ahnung von der gefährlichen Tragweite dieses Wortes. Eine Thusnelda war sie freilich nicht. Man konnte sie sich in keiner Rolle denken, deren Inhalt über die Liebe hinausging. Der Hauch der sinnlichen Leidenschaft erfüllte ihren ganzen Luftkreis wie schwerer Duft der Orangenblüte, dessen berauschender Wirkung man sich nicht entziehen konnte. Man wäre am liebsten gleich hingegangen, um selber zu heiraten, wenn man diese glücklich Liebenden sah.

So besaß nun Gustav, was er nie gesucht und woran er nicht geglaubt hatte: die Frau, die nicht bloß den schönen Mann, sondern ebenso den Dichter in ihm liebte. Frau Selma war seine Hörerschaft, seine anbetende Gemeinde; sie lag vor allem, was er schrieb, auf den Knien, und ich mußte mich oft leise fragen, wie lange wohl ein Sterblicher solche Vergötterung ohne Schaden ertragen könne. Er hatte zwar den guten Geschmack, ihr die allzu theatermäßige Sprache, wenn sie ihn etwa ins Gesicht ihren Dichterfürsten nannte, zu verweisen, er sagte dann wohl auch, sein Fürstentum müsse erst erobert werden, aber schon war er unduldsamer gegen Widerspruch geworden und behandelte alles, was sich nicht auf ihn selbst und sein Schaffen bezog, mit noch größerer Gleichgültigkeit als früher.

Hätte die Frau ihn nur etwas weniger geliebt oder mehr Zurückhaltung besessen, es wäre für beide Teile besser gewesen. Wenn sie bei Tische ein ernsthaftes Gespräch mit ihrem stets wiederholten: »Liebst du mich?« unterbrach, so hätte ich ihre zu ihm hinübergestreckte Hand fassen und zurückziehen mögen, weil er nur zerstreut damit tändelte oder sie mit flüchtigem Drucke von sich schob.

Des Morgens, während Gustav arbeitete, ging ich mit Selma am Seeufer spazieren, sie trug mir Stellen aus seinem neuen Drama vor und ließ mich versprechen, daß ich nächstens einer Vorstellung in Stuttgart beiwohnen und darüber an amerikanische Zeitungen berichten würde. All ihr Denken und Wollen drehte sich in steter Bewegung um den einen Angelpunkt: ihren Gustav.

Ich liebe ihn ja so grenzenlos, so grenzenlos, rief sie einmal übers andere. Wenn ich fühlte, daß ich ihm zur Last würde oder wenn ihm mein Tod etwas nützen könnte, augenblicklich stürbe ich.

Wenn er von ihr redete, so war der Ton auch ein zärtlicher, aber er klang doch völlig anders:

Das gute Weibchen, hieß es da. Je näher man sie kennt, desto mehr muß man sie schätzen. Sie ist ja ein Theaterkind und hat keine andere Bildung als die Rollen ihres Fachs, aber sie läßt sich so gern belehren.

Er trieb es jedoch etwas weit mit dem Belehren und Hofmeistern, und es war nicht immer ganz zartfühlend, wie er sie in meiner Gegenwart darauf aufmerksam machte, daß das betonte Sprechen und das bewußte Gebärdenspiel, das ihr von der Bühne her anhaftete, im täglichen Leben störend wirkte. Ich wunderte mich über die gute Laune und Geduld, mit der sie die Zurechtweisungen ihres gestrengen Herrn und Liebhabers hinnahm.

Am letzten Abend fuhren wir zusammen über den See. Der Mond war voll, der Himmel hoch und sternenlos, ein eigener Zauber spann über den Wassern, die wir stille durchglitten, denn das Mondlicht verwandelte See und Ufer in eine fremde Feenlandschaft, in die Axenstein und Rotstock vergeistert hereinblickten. Ich ruderte und tauschte halblaute Reden mit der jungen Frau, die mir an diesem Abend von einer wogenden Unruhe beherrscht schien, sei's, daß zwischen ihr und Gustav etwas vorgefallen war, sei's, daß sein Verhalten sie ängstete. Denn er lag der Länge nach auf der Bootsbank ausgestreckt, die Augen emporgerichtet, und bewegte die Lippen, ohne auf unser Gespräch im mindesten zu achten. Redete sie ihn an, so machte er eine abweisende Kopfbewegung. Dann begann er vor sich hinzusprechen:

Musik und Rhythmus ist alles. Form und Farben zerfließen. Die Erde ist nicht und war nicht. Das Leben löst sich in Klang.

Wir schwammen jetzt in dem breiten Flimmerstreifen, den der Mond über das Wasser zog. Ich legte die Ruder bei und ließ das Boot schaukeln, ganz dem Zauber hingegeben, der von oben niedertroff. Gustav fuhr fort in seinem halbsingenden Tone zu sprechen:

Wir fahren nach Traumland. Legt die Ruder nur bei, das Schifflein findet schaukelnd den Weg.

Gustav! rief Selma und beugte sich über ihn.

Gewappnete Riesen walten des Eingangs. Ihre Schilde rasseln, sie neigen sich uns. Weiße Schleier wallen grüßend, weiße sternendurchwebte Schleier, fremde, sternengeborene Töne fallen herunter. Und Musik ist alles.

Sie wollte ihn rütteln, ich faßte ihre Hand und bat: Lassen Sie ihn.

Still, gleich wird es geschehen, hörte man ihn geheimnisvoll sagen. Gleich, gleich jetzt, das Wunder ist nahe.

Gustav! sagte sie ganz laut, was tätest du, wenn ich ins Wasser spränge?

Er richtete sich halb auf und sagte noch immer in seinem verträumten Ton:

Ich ließe dich sinken und sänge weiter. Dem Leid entblühte das schönste Lied.

Würde das dich glücklich machen, Gustav? fragte die leidenschaftliche Frau.

Gesang ist Glück, es gibt kein anderes. Schön ist das Leben, schön ist die Liebe, doch der schönste Sang ist der Sang vom Tod. So stirb, Geliebte, daß ich ihn singe.

Noch hatte er nicht ausgesprochen, so lag Selma im Wasser, das hoch aufrauschte.

Ich dachte: Träume ich das oder sind wir alle drei wahnsinnig? – denn einen Augenblick sah ich sie mitten in ihren gebauschten Röcken auf der Flut sitzen wie eine Wasserlilie in ihrem Blattwerk. Dann versank sie.

Ich hatte schon die Ruder fahren lassen und sprang ihr nach. Neben mir tauchte Gustav unter. Wir zogen sie herauf, aber sie hatte Wasser eingeatmet und schien am Ersticken, denn sie gab schreckliche, keuchende Töne von sich und schlug mit den Armen, daß wir sie kaum halten konnten.

Gustav klammerte sich mit ihr an die Bootswand, ich schwang mich über Bord und half von innen nach, so brachten wir sie glücklich ins Trockene. Ich ruderte aus allen Kräften zurück, während er die Besinnungslose rieb und klopfte und sich verzweifelt um sie bemühte. Die Atmung hatte sich zwar von selbst wiederhergestellt, aber die Frau lag todesblaß und regungslos mit geschlossenen Augen auf der Bank ausgestreckt, wo kurz zuvor Gustav in seinen Träumereien gelegen hatte.

Dieser war wie verwandelt.

Stirb nicht, Selma, stirb nicht, flehte er geängstet.

So trugen wir beiden Triefenden die Triefende in den Gasthof zurück. Ein Arzt wurde gerufen, man entkleidete sie, wärmte sie und brachte sie zu Bette. Gustav war in solcher Aufregung, daß ich im Nebenzimmer, das sein Arbeitsraum war, die halbe Nacht mit ihm verbringen mußte, um ihn zu trösten, während er angstvoll auf und ab ging, sich selbst mit Anklagen überhäufend.

Ich mache sie unglücklich. Aber ich kann es nicht ändern. Ich hätte nicht heiraten dürfen, Kuno Schütte hat es mir vorausgesagt. Ich kann ihn ja nicht abwerfen, den Zwang meines Despoten. Wie soll je ein Weib sicher an meiner Brust ruhen? Ich bin ein schlechter Sohn, ein schlechter Gatte, ein schlechter Staatsbürger, denn alles Leben hat für mich nur Wert, soweit es sich in Dichtung verwandeln läßt. Ich habe Stunden, wo ich dem Nero nachfühlen kann, wie er Rom in Brand steckt, um die Flammen von Troja zu singen. Ich kann zum Unhold werden. Aber sie wußte es ja. Sie hätte mich nicht nehmen dürfen.

Schließlich bist du doch für solche Überspanntheiten nicht verantwortlich, entgegnete ich trocken, denn ich hatte mich über Selmas Unverstand herzlich geärgert.

Oh, du weißt nicht, welch grausame Worte ich oft zu ihr gesprochen habe, war seine Antwort. Das arme Weib! Sie liebt mich zu sehr. Es tut nicht gut.

So sich anklagend und sein Inneres unbarmherzig bloßlegend, wühlte er rastlos umher, bis er sich überzeugte, daß die Kranke nebenan gesund und ruhig schlummerte. Da legte er plötzlich am Tischchen, wo ich saß, den Kopf auf die Arme und entschlief gleichfalls.

Als ich mich am Vormittag verabschiedete, lag Selma blaß, aber glückselig lächelnd in dem tiefen Lehnstuhl. Eine Aussprache zwischen den Gatten mußte vorangegangen sein, denn beide hatten verweinte Augen und waren zärtlicher als je zusammen.

Ich bin so glücklich, sagte sie, als Gustav sich auf einen Augenblick entfernte. – Es war eine harte Probe. Ich war schon gestorben, und Sterben ist fürchterlich. Aber ich weiß es jetzt sicher, daß er mich liebt. Ich will ihm ja gewiß nie wieder einen solchen Schrecken verursachen. Und sehen Sie, auch mein Talisman ist unbeschädigt aus dem Bade gekommen.

Sie meinte Gustavs Kinderbild und ein Löcklein seines hellen Kinderhaars, das heimliche Geschenk seiner Mutter, das sie zur Hochzeit von dieser erhalten hatte. Es war das einzige freundliche Zeichen, das ihr von seiner Familie zuteil wurde, denn aus Vorurteil gegen die Schauspielerin schrieben sie ihr auch die Schuld an seinem zweiten Berufswechsel zu und hatten jeden Verkehr von vornherein abgelehnt. Um so höher schätzte sie dieses Angebinde; es war ihr das Teuerste, was sie besaß, und sie trug es an dem dünnen, goldenen Kettlein in der goldenen Kapsel, wie sie es erhalten hatte, unter dem Kleide auf der Brust.

Im Frühjahr rief mich eine Familienangelegenheit nach Amerika zurück, aber ich wollte Europa nicht verlassen, ohne mein den Freunden gegebenes Versprechen wahrzumachen und sie in ihrem jungen Heim in Stuttgart zu besuchen. Ich kam von einer Fußwanderung im Hegau her und stieg zuerst in der alten Universitätsstadt aus. Dort fand ich nur noch Kuno Schütte, der eben dabei war, seinen philosophischen Doktor zu machen. Alle die lieben Orte suchten wir noch einmal zusammen auf und schmückten auch die Gräber Olafs und Adelens.

Als ich aber das Endziel meiner Reise nannte, verfinsterte sich Kunos Gesicht; er war noch immer nicht mit des Freundes Heirat ausgesöhnt.

Der Dichter muß ein blinder Bettler sein, der nichts besitzt als seine Lieder, sagte er. Dann ist er allmächtig, dann wird er unsterblich. Ein wohlgepflegter, gehätschelter Ehemann, der zwischen zwei Mahlzeiten behaglich seine Dramen schreibt, ist kein Dichter mehr. Was hat er denn geschaffen, seit er die Ehre hat, Frau Selma Hanusch-Borcks Gatte zu heißen? Ich habe sein jüngstes Stück gesehen – das hätte ein Anderer auch gekonnt! Sind das Aufgaben für einen Gustav Borck? Man spürt noch die Löwenklaue, ja, aber wo bleibt der Löwe?

Er wird wiederkommen, wenn der erste Rausch verflogen ist, tröstete ich.

Den Teufel wird er! war die unwirsche Antwort. Dieses Stuttgart ist sein Kapua. Was stellt sich Selma unter einer vollkommenen Ehe vor? Den Mann entwaffnen, ihm die Simsonslocken abschneiden, daß er über dem Tändelspiel sein Werk vergißt. Um ihm die Freunde zu entfremden, schmeichelt sie ihm, bis er sich für den Mittelpunkt des Erdkreises ansieht und keinen Umgang mehr erträgt, der diese Tonart nicht aufnimmt. Ich sah es ja kommen. Täglich trinkt er aus dem vergifteten Becher und merkt es nicht. Selbst die unglückliche, schmachtende Adele wäre eine bessere Frau für ihn gewesen.

Der arme Kuno fängt an zu verknöchern, dachte ich. Und natürlich fand ich seine Schwarzseherei wieder sehr übertrieben. Auch sonst war er mir unheimlich geworden. Studium und Abtötung hatten ihn in der Zwischenzeit noch mehr ausgezehrt und das Geisterhafte seines Gesichts trat stärker hervor.

Ich weiß jetzt, wofür ich in seiner Schuld bin, teilte er mir geheimnisvoll mit, aber ich darf es nicht sagen.

Ich wollte es gar nicht wissen, denn ich fühlte immer, wie mein Kopf ins Wanken kam, wenn Kuno Schütte von übersinnlichen Dingen sprach. Ich hielt mir selber auch gern eine Tür ins Unbekannte offen, aber seine Gewißheit dem Unwißbaren gegenüber erfüllte mich mit Grauen.

In einer grünen Vorstadt hatte Gustav sich den reizendsten Dichterwinkel geschaffen, wo die gute Selma der doppelten Aufgabe oblag, ihre Kunst weiterzubilden und dem Gatten eine angenehme Häuslichkeit zu bereiten. Durch abgetönte, leise Farben und gedämpftes Licht, durch Teppiche und Vorhänge waren seine Arbeitsräume zu Stille und Schaffensseligkeit gestimmt; eine Menge kleiner Bequemlichkeiten sollte die Arbeit erleichtern. Dieses Studierzimmer war Gustavs eigenstes Werk, denn Selma hatte keinen entwickelten Geschmack, wie die von ihr bewohnten, mit lauter Flitter behängten Zimmer bewiesen. Dagegen war sie mit fraulicher Sorgfalt beflissen, dem Geliebten jede Störung fernzuhalten; kein Mäuschen durfte sich rühren, während er arbeitete. Die gefeierte Schauspielerin, die vor der Öffentlichkeit in dieser Ehe die Hauptperson war, trat im Hause so gänzlich vor den Bedürfnissen und Gewohnheiten des Mannes in den Hintergrund, wie man es kaum von der unbedeutendsten aller Frauen hätte erwarten können. Es war ein freiwilliges Liebesopfer, das er als etwas Selbstverständliches hinnahm. Wer die Umstände nicht kannte, hätte nie vermuten können, daß die Frau es war, die die Mittel zu dem sorgenlosen Dasein schaffte. Im Hause verkehrten nur Freunde und Bekannte des Mannes; mit ihren Kunstgenossen pflegte sie außerhalb der Bühne keinen Umgang. Es war geradezu, als ob sie ihren Stolz darein setzte, die Künstlerin ganz hinter der liebenden Frau verschwinden zu lassen.

Damals lernte ich einen gewissen Dr. Berka, einen Buchmenschen kennen, der Borck wie sein Schatten begleitete. Was sein eigentlicher Beruf war, habe ich nicht erfahren; im Hause hatte er die Aufgabe, die Brosamen aufzulesen, die vom Tische des Reichen fielen. »Unsern Eckermann« nannte ihn Selma, die glücklich war, daß ihr Mann einen so ergebenen Bewunderer gefunden hatte.

Selten hat mir ein Mensch auf den ersten Blick mißfallen wie dieser Berka. Er war von kleiner, unansehnlicher Gestalt, mit übergroßem Kopf und fahlem Gesicht, über das es fortwährend wie Ameisenkribbeln lief. Der Aussprache nach mußte er irgendwo an der polnischen Grenze zu Hause sein. Augenscheinlich war er sehr belesen und besaß ein ungewöhnliches Gedächtnis für anderer Leute Gedanken, die er jeden Augenblick mit überraschender Schlagfertigkeit ins Feld führen konnte.

Er ist ganz Hirn, sagte Gustav von ihm, er hat weder Sinne noch Seele, alles nimmt bei ihm den Weg über das Denken. Dafür ist es aber auch in seinem Kopfe so hell, wie in keinem andern Menschenkopf, den ich kenne, und diese Naturerscheinung beschäftigt mich immer aufs neue.

Da ich gewohnt war, mein Urteil dem Urteil Gustavs unterzuordnen, nahm ich mir vor, den unerfreulichen Gesellen unter allen Umständen erträglich zu finden.

Am zweiten Abend sollte Selma in einem neu eingeübten französischen Stück auftreten. Gleichwohl hatte sie darauf bestanden, ich müsse auch diesen Mittag ihr Gast sein. Aber sie litt an unerträglichem Lampenfieber und konnte nicht ruhig auf dem Stuhle sitzen, deshalb zogen wir beiden Männer nach der Mahlzeit uns gleich in Gustavs Arbeitszimmer zurück, wohin uns der Kaffee nachgebracht wurde. Selma in einem gelbseidenen Hausgewand von orientalischem Schnitt, die schönen Haare einfach aufgewunden – wenn sie abends spielte, blieb sie den ganzen Tag im Morgenrock –, ging in ihrer Unruhe rastlos aus und ein. Bald setzte sie sich ganz nahe zu uns, wie wenn hier Schutz vor der Aufregung zu finden wäre, bald sprang sie jählings auf und eilte hinaus, als hätte sie etwas Wichtiges vergessen. Ich begann mich mit ihr und für sie zu ängsten, da ich dachte, sie fühle sich vielleicht in ihrer Rolle nicht sicher, Gustav aber saß mit übergeschlagenen Beinen und rauchte gelassen.

Sei ganz ruhig um ihretwillen, sagte er. Es ist das beste, du gibst auf ihren Zustand gar nicht acht. Ich habe mich schon daran gewöhnt. Es ist jedesmal so, wenn sie auftritt. Das wächst jetzt von Stunde zu Stunde, und wenn heute abend der Wagen kommt, sie abzuholen, so wird es sein, als ob eine Todkranke weggeführt würde. Aber es dauert nur so lange, bis sie auf der Bühne steht. Beim ersten Wort, das sie spricht, fällt die Angst von ihr ab und sie ist völlig Herrin ihrer selbst. Das heißt: wenn ich nicht zugegen bin, denn meine Anwesenheit macht sie immer unsicher, ich begreife nicht, warum.

Ich hätte es ihm sagen können, es war das viele Hofmeistern und Bildenwollen, womit er die Arme um ihre Unbefangenheit brachte.

Das geht so weit, fuhr er fort, daß ich jedesmal zu Hause bleiben muß, wenn sie in einer neuen Rolle auftritt. Aber heute abend wollen wir sie Beide bewundern. Ich habe mir heimlich zwei ganz versteckte Logenplätze neben einer Säule verschafft, wo sie uns nicht vermutet. Sie darf keine Ahnung haben, daß wir da sind. Ich bin gewiß, sie wird hinreißend sein. Wir haben das Stück zusammen durchgenommen, ich finde es abgeschmackt, aber ich muß zugeben, es »liegt« ihr. Ich werde nie ein Stück schreiben, das ihr so liegt wie dieser neue Sardou.

Es ging ganz so, wie Borck vorhergesagt hatte. Selma trat heraus, von einer freudigen Bewegung im Zuschauerraum begrüßt. Von ihrer Angst war ihr nichts mehr anzusehen, sie war strahlend schön und spielte mit einer inneren Wahrheit, die aus der öden Rührigkeit ihrer Rolle ein unmittelbares menschliches Fühlen machte, und steigender Beifall dankte ihr nach jedem Aktschluß. Wir beide waren in völliger Selbstvergessenheit hinter der Säule hervorgetreten, um besser zu sehen. Da stockte sie mitten im Spiel und sah einen Herzschlag lang wie angewurzelt zu uns herüber, sie war Gustavs ansichtig geworden. Um sie anzufeuern, machte er ganz leise die Gebärde des Händeklatschens, die wie ein Signal auf die Nebensitzenden wirkte, denn plötzlich erhob sich aus unserer Reihe ein Beifall, der von Galerie zu Galerie lief und am Ende alles mitriß, so daß gegen jede Gewohnheit der Schauspielerin mitten im Auftritt eine brausende Huldigung dargebracht wurde. Ihr guter Genius hatte es so gefügt, daß jenes Zusammenfahren und Erstarren gerade auf den Augenblick paßte und als ein Gipfelpunkt ihrer Kunst erschien. Nach dem Aktschluß wurde ihr ein mächtiger Lorbeerkranz mit flammendroten Bändern auf die Bühne gereicht.

Selig wandelte sie an jenem Abend an Gustavs Arm nach Hause, ich mußte noch helfen, ihren Triumph, der ihr erst durch seinen Beifall zu einem vollständigen geworden war, in Champagner zu feiern. Als die Gläser leer waren, ließ sie sich durch das Mädchen den schweren Lorbeerkranz hereinholen und zerpflückte ihn auf ihrem Schoß zu tausend Blättern. Diese schüttete sie dann, sich plötzlich erhebend, aus den Falten ihres Kleides alle dem Manne zu Füßen und sagte, indem sie bei ihm niederkniete:

Der Lorbeer ist für den schaffenden Künstler, dessen Gebilde dauern. Ich kann nur nachgestalten, und was ich gebe, das ist im nächsten Augenblick nicht mehr. Deshalb verlange ich auch keinen Ruhm als den, sein Weib zu sein.

In ihren schönen Augen, die trunken waren vom Erfolge dieses Abends, glänzte die tiefere Wollust, so von ihrem Thron herabzusteigen und ihr Haupt auf die Knie des geliebten Mannes zu legen.

Was aber hatte seit seiner Heirat der Dichter geleistet? Wo waren die verheißenen Werke? Wo war vor allem die Trilogie, die ihn in die Reihe der großen Unsterblichen stellen sollte? War diese liebliche Stadt, die schöne Häuslichkeit mit Selma wirklich der Zaubergarten, wo die Amoretten den Geharnischten vom Rosse ziehen und ihm die Waffen verstecken? Fast wollte es mir so scheinen, wenn ich den Feuergeist, der noch vor kurzem flüssige Lava ausgeströmt hatte, neben dem reizenden Weibe sitzen sah, das ihm schmeichelnd diente. Nach dem »Befreier« wagte ich gar nicht mehr zu fragen, denn ich hatte gleich gemerkt, daß er hastig ablenkte, wenn das Gespräch nur in die Nähe dieses Gegenstandes kam. Zur Zeit war er damit beschäftigt, die letzte Hand an ein neues Schauspiel zu legen. Aber er sprach nicht davon mit der überschwenglichen Zuversicht wie einst im Hölderlinsturm von seinen Plänen, sondern es klang etwas Gepreßtes, fast Kleinlautes in seinen Worten durch, als ob er mit sich selber nicht im Einklang sei. Ehe er es der Intendanz einreichte, wollte er seine Wirkung im engen Kreise erproben, deshalb wurde einer der letzten Abende meines Stuttgarter Aufenthalts für die Vorlesung bestimmt. Außer mir war auch der unvermeidliche Berka und ein anderer literarischer Hausfreund namens Ruhland geladen. Das Stück spielte zur Zeit der französischen Revolution auf einem Herrensitz in Südfrankreich; der wilde geschichtliche Hintergrund mit Sansculottenhaufen und brennenden Burgen gab ihm eine warme Tönung. Am Schlusse erschien unter Trommelwirbeln und den Klängen der Marseillaise ein junger Artillerieoffizier mit Namen Napoleon Bonaparte auf den Brettern als das menschgewordene Weltgeschick, was von starker, aber rein äußerlicher Wirkung war. Die Fabel des Ganzen wollte für mein Empfinden nicht so recht zusammenhalten. Der Schwerpunkt lag auf einer Frauengestalt, in der die völlige Selbstentäußerung der Liebe zum Ausdruck kommen sollte. Ruhland erhob Einwände, er fand das Liebesopfer der Heldin, einer Adligen, die sich einem Plebejer geschenkt hat und jetzt mit der alten feudalen Ordnung untergehen will, um dem Geliebten nicht im Wege zu sein, überspannt und unbegründet. Gustav verteidigte sich mit Feuer, von Berka unterstützt, und was er sagte, war bedeutender als alles was im Stücke stand. Selma hatte während der ganzen Vorlesung nach ihrer Gewohnheit auf einem Schemel am Boden gesessen und andächtig zugehört. Sie war augenscheinlich ganz mit dem Gedanken beschäftigt, wie sie die etwas blutleere Gestalt der Heldin zum vollen Leben bringen wolle. Als auch ich mich zu der Meinung Ruhlands bekannte, daß diese Gestalt keine innere Notwendigkeit habe, rief die Künstlerin: Sie hat! Sie hat!, sprang von ihrem Schemel auf, und dicht vor ihren Gatten tretend sprach sie mit hinreißendem Ausdruck die beanstandeten Worte: Geh' deinen sicheren Weg zur Höhe. Wer bin ich, daß ich dich hemmen dürfte usw., bis der Verfasser sie entzückt in die Arme schloß, und wir anderen in lauten Beifall ausbrachen.

Aber als wir zusammen nach Hause gingen und ich meinem Gasthof zustrebte, fing Ruhland, sobald Dr. Berka in einer anderen Richtung abgeschwenkt war, über Gustav zu reden an.

Ich weiß, er trägt sich mit großen Plänen. Es ist Gefahr, daß er sich zu lange damit trägt und den rechten Augenblick versäumt. Drängen Sie ihn, ich tue es auch. Jetzt sucht er sich selbst herabzustimmen, sich anzupassen. Das soll er nicht, er soll seine Umwelt mit sich hinaufreißen. Dieses heutige Stück, ja das wäre ein ganz guter Wurf für einen Kleineren. Aber er denkt und fühlt eigentlich immer darüber hinaus. Wer weiß, ob nicht einer von den Dramenschreibern, die er nicht für voll nimmt, es besser gemacht hätte? Ein solcher hätte dem Stoff sein Bestes gegeben, und wenn das auch nicht viel wäre, so wäre es doch immer alles was er vermag, eine eingesetzte ganze Kraft. Daß Borck sich nicht völlig einsetzt für das, was er jetzt schreibt – mag es auch das Geschreibe der andren immer noch weit an Geist überragen –, das ist's, was der Hörer fühlt und was ihn kalt läßt gegen den Dichter, der selber nicht mit der Seele dabei ist. Ihm liegt nun einmal die mittlere Gattung nicht. Auch tragische Einzelschicksale geben ihm noch nicht den genügenden inneren Auftrieb. Ihn reizen nur Völkergegensätze, ja mehr als das: zusammenprallende Zeitalter. Ich habe Bruchstücke von einem Alexander, einem Konstantin, einem Montezuma in seinen Papieren gesehen. Das ist die rechte Lust für ihn. Vor allem aber seine große Trilogie. Mahnen Sie ihn, daß er die zu Ende führt. Wenn man Gustav Borck ist, so soll man sich mit nichts Halbem begnügen.

Nach einigem Schweigen setzte er hinzu:

Es ist auch für das Glück dieser Ehe besser, wenn er sich zu einem großen Schlag zusammenrafft. Unser Freund Borck, wie ich ihn kenne, wird sich nicht lange bequemen, den Triumphwagen seiner Frau zu ziehen. Leistet er nicht bald etwas, wodurch er ihren Ruhm überstrahlt, wie der Jupiter da oben seine Nachbargestirne, so dürfen Sie sicher sein, daß er sich für all die Liebe und Anbetung, in die sie ihn einwickelt, noch grausam rächen wird.

Rächen für Liebe und Anbetung! sagte ich entsetzt.

Ach, bester Herr Ewers, war die Antwort, glauben Sie mir, es gibt kein Verbrechen, worauf eine härtere Strafe steht als auf diesen beiden.

Solche Reden, die mich an Kuno Schüttes böse Ahnungen erinnerten, gaben mir in der Stille zu denken.

Gustav war augenscheinlich sehr verliebt in seine Frau, noch mehr als in den ersten Zeiten ihrer Ehe. Man sah es an den trunkenen Mienen, mit denen er jeder Bewegung ihrer biegsamen Gestalt folgte, an den Blicken, die sie heimlich tauschten. Es herrschte eine tropische Lust um dieses glücklich genießende Paar, die den Eintretenden bis auf die Knochen sengte. Wenn ich des Abends aufbrach, schien es, als warteten sie nur den Augenblick des Alleinseins ab, um sich mit bacchantischem Jubel in die Arme zu stürzen. So war es in Luzern noch nicht gewesen, von seiner Seite nicht. Seitdem hatte die Leidenschaft ihn mächtiger hingerissen. Zugleich aber hatte sich auch der Zwiespalt in seiner Natur, der schon damals vorhanden war, vertieft. Eine verhaltene Unruhe ließ ihn des gefundenen Glücks nicht innerlich froh werden. Es war, als ob er es nur mit schlechtem Gewissen genösse.

Er ist so reizbar, klagte mir Selma.

Ich kannte das ja von früher her, aber jetzt war es ein dauernder Zustand geworden. Oft ging es durch seine Reden wie ein Ton der Erbitterung gegen die Frau, die ihm diente, und man konnte sich sagen, daß dieser Ton unter vier Augen mitunter noch schärfer klingen mochte. Selma suchte sich auf heitere Weise damit abzufinden.

Ich möchte eine Preisfrage ausschreiben, sagte sie einmal. Warum sind Liebende so gehässig? Sagen Sie mir's, Unkas, wenn Sie es verstehen.

Ich fürchte, ich weiß zuwenig von der Liebe um mitzureden, antwortete ich. Als Siebzehnjähriger habe ich eine um sieben Jahre ältere Verwandte in ehrfürchtiger Anbetung geliebt und wurde von ihr ausgelacht. Dann verliebte ich mich in ihre zehn Jahre jüngere Schwester mit derselben ehrfürchtigen Anbetung und mit demselben Erfolg, und das gleiche Gefühl hatte ich jedesmal, wenn ich mich wieder verliebte. Ich begreife nicht, wie Liebe gehässig sein kann.

Laß ihn, er versteht nichts von der Liebe, sagte Gustav. Die amerikanischen Männer haben Fischblut. Die Liebe ist grausam und muß es sein. Quälen, Qualen erleiden, das ist ihre Wollust. Warum versengt Eros Psyches Flügel mit der Fackel? Warum verfolgt der wilde Jäger im Pinienwald von Ravenna ohne Rast die nackte Jungfrau und reißt ihr das Herz aus der Brust? Das ist Liebe.

Quäle mich, mein Eros, sagte sie, jage mich, wilder Jäger, ich will es nicht anders.

Die beiden Hausfreunde waren auch wieder anwesend und begegneten sich mit kühler Höflichkeit, aus der die gegenseitige Abneigung sprach.

Dieser Berka ist auch kein Glück für unsern Borck, sagte mir Ruhland offen, als wir uns allein fanden. Seine Art von Witz trocknet Herz und Leber aus, die Sonne verliert an Glanz, wenn er sie ansieht. Und haben Sie bemerkt, wie er unter dem Tisch heimlich ins Merkbuch schreibt? Die Reporterseele. Es ist für den Fall, daß Borck später ein berühmter Mann wird, um gleich mit Gustav-Borck-Erinnerungen aufzuwarten. An Borcks Stelle würde ich ihn an die Luft setzen. Aber ihm kommt die Schmarotzerpflanze gelegen, weil er den Abstand von ihm zu sich genießen kann. Es ist Zeit, daß eine Freundeshand ihn rüttelt und ihm die Ziele weist, die ihm zu entgleiten drohen. Und Sie, Herr Ewers, sind der Nächste dazu.

Ich versprach's. Aber als ich mich nur von weitem und mit Vorsicht der Frage näherte, da war es, als ob man ein übervolles Gefäß angestoßen hätte, und es brach aus dem Armen hervor wie ein lange angesammelter, unerträglich gewordener Schmerz!

Nicht ich verlasse meine Ziele, sagte er, sie verlassen mich! Seit meiner Heirat ist es so. Die glückliche Liebe verträgt sich nicht mit der Kunst, wenigstens nicht mit der tragischen. Wer stark sein will, der bleibe allein. Du fragtest mich einmal in Luzern: Was hast du deiner Frau vorzuwerfen? – Nichts, nichts, als daß sie mir die Götter vertrieben hat. Nein, nicht sie, die Arme, versteh' mich recht, nicht ihre Person, es ist die Ehe, das ständige Zusammensein mit einem anderen Wesen, was die starken Gesichte nicht aufkommen läßt, die Gemeinsamkeit des Lebens. Aus meiner ärmlichen Studentenbude im Türmchen des irren Dichters, wo ich manchen Tag ohne Essen saß, da kamen die Götter zu mir. Hier in dem schönen Studierzimmer, das alle bewundern, fliegt mich nur das Geringwertige an.

Nichts Geringwertiges, beschwichtigte ich. Etwas Geringwertiges wirst du niemals machen. Nur ist es nicht das, was du selber von dir forderst.

Laß es gut sein, antwortete er. Es bedarf keiner Beschönigung. Meinst du, ich wüßte nicht, was unser allweiser Ruhland gestern abend über mich zu dir geredet hat, als ihr zusammen wegginget? Es ist mir, als wäre ich dabeigewesen. Und er hat ja recht, ganz recht. Das sind wahrhaftig keine Adlerflüge, was auch Freund Berka sagen mag. Es ist überhaupt kein Fliegen, nur ein Flattern mit gebundenen Schwingen. Aber was soll ich denn machen? Mit zusammengelegten Händen sitzen und warten, bis eine große Eingebung sich meiner bemächtigen will und mich unterdessen von meiner Frau ernähren lassen? So bin ich wenigstens ein fleißiger Arbeiter geworden. Ich sitze meine Stunden am Schreibtisch gewissenhaft ab wie ein Beamter und beschreibe unendliche Stöße von Papier. Davon wandert dann freilich die größere Hälfte in den Ofen und die andere – du hast es ja gesehen – die taugt auch nicht viel.

Es war der strahlendste Apriltag, wir gingen in den frischbelaubten Anlagen gegen Kannstatt hin. Durch die dichten Zweige der Kastanien fielen die Jubeltöne der Amsel herunter, die roten Blütenkerzen leuchteten, und hier verzweifelte einer, weil er zu glücklich war.

Wenn du wieder einmal die Blätter der Trilogie hervorholtest, warf ich ein, und dich in die Stimmung vom Hölderlinsturm zu versenken suchtest?

Er lachte bitter.

Wenn ich meine alten Blätter hervorhole, so sieht mich ein Stoß Papier mit schwarzen Buchstaben an. Das ist alles. Aber die Gesichte, die uns viere damals berauschten, wo sind die? Fort, fort, verflogen!

Er hatte den Hut abgenommen, um sich die gerötete Stirn zu lüften. Jetzt riß er auch den Hemdkragen auf, als ob er am Ersticken wäre.

Das kann doch nicht sein, sagte ich. Gehen sie ja mir, der ich nicht ihr Erzeuger bin, durchs Leben nach. Denke nur gleich an die Szene, wie Armin den Varus in Cheruska beglückwünscht.

Und ich begann aus dem Gedächtnis die Stelle, wie sie mir einfiel, ihm vorzusagen. Die zwei steinernen Rossebändiger mitten im Grünen, die aussahen wie ein nach Thuiskoland versetztes Stück Rom, gaben den rechten Hintergrund dazu, und als ich mit den Worten schloß:

Walhalla lächelt, weil Romas Götter unsre Gäste sind, – da stand er still und horchte, horchte noch lange fort wie auf das ferne Rauschen eines Wasserfalls.

Ja, sagte er endlich, so war es. Wenn ich den Faden wiederfinden könnte.

Ei was, rief ich, du mußt ihn finden! Denk' an den, der die Worte sprach: So kommandiert die Poesie!

Er konnte sie kommandieren. Er war ihr König, gab er zur Antwort. Und selbst Er, – wenn er etwas Großes vorhatte, so flüchtete er in sein Gartenhaus, und Christiane – durfte ihm das Essen schicken.

In seinem Gesicht arbeitete es grimmig, wie wenn Welten sich bekämpfen.

Ich muß sie brechen, ich muß sie brechen, diese Fesseln! Ich muß, ich muß! hörte ich ihn vor sich hin sagen, und als wir an den Schwanenweiher kamen, war er plötzlich von meiner Seite verschwunden.

Da hast du was Schönes angerichtet, sagte ich voller Angst zu mir selber, er ist imstande und verläßt sie.

Und mein böses Gewissen erlaubte mir nicht, Selma an diesem Abend vor Augen zu treten, da ich überzeugt war, es müsse heute irgend etwas Entscheidendes zwischen den Gatten vorgehen.

Am andern Morgen, der für meine Abreise bestimmt war, packte ich eben meine Wäsche in das Handköfferchen und überlegte wieviel Zeit mir bis zur Abfahrt des Zuges bleibe, um von den Freunden, denen mein Hiersein doch nur Verwirrung stiftete, Abschied zu nehmen, als Gustav bei mir eintrat. Er sah ganz verwandelt, strahlend aus, als ob er sich über Nacht verjüngt hätte, und sagte schnell:

Liebster, bester Freund, ich komme mit der dringenden Bitte, heute noch nicht abzureisen.

Dabei fuhr er mit einem mutwilligen Griff in den Haufen schön gefalteter Gegenstände, die ich zum Einpacken zurechtgelegt hatte, und streute sie auseinander.

Du weißt, daß am 15. mein Schiff in Hamburg abgeht, sagte ich.

Ein Tag verschlägt nichts, ich bitte dich nur um einen. Du hast mir gestern einen so großen Dienst erwiesen, daß du heute fortfahren und mir den zweiten erweisen mußt. – Als du mir gestern meine eigenen Verse vorsprachst, da kam es auf einmal über mich wie im Turmstübchen des irren Dichters. Darum verließ ich dich so rasch, ich mußte allein sein. Und denke dir, in der Nacht stellte sich plötzlich der Cherusker wieder ein und Varus mit seinen Römern und die reizende Atthis, die unsern Olaf entzückte, alle die alten Freunde aus der Junggesellenzeit. Das war ein Fest. Ich brachte die ganze Nacht im Studierzimmer zu, mir eilige Aufzeichnungen machend. Sie hatten mir nach der langen Zeit so viel zu sagen, daß ich mit Schreiben kaum nachkommen konnte. Und es brauste und wogte um mich her wie Weltgerichtsposaunen. Die Nachtstunden, die waren immer meine beste Arbeitszeit. Das muß wieder so werden. Meine arme Frau hat sich geängstet, natürlich, ich kam ja nicht zu Bette. Ich hörte sie mehrmals vor die Tür schleichen, aber sie rief mich zum Glück nicht an. Hätte ich geöffnet und nur ein Wort gesprochen, so wären die Gäste vielleicht entflohen, wer weiß wohin! So ließ ich sie stehen. Diese glückliche Nacht der Empfängnis danke ich dir. Und mein Stück soll nichts dabei verloren haben, daß ich unterdessen um Jahre älter und reifer geworden bin. Es soll ihm bekommen wie dem Helden, der nenn Jahre an der Mutterbrust sog, um stark zu werden.

Und was soll ich jetzt für dich tun?

Jetzt sollst du zu Selma gehen und sie trösten und ihr begreiflich machen, daß sie mich weder heute noch morgen, noch im Laufe der nächsten Tage, vielleicht der nächsten Wochen erwarten darf.

Du willst fort? fragte ich erschrocken, und die schöne Freude fiel schwer zu Boden. Wußte ich doch von Luzern her, wessen die Frau in ihrer Leidenschaft fähig war.

Wie ich stehe und gehe, war die Antwort. Ich muß wieder einmal allein sein. Das ist's, was mir bisher gefehlt hat. Aber ich gehe nicht weit fort. Ich nehme gar nichts mit als meine Papiere (er klopfte auf die Tasche seines Rocks, die prall gefüllt war). Von deiner Freundschaft erbitte ich mir, daß du heute noch hier bleibst, während ich mich heimlich empfehle, und daß du mein armes Weibchen beruhigst. Sie hat es, weiß Gott, nicht leicht mit mir. Aber sie ist so gut und verständig. Sage ihr, sie solle nur fein fleißig ihre neue Rolle üben. Vielleicht reift sie mir doch noch einmal zur Thusnelda heran. Jedenfalls wird sie einen besseren Gatten zurückbekommen, als sie ihn heute verliert. Wenn ich wieder ich selber bin, so werde ich sie auch besser schonen und hegen. Sag' ihr das.

Aber warum sagst du es ihr nicht selbst?

Nein, nein, es gäbe Szenen und Tränen, und darüber verflögen mir die schönsten Gedanken. – Leb' wohl, Harry, und Dank!

Damit stürmte er die Treppe hinunter.

Ich fand Selma in großer Erregung, wie ich gefürchtet hatte.

Gustav ist krank, rief sie mir schon an der Schwelle entgegen. Er hat die ganze Nacht sich nicht gelegt, und heut ist er in aller Frühe fortgegangen, was er niemals tut.

Nein, Selma, sagte ich. – Jetzt wird er erst gesund. Bisher hatten Sie einen heimlichen Kranken im Haus, aber nun wird er genesen.

Ich richtete ihr Gustavs Auftrag aus, den sie ganz entgeistert mit stockendem Atem anhörte. Ich beschwor sie mit aller Beredsamkeit, die ich aufbringen konnte, ihn nicht zu suchen noch zurückzurufen, auch wenn er wochenlang ausbleibe, sich nicht zwischen ihn und sein Werk zu drängen.

Die leidenschaftliche Frau brach in Tränen aus.

Also ich bin schuld, wenn sein größtes Werk stockte? rief sie bitter.

Nicht Sie, er erkennt es ausdrücklich an. Nur das übergroße Glück, das an die Erde kettet und die Lust zu hohen Flügen lähmt.

Sie beruhigte sich allmählich.

Solang er nur keine andere Frau mir vorzieht, will ich mich in alles schicken, will mit allem zufrieden sein, sagte sie, ihre Tränen trocknend.

Ich beteuerte ihr mit gutem Gewissen, daß sie von anderen Frauen nichts zu fürchten habe, denn ich kannte meinen Freund und wußte, daß es für ihn im Grunde gar keine Liebe gab als die zur Kunst, was ich sie natürlich nicht merken ließ.

Sie wollte wissen, wie lange dieses Werk ihn in Anspruch nehmen würde, ob es in vier, in sechs Wochen fertig sein könne. Ich setzte ihr auseinander, daß das Ganze eine Sache von Monaten, bei Gustavs unberechenbarer Arbeitsweise vielleicht von Jahren sei, und daß es viel von ihr abhänge, wie rasch oder wie langsam er die Aufgabe löse, daß er aber ganz gewiß, sobald er nur mit dem Gröbsten fertig sei, zu ihr zurückkehren werde, um sein Werk im einzelnen durchzuarbeiten und auszufeilen.

Gleich begann sie nun zu überlegen, wie sie ihm bei der Arbeit den größtmöglichen Vorschub leisten könne. Zunächst, sagte sie, müßte nun schon der Haushalt in der Stadt weitergehen, an die sie durch ihre Verpflichtung gebunden sei, Gustav solle aber, wenn er zurückkomme, ganz für sich sein, sie wolle noch mehr als bisher jede Störung fernhalten und gar keine Ansprüche mehr an ihn stellen. Er solle sie nicht einmal sehen, unsichtbare Hände sollten ihn bedienen, er solle bei Nacht arbeiten und am Tage schlafen, wenn ihm das lieber sei. Für den Hochsommer aber, für die Zeit der Theaterferien, wisse sie einen Platz wie geschaffen für ihn: hoch über dem Bodensee ein einsames Gehöft in entzückend schöner Einöde, das zu vermieten sei. Dorthin finde kein Besuch, nicht einmal die Zeitung den Weg. Briefe und Vorräte müsse man einmal die Woche aus Heiden heraufholen lassen. Ein Knecht sei dort, der die Botengänge besorge und dem man auch die Bedienung übertragen könne. Sie wolle nicht einmal ihr Mädchen mitnehmen, wolle selber kochen, damit er durch keinen Laut gestört werde und glauben könne, der einzige Mensch auf einem ganz unbewohnten Gestirn zu sein.

In diesen guten Absichten bestärkte ich sie, so sehr ich konnte und schied voll Vertrauen in Gustav Borcks neu aufgehenden Stern. Sie nahm mir noch beim Gehen das feste Versprechen ab, daß ich ihr jederzeit, wenn ich mich in erreichbarer Nähe befände, auf den ersten Ruf zu Hilfe eilen würde, weil ich Gustavs einzig wahrhaft ergebener und verstehender Freund sei. Dr. Berka sei doch nur ein Schwamm, der seinen Geist aussauge, und Ruhland könne gegen Gustav nicht gerecht sein, denn er habe von allem Anfang an nur sie verehrt und sei ihr darum viel weniger lieb als ich, dessen Freundschaft schon immer ihrem Gatten gehört habe. In diesen Worten der guten, hingebenden Seele lag für mich die ganze Selma.

Gustav war übrigens, wie ich gleich vermutete, nur einige Bahnstrecken aufwärts gefahren, um sich in seinem alten Turmzimmer über dem Flusse, das zufällig gerade frei war, niederzulassen. Nach kurzem aber trieb ihn der Mangel seiner Bücher und anderer Hilfsmittel, die er vermißte, nach Hause zurück. Ich erfuhr es gleich durch Selma, die mir einen ihrer drolligen kleinen Zettel nachfliegen ließ, der mich noch vor Abgang des Schiffes in Hamburg erreichte:

Pst! pst! Er dichtet an der Varusschlacht. Das Frauchen geht auf Strümpfen durchs Haus und lernt ihre Rollen in der Waschküche.

Darüber stand mit Gustavs großer kühner Handschrift:

Sieg! Sieg! Das Lager ist gestürmt, die Legaten fallen. Wotan und die Siegsgötter kämpfen mit uns, die Adler sind erbeutet. Germanen und Römer gleich groß in Vaterlandsliebe und Todesverachtung.

Es klang fast wie eine Depesche vom Kriegsschauplatz. querdurch war noch geschrieben:

Wohl ist den Wahlgöttern, wißt ihr, was das bedeutet?

*

Mein Geschäft in Amerika war schnell erledigt, doch trat dort ein Ereignis ein, das für mein Leben folgenreich wurde. Bei einem Gartenfest in Philadelphia hatte ich ein reizendes Prinzeßchen kennengelernt und mein Herz so unbedacht verloren, daß ich durch einen Ring gebunden war, bevor wir Zeit gehabt hatten, unsere Naturen aneinander zu prüfen. Nun hieß es vor allem, eine feste und einträgliche Stellung schaffen unter Verzicht auf das höhere Ziel, das mir vorgeschwebt hatte, die akademische Laufbahn. Ich stellte mich auf der Schriftleitung des »Herald« vor, wo ein Freund von mir einen einflußreichen Posten einnahm, und wo ich schon durch wiederholte Beiträge empfohlen war, besonders nachdem ich zum Besten seiner Leser heimlich im Münchner Theater einer jener Sondervorstellungen anzuwohnen gewagt hatte, die keine Zuschauer haben sollten als den einsamen jungen Romantiker in der Königsloge. Als Berichterstatter des »Herald« für alle wichtigen Neuerscheinungen in Kunst und Leben kehrte ich noch einmal nach Deutschland zurück, um neben dem neuen Beruf noch ein Semester weiterzustudieren, bevor ich endgültig in den Dienst der Presse trat. Dieses Zugeständnis hatte ich meiner Verlobten, die nicht recht einsah, wozu das gut sein sollte, noch abgerungen.

Das war im Sommer 1870. Kein Wölkchen stand am politischen Himmel, ja nicht einmal die Bewerbung des Hohenzollernprinzen um den spanischen Thron war bekannt geworden, als ich mich wieder nach Europa einschiffte. Das Wetter war stürmisch, wir brauchten bei hohem Seegang fast das Doppelte der gewohnten Überfahrtszeit. Als ich in Hamburg den Fuß an Land setzte, flog eben die Emser Depesche in die Welt. Noch immer wußte ich von nichts; erst auf der Eisenbahn zwischen Hamburg und Berlin erfuhr ich aus Gesprächen der Mitreisenden, was vorging. Berlin fieberte schon. Ich erlebte dort den begeisterten Empfang des Königs, das Eintreffen der französischen Kriegserklärung, all die unvergeßlichen weltgeschichtlichen Augenblicke. Der Norden Deutschlands stand da wie ein Mann. Die Gegner von Sechsundsechzig versöhnten sich; der entthronte Herzog von Nassau bot dem König von Preußen seinen Degen an. Auch die alten Achtundvierziger vergaßen ihren Groll. Ein Jugendfreund meines Vaters, der mich liebte wie einen Sohn, kabelte aus Boston seinen Glückwunsch, daß ich die Erfüllung des deutschen Traumes aus der Nähe schauen dürfe. Ende Juli war ich in München, wo ein Freund und Landsmann mich erwartete. Dort gingen die Wogen fast noch höher als in Berlin; schon am 16. hatte der junge König zum Zeichen der Bundestreue die Mobilmachung befohlen und den ganzen Süden Deutschlands in einem Sturm der Begeisterung mitgerissen. Der Norden kämpfte, weil er mußte, denn er war der Angegriffene, der Süden kämpfte aus Herzensdrang als Bruder mit, die Freiwilligkeit des Opfers erhöhte seine Freudigkeit. Die wenigen Stimmen der Neinsager gingen im brausenden Orkan des Volkswillens unter. So sollte jetzt vor meinen Augen das Große werden, das durch Jahrhunderte Ersehnte, Niegewesene, das einige Deutschland! Als ich dann die ersten Truppenschübe mitansah, wäre ich, obwohl Bürger eines anderen Staates, am liebsten mitmarschiert, so fuhr mir das in die Glieder. Der Sohn des Achtundvierzigers war in mir erwacht, der das Land seiner Väter erschaffen helfen wollte, und zugleich der kleine Abenteurer, der einstmals seine noch schwachen Knochen gegen die Sklavenstaaten eingesetzt hatte.

In Kriegszeiten sind besondere Wellen in der Luft, deren Schwingungen den davon Ergriffenen seltsam verwandeln, daß er dem Kaltgebliebenen unverständlich wird und seinerseits auf diesen als auf ein Wesen niederer Ordnung heruntersieht. Bei romanischen Völkern führt dieser Zustand zu blindwütiger Tollheit, die einmal entfesselt nicht mehr zur Ruhe kommt, den Germanen ergreift er nur vorübergehend, aber er ist unwiderstehlich, solange er dauert. Ist es eine göttliche Neubeseelung, ein »Stirb und Werde« oder ein Rückfall ins Dämonisch-Naturhafte? Nur der Dichter kann es in Worte fassen, dieses Sichhingebenmüssen um jeden Preis, das Verglühenwollen auf dem Scheiterhaufen, Sichauflösen ins Ganze, Nichtsmehrseinwollen als auftauchende Wellenkrone im bewegten Ozean. »Das wunderbare Sehnen dem Abgrund zu«, nennt es der Seher unter Deutschlands Dichtern.

Auch ich sehnte mich so in jenen Tagen, und wenn ich heute in kühlgewordener Luft dieses Gefühl nicht mehr nachfühle, so möchte ich es nicht um alles in meiner Erinnerung missen; mein Leben wäre um eine große Menschheitserfahrung ärmer. Mein Landsmann ließ sich von der Welle fortreißen und bot sich dem bayrischen Heer als Kriegsteilnehmer an; ich kämpfte dabei einen schweren Kampf. Aber gewissenhaft, wie es dem Durchschnittsmenschen zukommt, gedachte ich meiner Verpflichtungen gegen meine Braut und hielt am Schreibtisch aus, indem ich dem »Herald« eine Reihe von Stimmungsberichten schrieb, worin das Erlebte weiterzitterte.

Als ich fertig war, überkam mich mit einemmal die bisher zurückgedrängte Sorge um die Stuttgarter Freunde. Gleich nach meiner Ankunft in Berlin hatte ich eine Zeile an Gustav geschrieben, aber keine Antwort erhalten. Ich vermutete, daß ihn mein Schreiben schon nicht mehr erreicht habe, da er sich beim ersten Kriegslärm bei seinem Truppenteil gemeldet haben mußte. Aber von Selma erwartete ich eine Nachricht, und ihr Schweigen wurde mir, je länger es dauerte, desto unheimlicher. Was mußte die leidenschaftliche Frau, die keine Macht auf Erden anerkannte als ihre Liebe, beim Abmarsch gelitten haben, und wie trug sie es jetzt? Gewiß befand sie sich in einem verzweifelten Zustand und hatte niemand, der sich ihrer annahm, denn um Gustavs willen war sie ihrer ganzen Umgebung entfremdet. Ich war ihr vereidigter Ritter und mußte, daß der Freund sie mir scheidend empfohlen hätte, wäre ich zugegen gewesen. Die Briefbeförderung war infolge der Truppendurchzüge sehr verlangsamt, also setzte ich mich auf die Bahn und fuhr selbst nach Stuttgart, wo ich Selma bestimmt vermuten mußte. Denn was sollte sie noch allein in der Schweiz, während ihr Gatte gewiß schon über der französischen Grenze stand! Die kleine Reise nahm zwei volle Tage in Anspruch, ich lag bald in Augsburg, bald in Günzburg, bald in Ulm fest, um die Soldatenzüge vorüberzulassen. Und überall dasselbe Bild: Militärwagen mit Eichenlaub bekränzt, Eltern, die von ihren Söhnen, Mädchen, die von ihren Liebsten Abschied nahmen, Mützen und Tücherschwenken, »Deutschland über Alles« und stillfließende Tränen. Als ich auf den von Marschtritten und Rädergerassel dröhnenden Straßen in die stille Vorstadt kam, stutzte ich schon von weitem. Die Gartenwohnung des Dichters träumte mit ihren grünen geschlossenen Läden im tiefsten Sommerfrieden. Die böhmische Köchin öffnete. Auf meine Frage nach der gnädigen Frau antwortete sie, die gnädige Frau sei noch immer in der Schweiz. Genau konnte sie mir aber den Aufenthalt nicht nennen, sie hatte den Auftrag, alle Postsendungen nach Heiden aufzugeben, von wo sie durch einen Boten abgeholt würden.

Und der Herr?

Der Herr ist bei ihr.

Das ist doch nicht möglich. Ist er denn krank?

Darüber konnte das Mädchen keine Auskunft geben. Sie wußte nur, daß die Herrschaft jedenfalls noch längere Zeit fortbleiben würde, weil sie erst gestern einen vergessenen Gegenstand ihnen habe nachschicken müssen.

Wenn Gustav nicht abmarschiert war und Selma noch auf eine längere Abwesenheit rechnete, so mußte er krank sein und sie in hilfloser Lage. Wozu war ich ihr Freund? Unter Schwierigkeiten aller Art erreichte ich den Bodensee und fuhr nach Heiden über. Dort auf der Post ermittelte ich erst ihren Wohnsitz und wanderte dann, nachdem ich die Lage des Gehöfts erfragt hatte, zu Fuß den steilen Waldweg hinauf. Nach anderthalb Stunden kräftigen Steigens hatte ich den Hof erreicht, der, von unten nicht sichtbar, halb in eine Senke geduckt und durch hohe Bäume verborgen lag. Das erste, was ich sah, war Selma. Sie stand im weißen Kleide unter einem Baum, die Hände ineinandergekrampft, und starrte unbeweglich wie ein Steinbild in die Landschaft hinaus. Als sie meinen Schritt hörte, fuhr sie auf wie ein gescheuchtes Tier. Ich rief sie mit Namen, da erkannte sie mich und flog mit einem unterdrückten Schrei auf mich zu, erfaßte heftig meine Hände und wäre vor mir auf die Knie gestürzt, wenn ich sie nicht gehalten hätte.

Ich fragte nach Gustav, sie deutete nach dem Haus und legte mit flehendem Ausdruck den Finger auf den Mund.

Er arbeitet und darf nicht gestört werden, flüsterte sie, indem sie mich heftig weiter weg unter die Bäume zog.

Ich glaubte ihn krank oder ausgerückt, schon über der Grenze drüben und wollte Ihnen meine Dienste anbieten. Nun bin ich also ganz überflüssig hier, antwortete ich, irregemacht durch ihr Gebaren.

Sie hörte nicht, was ich sagte. In ihrem Gesicht kämpfte das Bedürfnis, sich an einen Freund zu klammern mit dem deutlichsten Schrecken über mein Erscheinen. Auf meine Frage, was ihr denn sei, wand sie sich wie unter einer unerträglichen Qual.

Es ist nämlich – nämlich – ein Papier angekommen – schon vor einiger Zeit, stammelte sie mit angstverzerrtem Gesicht. Ein gelbes Papier.

Der Gestellungsbefehl? fragte ich.

Sie nickte. Er weiß es nicht, sagte sie leise.

Selma, Selma, was haben Sie getan!

Wir wissen nichts von der Welt hier oben, wir haben seit einem Monat keine Zeitung gesehen. Der Knecht sagt, es gebe Krieg. Aber es ist nicht wahr, es darf nicht wahr sein! Sagen Sie, Harry, daß es nicht wahr ist!

Aber sie ließ mir gar keine Zeit zu antworten und von der Weltlage zu reden, sondern unterbrach mich gleich mit Leidenschaft:

Gustav darf nichts erfahren! Er darf nicht gestört werden! Er ist in allen Himmeln, ihn jetzt aus der Arbeit reißen, wäre ein Verbrechen an ihm, an seinem Genius, an der ganzen deutschen Dichtkunst.

Da rief es vom Hause herüber: Selma!

Gleich, gleich, Liebster! rief sie zurück und faßte mich dabei flehend an beiden Armen, mir jede Bewegung hindernd.

Mit wem sprichst du, Selma?

Sie wollte mir die Hand auf den Mund legen. Ich machte mich sanft von ihr los und rief zurück:

Ich bin's: Ewers, der Mohikaner!

Ein Freudenruf, dann klirrte das Fenster, er kam herabgeeilt.

Ich stürze mich von diesem Felsen herab, wenn Sie reden. Sie wissen, ich halte Wort! raunte mir Selma zu. Er darf es nicht wissen, er muß sein Werk vollenden!

Selma, sagte ich, Sie wissen nicht, was Sie tun, das ist eine Verantwortung, die wir beide nicht tragen können.

Ich werde sie tragen – ich ganz allein, flüsterte sie leidenschaftlich.

Da stand er schon vor uns, im leichten Hausrock, mit bloßem Kopf, an Haar und Bart ein wenig verwildert, aber mit einem Ausdruck überirdischen Glücks.

Mein schöner Gustav ist ein Bärenhäuter geworden, scherzte Selma erzwungen mit angstverzerrtem Gesicht, das er nicht bemerkte.

Die Hand nicht wäscht er,
Das Haar nicht kämmt er,
Bis zum Holzstoß er brachte
Balders Mörder,

rezitierte er nach seiner Gewohnheit.

Das war wieder der ganze Gustav Borck. Er wunderte sich nicht, woher ich kam, da er mich doch in Amerika vermuten mußte, er fragte nicht, was mich in diese Einöde führte. Der äußere Zusammenhang war wieder einmal nicht für ihn vorhanden. Ich war zur Stelle, ich mußte zur Stelle sein, weil meine Anwesenheit gerade jetzt ihm erwünscht war, weil der Augenblick gekommen war, wo seine übervolle Seele einer Aussprache bedurfte. Die schöpferische Raserei besaß ihn ganz.

Wir hatten uns im Haus auf einer Holzveranda mit Glasfenstern niedergelassen, gegenüber einer Gruppe hoher Bäume. Mir war entsetzlich zumute, lieber wäre ich wieder auf hoher See gewesen, von den Ozeanwellen im Ungewissen herumgeworfen, als hier auf der friedlichen sonnigen Alm, dem Freunde gegenüber, dem ich sein Schicksal zu verkünden hatte. Er schwamm auf der höchsten Woge seines Glücks. Die Stille in der Natur und Selmas völlige Selbstverleugnung hatten ihm den Genius zurückgeführt, seinen Herrn und Despoten.

Jetzt erst verstehe ich, wie elend ich gewesen bin, wie ich mich quälen mußte ohne Ihn. Aber wir wissen nicht, wie gut wir geführt werden. Es war mein Glück, daß ich damals durch Jurisprudenz und Heirat unterbrochen wurde, mein guter Geist legte mir die Hand auf den Mund, weil ich noch nicht reif war. Jetzt ist Er erst ganz dabei, und jetzt geht es wie im Traum.

Mein beklommenes Schweigen sagte ihm nichts, er redete immer weiter:

Das Werk ist weit über seine erste Anlage hinausgewachsen. Du wirst über den zweiten Teil staunen, wie anders das alles geworden ist, wie stark, wie reif. Aber der dritte Teil, der dritte Teil wird die Krone von allem. Noch ein paar Wochen Stille und Bergluft und solches Wetter wie heute, so haben wir wieder eine deutsche Tragödie.

Man konnte, wenn man sein begeistertes Auge sah, für Stunden vergessen, daß drüben überm See der Boden vom Tritt ausrückender Truppen bebte, und sich in unsern stillen Anrichtwinkel bei Molfetta zurückversetzt glauben, wo es keine Ereignisse gab als die der Kunst. Noch ein paar Wochen für sein Werk. Ich hätte mein Blut gegeben, sie ihm zu schaffen. Aber was war zu tun? Jede Stunde, die verrann, stempelte ihn mehr zum Fahnenflüchtigen. Volle zehn Tage war der Gestellungsbefehl auf dem Postamt liegengeblieben. Durch Zufall glaubte ich zuerst, allein Selma hatte diesem Zufall nachgeholfen. Das war nicht schwer gewesen, sie brauchte bloß nicht mehr zur Post hinunterzuschicken, seitdem sie das erste Gerücht vom Krieg vernommen hatte, das sie ihm verschwieg. Damit hatte sie nicht nur ihn, sondern auch sich selbst in künstlicher Unwissenheit erhalten bis zum gestrigen Abend, wo Gustav einen Brief aufgeben ließ und der Knecht einen ganzen Stoß liegengebliebener Postsendungen heraufbrachte, darunter auch das verhängnisvolle Blatt; die hatte sie gleich alle miteinander unterschlagen. Dem Knecht war strengstens eingeschärft, dem Herrn kein Wort zu sagen von dem, was in diesem Augenblick die halbe Erde erschütterte. Auch das konnte sie durchsetzen, denn die beiden sprachen kaum je miteinander; alle Befehle Gustavs gingen durch sie. So bildete die Ärmste sich wirklich ein, ihm auf die Länge die Weltereignisse verheimlichen zu können. Und in diesem Augenblick mußte das Schicksal mich daher führen! Sie mochte wohl zuerst gehofft haben, an mir, ihrem alten Tröster und Berater, auch jetzt einen Beistand in ihrem Sinne zu finden, aber seit wir die ersten Worte gewechselt hatten, betrachtete sie mich als ihren schlimmsten Feind und Widersacher. Ich machte nicht minder schreckliche Augenblicke durch als sie, da ich mich vor die Notwendigkeit gestellt sah, sein wiedergefundenes Schöpferglück zu zerreißen und sie in Verzweiflung zu stürzen.

Sie stand hinter seinem Stuhl, daß er ihr Gesicht nicht sehen konnte, und ihre Augen drohten mir – ich wußte aus Erfahrung, daß sie auch imstande war, ihre Drohung wahr zu machen, so schwieg ich noch verworren. Gustav hatte sie schon wiederholt gebeten, eine Flasche Wein und ein paar Gläser zu bringen, aber Selma sagte nur: »Gleich, gleich!« und blieb wie angekettet stehen, mich mit ihren Blicken im Banne haltend. Wir redeten kein Wort miteinander, nur unsere Augen führten einen heimlichen Krieg.

Mir ist alles gleich, ich frage nur nach Gustav, sagten die ihrigen.– Ich auch, Selma, gerade deshalb! antworteten die meinigen. Während dieser stumme Zweikampf noch dauerte, sprang Gustav in die Höhe und sagte wohlgelaunt:

Wenn du dich gar nicht von seinem Anblick losreißen kannst, so werde ich selber nach einer Erfrischung gehen.

Kaum hatte er sich entfernt, so stürzte Selma auf mich zu:

Erbarmen, wenn Sie sein Freund sind! Ist Ihnen sein Dichterberuf heilig, so haben Sie die Pflicht zu schweigen.

Ich suchte ihr begreiflich zu machen, daß es um seinen guten Namen und ganze Zukunft ging, daß er sich das Vaterland für immer verschließe, daß er bürgerlich tot sei, wenn er nicht wie jeder andere Heeresangehörige sich unverzüglich bei seinem Regiment stelle. Ich erinnerte sie an die Tausende und aber Tausende von Frauen, die alle in der gleichen Lage waren:

Was sollte aus dem angegriffenen Lande werden, wenn alle dächten wie Sie?

Ich hatte gut reden.

Mich hat man nicht gefragt, ob Krieg sein soll, antwortete sie trotzig, man hat kein Recht, mir meinen Mann zu nehmen.

Doch sie verdarb sich mit ihrer Heftigkeit selbst das Spiel. Gustav, der im eigenen Haus Bescheid wußte wie auf dem Mond, war ungeduldig mit leeren Händen zurückgekehrt.

Was geht hier vor? fragte er mit gerunzelter Stirn. Was soll ich nicht erfahren?

Selma schrie laut auf bei seinem Eintritt und rannte kopflos von einer Ecke in die andere.

Sie wollte es dir vorenthalten. Aber das ist eine Unmöglichkeit. Also je rascher, desto besser: Der Krieg ist ausgebrochen! Frankreich hat an Preußen den Krieg erklärt! Ganz Deutschland hat sich einmütig erhoben, die verbündeten Heere stehen schon jenseits des Rheins.

Starr, entgeistert, weiß wie Kreide hörte er an, was ich von den Weltbegebenheiten erzählte. Krieg! sagte er in fassungslosem Erstaunen vor sich hin – und ich soll mit! – dann brach es plötzlich wie eine Raserei an ihm aus.

Der Dämon! Der Dämon! schrie er. Er will mich nicht vollenden lassen. In allen Formen kommt er und stellt sich zwischen mich und mein Werk. Nur so weniges fehlt zur Vollendung, ein paar Wochen hätten genügt. Er gönnt sie mir nicht, er schickt mich in den Krieg. Was wird aus meiner Dichtung, wenn ich fort muß!

Du wirst sie nach der Rückkehr wieder aufnehmen und sie wird danach noch heller strahlen, wollte ich trösten, aber meine Worte versetzten ihn nur in Erbitterung.

So, meinst du? sagte er wild. Eine Dichtung ist wohl eine Handarbeit, die man nach Belieben weglegt und wieder vorholt. Ich sage dir, jedem Kunstwerk schlägt nur einmal die Stunde. Bin ich, wenn der Tag zu Ende ist, denn noch ganz derselbe, der ich am Morgen gewesen? Sind die Eingebungen von heute noch genau wie die gestrigen? O nein, es gibt nur eine Stunde für jegliches Tun, immer nur gerade die eine vorbestimmte. Ihr ahnt ja nicht, wie voll des herrlichsten Lebens meine Gestalten jetzt vor mir stehen. Wie der Held nach verlorener Schlacht über die Weser herüber zu seinem Bruder, dem Römling, spricht, nachdem er unkenntlich durch Blut die feindlichen Schlachtreihen durchbrochen hat. Man sieht ihn nicht, man hört nur seine Stimme von drüben. Aber die Stimme allein ist wie ein unbesiegtes Heer, das den Abtrünnigen niederschlägt. Das alles werde ich nie wieder so sehen, wie ich es jetzt sehe, da es eben in mir reif geworden ist und noch nicht überreif.

Du hast mich einmal um das Starke in meinem Leben beneidet, antwortete ich traurig, du sprachst von der lebendigen Poesie, die höher sei als die geschriebene, erinnerst du dich nicht mehr? Jetzt tritt sie in das deinige, so groß du sie nur wünschen kannst. Ein neuer Germanikus zieht gegen den Rhein heran, sei selbst Arminius, wenn du keinen Arminius mehr dichten darfst.

So redet einer, der nicht weiß, was dichten ist.

So denke an den Größten, sagte ich, der ohne Not bei Valmy in den Kugelregen ritt, nur um es nicht anders zu haben als die andern, und das zu einer Zeit, wo der Faust noch nicht vollendet war.

Er mag wohl auch seine Stunden des Zweifels gehabt haben, war die düstere Antwort. Hätte uns Napoleon vor einem Jahr den Krieg erklärt, was hätte es mir damals ausgemacht? Mit Freuden war' ich ausmarschiert, was lag mir damals an meinem Leben? Ich habe auch bei Königsgrätz nicht damit gegeizt. Aber jetzt, jetzt wo meine Gesichte mich greifbar wie die Lebendigen umstehen! Es kann nicht sein, es ist ein böser Traum!

Der stolze Mensch hatte alle Fassung verloren, er legte den Kopf auf den Tisch und weinte wie ein Kind.

Selma lag schluchzend zu seinen Füßen.

Mußt du denn, Gustav! Gustav! Du mußt nicht. Höre nicht auf Harry. Tausendmal hörte ich dich sagen: Kein Mensch muß müssen. Warum mußt du jetzt, wo dein Höchstes auf dem Spiele steht?

So kann ein Weib reden, sagte er, schmerzvoll den Kopf erhebend. – Den Ausreißer, den Feldflüchtigen versenkten unsere Alten in den Sumpf.

Aber die Versucherin ließ nicht ab von ihm.

Du stehst untere einem anderen Gesetz. Was nützt es deinem Lande, wenn dich die erste französische Kugel trifft? Du hast der Nation andere Siege zu erfechten, als die mit der Zündnadel.

Ein preußischer Offizier und fahnenflüchtig vor dem Feind. Mein unglücklicher Vater! Der Schlag wird ihn treffen. Und auf mich wartet der bürgerliche Tod, sagt er verzweifelt.

Armer Gustav! Hätte er in jenem Augenblick deutsche Luft geatmet, hätte ihn auch nur ein Hauch des Feuerstroms erreicht, der alle Herzen drüben überm See in eine glühende Masse zusammenschmolz, er wäre mitgerissen worden und hätte nichts anderes gedacht, als wie jeder schlichte Sterbliche, mit der Waffe in der Hand vor sein bedrohtes Haus zu treten. Aber da oben in der tiefen Hochsommerstille, wo die Grillen schmetterten und die Bienen summten, hatte das Wörtlein »Krieg« etwas so Fremdes und Unwirkliches. Als er heraufzog fiel noch kein politischer Schatten auf den Weg, der ihn hätte vorbereiten können. Zeitungen hatte er sich keine nachschicken lassen, er las sie ja ohnehin nicht, und so hatte ihn die schöpferische Phantasie in einen undurchdringlichen Dunstkreis eingehüllt. Was in diese Stimmung nicht paßte, das blieb ihm fern, das drang nicht in sein Bewußtsein.

Schon zehn Tage, sagst du? fragte er zum zwanzigstenmal, und zum zwanzigstenmal erklärte ich ihm das Wie und Wann.

Nun ist es ja doch zu spät, rief Selma dazwischen. Er könnte ja sein Regiment gar nicht mehr erreichen.

Es ist nicht zu spät, sagte ich, er macht es, wie er kann, es gehen noch täglich Truppenzüge. Packen Sie ihm zusammen, was er braucht, wir begleiten ihn beide nach Lindau. Seine Dichtung versiegelt er bis zu seiner Heimkehr. Für alles andere werde ich Sorge tragen, und sein Liebstes bleibt in der Obhut eines Bruders zurück.

Meine Dichtung! sagte er verzweiflungsvoll.

Alles andere war ihm gleichgültig. Ich drängte. Aber er blickte aus starren Augen und regte sich nicht.

Barmherziger Gott, schrie es aus ihm heraus, nur dieses eine laß mich vollenden, dann sei es aus mit mir, dann fordre ich nichts weiter und will es mit meinem Blut bezahlen.

Ich wandte mich an die Frau um Hilfe.

Seien Sie tapfer, bedenken Sie sein wahres Heil und heißen Sie ihn ziehen.

Aber das arme Geschöpf zischte gegen mich auf wie eine getretene Schlange.

Sie, Sie haben das Unheil unter unser Dach gebracht, gestern saßen wir noch so glücklich und friedlich hier oben.

Gustav hielt sie beschwichtigend fest. Dann fragte er:

Du wirst also den Fahnenflüchtigen verachten?

Nein, Gustav, wozu du dich entschließest, immer werde ich dich ehren und werde suchen, dich zu verstehen. Ich habe keinen Genius in mir und kann nicht ermessen, was er von dir zu fordern hat. Du bist kein Feigling, und wahrlich zum Bleiben gehört in deinem Fall mehr Mut als zum Gehen. Aber bedenke, daß du nie wieder nach Deutschland zurückkehren kannst, daß du deines Arminius Siegeszug über die Bretter nicht mit Augen sehen wirst.

Schreibe ich ihn denn, um mich hinter der Rampe vor dem Publikum zu verbeugen? Verächtlich sei ich, wenn ich in diesem Augenblick irgend an mich denke! Wenn mein Arminius lebt, was braucht's, daß ich ihn sehe? Schriebe ich für meinen Ruhm, so würde ich die Verachtung verdienen, die meine Verwandten und Kameraden überreichlich auf meinen Scheitel häufen werden. Ich schreibe ihn, weil ich muß, weil ein Anderer, Höherer neben mir steht und jedes Wort einsagt und weil niemand außer mir diese Stimme hören kann.

Nun suchte ich ihm von einer anderen Seite beizukommen.

Du sagtest mir immer, die Dichtkunst müsse sich am Leben nähren. Komm mit mir über den See hinüber. Da hörst und siehst du die Volksseele in ihrer unmittelbaren Ergriffenheit. Das verpflichtet dich zu nichts. Niemand kennt dich dort, du kannst ungehindert zurückkehren, wenn es dich nicht selber mitreißt; es werden dann wenigstens deine Hörner und Kriegsdrommeten davon stärker und voller tönen.

Geh nicht, geh nicht, schrie Selma dazwischen.

Die tönen am vollsten in meiner eigenen Brust, antwortete er ruhig und selbstgewiß. Ich war ein Tor, wenn ich dir je dergleichen sagte. Der Dichter kann nichts lernen, als was er von je gewußt hat. Alle Erfahrungen, die er machen kann, sind schon mit ihm geboren.

Er zog mich geheimnisvoll ans Fenster. Siehst du auf dem Eichbaum gegenüber die bogenförmige Durchsicht ganz nahe dem Wipfel, die durch eine seltsame Verbiegung des Gezweigs entstanden ist? Von dorther kommen mir die Eingebungen, diese Durchsicht ist meine Bühne. Da treten sie auf und ab, da reden sie und handeln, meine Gestalten. Dorthin kommen sie aus dem Raum, wo mein Werk war, bevor ich wurde. Wenn meine Gesichte versagen, unter diesem Torbogen, der nach Walhall führt, erhasche ich sie wieder. Ich blicke so lange hinüber und sollte ich darüber blind werden, bis sie sich verdichten und mir Rede stehen. – Glaube mir, das Leben zeitigt nur blasse, verkümmerte Abbilder. Alles Leuchtende, Dauernde kommt aus der Überwelt.

Ich war geschlagen. Selma wollte ihm jubelnd wie einem Geretteten um den Hals fliegen, aber er hielt sie mit beiden Armen von sich.

Armes Weib, nicht für dich bleibe ich zurück. Du hast keinen Mann mehr.

Er streifte leicht an ihrer üppig schmiegsamen Gestalt herab, die bei seiner Berührung leise schauderte, und schob sie von sich mit Hamlets Worten: Geh, geh in ein Kloster.

Sie kauerte sich wieder in ihre Ecke auf den Schemel nieder und sagte:

Ich verlange ja nichts als dir zu dienen.

Ich brach auf, denn ich hatte hier nichts weiter zu suchen. Man hielt mich nicht zurück. Selma, die schon ihr leichtes Herz wiedergefunden hatte, eilte mir ein paar Schritte nach und bat mich wegen ihrer Heftigkeit um Verzeihung. Sie dankte mir sogar, daß mein Erscheinen die lange gefürchtete Entladung brachte, die nun ohne Schaden, wie ihr schien, vorübergegangen war!

Selma, sagte ich, Sie haben ein gewagtes Spiel gespielt. Sind Sie sicher, daß nicht eines Tages in Gustav der preußische Offizier wiedererwacht mit den empfindlichen Ehrgesetzen seines Standes?

Sagen Sie mit seinen engbrüstigen Vorurteilen. Ja, davor bin ich Gott sei Dank sicher.

So wissen Sie eben nicht, daß niemand völlig und für immer mit seiner Vergangenheit und seiner Überlieferung brechen kann.

Unser Unkas ist eine Unke geworden, spottete sie freundschaftlich.

Ich nahm einen letzten Anlauf.

Denken Sie auch daran, daß Sie sich von Gustav trennen müssen, wenn Sie Ihren Bühnenvertrag halten wollen?

Kontrakte kann man brechen, antwortete sie obenhin.

Wovon wollen Sie denn den Lebensunterhalt bestreiten?

Sorgen Sie um nichts, wenn ich nur ihn behalten darf. Meine Kunst ist freizügig.

Aber Sie sind an die Sprachgrenze gebunden.

Es gibt ein Österreich und eine Schweiz.

In großer Verwirrung fuhr ich über den See zurück. Ich kam nicht zurecht mit dem, was ich erlebt hatte. Gustav Borck, unser stolzer, edler Gustav fahnenflüchtig in der Stunde der Gefahr!

Freilich, sagte ich zu mir selber, im Bestreben ihm gerecht zu werden, Deutschland hat Streiter genug, die seinen Boden verteidigen, es hat vielleicht in diesem Augenblick keine zweite schöpferische Kraft von solcher Tragweite. Doch es half nichts, ich konnte den Eindruck mit meinem schlichten Menschenverstand nicht verarbeiten. Daß in einer Zeit wie dieser ein Einzelner, und wäre er auch der Größte, sich und sein Werk für so überschwenglich wertvoll halten konnte und das Weltbild, das er in sich trug, für wichtiger als die gewaltigste Wirklichkeit, das ging nicht in mein nüchternes Hirn. Aber die Höhe seiner Gesinnung konnte ich nicht mißkennen. So empfand ich nur eine unbegrenzte Verwunderung und eine dumpfe Besorgnis. Zuviel war jetzt aufs Spiel gesetzt, wehe, wenn nun gar der Wurf mißlang! Beim Abschied hatte er mir gesagt:

Ich weiß, daß du mich in diesem Augenblick nicht verstehen kannst. Darum sage ich dir nur eins: Wenn ich mein Wort nicht einlöse, wenn ich nicht ein Werk schaffe, das mein Tun rechtfertigt, so bin ich freilich nichts als ein gemeiner Auskneifer. Dann werde ich selber Kriegsgericht über mich halten. Bis dahin verschiebe auch du das Urteil über mein Handeln.

*

Der erste Mensch, der mir in der kleinen Musenstadt am Neckar begegnete, war Kuno Schütte. Er schwamm hoch auf den Wogen der vaterländischen Bewegung und verwünschte tausendmal seine bis dahin so gleichmütig ertragene Krüppelhaftigkeit, die ihn aus den Reihen der Kämpfer ausschloß. Nicht mitzudürfen, wo alles ausrückte ein Deutschland zu schaffen! Armer Kuno, so ungleich teilt das Schicksal aus. Als er von Gustav Borck das Unfaßliche hörte, schüttelte er sprachlos den Kopf und ging lange schweigend neben mir her, als horchte er gespannt auf die Worte eines unsichtbaren Begleiters.

Er nachtwandelt, sagte er auf einmal, man muß ihn wecken.

Laß das, antwortete ich, er hört dich nicht. Laß du ihn seine Geisterschlacht schlagen. Der deutsche Boden hat Arme genug, die für ihn kämpfen.

Aber Kuno gab sich nicht zufrieden.

Warum hast du ihm denn nicht gesagt: Um ein ganzer Dichter zu sein, sei erst ein ganzer Mensch. Wer wird noch Poesie schreiben, wenn er sie leben kann. Hat nicht Byron, den er verehrt, den Nur-Dichter verachtet und gab er nicht sein großes reiches Leben für ein Volk hin, das ihn nichts anging, in dem er nur seine längst vermoderten Vorfahren lieben konnte?

Ich zuckte die Achseln; das alles hatte ich ihm ja fast wörtlich so gesagt.

In der kleinen Universitätsstadt ging das alte Leben weiter. Nur die Hörsäle wurden früher als sonst geschlossen, da doch der größte Teil der studierenden Jugend ins Feld gezogen war. Ich fand es drückend, Geschichte zu studieren, während drüben überm Rhein lebendige Geschichte gemacht wurde. Und noch etwas anderes lag schwerer auf mir, als ich mir selbst gestand. Der Ring an meinem Finger beengte mich, als ob er mir nicht paßte. Ich nahm es als ein Symbol. Denn die Briefe meiner Verlobten enttäuschten mich tiefer und tiefer, seit ihre bestrickende Nähe nicht mehr wirkte. Ich sah ein, daß wir in völlig getrennten geistigen Welten lebten und daß sie nicht eine meiner Neigungen teilte. Sie ihrerseits fühlte sich gekränkt, daß ihr verwöhntes Ich mir vor den Weltbegebenheiten in die zweite Reihe gerückt war. Am schwersten traf es mich, daß sie, das Kind deutscher Eltern, keinen Schimmer von Anteil für ihr kämpfendes Vaterland zeigte, sondern eher nach der andern Seite zu neigen schien. Es trieb mich rastlos um und ließ mich meine Freiheit zurückwünschen, doch fühlte ich mich nicht berechtigt, selber das Band zu lösen, das keine harmonische Zukunft versprach. – Als die ersten Siegesbotschaften einliefen, strömte jung und alt beim Bahnhof zusammen, alle Augen glänzten, alte Widersacher drückten sich gerührt die Hände, und hoch über allen Menschenstimmen klang es immerzu in den Lüften wie Posaunenstöße der Erzengel: Zum Rhein, zum freien Rhein! Ich schämte mich, als junger Mann tatlos dabeizustehen.

Nach Wörth kam Schütte aufgeregt auf mein Zimmer und sagte:

Ich halte es nicht mehr aus, es zersprengt mich, hier stillzusitzen. Ich fahre morgen nach Stuttgart und stelle mich dem Kriegsministerium zur Verfügung; irgendwo werden sie mich schon brauchen können, sei's bei der Sanität oder beim Proviant, meinetwegen sogar in der Schreibstube. Wenn ich nur mit ins Feld komme.

Wir haben einen Weg, alter Junge, sagte ich, aber ich breche schon heute abend auf. Wenn du dich sputest, können wir zusammen fahren.

Ich hatte nämlich ein paar Stunden zuvor aus Neuyork ein Kabeltelegramm erhalten, das meinem tiefsten Wunsch entgegenkam. Der Kriegsberichterstatter des »Herald«, der das große Hauptquartier begleiten sollte, war am Typhus erkrankt, man bot mir seine Stelle an. Ich hatte schon mein Ja zurückgekabelt – diesen Schritt konnte mir auch die Liebe, oder was ich dafür hielt, nicht verargen – und war eben dabei, mein Zelt abzubrechen. Auch Schütte beschleunigte seine Anstalten, wir fuhren zusammen nach Stuttgart, wo ich mich mit Geld und Papieren zu versehen hatte. Dort trennten wir uns. Aber die Wellen des Krieges wirbelten uns in unerwarteter Weise wieder zusammen.

Nachdem ich meinen schwererkrankten Vorgänger im städtischen Spital von Mainz aufgesucht und die Besorgung wichtiger Aufzeichnungen von ihm übernommen hatte, reiste ich unter häufigem Aufenthalt und Hindernissen aller Art dem Großen Hauptquartier nach. In der Nähe eines pfälzischen Dörfchens, wo ich den Anschluß erwartete, traf ich auf eine von Johannitern geführte Sanitätskolonne, die auf einer Baumwiese rastete, weil sie unversehens in einen Fuhrpark hineingefahren war und Truppenmassen ihr nach vorwärts den Weg versperrten. Im Schatten eines mit herrlichen Früchten behängten Birnbaums lagen ein paar Leute mit dem Gesicht im Gras und schienen zu schlafen. Es ging auf Mittag, ich hatte seit vierundzwanzig Stunden nichts genossen und verschmachtete vor Durst. Also näherte ich mich dem nächsten, über dessen Haupt ein paar Birnen von auserlesener Größe hingen, und bat ihn, ein wenig auf die Seite zu rücken, damit ich mich laben könne.

Ich bin müde, brummte dieser, ohne sich zu regen. Tritt auf meinen Rücken, da bist du deinem Glück näher.

Die Stimme kenne ich ja, sagte ich verwundert, mich niederbeugend.

Richtig, es war schon wieder Schütte, der alte Überall und Nirgend. Er zeigte aber nicht die geringste Überraschung, sondern versicherte, daß er mich hier, genau an dieser Stelle, erwartet habe.

Er ermunterte sich rasch, und wir saßen plaudernd und Birnen essend im Grase, während rings um uns her weitergeschlafen wurde. Ich erfuhr, daß man ihn in Stuttgart sehr gut aufgenommen und seiner genauen Ortskenntnisse wegen einer Sanitätskolonne mitgegeben habe.

Und hätten unsere Leute auf mich gehört, setzte er hinzu, so säßen wir nicht hier fest, denn ich sah es kommen. Dann hätte freilich unsere Begegnung auch nicht stattgefunden. Aus der Ferne tönte Geschützdonner.

Hörst du? Das ist Thors Hammer, womit er uns ein Deutschland schmiedet, sagte der Freund mit seiner dunklen Stimme. Und ich Krüppel bin dabei und darf es erleben. Denk' es, Harry! Noch unsere Kindeskinder werden uns anstaunen, wenn wir ihnen sagen: ich war dabei, als Deutschland geboren ward.

Ehe ich aufbrach, zeigte er mir einen von Gustav empfangenen Brief. Es war die Antwort auf ein Schreiben von ihm, worin er den Freund an alle Sänger groß und klein, die zugleich Helden waren, von dem Dichter der »Perser« bis zu Theodor Körner erinnert hatte.

Rege dich nicht weiter auf, mein guter Kuno, schrieb dieser zurück. Ich bin kein Mensch, der nach berühmten Mustern lebt, ich gehe den Weg meines eigenen Gewissens. Mein Vater hat mir ein Kästchen zugeschickt mit der Aufschrift »Eilt!« Ich brauche es nicht zu öffnen, ich kenne den Inhalt. Es ist ein Familienerbstück, die Pistole, mit der schon einmal ein unsres Namens Unwürdiger sich ausgelöscht hat aus der Reihe der Lebenden. Nein, armer alter Mann, es eilt nicht so sehr, wie du denkst. Noch habe ich andere Schlachten zu schlagen. Wenn ich besiegt werde, mag es sein. Aber ich sehe es anders kommen. Unterdessen bitte ich die Freunde, sich nicht um mich zu sorgen, mich ganz zu vergessen, bis ich mein Wort eingelöst habe.

Er hat recht, sagte ich, stören wir seine Kreise nicht weiter und decken wir, was uns jetzt fremd an ihm ist, mit Schweigen zu.

Allein der Dichter hatte nicht mit dem Ehrenpunkt seines Erzeugers gerechnet, und das Schicksal sorgte dafür, daß wir noch im Laufe des Krieges auf erschütternde Weise an ihn erinnert werden sollten.

*

Es war bei der Belagerung von Metz. Die Schlachten von Mars-la-Tour und Vionville waren geschlagen, die von Gravelotte noch zum Teil im Gang, als mein Kollege von der »Times« und ich beim Großen Hauptquartier, dem wir folgten, die Ermächtigung erwirkten, das Gefechtsfeld der vergangenen Tage zu besichtigen. Man gab uns einen jungen Generalstabsoffizier als Führer mit. Wir durchritten das wellige lothringische Flachland mit seinen langen Hügelzügen und seinen niederen Gehölzen, aus denen noch immerzu die Leichen von Freund und Feind herausgetragen wurden. Ich hatte schon geglaubt etwas zu wissen von den Schrecken des Krieges, aber was waren meine einstigen jugendlichen Erlebnisse in Virginien gegen die Todesernte, die ich hier einbringen sah. »Aufräumungsarbeiten« nannte das der Offizier mit der schaurigen Sachlichkeit des Fachausdrucks, der alles, was keinen Gefechtswert mehr hat, zur bloßen Sache herunterdrückt. Aus den Folgen des Kampfes, die vor uns lagen, ließen sich die Züge der Gegner auf dem großen Schachbrett ablesen, wie man nach einem gewaltigen Sommergewitter aus der Lage der gebrochenen Halme die Wege des Sturmwinds erkennen kann. Dabei rollte fast noch ununterbrochen der Geschützdonner von Norden und Osten über uns hin. Die Welt hat seitdem Schlachten gesehen, neben denen diese ein Spiel waren; damals haben sie mir in der Erinnerung manchmal die Nachtruhe gekostet.

Lange danach, als ich in Philadelphia lebte, fiel mir einmal bei deutschen Freunden ein Liederbuch in die Hand mit dem überraschenden Vers:

Doch was ist dies? In Frankreich hat
Es im August geschneit.
Da liegt das halbe Halberstadt
Im weißen Waffenkleid.

Auch diesen Schneefall im Hochsommer habe ich damals in Vionville mit eigenen entsetzten Augen gesehen.

Am 19. August, als die Geschütze schwiegen, betraten wir Gravelotte, die »Graue Lotte«, wie der Galgenhumor der Soldaten das Todesfeld vom gestrigen Tag nannte.

Am Eingang des zerschossenen Dorfes lag oder liegt vielleicht noch heute auf kleiner Erhöhung ein Schlößchen mit dem seltsam berührenden Namen: Le Repentire. Dort hatten die Preußen in der Eile ein Feldlazarett eingerichtet – eine gar passende Lage, denn es war von da nur wenige Schritte zu dem hart über der Waldschlucht liegenden kleinen Friedhof. Unsere Hoffnung, in dem Schlößchen aufgenommen zu werden, erwies sich als trüglich, es war überfüllt von Verwundeten, und immerzu wurden neue hergeführt, die noch auf den Verbandplätzen zurückgeblieben waren. Auch über den zwei nahe gelegenen Pachthöfen La Poste und Gloriette wehte die Flagge mit dem Genfer Kreuz. In einem sollte ich, im andern der Kollege nach Unterkunft trachten. Da trat mir unter der Tür des Lazaretts ein Engel im Schwesternkleid entgegen. Sie trug eine Schüssel mit Blut, um es eilig auszugießen in den Boden, der dessen schon mehr als zuviel getrunken hatte. Nur auf den Bruchteil einer Sekunde sah sie mich an, dann war sie schon ins Haus zurückverschwunden. Aber der Blick hatte mich bis auf den Grund der Seele getroffen, wie ein Wiedererkennen aus fernen Geburten her.

Ich stand noch wie angewachsen und sah ihr nach, als mir eine Hand auf die Schulter schlug und ich in dem vor mir stehenden Unterarzt – Lazarettgehilfen hießen sie dazumal – Heinrich Sommer erkannte. Ich wußte ja, daß er sich auf diesem Abschnitt des Kriegsschauplatzes befand; aber auch er wunderte sich gar nicht, mich zu sehen; das Kriegsleben hatte ihn schon an die merkwürdigsten Begegnungen gewöhnt.

Schön, daß du da bist, sagte er, als hätten wir uns zufällig bei Molfetta getroffen, es fehlt an Händen für die viele Arbeit. Ich weiß, daß du zu brauchen bist. Komm gleich mit und verdiene dir die Nachtherberge.

Nur zu willig ließ ich mich in den weißen Kittel stecken, und ehe ich mich's versah, fand ich mich mit Waschbecken und Verbandzeug im Operationssaal. Gab es noch einen gräßlicheren Anblick als das Schlachtfeld, so war es dieser! Nur die rasche, umsichtige, anhaltende Tätigkeit konnte dem Ungeschulten das ertragen helfen. Aber an meiner Seite schaltete der Schwesterengel, der mir beim Eintritt erschienen war, sicher und erfahren, und die schweigenden, geschwinden Handreichungen, die zwischen uns hin und her gingen, waren mir wie stumme Geschwistergrüße der Seele. Schwester Angela nannten sie passend die Anwesenden.

Auf dem Operationstisch lag ein Mann des Jammers mit furchtbar zerschmettertem Oberschenkel, der ihm unterhalb der Hüfte abgenommen werden mußte, natürlich ohne Narkose. Er litt gräßlich und bäumte sich gegen den Schmerz, daß ihn drei Männer nicht zu halten vermochten. Da warf plötzlich Schwester Angela die Arme um ihn und legte ihre flaumige Wange an die verwilderte, bärtige des fremden Soldaten.

Ertrag' die Schmerzen, Bruder, lieber Bruder, flehte sie, um deiner Mutter willen, damit du leben kannst, oder für deine Braut, wenn du eine hast.

Sie umschlang ihn fest mit den Engelsarmen, und er hielt auf einmal still, ergriffen und dankbar, um sie nicht durch Jammerlaute zu betrüben. Und als er verbunden auf dem Strohsack lag, kam ein zweiter Schmerzensmann an die Reihe, dann ein dritter, und jeden nannte sie ihren Bruder und schlang die schwesterlichen Arme um seinen Leib, wie um durch geheimnisvolle Ausströmung heiliger jungfräulicher Naturkräfte die körperlichen Schmerzen zu lindern, und da war auch keiner, der nicht für die wohltätige Berührung empfänglich und dankbar gewesen wäre. Der ganze Raum schien von einem Leuchten himmlischer Liebe erfüllt, daß ich alles vergaß, den schrecklichen Anblick abgesägter Gliedmaßen, das Aufräumungsfeld vom Vortag und – die Bedeutung des Rings an meinem Finger, denn ein neuer, schönerer hatte sich unsichtbar daneben geschoben als jählings erkanntes Glied einer Kette, die sich rückwärts und vorwärts in die Ewigkeit verlor.

Das geht nun so Tag um Tag, Stunde um Stunde, sagte Heinrich Sommer, als wir vorübergehend von dem blutigen Geschäft rasteten, wir wüßten nicht, wie auskommen ohne sie. Und sie ist ein Grafenkind, aus verarmter Familie freilich, und Krankenschwester von Beruf. Man versteht nur nicht, wie derselbe Gott, der eine Schwester Angela erschaffen konnte, solche Greuel zulassen soll.

Mittlerweile gewann mir mein Kollege, ein fischblütiger Engländer, den die Not ringsum nichts anging und der nur seine eigene Aufgabe im Auge hielt, einen erheblichen pressedienstlichen Vorsprung ab. Er begab sich nach dem Pachthof St. Hubert. Um den Wackeren nicht in ein falsches Licht zu rücken, füge ich gleich hinzu, daß er in dem kameradschaftlichen Sinn, der immer zwischen uns gewaltet hat, die Ausbeute des traurigen Tages mit mir teilte.

*

Jetzt erzähle ich die Begebenheiten nicht in der Reihenfolge, wie ich sie selbst erlebte, sondern nach Berichten der Augenzeugen so, wie sie sich allem Anschein nach abgespielt haben müssen.

Die Ferme St. Hubert lag auf halber Höhe eines jener langen lothringischen Hügelrücken hart an der nach Metz fahrenden Heerstraße, dem von unseren Truppen besetzten Gravelotte östlich gegenüber. Sie war die westlichste vorgeschobenste Stellung der Franzosen vor Metz und von ihnen zur kleinen Festung ausgebaut, deren Batterien das ganze Gelände beherrschten. In einem nordseits anstoßenden Wäldchen staken obendrein starke Chassepotabteilungen, weitere Batterien waren nach Süden zu in Steinbrüchen versteckt, um die Feuerwirkung von St. Hubert zu verstärken. Diese Stellung zu nehmen war für die Deutschen eine unbedingte Notwendigkeit, und das 67. Regiment Magdeburg erhielt den tödlichen Auftrag. Den ganzen Nachmittag des 18. wurde darum gerungen, aber der letzte Akt des blutigen Dramas erfolgte nicht auf Befehl, sondern durch plötzlichen unwiderstehlichen Sturmtrieb der Soldaten.

Man muß wissen, daß östlich von Gravelotte sich die Straße als tief eingeschnittener Hohlweg einen jähen dichtbewaldeten Abhang hinuntersenkt in die Schlucht, die der Mancebach durchfließt. Dann überquert sie die Talsohle auf einem hohen und engen Steindamm und steigt am andern Ufer ebenso steil wieder empor, um an den Steinbrüchen hin den Hügelkamm zu erreichen. Sobald die Truppen auf dem Dammweg sichtbar wurden, empfing sie wütendes Feuer aus den Waldungen zur Rechten und Linken, die vom Feinde besetzt waren; zugleich begannen die Batterien von St. Hubert und aus den Steinbrüchen zu spielen. Die Preußen erstiegen den Hang unter schwersten Verlusten, kämpften um den Besitz der Steinbrüche und um jede kleinste Bodenfalte, die eine vorübergehende Deckung bot. Aber die Aufgabe schien menschliche Kräfte zu übersteigen, denn auf engem Raum zusammengepreßt, konnten sie sich nicht entfalten und boten dem ringsum in der Höhe aufgestellten Feind ein allzu bequemes Ziel. Entsetzlich war das Blutbad unter den Siebenundsechzigern: allein auf der kurzen Strecke zwischen Pachthof und Steinbrüchen las man am Abend sechzehn gefallene Offiziere diesem Regiments auf.

In einer Füsilierkompagnie diente ein alter Mann mit scharfgeschnittenem weißem Kopf, der als Freiwilliger eingetreten war. Sein Aussehen ließ auf gute Herkunft schließen, er hielt sich immer peinlich sauber, das Gesicht trug er glatt bis auf den starken weißen Schnurrbart, und die Nägel gepflegt, soweit Marsch- und Gefechtsleistungen es gestatteten. Im übrigen unterschied er sich durch nichts von den Kameraden, nur daß er in den Ruhepausen meistens für sich blieb. Briefe schrieb und erwartete er keine, denn er fragte niemals nach der Feldpost. Im Dienste zeigte er eine außerordentliche Umsicht und Erfahrung und war trotz seiner Jahre der Eifer und die Pünktlichkeit selbst. Auf Befragen gab er zu, schon mehr »dabei« gewesen zu sein, ließ sich aber auf keine Angaben über seine bürgerliche Stellung ein. Nach Spichern erhielt er die Litze des Gefreiten, die ihm eine besondere Genugtuung zu gewähren schien. Den Unteroffizieren war er eine große Stütze, weil er überall, wo es not tat, mit dem Beispiel voranging. Es hieß, er habe ein steifes Bein, was ihn jedoch beim Marschieren nicht hinderte, nur klettern konnte er nicht, da halfen ihm die Kameraden. Auch der Kompagnieführer erkannte in dem diensteifrigen alten Mann etwas Besonderes, und die Soldaten ehrten ihn wie ihren Vater. Wo sein weißer Kopf aufleuchtete, folgten ihm die Leute wie einem Wunderzeichen nach. Am Morgen des 18. hatte er schon geholfen eine Waldecke vom Feinde säubern. Auf dem schrecklichen Dammweg hatte er durch seine Seelenruhe die anderen ruhig gemacht. Als sich nun die Emporklimmenden in dem furchtbaren Geschützhagel, der alles niederriß, vergebens nach einer Schutzwehr umsahen, feuerte er sie mit dem Rufe: »Vorwärts, Kinder, vorwärts! Deckung gibt's nur drinnen im Gehöft!« zum Stürmen an und pflanzte selbst als erster sein Bajonett auf. Inzwischen hatte schon der Vortrupp von selbst begriffen, daß nur unter des Feindes eigenem Dach noch Rettung aus dieser Hölle war. In aufgelösten Schwärmen stürmten sie den Hügel hinan, doch die Welle flutete ebenso schnell unter furchtbaren Verlusten zurück, weil das Gehöft nach dieser Seite gar keinen Eingang hatte. Wütend geworden, warf sich jetzt die Masse, deren Führer schon gefallen waren, zur Rechten und drang mit plötzlicher Eingebung von der Südseite, wo die Türen lagen, in das Gehöft. Eine Abteilung aber folgte dem alten Gefreiten, der nach der linken Seite winkte, und warf sich mit Umgehung des Hauptgebäudes von Norden her auf den Garten, den eine nur kniehohe Mauer einfaßte. Dem doppelten Angriff hielt der Gegner, den schon das ununterbrochene Geschützfeuer von Westen her zermürbt hatte, nicht länger stand, er entwich mit Hinterlassung von gegen hundert unverwundeten Gefangenen. Das Gehöft blieb in den Händen der Deutschen, die sich mit Mühe dort hielten, bis am Abend die feindlichen Batterien verstummten. Als man zum Sammeln blies, kam der alte Mann nicht mehr zum Vorschein und fehlte auch in der Frühe beim Namensaufruf. Unter den Toten und Verwundeten, die man sogleich aufgelesen und in dem Schuppen untergebracht hatte, befand er sich auch nicht. Nun erinnerte sich einer, daß er ihn beim Überklettern der Mauer mit seinem steifen Bein hatte straucheln sehen. An dieser Stelle fand sich eine Blutlache, von der ein lange Spur bis zu einem mächtigen Nußbaum führte. Dorthin war er gekrochen, um im Schatten des alten Baumes, fern von den Kameraden, Auge in Auge mit den Sternen, seine Seele auszuhauchen. Er atmete noch, war aber bewußtlos, als man ihn aufhob. Gegen Mittag brachten ihn die Träger nach La Gloriette. Auf seiner Brust fand sich neben der Erkennungsmarke ein Eisernes Kreuz mit der Jahreszahl 1813 und ein mit Blut durchtränkter Brief mit Überschrift an den Kompagnieführer, der aber schon selber gefallen war.

In dem Schreiben, dem die Bitte beigefügt war, es vor der Kompagnie verlesen zu lassen, hieß es:

»Kameraden! Der alte Mann, der mit euch marschierte und Posten stand, war Offizier und preußischer Edelmann, seine Vorfahren haben auf allen preußischen Schlachtfeldern geblutet und halfen auch 1813 den deutschen Boden von dem Korsen befreien. Sein alter Name stirbt mit ihm. Denn sein einziger Sohn ist ein Ehrloser, der die Fahne verließ, und hat kein Recht mehr ihn zu führen. Um die Schmach mit meinem eigenen Blute abzuwaschen, habe ich mich freiwillig als Gemeiner gestellt, es gab für den invaliden Oberst keinen anderen Weg, um an den Feind zu kommen. Meldet meinem alten Kriegskameraden, dem General – –«

Alles weitere, auch die Namensunterschrift war vom Blut unleserlich gemacht, nur noch die Worte »Gott schütze –« ließen sich entziffern.

Das Blatt ging von Hand zu Hand, und jeder versuchte daran seinen Spürsinn.

Ich wußte noch nichts von dieser Entdeckung, ich saß schreibend im Obstgarten von La Gloriette auf dem Strunk eines zerschossenen Baumes, vor einer Kiste, die ich mir als Tisch aufgerichtet hatte.

Da stand plötzlich Sommer vor mir mit der erregten Frage:

Wo befindet sich Gustav Borck?

Ich weiß es nicht, sagte ich beklemmt, denn mir schwante von ferne ein Unheil.

Du weißt es nicht? Du, sein anderes Ich? Aber du weißt vielleicht, daß er – daß er nicht dabei ist?

Ich weiß von gar nichts, beharrte ich in dem dunklen Bestreben, den Freund zu decken.

Bitte, komm mit mir.

Mit schwerem Herzen, aus dem Unbewußten widerstrebend, folgte ich ihm.

In einem niederen Anbau, Strohbündel an Strohbündel, lagen die neu herzugebrachten Verwundeten, in weißen Hemden, dem Rang nach nicht mehr unterschieden, nur noch Menschen, die der Tod berührt hatte. Schwester Angela ging helfend und zusprechend von einem zum andern.

Vor einem Schwerverletzten, der die Augen geschlossen hielt, blieb Sommer stehen.

Sieh ihn an, fällt dir keine Ähnlichkeit auf? – Hast du ihn nicht im Bild schon gesehen?«

Mich hatte es auf den ersten Blick durchzuckt: Gustavs Vater!!

Es war das Gesicht, das ich von dem zerbrochenen Familienbild her kannte, der Kopf mit dem dichten weißen Haar und den zusammengewachsenen Brauen, die Züge, die sich so auffallend in Gustav wiederholten. Ich stand lange ihn zu betrachten und stellte mir die Reihe soldatischer Vorfahren vor, die mit ihrer altpreußischen Gradheit und Strenge diese Züge so knapp und regelmäßig gemeißelt hatten. Unter dieser Stirn ließen sie nur für die eine vererbte Leidenschaft Platz: soldatische Pflicht und Ehre, und den Doppelstern, der darüber stand: König und Vaterland. Und weiterwirkend hatten sie auch des Sohnes Gesicht gemeißelt. Aber da war dann von weither etwas andres, Leuchtendes hergeflogen, das sich auf dem verjüngten Abbild niederließ und in bewegten Ausdruck umgestaltete, was in den Zügen des Alten unbeweglich blieb wie Holzschnitzwerk.

Das waren meine Gedanken beim Anblick des Verwundeten, denn die Ähnlichkeit war für jeden, der Gustav kannte, unwiderleglich. Noch wußte ich nichts von dem tragischen Zusammenhang und hatte noch keine Zeit gehabt, mich zu wundern, wie der alte invalide Oberst unter die Frontsoldaten gekommen war. Aber schon klopfte mir das Herz und weissagte irgendein Äußerstes.

Da gab mir Sommer das blutverwischte Blatt, an dem noch immer herumgerätselt wurde, und ein Leichtverwundeter erzählte von dem Weißkopf, der der Kompagnie wie ein Stern vorgeleuchtet hatte, wenn er auch nur die Litze des Gefreiten trug.

Weißt du jetzt, ob Gustav dabei ist? fragte mich Heinrich Sommer, und ich habe nie ein haßerfüllteres Gesicht gesehen als das seine bei diesen Worten.

Der alte Mann zerrte unterdessen mit den kraftlosen Fingern an den Verbänden, wie um sie abzureißen, und bewegte in einem fort den fiebernden Mund, ohne zu sprechen.

Schwester Angela trat hinzu, und der traurige Ort leuchtete auf von ihrem Licht.

Herr Oberst, sagte sie mit ihrer Himmelsstimme dem Sterbenden ins Ohr, indem sie seine Lippen feuchtete, halten Sie sich ruhig. Ihr König besucht eben das Lazarett, er will Sie sehen und Ihnen danken. Gleich wird er da sein.

Es war die fromme Lüge eines Engels, aber für Heinrich Sommers Haß verkehrte sie sich zur diabolischen Eingebung.

Er beugte sich über den Verwundeten: Herr Oberst!

Heinrich, flüsterte ich empört, denn ich fühlte was kommen würde, du bist hier, um Wunden zu verbinden, nicht sie aufzureißen.

Ich muß es wissen, flüsterte er zurück. Er erlebt den Abend doch nicht mehr. Schwerer Lungenschuß. – Herr Oberst, sagte er lauter.

Zu Befehl, Majestät, fuhr jener auf und machte eine Bewegung, wie um zu salutieren.

Sommer drückte ihn in die Kissen zurück.

Liegenbleiben! Ich will es. – Sie hatten einen Sohn – wie heißt er?

Das Gesicht des Sterbenden arbeitete, aber er brachte den Namen nicht heraus; es war als ob ein Krampf ihm den Mund verschlösse.

Was ist aus ihm geworden?

Fahnenflucht – vor dem Feind, Majestät, röchelte es mühsam aus der durchlöcherten Brust. – Degradiert und erschossen – habe selber Feuer kommandiert.

Es war schauervoll. Ich suchte den Peiniger wegzuschieben.

Du siehst, daß du auf falscher Spur bist. Der, den du meinst, ist außer Bereich des Kriegsrechts.

Der alte Mann liegt im Fiebertraum, war die Antwort, er träumt, wonach er gedürstet hat. Aber der Vater deines Götzen ist er doch.

Der Oberarzt trat eilig ein und rief mit den Worten: Kollege Sommer, wo stecken Sie denn? Wir brauchen Sie! den Unbarmherzigen hinaus.

Der Verwundete lag wieder mit geschlossenen Augen teilnahmlos. Nur seine Finger zuckten noch und schienen etwas zu suchen. Da schob Schwester Angela ihm das Eiserne Kreuz von 1813 hinein. Sehen konnte er es nicht mehr, aber er erkannte mit den Fingerspitzen was es war, und es verband sich seinen letzten Träumen.

Majestät – murmelte er beseligt, Dank – Dank – ich habe ja nur meine Pflicht getan –. Aber das Auge, das er noch einmal aufschlug, war schon blicklos und gläsern. Dann ging es rasch zu Ende.

Der Tod konnte dieses Gesicht nicht starrer und strenger machen als die Natur es gemacht hatte, aber er wischte alles Kleine, Kommißhafte daraus hinweg. Und in dieser heldischen Erhabenheit, die das Unversöhnliche seines Ausdrucks wunderbar adelte, trat die Ähnlichkeit mit Gustav nur noch mehr hervor.

O Gott und Herr, laß es nicht wahr sein! flehte ich in meiner Seele. Es wäre zu jammervoll.

Aber das Schwere mußte sich enthüllen und erfüllen. Die Kunde von dem Obersten, der als Gemeiner gefochten hatte und in St. Hubert gefallen war, pflanzte sich von Mund zu Mund fort, von den verschiedensten Heeresteilen fanden sich an diesem Ruhetag die alten Feldwebel und Unteroffiziere ein, um seine Persönlichkeit festzustellen. Und endlich kam einer, der in dem Toten seinen Major vom schleswig-holsteinschen Feldzug erkannte, und er sprach den Namen aus, den ich zu hören fürchtete. Nun erschienen auch die jungen Offiziere vom Regiment, soweit sie noch lebten, und traten barhäuptig zu dem Alten, dem an Rang weit Überlegenen, der vor ihnen strammgestanden und jedem Befehl unverbrüchlichen Gehorsam geleistet hatte. Man hatte auf seinem Leib auch die alte Schußstelle gefunden, wo die dänische Kugel eingedrungen war, was den letzten Zweifel beseitigte. Die Erschwerung des Dienstes durch den alten Leibschaden entlockte den wenig rührsamen Ärzten manchen Ausruf erstaunten und hochachtungsvollen Bedauerns, mit was für Anmerkungen für den Sohn, brauche ich nicht zu sagen und lasse gern den Schleier über diese mir so schrecklichen Stunden sinken, in die nur ein teilnehmendes Wort Schwester Angelas, die alles mitzufühlen schien, was ich nicht aussprach, einen Schimmer des Trostes warf.

Gegen Abend begruben wir den alten Mann. Einen Sarg konnten wir ihm nicht geben, wir legten das Eiserne Kreuz vom Jahre Dreizehn auf seine Brust und ein paar Blumen in seine Hand, wickelten ihn in seinen Mantel und ließen ihn so hinab. Der Feldprediger, den die dringende Arbeit bei den Sterbenden verhinderte, eine Rede zu halten, von der jedes Wort ein Brandmal für den Sohn eines solchen Vaters gewesen wäre, sprach ein Gebet, die Soldaten sangen: Jesus, meine Zuversicht! und Ich hatt' einen Kameraden, und die Feindesgeschütze von St. Privat, wo das große Sicheln weiterging, donnerten ihm die Ehrensalven. Ein rohes Holzkreuz wurde zurechtgezimmert, worauf der Name zu lesen war, den das preußische Heer von Alters her zu seinen Besten zählte. Mir aber war es zumut, als hätten sie nicht den Vater, sondern den Sohn begraben.

Mein Abschied von Sommer war kühl und kurz. Es war mir ein Charakterzug an ihm aufgegangen, den ich vorher nicht so recht erkannt hatte: die kalte Gehässigkeit des Neides. An unsern Studentenabenden bei Molfetta hatte er immer hinter Gustav zurückstehen müssen, dessen Überlegenheit er nur widerwillig anerkannte und mit dessen Schöpfergaben er nichts anzufangen wußte, da seinem verneinenden Wesen der Sinn für alles Künstlerische versagt war. Weil Gustav dies wohl wußte, hatte er ihn von der Teilnahme an seiner Dichtung ausgeschlossen und den Verletzlichen damit noch schwerer gereizt. Dann las er der stummgewordenen Adele ihr Liebesleid aus der Seele, und der Neid bohrte sich ihm tiefer und tiefer ein. Zuletzt sah er den Allbegünstigten noch Selma Hanusch davontragen, auf die Sommer, wie es scheint, schon früher ein Auge geworfen hatte, als die Künstlerin für studentische Huldigungen noch zugänglich war. Sommer hatte mich ja oft während unserer Studienzeit durch sein selbstgerechtes, absprechendes Gehabe gegen den gemeinsamen Freund ungeduldig gemacht. An jenem Abend begriff ich, aus welcher Quelle das alles floß.

Dem, der nicht verstehen will, ist auch nichts verständlich zu machen, und wer keine feinere Scheidung zuläßt, der ist schnell mit dem Urteil fertig. Er verschloß all meinen Versuchen, ihm Gustavs Handlungsweise, wenn nicht zu rechtfertigen, so doch zu erklären, sein Ohr. Freilich mußte ihm auch bei seinem völligen Mangel an Phantasie ein ganz von der Phantasie Beherrschter zur unlesbaren Schrift werden.

Erst hat er mit seiner unmenschlichen Selbstsucht die arme Adele getötet, sagte er, dann kam sein Vater an die Reihe, sein nächstes Opfer wird Selma sein, denk' an mich.

Plötzlich lachte er hämisch auf und griff sich an die Stirn:

Fahnenflüchtig, um eine Hermannsschlacht zu dichten, das geht allerdings über den Horizont so eines Alltagsmenschen wie ich bin.

Das Leben ist das Reich des Widersinns und keine Rechenaufgabe für Schüler, antwortete ich ungeduldig. Wenn alles so glatt aufginge, wie du verlangst, so gäbe es freilich keine Tragödie auf der Welt, aber gewiß wäre auch schon längst dem lieben Gott vor all der Selbstgerechtigkeit das Zusehen verleidet.

Dem lieben Gott! dem lieben Gott! sagte er, grimmig auf das neue Stichblatt losgehend. Ins Feldlazarett muß man kommen, um ihn zu suchen. Solche Verstümmelungen und ein lieber Gott!

Mit diesem Freund war ich fertig und suchte nur noch Schwester Angela auf, um Abschied zu nehmen. Ich fand sie am Bett eines Schwerverletzten, den eben der Priester verlassen hatte. Sie reichte mir über das Haupt des Sterbenden die Hand und sagte mit einem Blick, der mein Innerstes zu lesen schien:

Sie haben heute einen schweren Tag gehabt, Gott schütze Sie und sei mit Ihnen.

Ich ritt mit dem Kollegen nach Flavigny zurück, woher wir gekommen. Der frühe Mond ging auf und beleuchtete ein endloses Totenfeld, Kreuz an Kreuz, die Arbeit dieses Ruhetages. Und wo wir vorüberkamen, sahen wir Leute beschäftigt, die rasch noch zwei rohe Bretter kreuzweise übereinander nagelten, Hammerschläge begleiteten uns auf dem ganzen Weg. Die weite lothringische Ebene – Gräber, Gräber für Freund und Feind. O Menschenbrüder! Traurigkeit überwältigte mich, wie ich noch keine gefühlt hatte, und hinter mir blieb der neuaufgegangene Stern meines Lebens verdämmernd zurück. Der schlechtsitzende Ring aber, der infolge der Kriegsstrapazen zu weit geworden war, muß unterwegs verlorengegangen sein, denn ich fand ihn später nicht mehr an meinem Finger.

Die nächste Feldpost brachte mir zwei Zeilen von Kuno, den ein Zufall bald nach mir in jenes preußische Lazarett verschlug. Er schrieb mir nur tröstend die Schlußworte aus Hölderlins Lied an das Vaterland:

Und zähle nicht die Toten, dir ist,
Liebes, nicht einer zuviel gefallen.

*

Da ich nicht meine, sondern Gustav Borcks Geschichte erzähle, überspringe ich die zwei nächsten Jahre, die ich dauernd in Amerika verbrachte. Das Deutsche Reich stand nun herrlich aufgerichtet und leuchtete wie eine Gralsburg über die Wasser herüber. Ich lebte in Philadelphia als Schriftleiter einer neugegründeten deutschen Zeitung, durch die das Deutschtum Pennsylvaniens unter Einem Zeichen zusammengefaßt werden sollte, wie es die deutschen Stämme auf dem Mutterboden waren. Und mein kleines Lebensschifflein war in den seligsten Hafen eingelaufen.

Dir wird sich nie das Schicksal tragisch verknoten, weil du gar keine Begabung zum Unglück hast, hatte mir einmal Gustav gesagt. Denn wie einer beginnt, ob mit dem Rhythmus des Ganzen oder gegen ihn, so wird er enden.

Diese Worte des Freundes, die für ihn selbst keine glückliche Vorschau enthielten, sollten sich an mir zum Heile bewähren! Denn als ich nach dem Friedensschluß Europa verließ und mich mit zerspaltenem Gefühl meinem Porzellanprinzeßchen vorstellte, um das gegebene Wort einzulösen, da hatte die Vorsehung schon gnädig eingegriffen und ihr einen Industriellen zugeführt, der ihre Ansprüche in jeder Hinsicht besser befriedigte. Gerade um die Zeit, wo mir der Ring vom Finger verschwand, war das geschehen, und sie hatte nur meine Rückkehr abgewartet, um das Verhältnis friedlich und freundschaftlich zu lösen. Dann trat sie schönheitstrahlend und von der ganzen Stadt bewundert vor den Altar, ich aber führte wenige Monate später den Engel von La Gloriette in mein Haus. Wir waren miteinander in Fühlung geblieben, nicht durch Sommer, von dem ich mich innerlich lossagte, sondern durch Schütte, den Unbegreiflichen, der die Zwillingschaft unserer Seelen erriet, und ihre schönen, tapferen Briefe hatten mir bewiesen, daß ich diesmal nicht einem nur äußeren Reize erlegen war. Und so wie sie mir bei der ersten Begegnung erschien, ist sie an meiner Seite durchs Leben gegangen, als schirmender, in Liebe unbezwinglich starker Engel für alle, die der Liebe und des Schutzes bedürftig waren. Doch wem, der sie gekannt hat, brauchte ich das zu sagen!

Deutschland blieb meine ferne Liebe, mein Wunsch- und Wahlland. Meine ganze Kraft an die Verbreitung deutscher Bildung, deutschen Wesens zu setzen, war mir eine köstliche Aufgabe. Das einzige, was mich betrübte, war, daß es mir nicht gelang, die persönlichen Fäden festzuhalten. Alle Bemühungen, brieflich an Gustav Borck zu gelangen oder auch nur seinen Aufenthalt zu erfahren, blieben unbelohnt. Der einzige von den näheren Freunden, der mir schrieb, war Schütte, aber seine Briefe oder vielmehr Zettel waren sprunghaft und dunkel wie seine gebrochenen Worte und jedesmal von einem anderen Orte abgesandt, so daß ich nicht antworten konnte. Um so froher war die Überraschung, als er eines Tages, eilfertig und geheimnisvoll wie immer, über meine Schwelle trat. Er war zu einer Theosophenversammlung, die in Neuyork stattfand, herübergekommen und wollte sich nur schnell, wie er sagte, bei uns den Kuppelpelz holen. Nicht meinem, aber Frau Angelas Zureden gelang es, den aus dem Rohr Geschossenen wenigstens für eine Nacht festzuhalten. Er war äußerlich seltsam verändert, sein immer schon spärlicher Haarwuchs war fast ganz verschwunden, eine fahlbraune Hautfarbe gab den weißen Zähnen etwas Bleckendes, das durch den großen Zwischenraum von der Nase zum Mund noch auffallender war, und die tiefliegenden Augen glühten wie angezündete Lichter in einem Totenkopf. Er stand nun vollends ganz im Banne der Mystik, so daß er alles auf sie bezog. Aber sein Freundesherz war das alte geblieben, und wir verbrachten zu dreien einen schönen Abend, der ganz der Erinnerung an die Universitätszeit gewidmet war und an dem Gustav Borck und Olaf Hansen, beide der Zuhörerin keine Fremden, mitten unter uns saßen.

Meine erste Frage hatte natürlich dem Dichter und seinem Werke gegolten. Kuno zog zuerst die Schultern hoch und schwieg.

Er lebt in Zürich, sagte er dann. Selma ist dort am Stadttheater angestellt und entzückt in ihren oberflächlichen Glanzrollen die Züricher wie zuvor die Stuttgarter. Sie hat sich aber ins künstlerische entwickelt, Dank dem Einfluß ihres Mannes.

Du sprichst von Selma, sagte ich verwundert. Aber Gustav?

Was willst du, er hat im Ausland keinen leichten Stand. In der Schweiz weht für uns Deutsche eine etwas kühle Luft, zumal für Norddeutsche. Und dabei ist man doch den mit der Heimat Zerfallenen nicht gewogen.

Und seine Dichtung?

Nun erfuhr ich etwas Merkwürdiges, das Kuno nur zufällig aus der Zeitung wußte. An einem Berliner Theater war bald nach dem Friedensschluß ein Hermannsdrama aufgeführt worden unter dem Titel »Der Befreier«, dessen Verfasser sich Max Berka nannte, das aber nach der Inhaltsangabe und den darin vorkommenden Namen nichts anderes sein konnte, als die stark zusammengezogene und verstümmelte »Varusschlacht« von Gustav Borck. An jenem Abend war es zu einem Theaterskandal gekommen, der sich vom Zuschauerraum in die Presse fortsetzte. Was in unseren Augen der höchste Adel des Stückes gewesen, die homerische Gerechtigkeit gegen Freund und Feind, das gereichte ihm in der Nachkriegsluft bei einer erfolgberauschten Mehrheit, die ohnehin für die poetischen Schönheiten blind war, zum Vorwurf, während eine politisch unzufriedene Minderheit die reine parteilose Kunst für ihre Zwecke umdeutete und dem Dichter Absichten unterschob, die er erst recht nicht hatte. Der angebliche Verfasser erhielt durch spitze Erklärungen und Gegenerklärungen den Streit aufrecht, bis sein Name oft genug durch die Blätter gegangen war, um im Gedächtnis der Reichshauptstadt zu haften und ihm einen literarischen Anhang zu sichern. Aber das Stück wurde schon nach der zweiten Aufführung vom Spielplan abgesetzt, und bald danach verschwand der Herr, der sich Dr. Berka nannte, nachdem ihm verschiedene literarische Diebstähle und andere unsaubere Machenschaften nachgewiesen waren. Mit ihm verschwand auch das Werk, von dem nun mit einemmal die Rede ging, daß es einen ganz anderen Verfasser habe. Kuno hatte das alles festgestellt und sich dann nach Zürich gewandt mit der Anfrage, ob dem Dichter diese Vorgänge bekannt seien, hatte aber gar keine Antwort erhalten.

Berka? Berka? Woher kenne ich diesen Namens ging es mir durch den Kopf. Da stellte sich plötzlich ein Gesicht, an das ich seit Jahren nicht gedacht hatte, vor mein inneres Auge, ein unruhiges und unerfreuliches Gesicht, über das es von Zeit zu Zeit wie ein Kribbeln von Ameisen lief, und jener Geistesschmarotzer, der sich in der Stuttgarter Zeit in Gustavs Künstlertum eingefressen hatte, stand wieder vor mir.

Er hat die Handschrift gestohlen, fuhr ich heraus.

Das nicht, war die Antwort. Ich weiß aus sicherer Quelle, daß Gustav mit ihm einverstanden war. Er wagte als Fahnenflüchtiger nicht, das Werk unter seinem Namen auf die Bühne zu bringen.

Weiß er denn, was in St. Hubert geschah? fragte ich zögernd.

Ich glaube nein, und möge er es nie erfahren. Er hat keine Beziehungen zu seiner Heimat und zu seinen ehemaligen Kameraden. Und Selma umgibt den Traumwandler unermüdlich mit Schutzwehren. Höre, dieser Frau habe ich Unrecht getan und bitte es ihr im stillen ab. Solch ein stündliches Opferbringen und Aufgeben der eigenen Persönlichkeit für einen, der es nicht einmal bemerkt, solch ein immerwährendes Sorgen und Behüten macht manche Torheit gut. Und war sie nicht im Recht, als sie ihm riet, die Pflicht des Genius über die des Alltagsmenschen zu stellen? Jetzt aber steht er heimatlos und rechtlos im Leeren und kann sein Werk nicht durchsetzen. Hätte er das bedacht, so wäre er doch vielleicht den anderen Weg gegangen, wandte ich ein.

Das Große setzt sich bei uns nie auf Einen Schlag durch, dafür hat es auch Zeit zu warten, sagte er. Die Hauptsache war doch, daß es entstand, besser gesagt, daß es aus den Tiefen geholt wurde, wo es fertig lag und wohin kein anderer den Schlüssel hatte. Ich glaubte ja auch einmal ihn meistern und lehren zu können und tappte selber im Dunkeln. Damals hatte ich die Weihen noch nicht. Jetzt sehe ich anders. Er sah von jeher anders, weil er auf einer anderen Ebene lebte. Jeder hat Recht auf der Ebene, wo er steht. Die Ebenen liegen stufenweise übereinander.

Ich wunderte mich, den Mann, dessen Vaterlandsgefühl sonst immer bis zum Überkochen erhitzt war, so reden zu hören.

Wie kann der Geistesjünger sein Herz an ein einziges Land hängen, war seine Antwort, wenn er doch weiß, daß er in jedem Land der Erde schon einmal geboren war oder es werden kann, und daß jeder Menschenbruder sein gewesener oder künftiger Landsmann ist?

Mir wurde bei dieser Rede zumut, als stürzte ich häuptlings ins Leere. Unter einfacheren Seelen lebend, war ich gewohnt, daß auf diesem Boden der großen Völkermischung ein jeder zu seinem eigenen Volkstum stand, und es war mein Stolz und meine Freude gewesen, für die Meinen tun zu können, was ich alle andern selbstverständlich für die Ihrigen tun sah. Darüber hatte ich ganz vergessen, daß der deutsche Genius seine Höhe immer nur ersteigt, um sich selber aufzulösen und zu verneinen, als ob sein Kreis sich niemals runden sollte, als ob ihm niemals eine irdische Erfüllung bestimmt sei.

Auch Kuno hatte die Stufe des Volkstums überflogen und schwebte ohne Pol im Unbegrenzten. Alles Geformte war ihm entglitten, und nur die Teilnahme am Geschick der Freunde schien an ihm noch irdisch zu sein.

Als er gegangen war, sprach mein zweites Ich die Worte aus meiner Seele:

In Zürich bedürfen sie deiner. Laß uns die Herbstferien in Europa verbringen.

*

Als wir wieder deutsche Luft atmeten, fanden wir dann freilich, daß nicht alles Gold war, was so hell über die Wasser herübergeglänzt hatte, und es ging uns allmählich auf, was Kuno durch Schweigen und halbe Worte hatte ahnen lassen. Das Reich war teuer bezahlt. Die wenigen Jahre seit der Tübinger Zeit hatten genügt, einen ganz anderen Deutschen auf die Bildfläche zu bringen; Gründer und Streberwesen standen in Blüte. Der Durchschnitt beugte sich vor dem goldenen Kalb, die einen in satter Befriedigung, die andern in ungestillter Gier. Die Besseren standen trauernd und hilflos beiseite oder waren verbitterte Nörgler geworden. Anderwärts war es ja bei der Allgemeinheit gewiß auch nicht besser bestellt, aber Deutschland, das Land der Poesie, die feste Burg des Geistes, von demselben Taumel ergriffen zu sehen, das traf ins Herz. Unersetzliches, sonst nirgend Vorhandenes, war dahin, und mein Herz füllte sich mit Trauer. Eine Luft wie im Kaffeehaus Molfetta gab es nun nicht mehr. Weder bei den Verwandten meiner Frau noch bei meinen eigenen, die noch da und dort verstreut lebten, fanden wir die Welt, nach der wir uns so tief gesehnt hatten. Wir standen auf deutschem Boden und suchten Deutschland! Und wieder einmal schwebte das Ewigmorgige vor uns her wie die Fata Morgana. –

*

– – In Zürich fand ich nächst nur Selma. Gustav hatte die letzte, schon kalte Herbstsonne benutzt, um noch für zwei Tage in die Berge zu gehen. Das Mädchen kannte mich noch und ließ mich ohne weiteres eintreten. Die Künstlerin stand halbseits mit dem Rücken gegen die Tür, daß ich sie zuerst im Profil erblickte; sie neckte sich zärtlich mit einem Kinde, das sie auf einen Bücherschrank gesetzt hatte, von wo es lachend und strampelnd nach ihr hinstrebte. Ein Mops beteiligte sich durch Emporspringen und Bellen an diesem Spiel. Sie schien mir größer geworden, was auf Rechnung einer fast asketischen Schlankheit kam.

Als sie mich erkannte, stieß sie einen Schrei aus, riß das Kind auf den Arm und stürzte mir mit einem Ungestüm entgegen, worin ich ganz die alte Selma erkannte.

Der Mohikaner! Endlich! endlich! O nun wird alles gut. Sie Böser, wo haben Sie so lange gesteckt?

Dieser Empfang verriet, wie verloren sie sich beide in der Fremde fühlten trotz Selmas Erfolgen, von denen man uns schon im Gasthof erzählt hatte.

Es brach auch gleich mit der alten Aufrichtigkeit aus ihr heraus:

Lieber, lieber Freund! Sie glauben nicht, wie mir Ihr Anblick wohl tut. Wir frieren hier an Leib und Seele. Das heißt: ich, setzte sie schnell mit wehmütiger Schalkheit hinzu, denn Er will es nicht Wort haben. Ich müßte ja dankbar sein, weil es uns äußerlich wohl geht, aber in unsrem guten Schwabenland wehte doch eine andere Luft.

Ich hielt das Kind, das sie während des Sprechens immerzu hätschelte, für ihr eigenes, da brach sie in Tränen aus.

Es ist ein Nachbarskind, das ich mir herüberhole, wenn Gustav fort ist. Ich darf ja kein eigenes haben. Ach, und ich wäre eine gute Mutter gewesen; dies eine Lob darf ich mir geben, es ist das höchste für eine Frau. Aber auf mich kommt es nicht an, er kann den Kinderlärm nicht ertragen.

Kaum hatte sie diese Worte herausgesprudelt, als sie sich erschrocken über ihre Offenherzigkeit in der ersten Minute des Wiedersehens auf den Mund schlug.

Nun erzählen Sie mir, Selma, sagte ich ablenkend, was denn eigentlich mit der entwendeten Handschrift geschah. Ich möchte gern eingeweiht sein, bevor ich Gustav spreche. Es ist mir von der Sache erzählt worden, doch konnte ich nichts Bestimmtes erfahren.

Dieser Schurke, dieser Berka! rief sie, rasch die Augen trocknend. Welchen Giftwurm haben wir uns da herangezogen. Sie durchschauten ihn ja gleich, ich weiß es noch wohl. Aber wir beide waren ganz von ihm eingenommen. Er überredete Gustav, ihm die Niederschrift der Trilogie zu überlassen, damit er sie auf das neugegründete Theater bringe, und wußte ihm einzureden, daß Gustavs Name zunächst nicht genannt werden dürfe. Es könnte doch nach der Persönlichkeit geforscht werden und herauskommen, wer hinter dem Gustav Borck stecke. Das sollte erst nach einem großen Sieg enthüllt werden. Unterdessen sollte die Dichtung Berkas Namen tragen. O welche Hoffnungen habe ich auf die Aufführung gesetzt. Ich glaubte, danach würde der Verfasser ins Vaterland zurückgerufen werden und alles verstanden und verziehen sein. Er glaubte es auch, wenn er gleich nicht davon sprach, sein Schiff ging auf den höchsten Wogen. Aber in Berlin meinten sie, wegen sachlicher Schwierigkeiten eine Aufführung des Ganzen zunächst nicht wagen zu können. Man wollte es fürs erste mit dem Mittelstück, der Varusschlacht, die auch für sich bestehen könne, versuchen. Und an dieser sollten noch Änderungen angebracht werden. Gustav willigte in alles, er war so nachgiebig, so zugänglich in seiner Freude. Nun gab es ein beständiges Hin- und Herfahren des bewußten Herrn, versteht sich, auf Gustavs Kosten, bis alles so weit war. Das letztemal fuhr er selber mit und wohnte unerkannt der Aufführung bei. Im Theater geriet er fast von Sinnen. Über seinen Kopf hinweg hatten sie Striche gemacht, die ihm sein ganzes Stück verhunzten. Auch so, verstümmelt und fast entmannt, hätte es noch einen starken Eindruck machen müssen, wäre nur eine Hörerschaft da gewesen, die starker Eindrücke fähig ist. Aber was bringt sattes Großstadtpublikum der hohen Kunst entgegen? Eine höfliche Langeweile, wenn sich's um bekannte Größen handelt, bei unbekannten ein offenes Gähnen. Freilich, es gab auch feinere Geister, die hingerissen waren, und es wurden Worte geschrieben, die ihn wohl hätten über die Gleichgültigkeit des Haufens trösten können, wenn er damals irgendeinem Lichtstrahl zugänglich gewesen wäre. Aber es muß wohl auf jener Reise noch ein anderes Unheil ihn ereilt haben, denn er blieb danach lange Zeit in einer Art von Erstarrung, die allen auffiel.

Was könnte das für ein Unheil gewesen sein? forschte ich.

Ich weiß es nicht, irgendeine böse Entdeckung, er spricht nicht darüber. Aber es hat ihn furchtbar geschüttelt, er hatte bei seiner Rückkehr keinen Blutstropfen mehr im Gesicht und hat auch die frühere frische Farbe nie zurückbekommen. Er ging dann in die Berge und war wochenlang verschollen. Ach, was habe ich gelitten! Als er wiederkam, war's wie nach einem Kampf mit Höllengeistern. Sein Gesicht war zerfallen, er hatte weiße Haare. Aber es ging vorüber, er stürzte sich in neue Arbeit, die riß ihn heraus, die rettete ihn. Und als es sich zeigte, daß er sein Vertrauen einem Betrüger geschenkt hatte, der nach allerlei Schurkereien mit seinem Werk verduftete, da nahm er den neuen Schlag merkwürdigerweise ganz gelassen.

Er hat ohne Zweifel eine Abschrift zurückbehalten.

Ich weiß es nicht genau. Das alles wird er Ihnen ja selber sagen. Welch ein Labsal für ihn, daß Sie da sind. Ihr Stillschweigen hat ihn mehr gequält, als er gestehen mochte; er glaubte, Sie hätten ihn absichtlich fallen lassen.

Wie konnte ich denn schreiben, wenn ich nicht wußte, wohin? antwortete ich. Ein Brief nach Heiden kam als unbestellbar zurück.

Ich sagte immer: Der Mohikaner läßt nicht von dir; wenn er nicht schreibt, so ist es, weil er nicht schreiben kann. Gib acht, er taucht eines Tages plötzlich auf und wird dann ganz der Alte sein.

Und hier ist er, um zu beweisen, daß Sie recht hatten, sagte ich. Aber jetzt muß ich aufbrechen, denn ich werde im Gasthof erwartet.

Als sie erfuhr, daß ich nicht mehr allein sei, sondern ihr eine Freundin und Schwester mitgebracht habe, blickte sie zuerst betreten. Sie schien zu fürchten, daß Gustav dabei einen Verlust erleide. Aber schnell besiegte sie die Anwandlung und sagte, meine Hände fassend:

Gott segne Sie und mache Sie so glücklich, wie Ihre Freundschaft für uns es verdient. Es war an der Zeit, daß Sie endlich auch an das eigene Glück dachten, statt einzig für das der Freunde zu sorgen. Also Angela heißt sie? Ein lieber Name. Aber warum haben Sie sie nicht mitgebracht? Holen Sie sie nur gleich. Nein, warten Sie, wir gehen zusammen. Sie müssen beide heut abend meine Gäste sein. Meine, wohlverstanden, denn morgen wird Gustav seine Rechte an Sie geltend machen, da habe ich mich auszulöschen, aber heute bin auch ich ein Mensch.

Sie ging an meinem Arm die Bahnhofstraße hinunter. Im Freilicht erkannte ich, daß ihre Schönheit viel von dem lockenden Reiz verloren hatte, dafür aber feiner, geistiger geworden war. Die ehrerbietigen Grüße, die ihr zuteil wurden, und die Blicke, die ihr folgten, sagten mir, wie ihr Name gefeiert war. Daß sie einen Zeugen ihrer künstlerischen Geltung neben sich hatte, mochte ihr wohltun, da Gustav augenscheinlich keine Kenntnis davon nahm.

Aber als ich sie vor mir her ins Gasthofzimmer schob, blickte die bewunderte Künstlerin unter ihrem Prachthut verschüchtert auf die vornehme Einfachheit des Grafenkindes. Doch kaum hatte sie den ersten Laut von ihren Lippen vernommen, als sie auch schon an ihrem Halse lag.

Mit einer solchen Stimme kann man nur sein, was der holdselige Name sagt.

Die Beiden küßten sich schwesterlich und schlossen von Stund an Freundschaft. Wir verbrachten einen frohen Abend, wobei in Selma die alte Glücksnatur wieder durchbrach, die sie ihrem ernsten Gefährten zuliebe bis zum Verlöschen abgedämpft hatte. Als wir heimgingen, zog ein spätes Gestirn mit wunderbar farbigen Strahlen gerade über der Spitze ihres Daches auf. Ich meinte in hoffnungsvoller Verblendung, daß es vielleicht doch noch einen Glücksstern für den verfemten Mann und seine mittragende Gefährtin gebe. Aber Angela, die beim Durchschreiten der Wohnung die weitgetrennten Räume gesehen hatte, wo die beiden jetzt hausten, sagte beklommen:

Dies ist kein Haus des Glücks. Dein Freund ist wieder Junggeselle geworden, ein einsamer, verbitterter, und Selma trägt schwer an ihrer Witwenschaft; sie bricht ihr langsam das Herz. Auch ist die Arme ja lungenkrank und sollte sobald wie möglich in ein besseres Klima verpflanzt werden. Hast du das Gehüstel nicht bemerkt und die jähen Hitzen? Ihr Mann muß ein Nachtwandler sein, wenn er daneben hinlebt, ohne zu sehen und zu hören.

Gustavs Anblick, als wir uns wiedersahen, zerschnitt mir das Herz, daß ich ihm nicht böse sein konnte für das, was er Selma antat. So hatte ich sein Aussehen nicht erwartet. Sein Gesicht war ganz starr, beinahe maskenhaft, wie von jähem Schrecken versteinert, und durch das schöne dichte Haar zogen sich Silberfäden. Am meisten ergriff mich seine freudige Rührung über meinen Besuch, die er kaum zu beherrschen wußte, sie bewies mehr als alles seine tiefe Vereinsamung. Aber er kam erfrischt aus den Bergen und trug sich, wie ich sah, mit neuen großen Plänen.

Diesmal hab' ich meine Flügel von Pella bis nach Babylon und an den Indus ausgespannt.

Ich erschrak. Ein Alexanderdrama. Das war wieder ein Stoff, um die halbe Welt hineinzustopfen, und ich zweifelte nicht, daß er schon einen Grundriß angelegt hatte, wo Orient und Okzident mit Waffen und mit Geistern aufeinanderprallen konnten. Aber würde der gewaltige Wurf je den Tag der Vollendung sehen? Der Dichter war so erfüllt von der neuzuströmenden Erfindung, daß er mir gleich die großartige und tiefsinnige Szene vorlas, worin der Brahmane vor Alexanders Herrschersitz und dem versammelten Heere allen Vorstellungen und selbst der Bitte des Königs zum Trotz den Scheiterhaufen besteigt, um durch freiwilligen Feuertod den Wert aller irdischen Macht wie Asche zu zerblasen.

Der alte Geisterbeschwörer berauschte mich wiederum ganz und gar, und wir saßen bis zum Abend über seinen neuen Papieren, bevor ich zagend nach dem Schicksal des »Befreiers« fragte.

Er blieb ganz ruhig.

Ich glaube nicht, daß Berka von Anfang an die Absicht hatte, mir das Werk zu stehlen. Er wollte es nur als Sprungbrett in die Öffentlichkeit benützen und hätte später gern oder ungern den wahren Verfasser genannt. Doch nachdem er in einen Prozeß wegen Plagiats, begangen an einem wenig bekannten verstorbenen Schriftsteller, verwickelt worden war und die Sache einen für ihn schmählichen Ausgang zu nehmen drohte, verschwand er plötzlich und nahm meine Dichtung mit.

Aber diese ist doch gerettet? Du hattest eine Abschrift?

Ja und nein. Ich konnte sie aus Zetteln wiederherstellen, aber nicht in der alten Fassung, denn ich besaß nur eine fertige Niederschrift.

Welche Unvorsichtigkeit! fuhr ich heraus.

Du hast recht, aber die Sache eilte, und damals regte sich schon ungeduldig der Alexander in mir.

Was wirst du jetzt mit der neuen Fassung anfangen? beharrte ich.

Er lachte bitter: Warten, bis sie in Deutschland das Große ertragen lernen und unterdessen erfolglos weiterschaffen, wie es alle Starken, Einsamen gemußt haben.

Die Berliner Aufführung ist zur Unzeit gekommen, tröstete ich. Vor dem Krieg wäre die Dichtung verstanden worden, sie wird später verstanden werden, wenn die Geister sich beruhigt haben.

Eine hohe Kunst wird bei uns immer zur Unzeit kommen, entgegnete er schneidend. Wäre es um das deutsche Selbstgefühl, so wollte ich mich gar nicht beschweren. Aber hindert das deutsche Selbstgefühl die Berliner, Abend für Abend dem jämmerlichsten französischen Trödel nachzulaufen? Höhnen sie nicht als rückständig jeden, der den armen Flitter verachtet und von echter deutscher Dichtung überhaupt spricht? – Sie lehnten meinen »Befreier« ab, angeblich weil ich zu menschlich mit den Römern verfuhr. Sie werden ebenso meinen Alexander ablehnen, ich sehe es kommen, weil ihre Gehirne für solche Maße überhaupt nicht eingerichtet sind.

Schilt mir nicht die Deutschen, sagte ich, als ob es anderwärts besser wäre. Bei ihnen macht das Große langsam seinen Weg, es macht ihn doch. Anderwärts können Werke von solchem Tiefgang nicht einmal entstehen.

Unglücklicherweise setzte sich dieses Gespräch an Gustavs Stammtisch, wohin er mich führte, fast ohne mein Zutun fort.

Ich bringe dich jetzt unter Menschen, für die dein Freund nicht nur der Gatte Selma Hanuschs ist, sondern auch selber etwas gilt – nämlich als Bergsteiger, hatte er mir unterwegs mit bitterer Selbstironie gesagt. – Ja, staune nur, so weit habe ich es im Leben gebracht, ich könnte jeden Tag ein Führerzeugnis erlangen, und solche Vorzüge weiß man hier zu schätzen.

Es war ein literarischer Zirkel, der sich wöchentlich einmal beim Weine traf, zum großen Teil Landsleute, die sich von der inneren Entwicklung des Reiches unbefriedigt ins Ausland begeben hatten, wo sie sich nun gegenseitig in ihrem Mißmut bestärkten. Gustav trat herb und hochfahrend auf, wie immer, wenn er sich unterschätzt fühlte, und war doch auf diesen Verkehr angewiesen, wollte er nicht ganz erstarren. Er hielt alle im Abstand, und man konnte wohl sehen, daß er mehr gefürchtet als beliebt war. Kein Wunder, man kannte ihn nur als witzigen und spitzigen Kritiker, der für eine Reihe von großen Blättern Literaturberichte schrieb, von seinen schöpferischen Kräften schienen die wenigsten der Anwesenden zu wissen.

Unter den Deutschen waren Menschen von Geist, aber mit dem verengten Gesichtsfeld derer, die vom eigenen Gemeinwesen losgerissen sind ohne Anschluß an das fremde, und die sich nun auf ein unfruchtbares allgemeines Neinsagen beschränken. Trotz meiner eigenen Enttäuschung über so manches, was ich im Reich gesehen hatte, quoll der Schmerz in mir hoch, eine ganze Anzahl feingebildeter Geister vor mir zu haben, die so gar nichts von jener Selbstbehauptung in sich trugen, ohne die ein Volk sich nicht auf die Dauer groß und frei erhalten kann, und die sich nicht entblödeten, vor ausländischen Ohren eine Kritik am Vaterlande zu üben, wie sie nur in den engen Kreis der Landsleute gehört. So kam es, daß ich eine Reihe von Fragen ins Gespräch warf, auf die es im Grunde keine Antwort gibt.

Wie kommt es, sagte ich, daß der Deutsche alle fremden Volksgebilde um ihre Geschlossenheit bewundert, daß er ihre Seelen in die seine aufnimmt und für ihre Rechte eintritt, und daß er der gleichen starken Empfindung für sein eigenes großes fast strotzendes Volk so wenig fähig ist? Oder wenn er sie in Augenblicken aufschwellender Inbrunst gehegt hat, warum verleugnet er sie gleich darauf und scheint sich ihrer zu schämen, als ob er damit einer höheren, nur ihm selber auferlegten Sendung untreu geworden wäre? Angegriffen, wehrt er sich jedesmal wie ein Berserker, aber sobald der Sturm vorüber ist, verwirrt sich sein Gefühl; er zerfällt wieder mit sich und tut das Gegenteil von dem, was ihm an den andern schön ist: er gibt seinen Mittelpunkt auf, um ohne Pol im Leeren zu schweben. Liegt dieser Einstellung ein Unvermögen zugrunde, das vielleicht mit dem Mangel starker Landschaftsprofile und mit den allseitig offenen Grenzen zusammenhängt? Oder ist es vielmehr das Ahnen eines Weges zu höherer planetarischer Zukunft, den keiner als der Deutsche mit dieser Besonderheit finden kann und soll?

Die Unzufriedenen verstummten eine Weile. Dann sagte Gustav:

Es sind Geheimnisse. Goethe mag etwas davon geahnt haben, aber er durfte es nicht sagen. Immer muß ja die letzte Wahrheit stumm bleiben wie am Ostermahle des Herrn: Ihr könnet es für jetzt nicht tragen.

Diese Worte aus dem Johannisevangelium waren ganz offenbar mit Anführungszeichen gesprochen. Aber jetzt geschah etwas völlig Widersinniges und Unbegreifliches: Einer der Anwesenden, der ohnehin gegen Gustav geladen schien, bezog sie auf sich selbst und seine Umgebung. Es war einer jener poetischen Dilettanten, die sich an die Berufenen herandrängen, und wenn sie nicht die erwartete Aufmunterung finden, sich gern durch heimliche Feindseligkeit für den aufgewandten Weihrauch rächen. Gustav, bei seiner Unerbittlichkeit gegen sich und andere, mochte ihm ein besonders strenger Richter gewesen sein.

Als hätte er nur auf einen Anlaß gewartet, fuhr er heraus:

Was wir tragen können oder nicht, haben Sie nicht zu entscheiden. Wir sind hier keine Schulkinder, die sich ihre Fähigkeiten vom Herrn Oberlehrer bezeugen lassen müssen.

Gustav, der sich niemals zum Einlenken und Begütigen herbeiließ, auch nicht, wenn man ihn augenscheinlich mißverstand, sagte nur von oben herab:

Es wird mir wie jedem andern gestattet sein, meine Meinung über allgemeine Fragen zu äußern.

Aber jener, der seinen bisher stummen Groll schon stark mit Wein begossen hatte und daher nur die Schärfe des Tones, nicht den völlig arglosen Sinn der Rede faßte, wurde dadurch noch mehr gereizt, und als ich mich vermittelnd dazwischenlegte, warf sich der Störenfried plötzlich auf mich, indem er zornig rief:

Und von Ihnen lass' ich mir keine undeutsche Gesinnung vorwerfen. Wenn ich am Reich zu tadeln finde, so ist es meine Sache: Ich hab' es machen helfen. Ich habe mit der Waffe in der Hand meine Schuldigkeit getan, ich bin kein Drückeberger und Ausreißer.

Die letzten Worte schrie er plötzlich aufkochend so laut in das Stimmengewirr, daß es für einen Augenblick verstummte. Gustav erblaßte bis über die Stirn. Ob die Worte einen Ausfall gegen ihn enthielten, möchte ich bei dem angedunkelten Zustand des Schreiers nicht einmal entscheiden. Jedenfalls nahm Gustav den mutmaßlichen Handschuh auf, indem er kalt und spöttisch sagte:

Leier und Schwert. Sie täten besser, Ihr umnebeltes Dichterhaupt in die Kissen zu legen, als uns mit Ihren Waffentaten zu unterhalten.

Das Wetterglas stand an jenem Abend augenscheinlich auf Sturm. Denn jetzt sagte eine hämische Stimme von der anderen Seite herüber:

Sprechen Sie für sich selber, aber nicht für uns, wir haben keinen Grund, Erinnerungen an das große Jahr zu meiden.

Ich weiß heute nicht mehr, wie der gänzlich sinnlose Streit, den ich nichtsahnend mit entfacht hatte, im einzelnen weiterging; sein jäher Ausbruch bezeugte einen schon lange aufgehäuften Zündstoff. Die Angriffe gegen Gustav vermehrten sich, die Fernersitzenden schienen ihn für den Schuldigen zu halten. Er schleuderte Jupitersblitze nach rechts und links, aber ich hörte nicht mehr, was er sagte, denn einer der Anwesenden, dem meine Reden vorzugsweise gegolten hatten, verwickelte mich in ein Einzelgefecht, dem ich nicht ausweichen konnte. Ich merkte nur, wie Gustav sich trotz seiner Selbstbeherrschung allmählich doch erhitzte, das Durcheinander der Stimmen wurde größer. Ein anwesender Schweizer, der zuvor auf Deutschland mitgestichelt und dadurch hauptsächlich meine Verwahrung veranlaßt hatte, nahm plötzlich sein Glas und wanderte damit an einen Nebentisch aus, indem er halblaut erklärte, daß es kein Vergnügen sei, unter Renegaten zu sitzen. Die Beleidigung ging im allgemeinen Lärm unter, Wohlgesinnte schlugen sich ins Mittel und drängten zum Aufbruch, wodurch sie die Erzürntesten auseinanderschoben und alle zum Ausgang geschwemmt wurden. Nur der wein- und wehselige Dichterling blieb mit aufgestützten Ellbogen am Tisch zurück und weinte.

Nach diesem Auftritt war nicht ans Schlafengehen zu denken. Wir gingen die halbe Nacht am Seeufer auf und nieder, bald sturmgeschwind, bald mit stockenden Schritten, je nachdem seine Gedanken den unglücklichen Mann vorwärtspeitschten oder festhielten. Er sprach von »Genugtuung fordern«, aber eigentlich lag dazu kein zureichender Grund vor, denn nichts zwang ihn, die Anzüglichkeiten, die gefallen waren, als solche anzusehen, das Wortgefecht war wie ein Gewitter, das sich nur halb entladen hat. Man konnte nicht einmal wissen, wieviel diesen Menschen von Gustavs Schicksalen bekannt war; was ich am meisten zu hören gezittert hatte, der Name St. Hubert war nicht gefallen: Entweder sie wußten nichts von diesem Äußersten, oder Scham hielt auch die Berauschten zurück, die gräßliche Wunde roh zu betasten. Daß er selbst sie kannte, erfuhr ich nun.

Ihr hattet damals recht, du und Kuno, brach es auf einmal ohne Übergang aus ihm heraus. – Es wäre besser, ich faulte in der stillen Grube bei Gravelotte, und mein Arminius ginge, wenn auch nur als Torso, über die Bretter; als Werk eines Gefallenen hätte er vielleicht seinen Weg besser gemacht.

Ich weiß nicht, ob wir recht hatten, sagte ich. Auch Kuno hat unterdessen umgelernt. Du unterstehst einem anderen Richter als unsereiner. Wie du nicht frei bist in deinen Entschlüssen, sondern so mußt wie dein Herr und Despot gebietet, so bist du letzten Endes auch nur ihm Rechenschaft schuldig. Dein Werk ist dein Freispruch.

So dachte ich auch, aber auf eines war ich nicht gefaßt, und die Toten behalten immer das letzte Wort.

Es gibt kein letztes Wort, Gustav, sagte ich. Solche Dinge wechseln ihr Gesicht mit jedem neuen Standpunkt, aus dem man sie betrachtet. Das Leben ist ein endloses Umgestalten, wo jedes neugesprochene Wort das vorangegangene aufheben kann. Jener Tote war groß, er stand auf seinem Boden wie ein Vorzeitriese. Steh' du so fest und groß auf dem deinigen, so kann er dir nichts anhaben!

Du vergissest nur, und ich hatte es selbst vergessen, daß ich vom gleichen Blute bin und daß die Gefühlswerte unserer Vorfahren immer von Zeit zu Zeit in uns erwachen. Was ist es andres als das Ahnenblut, was jetzt in mir tobt und nach einem Kugelwechsel mit jenen Tröpfen lechzt, weil es sonst keine Ruhe finden kann. Und doch hast du recht: Ich wüßte eine Herausforderung nicht einmal zu formulieren.

Sie gäbe das allerschädlichste Ärgernis und brächte eine ganze Lawine ins Rollen. Du mußt jetzt zeigen, daß du von deiner Höhe auf die Meinung der Welt herabsehen kannst, wie du es auf deiner grünen Alp überm Bodensee tatest.

Gustav starrte in das Wasser, das spiegelnd im hellen Mondlicht lag.

Mein alter Widerdämon ist von neuem am Werk, sagte er düster. Immer lauert er dann, wenn ich des inneren Lebens am vollsten bin, um es mir zu rauben. Ich kam so erfrischt aus der Balsamluft der Höhen. Mein Alexander war mir so nahe, ich konnte ihm in die Augen sehen, er sprühte von Macht und Lebensfülle. Und im Hintergrund regte sich schon ein Friedericus, ganz leibhaft, Mensch und Halbgott, ich mußte ihn zurückbannen, damit er mir nicht den Alexander störe, aber zuvor hielt ich noch sein Persönlichstes fest.

Er wurde endlich ruhiger und willigte zuletzt in meinen Vorschlag, noch auf einige Tage mit mir ins Hochgebirge zu gehen; ich erbat es mir als Freundschaftsbeweis für mich, da ich seit so langem keinen Berg bestiegen hätte und körperliche Bewegung mir ein Bedürfnis sei. In aller Frühe fuhren wir ab, Selma, die am Abend aufzutreten hatte und deshalb ihren Teil vorwegschlief, erfuhr unser Fortgehen erst mehrere Stunden später.

*

Als wir zusammen im Berninagebiet wanderten, kamen noch einmal Götterstunden unserer Freundschaft. Der Sohn der Mark war in der Tat einer der ersten Bergsteiger geworden, es war eine Lust, ihn gemsenartig springen und klettern oder pfeilgeschwind über Eishänge niederschießen zu sehen. Und doch – wie oft mußte er in seiner Zerrissenheit das Leben, das ihm in den hohen Schaffensstunden so kostbar war, geflissentlich aufs Spiel gesetzt haben, bis er diese Sicherheit gewann, die einem nur zum Sportsmann Geborenen Ehre gemacht hätte. Ohne Zaudern vertraute ich mein Leben, das ja erst jetzt Sinn und Wert erlangt hatte, seiner Erfahrung an, wenn auch die Begegnenden, die uns führerlos ausziehn sahen, die Köpfe schüttelten.

Wir machten mit Kleinem den Anfang, da ich gänzlich außer Übung war. Von der Alp Grüm und Sassal Mason sahen wir entzückten Blicks dem Lauf des Puschlav nach ins Land Italien hinunter, wo die Veltliner Alpen, schön gewölbt und flimmernd wie eine Diamantenkrone, den fernen Hintergrund schlossen.

Wer da hinunter dürfte, sagte Gustav sehnsüchtig. So gut wollte es mir niemals werden. Aber es wird noch, es wird! Laß nur erst den Alexander fertig sein, dann schenke ich mir und Selma vier Wochen Sonne und Jugend.

Unerschöpfliche Gabe der Selbsttäuschung, was wäre das Leben ohne dich! Auch ich ließ mich wieder einmal vom Fluge seiner Phantasie fortreißen und glaubte mit ihm an das nahe Gelingen des großen Wurfes.

Mit schöner Treue sprach er noch einmal von den gemeinsamen Jugendtagen und von seinem unvergessenen Olaf Hansen. Er hielt ihm eine Gedächtnisrede wie damals am offenen Grab.

Ein schöneres Wesen, sagte er, ist der Natur nie gelungen. Er holte das Glück aus seinem eigenen Inneren und teilte es aus. Er bedurfte nichts, er hatte nur immer zu geben, ob es die kleinen Ersparnisse seiner Westentasche oder die großen Schätze seiner Seele waren. Ihn machte der bloße Wechsel von Tag und Nacht, der ihn auf seiner Welle mittrug, froh und dankbar, er hat ihn ergreifend besungen. Ein Blick aus den dunklen Augen Adeles versetzte ihn unter die Götter. – Die alten Inder erzählten, im ersten, dem Goldenen Weltalter seien die Menschen so fromm gewesen, daß sie gar keine Religion kannten: sie waren eins mit dem Göttlichen. Erst nach ihrem Abfall, als sie in Not und Elend wieder zur Gottheit zurückverlangten, da begannen sie Tempel zu bauen und Opfer darzubringen. So wie jene Frühen war Olaf. Er ging nie zur Kirche, er trug unbewußt die Kirche in sich, er selbst war dauernder Gottesdienst, aufdampfender Weihrauch dem großen Unsichtbaren. Wenn er noch lebte, ich glaube, ich wäre ein harmonischerer Mensch geworden.

Gustav, sagte ich bedeutsam, du hast ein Wesen neben dir, das an unbefangener Nahrhaftigkeit nicht hinter Olaf zurücksteht.

Ja, naturhaft ist sie, antwortete er nach denklich. Vielleicht zu sehr. Könnte sie sich nach Frau Angela modeln, an der sie sieht, wie sehr man Natur bleiben und doch verfeinertes Seelenwesen werden kann. Ich wollte, die beiden Frauen hätten sich früher gekannt. Aber du hast recht: Selma hätte einen besseren Mann verdient. Gott helfe ihr, ich kann ihr nicht helfen.

Ich rechnete es ihm hoch an, daß er die schwerste Last seines Lebens ganz allein trug, ohne seiner Schicksalsgenossin ihren Anteil aufzubürden. Er ließ mich versprechen, ihr die Ereignisse von St. Hubert, soweit es an mir liege, für immer zu verheimlichen, auch über seinen Tod hinaus, für den Fall, daß sie, wie er annahm, ihn überleben würde.

Sie könnte sich sonst mitschuldig fühlen, weil sie durch ihr Verschweigen den ersten Anlaß zu meiner Entscheidung gab, und das soll sie nicht. Ich trage allein die Verantwortung, wie ich allein gewählt und beschlossen habe.

Vielleicht wirkte der männliche Hochmut mit, daß er der schwachen Frau keinen Teil an einem so schwerwiegenden Entschlusse zuerkennen mochte. Aber dieses Schweigen im täglichen Zusammenleben durch Jahre fortzusetzen, erforderte eine schonende Selbstüberwindung, die in meinen Augen viel von dem, was er an Selma verbrach, gutmachte. Freilich wurde das Geheimnis, das zwischen ihnen lag, auch Ursache ihrer Entfremdung; es scheint, daß eine seltsame, fast körperliche Abstoßung ihn von der Frau entfernt hielt, die ahnungslos, welch grauenhafte Folgen in der weiteren Verkettung aus ihrem ersten Tun erwachsen waren, an seiner Seite hinlebte.

Ein paar Tage später hielten wir auf dem Piz Palü unsere Mittagsrast. Es war ein herzerfrischender Aufstieg bei scharfer Luft über Gletschereis und harsche Schneehalden gewesen, aber oben brannte die Sonne mit südlicher Glut. Wir tafelten unter zerstreuten Felsblöcken. Da zeigte mir Gustav einen schwarzen Punkt in der Ferne, der näher kam und über unsere Häupter hinschoß: einen Königsadler.

So leben können, seufzte der Einsame, immer die weit offenen Augen an die Sonne geheftet, fern von den Giftdünsten der Niederung, fern, fern von der Kulturschande unseres heutigen Theaterlebens.

Ich schenkte ihm den Rest des mitgebrachten Weines in den Becher:

Dein Alexander lebe! Dein Adlersohn! Und dein Arminius kehre zurück, sein Adlerbruder! Deine beiden Adlersöhne, mögen sie dich emportragen für immer in die Balsamluft der Höhen.

Auf des Dichters sonnengebräunten Wangen und in seinen schönen, verdüsterten Augen ging der Glanz seiner noch so jungen Jahre wieder auf. Er hob seinen Becher:

Auf unsre Dioskurenfreundschaft! Möge sie niemals welken. Viel hat mir das Leben genommen, um vieles hat es mich getäuscht, aber dich hat es mir geschenkt und bewahrt, das ist nicht wenig.

Wir errichteten auf der höchsten Stelle einen Steinmann und gaben ihm unsere Besuchskarten zu hüten.

Auch eine Art von Unsterblichkeit, meinte der Dichter scherzend. Freilich auf beschränkte Dauer, wie es die Unsterblichkeit an sich hat.

Beim Abstieg über den Cambrena-Gletscher ereignete sich ein Zwischenfall, der leicht uns beiden das Leben kosten konnte. Wir gingen angeseilt und mußten scharf aufmerken, weil der Schnee von der Sonnenglut erweicht war und unter unseren Füßen abrutschte. Schon hatten wir den schlimmsten Teil des Weges hinter uns, als plötzlich ein großer bunter Schmetterling, der sich, Gott weiß wie, da herauf verirrt hatte, an mir vorüberflatterte – in solcher Höhe und mit der leuchtenden Farbenpracht in all dem Weiß eine wahre Wundererscheinung. Ich starrte ihm betroffen nach, glitt aus und kam ins Abrutschen, bis ich mit dem Fuß an etwas Hartes stieß, wobei ich eine heftige Sehnenzerrung erlitt.

Der jähe Ruck des Seiles riß auch den Freund, der mir folgte, ein Stück weit mit sich. Aber es gelang ihm einen Halt zu finden und das Seil um einen vorspringenden Stein zu schlingen. Dann schlug er unter mir mit Kraft den Pickel ein, daß mein gesunder Fuß eine Stütze fand, und zog mich zu einem kleinen Felsblock, der aus dem Eis ragte. Da saß ich und der Schmerz war so grausam, daß die Welt mit mir im Kreise ging. Er goß mir allen noch übrigen Kognak ein, weil ich am ganzen Körper zitterte, und umwickelte den verletzten Fuß mit einer festen Binde. Währenddessen verdunkelte sich plötzlich der Himmel, die schon schrägstehende Sonne verschwand hinter einem weißlichen Schleier, und einzelne Schneeflocken fielen. Wenn das Wehen zunahm, wurden unsere gehauenen Tritte zugedeckt, und unter dem Neuschnee konnte der Abstieg auch für den Unverletzten bedenklich werden. Ich bat ihn mich da zu lassen, allein zu gehen und aus dem Tal Hilfe zu schicken.

Die hätte schwer dich zu finden in der frühen Dunkelheit, und bis zu ihrer Ankunft hättest du Zeit zu erfrieren, sagte er.

In der Tat hatte nun auch aufs neue ein scharfer Wind eingesetzt, der den frischen Schnee zum Teil in Glatteis verwandelte, und es wurde schneidend kalt. Aber ich wollte mich lieber der Strafe meiner Unachtsamkeit aussetzen, als den Freund jetzt eben im Hochflug seiner neuen Pläne und Hoffnungen möglicherweise mit mir ins Verderben ziehen.

Das wäre eine würdige Dioskurenfreundschaft, lächelte er. Begreifst du noch immer nicht, was du in meinem Leben bedeutest? Glaub' mir, ich weiß, wie meine Rechnung steht. Einen Freund gewinne ich mir nimmermehr und suche auch keinen, also muß ich mit dem, was ich habe, sparsam sein. Aber Feinde hoffe ich noch manche zu finden. Gott schenke mir deren recht viele, damit ich nicht länger brauche mein eigener Feind zu sein.

Es wehte stärker, und die wachsende Gefahr schien ihn nur heller und froher zu machen.

Und Frau Angela? Wie soll ich der unter die Augen treten, wenn ich dich hier verlasse? sagte er, als ich noch immer beharrte.

Da war ich geschlagen. Er preßte mir den umwickelten Fuß in den aufgeschnittenen Stiefel, und mit Gottes Hilfe erreichte ich teils bäuchlings rutschend, teils unter der Achsel gehalten und geschleppt, den Talgrund. Zum Glück kam man uns, durch unser Ausbleiben beunruhigt, mit Laternen entgegen und brachte mich mit vereinigten Kräften unter Dach. Als wir im Hospiz eintrafen, war es Nacht.

Gustav ging trotz der Ermüdung nicht zur Ruhe, er saß bis zum Morgen an meinem Bett, machte Umschläge mit Schneewasser und erwärmte mich durch heißen Tee. Ich hatte ihn für ungeeignet zu solchen Handreichungen gehalten und fand nun das Gegenteil. Die soldatische Erziehung zum Zugreifen und Ausdauern hatte sich segensreich erwiesen. Der sonst so Zerstreute, Gleichgültige war unermüdlich in kleinen Aufmerksamkeiten, die Erleichterung schafften, und erriet mit frauenhaftem Einfühlen alle meine Bedürfnisse.

Noch im Hospiz brachte er die Sterbeszene Alexanders zu Papier, wie sie ihm bruchstückweise während des Steigens aufgegangen war, und ließ mich nach seiner Art gleich daran teilhaben. Sie paßte in ihrer Großheit zu dem herzerweiternden Blick, der sich uns droben aufgetan hatte. Ich erinnere mich noch, daß dem sterbenden Welteroberer der tote Brahmane wieder erschien mit einem Häufchen Asche in der Hand, die ungesuchte Symbolik, die Goethe als ein Höchstes von der dramatischen Dichtung forderte.

Die Heimfahrt war kein Vergnügen für den schmerzenden Fuß, aber für die Freundschaft war sie ein Triumph: der Zerschundene führte einen Genesenden nach Hause. Die innere Verkrampfung hatte sich gelöst und sogar das Gesicht von seiner maskenhaften Starrheit entbunden.

Allein die Dämonen, die Unheil wollten, waren inzwischen am Werke gewesen, und es ging wie mit einem rinnenden Sack, der, während man ihn auf einer Seite stopfen will, an der anderen aufbricht. Als wir in Zürich anlangten, rang Selma mit dem Tode.

Sie hatte am Abend nach unserer Abreise einen ihrer größten Siege gefeiert. Man gab ein heute vergessenes Rührstück französischer Mache, das damals alle Spießbürger der alten und neuen Welt entzückte. Nach dem Kunstwert fragte sie nicht, sie spielte sich selber. Ein leidenschaftlicher Ehezwist, eine Frau, die sich für den Gatten, der sie mißkennt, opfern will, mehr brauchte sie nicht, um ihr Unmittelbarstes und Eigenstes zu geben und in die Rolle eine innere Wahrheit zu legen, von der der Verfasser nichts wußte. Sie muß an diesem Abend hinreißend schön gewesen sein. Die Erregung des Spiels und des Triumphs gab ihr allen Jugendzauber wieder, veredelt und verfeinert durch einen Zug heimlichen Leides, der zum Stück zu gehören schien. In einem Zwischenakt, als Angela, die trotz der dürftigen Fabel tief ergriffen war, sie im Künstlerzimmer beglückwünschte, wurde ein wunderbares Blumengebinde hereingebracht mit einer Besuchskarte: Dr. Heinrich Sommer, Assistenzarzt an, ich weiß nicht mehr welcher Berliner Klinik.

Selma stieß einen Jubelruf aus: Mein alter Freund und Verehrer! Wie mich das freut! Warum zeigt er sich nicht selber?

Sie hatte noch nicht ausgesprochen, so schob sich ein blatternarbiges Gesicht zur Tür herein, und Angela, die dem Ausgang zunächst stand, begrüßte ihren ehemaligen Vorgesetzten aus dem Lazarett La Gloriette.

Selma eilte ihm entgegen und schüttelte ihm mit voller Herzlichkeit beide Hände.

Ich komme gerade von der Bahn, sagte er, aber als ich an den Anschlagsäulen las, daß Sie heute abend auftreten, ging ich nur schnell in den Gasthof, um die Kleider zu wechseln und fuhr dann gleich hierher. Diesen Glücksfall hätte ich um alles in der Welt nicht versäumen mögen.

Selma spielte weiter und gab sich immer glühender und hinreißender aus. Die Gegenwart dieses Zeugen ihres Jugendglanzes entband alles verhaltene Lebensgefühl in ihr.

Herrlich, herrlich, sagte Sommer immer aufs neue zu Angela und fiel durch die Stärke seines Beifallklatschens allgemein auf. Nach jedem Aktschluß drängte er sich aufs neue an die Künstlerin heran.

Das geht über die Stuttgarter Tage, sagte er ihr. Sie haben die Selma überselmat. Ganz Berlin hat keine Künstlerin, die sich neben Sie stellen dürfte.

Selma strahlte. Die Bewunderung des alten Verehrers hob sie für einen Abend aus allem Leid ihrer Ehe hinaus, machte sie wieder jung und selig. Daß der Ankömmling mit keinem Wort nach ihrem Gatten fragte, muß ihr gar nicht aufgefallen sein.

Sommer wünschte nach Theaterschluß die Damen zum Abendbrot in ein bekanntes Weinhaus zu führen. Aber Angela kam zuvor, indem sie ihn und Selma zu sich in den Gasthof einlud. Beide nahmen mit Freuden an, und Selma wiegte sich den ganzen Abend entzückt in den gemeinsamen Erinnerungen an die Glanzzeit ihrer Jugend, die Sommer vor ihr ausbreitete, an das liebe Schwabenland, wo man sie so warm gehalten hatte. Dann begleitete Sommer sie nach Hause.

Angela, die ein starkes Vorgefühl für nahende Ereignisse besaß, verbrachte die Nacht voll Unruhe, so gingen ihr in der Erinnerung die Blicke nach, mit denen ihr Gast jeder Bewegung der Künstlerin gefolgt war. Der persönliche Charakter dieses Mannes, den sie nur als pflichttreuen Arzt kennengelernt hatte, war ihr durch meine und Kunos Andeutungen verdächtig geworden. Wenn sie ihn auch keiner Niedertracht fähig hielt, so war ihr doch nicht wohl dabei, ihn unter vier Augen mit Selma zu wissen.

Diese hatte sich schon beim Abendessen, als von ihrer heutigen Rolle die Rede war, Andeutungen entschlüpfen lassen, die man auf ein gestörtes Eheverhältnis beziehen konnte, und Angela war nur immer bestrebt gewesen, den Sinn ihrer Worte ins Allgemeine umzudeuten und abzulenken. Auf dem Nachhauseweg mochte sie dann in ihrer hemmungslosen Art gegen den Mann, den sie für den ergebenen Freund ihres Gatten hielt, noch deutlicher geworden sein und er diese Offenherzigkeit für ein Entgegenkommen im Sinn seiner alten, längst begrabenen Wünsche und Hoffnungen genommen haben. Statt der beabsichtigten Weiterreise machte er ein Wiedersehen für den nächsten Tag aus, und Selmas Kindersinn ging mit Entzücken auf seinen Vorschlag einer Wagenfahrt am Seeufer mit anschließender Einkehr in einer beliebten Gaststätte draußen im Grünen ein. Vielleicht spielte ein gewisser heimlicher Trotz gegen Gustav, für den es keine Erholung als in Männergesellschaft gab, dabei mit, denn ich bin gewiß – und die tiefer blickende Angela war es gleichfalls –, daß die Ärmste niemals eine Hinneigung für Sommer empfunden hat, sie ließ sich einfach vom Augenblick tragen.

Angela aber sorgte sich, ob Sommer nichts gegen Gustav im Schilde führe und ob er wirklich abgereist sei. Sie wollte gleich am Morgen zu Selma fahren, wurde aber durch den Besuch einer Jugendbekannten, die zufällig von ihrer Anwesenheit gehört hatte, aufgehalten. Als sie nach einem Gang mit diesem bei der Künstlerin vorsprach, hieß es, die gnädige Frau sei mit einem fremden Herrn weggefahren. Betreten kehrte sie in den Gasthof zurück und hörte dort, daß die zwei sie hatten abholen wollen; es war die Bedingung, an die Selma ihr Mitfahren geknüpft hatte. Da die dritte nicht zu haben war, konnte sie nicht mehr umkehren und setzte ihre Fahrt allein mit Sommer fort.

Was an dem unseligen Tage zwischen den Beiden vorging, hat man nie genau erfahren. Ohne Zweifel wollte er die einst auch von ihm umworbene Frau von dem Manne, der sie eingestandenermaßen nicht glücklich machte und den er auch nach seinem kurzen Sinn ihrer unwürdig hielt, losreißen und vorübergehend oder dauernd an sich ziehen. Selma widerstand, er wurde dringender, und da sie ihn empört in seine Schranken wies, muß er ihr in einem Ausbruch plötzlicher Roheit die Vorgänge aus dem Feldlazarett von Gravelotte ins Gesicht geworfen haben, die Gustav ihr verheimlichte. Möglich, daß er ihr sogar in seiner Wut mit einer Veröffentlichung drohte, die ihres Gatten bürgerliche Stellung vernichtet hätte. Das plötzliche Wegreißen dieses Schleiers und die Erkenntnis, wohin ihr Einfluß den immer noch leidenschaftlich geliebten Mann geführt hatte, muß tödlich gewirkt haben. Am späten Nachmittag fuhr ein Wagen im langsamsten Schritt an Gustavs Hause vor, und eine fast leblose Gestalt wurde von Sommer und einem unterwegs angerufenen Arzt vorsichtig die Treppe hinaufgetragen. Eine Viertelstunde später gab der erstere beim Vorüberfahren an unserm Gasthof zwei eilig gekritzelte Zeilen ab:

Ihre Freundin, die schon lange leidend zu sein scheint, hat unterwegs einen Blutsturz erlitten. Begeben Sie sich schleunigst zu ihr. Ich mußte sie den Händen eines Kollegen überlassen, da meine Weiterreise unaufschieblich ist. Sagen Sie ihr, sobald sie zu hören fähig ist, daß ihrem Gatten von mir keine Gefahr droht.

Meine Frau fand Selma im Morphiumschlaf und ließ sich als helfender Engel an ihrem Bette nieder, von dem sie nur wich, um an das meinige zu eilen, nachdem Gustav mich im Gasthof abgeliefert hatte. Dort lag ich dann drei Wochen mit ausgestrecktem Fuß untätig, ohne den schwer bedrängten Freunden helfen zu können.

Mit dem Gesicht eines Verzweifelnden erschien Gustav an meinem Lager. Denn er liebte Selma doch, und mehr, als er selber gewußt hatte. Seit er in die Gefahr, sie zu verlieren, blickte, ging ihm auf, was er an ihr besaß und was er bisher vor seinem inneren Wühlen übersehen hatte. Diesmal klagte er auch nicht über die Dämonen, die sich aufs neue gegen sein Schaffen verschworen, er sprach nur von Selma. Täglich wenigstens einmal holte er Angela weg, weil die Kranke sich nach ihrer weichen Stimme und ihren linden Händen sehnte. Als sich nach langen vierzehn Tagen ihr Zustand zu bessern schien, und man daran denken konnte, sie in die mildere Luft des Genfer Sees zu bringen, fuhr er nach Montreux voraus, wo er vergeblich ein Unterkommen für die Kranke suchte. Ein freundlicher Zufall führte ihm jedoch seinen alten Freund und Anhänger Dr. Ruhland in den Weg, der sich einer schwachen Lunge wegen am See aufhielt, und dieser fand ihm in dem gleichfalls windgeschützten kleinen La Tour de Peilz ein schönes sonniges Stockwerk unmittelbar am Wasser. Dorthin brachte er die Kranke in Gesellschaft einer geschulten Wärterin und der vertrauten Magd. Daß wir nachfolgen würden, sobald mein Fuß es gestattete, verstand sich von selbst und war schon bei Übernahme der Doppelwohnung vorgesehen. Die beiden Frauen trennten sich mit Leid, doch verlangte Selma in ihrer Schwäche nach keiner Aussprache mehr; nur die Botschaft Sommers hatte Angela ihr noch tröstend zugeflüstert.

Ehe er schied, brachte Gustav mir seinen »Befreier« in der neuen Fassung.

Du hast jetzt Zeit und Sammlung zum Lesen, sagte er ernst; lies und sage mir dann klar und offen, wie ich dich kenne, was du davon hältst. Dein Urteil soll mir ein Gottesurteil sein.

Ich las einen ganzen Tag und eine halbe Nacht, und als ich fertig war, las ich zum zweitenmal. Es war die alte, bezwingende Sprache, vielleicht in noch gesteigerter Kraft, es waren die Gestalten, an denen ich mich einmal berauscht hatte. Aber ein seltsames Dämmerlicht umschwankte sie, entkleidete sie ihrer Unmittelbarkeit und überzeugenden Nähe. Oder lag es an mir, daß ich, um soviel älter geworden, die erste jugendliche Begeisterung nicht mehr aufbringen konnte? Nein, es lag an der Sache. Zwar der Anfang war fast derselbe geblieben, und auch die »Varusschlacht« hatte noch viel von ihrer alten Größe, aber den dritten Teil, den Tod des Befreiers, konnte ich nur als völlig mißlungen betrachten. Die Vorstellung, daß Arminius kein anderer als Siegfried sei, hatte gewiß etwas Bestechendes und war ja dem Dichter schon früher nahegetreten; jetzt wurde sie Anlaß, daß sich alles trübte und verwirrte. Die beiden ersten Teile standen noch im hellen Licht der Geschichte, der dritte verlor sich ins Mythisch-Mystische. Die erschlagene Alraune, Wotan und die Siegsgöttinnen waren in der »Varusschlacht« nur Mittel gewesen, die der von hellenisch-römischem Geist berührte Cheruskerfürst brauchte, um sein Volk aufzurütteln. Im dritten Teile spielten sie leibhaft herein. Der vernichtete Varus spukte in Gestalt des Drachen Fafner verwirrend herum. War's nicht, um ernstlich an dämonische Einflüsse zu glauben? Der Gedanke, aus dem das Unglück des Oheims geflossen war, sollte auch dem Neffen zum Verhängnis werden. Sein Werk hatte sich rächend gegen ihn selbst gewandt. Nicht seine Innenkraft hatte versagt, sie ging nur fehl, weil sie nicht mehr von der natürlichen Quelle gespeist war. Wie hatte er doch selbst einmal bei Molfetta im Hinblick auf die Griechen geurteilt? Große Dichtung, sagte er, ist nicht das Werk eines Eigenbrötlers, an der großen Dichtung schafft ein ganzes Volk. Jetzt war er losgerissen von seinem Volk, er büßte seine Entfremdung von Heimat und Leben. Das Schlimmste war, daß er, um einen Ausgleich zwischen den beiden verschiedenen Auffassungen des Cheruskers herzustellen, nachträglich die Varusschlacht im gleichen Sinne überarbeitet und damit das fertige Stück zwar auf geistreiche Weise, aber höchst verderblich entstellt hatte. Wohl lag auch noch in dieser abgeirrten Fassung reiches poetisches Gold ausgeschüttet, aber als Ganzes war das Werk eine Mißgeburt.

Als ich fertig war, gab ich, ohne irgendeine Meinung zu äußern, die Blätter an Angela, die keine geeichten Kunstmaße, aber ein sehr lebendiges, angeborenes Gefühl für poetische Werte besaß.

Sie las entzückt und hingerissen. Aber von Zeit zu Zeit ließ sie das Blatt mit einem »Das verstehe ich nicht« sinken. Als sie zu Ende war, blätterte sie zurück, wie ich es getan hatte, und sagte dann ganz bestürzt und verwirrt:

Aber das sind ja unmögliche Dinge.

Es waren in der Tat unmögliche Dinge. Und ich stand vor der Aufgabe, ihm das zu sagen, denn von mir erwartete er die Wahrheit! Der unglückliche Mann hing jetzt, wie ich vor wenigen Tagen auf dem Gletscherhang, zwischen Sein und Nichtsein. Und ich, statt zu tun, was er getan hatte, dem Freund einen Halt zu geben, ich sollte ihn hinunterstoßen! Es gibt keine Zeit in meinem Leben, wo ich mehr gelitten hätte als damals. Auch die schwersten Lagen hatten sonst immer noch das Gute, daß der Weg unweigerlich vorgezeichnet war. Hier standen zwei Wege offen, die beide ins Verderben führten. Welchen sollte ich gehen? Ich hatte Augenblicke, wo ich wünschte, er hätte mich in den weißen Abgrund rollen lassen.

Angela sagte: Wenn er so groß ist, wie ich ihn halte, wird er die Wahrheit hören können.

Das wird er freilich, entgegnete ich, aber wie wird sie auf ihn wirken, jetzt, in diesem traurigen Augenblick?

Und doch bleibt dir nichts andres übrig, da er sie von dir erwartet, meinte sie. Schweigen wäre schlimmer, und das Schlimmste: ihn auf dem Irrweg weitergehen zu lassen.

Tag und Nacht ging es in mir auf und ab: Was sage ich? Wie sage ich's? Und sollte ich wirklich sprechen, da ihm ja doch nicht zu helfen war? Ich sah bereits auch die Alexandertragödie ahnend ins Uferlose zerrinnen. Der Brahmane auf dem Scheiterhaufen hatte mir's angetan. Sein Wiedererscheinen in Babylon, wie er dem fiebernden Alexander die Hand voll Asche hinreicht, schien mir ein echter Dichterfund. Aber würde es bei dieser Symbolik sein Bewenden haben? Was würde der alte Grübler bei der letzten Fassung von dem Urgegebenen übriglassen? Würde es überhaupt eine letzte Fassung geben oder würde man auch von diesem Werke sagen müssen: Alles fließt? Nie verstand ich besser den Spruch: Weniger ist mehr. Nur ein kleines an Selbstbeschränkung, an Zurückdämmen des Urfeuers, und es wären dauernde Werke geschaffen worden. Es war der alte Schaden des Zuviel, den er selber ehedem am deutschen Genius gerügt hatte. War da von der Aussprache irgendein Gewinn zu erwarten? Fühlte er nicht mit seinem feinen Kunstempfinden schon alles, was ich ihm sagen konnte, heimlich selbst?

Die Nachrichten aus La Tour flossen spärlich, und durch alle klang ein unausgesprochenes Schreckenswort. Nur zu Anfang mußte in den schmeichlerischen Sonnenlüften eine kurze Besserung eingetreten sein, die nicht von Bestand war. Die Kranke sehnte sich nach Angela. Die Ärmste besaß weder Mutter noch Schwester, und von den Kunstgenossinnen an der Bühne hatte sie sich immer ferngehalten, um in keine Händel hineingezogen zu werden. Was eine Frau der andern sein kann, das hatte sie erst jetzt erfahren.

Sei, was du heißest, schrieb sie an Angela, und komm zu deinem verlorenen Schwesterlein.

Zuweilen unterschrieb sie sich Perdita, ein Name, mit dem sie irgendeine nicht ausgesprochene Bedeutung verknüpfte.

In La Tour de Peilz holte Ruhland uns an dem kleinen Bahnhof ab. Auf die bange Frage nach Frau Selmas Befinden hob er die Schultern hoch und schwieg bedeutsam. Man konnte sehen, wie es ihn in der Kehle würgte. Sie war ihm ja, wie ich von ihr selber wußte, einmal sehr teuer gewesen.

Dann sagte er möglichst sachlich und trocken: Der Krankheitsherd breitet sich nach Ansicht des Arztes mit großer Geschwindigkeit aus.

Als ich nach dem Gatten fragte, ein neues Achselzucken:

Er will jetzt zuviel tun, wo er vorher zuwenig tat. Aber ich zweifle, ob er der Kranken damit eine Erquickung bereitet. Es wird gut sein, wenn jetzt ein Frauenauge über ihr wacht.

Es verhielt sich so, wie der alte Hausfreund fürchtete. Der unberechenbare Mann beängstete und bedrängte die hinsterbende Frau jetzt mit einem Übermaß von zärtlicher Sorge. Die erfahrene Wärterin, unter deren Walten das Rechte geschah, war zu einer erkrankten Angehörigen abgerufen worden, und ihre Nachfolgerin zeigte sich der schweren Aufgabe nicht gewachsen.

Wir richteten uns auf dem andern Flügel des Stockwerks ein, das durch eine große gemeinsame Glasveranda mit der Borckschen Wohnung zusammenhing. Hinter dieser Glaswand, die unmittelbar auf den See ging und die ganze Sonnenseite des Hauses einnahm, lag Selma und täuschte mit rosigen Wangen und glänzenden Augen dem ersten Blick eine erneute Jugend vor. Aber beim Aufrichten verriet sich ihre erschreckende Abmagerung. Blumen, die sie unmäßig liebte und deren sie nie genug sah, umgaben sie in Überfülle fast wie eine Tote, denn Gustav willfahrte jetzt blindlings allen ihren Wünschen und konnte sich mit Aufmerksamkeiten gar nicht genug tun. Angela trug gleich die starkduftenden hinaus, öffnete das Fenster und übernahm in ihrer sanften Festigkeit die Leitung der Pflege.

Du hast gelesen? fragte mich Gustav scheu, als ich ihm nach dem Auspacken seine Blätter schweigend auf den Tisch legte. Wir sprechen darüber, mein Alter, sagte ich herzlich. Jetzt müssen die ersten Gedanken Selma gelten. Es scheint nicht zum besten bei ihr zu stehen.

Weiß Gott, daß es nicht gut steht, ich gebe mich keiner Täuschung hin, antwortete er. Wüßte ich nur, was den Anstoß zu diesem plötzlichen Zusammenbruch gegeben hat. Wir hatten ihm aus guten Gründen die Begegnung mit Sommer verheimlicht, und auch das Mädchen schwieg, von Angela in Pflicht genommen. Aber sein grübelnder Geist ahnte doch den Zusammenhang mit dem dunklen Geheimnis seines eigenen Schicksals. Er litt unsäglich, suchte gutzumachen, was er in all den Jahren an ihr versäumt und verbrochen hatte, und einen neuen Liebesfrühling über sie auszuschütten, unter dem die kranke Frau nur schneller verbrannte.

Das Seltsame war, daß Selma den Zurückgekehrten zwar mit Leidenschaft an sich zog, ihn aber nicht mehr deutlich kannte. Sie stand schon unter dem Einfluß des vielen gegen den Husten gereichten Morphiums. Ihr Bewußtsein, das die schreckliche, durch Sommer über sie gebrachte Enthüllung nicht lange ertrug, hatte die dunkle Last fallen lassen und ihr die Gestalt ihres Mannes in zwei Personen gespalten. Vor dem Namen Gustav zitterte sie wie vor dem eines strengen Gebieters, gegen den sie sich irgendwie vergangen hätte, dagegen verspann sie sich in ein Liebesidyll mit einer Phantasiegeburt, worin die Gestalten verschiedener Bühnenhelden mit dem Jugendbild Gustavs, wie er ihr in Stuttgart zuerst begegnet war, verschmolzen. Diesen Traumgeliebten nannte sie mit dem im Fieberwahn gefundenen Namen Gulbert und umschlang ihn in der Gestalt ihres Gatten mit Inbrunst. Sobald sie aber sein gramgezeichnetes Gesicht erkannte, erschrak sie, entschuldigte sich wegen ihres Hustens und bat, sie in ein anderes Gelaß zu bringen, wo sie ihn nicht störe, sie brauche nicht den besten Raum im Hause; und ihre verängstete Demut traf ihn härter als jeder Vorwurf.

Angelas Erscheinen machte dieser beiderseitigen Verzehrung ein Ende, denn nun klammerte sich die Sterbende mit ihrer letzten Lebenshoffnung an sie. Dadurch gewann ich die Möglichkeit, den unglücklichen Mann zu langen Gängen wegzuholen, die ihm wohl taten, denn er hatte bis dahin den ganzen Tag in der Nähe der Kranken oder, wenn sie schlief, am Schreibtisch verbracht und sah jammernswürdig aus. Das aber war das einzige, was ich für ihn tun konnte. Das Wort, worauf er hoffte, das er mir so oft forschend aus den Augen zu lesen suchte, das Wort: Gelungen! Dein Werk ist gelungen! konnte ich nicht sprechen. Täglich nahm ich mir vor, mit ihm zu reden, und täglich verschob ich es angesichts der zunehmenden Verschlechterung im Befinden der Kranken und des Schweren, was ihm da bevorstand. Zuweilen schloß sich Ruhland als Dritter an, und ich war ihm dankbar, wenn er durch seine Dazwischenkunft den Verschub der Aussprache rechtfertigte. Öfter aber blieb dieser bei der Kranken zurück, die ihn gleichfalls Gulbert nannte und ihm in Angelas Gegenwart zärtliche Dinge sagte; vielleicht war er ihr seinerzeit doch nicht so gleichgültig gewesen, wie sie sich damals den Anschein gab. Ja, der Name Gulbert mußte ihr unbewußt aus Gustav und Albert, wie jener mit dem Vornamen hieß, zusammengeronnen sein. Sie machte jetzt aus keiner Regung mehr ein Hehl und nannte alle Du, als würde vor der Nähe des Todes die ganze menschliche Komödie zunichte.

Als es dem Ende zuging, kam eine Unruhe und Wanderlust über sie, daß ihr Freund Ruhland ihr die schönsten Reisepläne entwerfen mußte. Sie lag unter ihrem Glasdach und sah unersättlich dem Spiel der Möwen zu, die zu Hunderten über dem blauen Spiegel auf und nieder schwebten, oder hing mit den Augen sehnsüchtig an den wunderbaren Linien der Savoyer Alpen drüben überm Wasser, deren herbstliche Hänge mit rot und golddurchwirkten Wäldern wie mit kostbaren Perserteppichen glühten und sich rötlich im Wasser spiegelten.

»Ach,« seufzte sie, »wer da oben stünde und den Fuß mit Götterschritten von Gipfel zu Gipfel setzen könnte. Wer genießt nur all die Herrlichkeit, wenn dem Menschen keine Flügelschuhe gegeben sind?«

So kam der letzte Sonnenuntergang, den wir mit ihr erlebten. Über dem niederen blauschwarzen Höhenzug des Jura lag eine Schicht von roten Feuerwolken, die nach oben in glühendes Rotgelb übergingen und allmählich, immer leichter und zarter werdend, mit dem abendlichen Himmel verschwammen. Das Wasser brannte weithin im Widerschein der Glorie, und als seltsame Lichterscheinung standen darüber drei hohe Feuersäulen im Westen, während der südliche Teil des Sees mit den Savoyer und Walliser Bergen schon wie erstarrt unter einer blassen Mondsichel ruhte, die eine zitternde Brücke über den Spiegel schwang.

Selma konnte sich trotz ihrer Schwäche an dem seenhaften Anblick nicht sättigen. Zuletzt ging die Beleuchtung in ein tiefes Violett von unsagbarer Erhabenheit über, als stiege ein stummes Requiem aus dem Wasser auf. Et lux aerterna luceat eis, sang es aus der schwärzlichen Tiefe. Aber die scheidende Seele gehörte noch der Erde an. Denn jetzt kam durch die Flut, die einer dunklen gediegenen Metallplatte glich, das Dampfschiff mit seinen roten, weißen und grünen Lichtern wie ein schwimmendes Zauberschloß heran, vom Wasser zurückgespiegelt, und die Kranke fuhr in ihren Polstern empor.

Das Glücksschiff! rief sie. Endlich kommt es! Endlich bringt es Ihn!

Gleich darauf ging die Klingel, Ruhland erschien, und als er sich niederbeugte, um ihre Hand zu küssen, warf sie mit einer Plötzlichkeit, die an ihre größten Augenblicke auf der Bühne erinnerte, beide Arme um seinen Hals und jubelte mit fliegendem Atem: Gulbert! Gulbert!

Der Ankömmling wollte sich mit einem bestürzten Blick auf Gustav der Umklammerung entziehen, aber dieser winkte ihm, der Kranken zu willfahren, und entglitt leise in die Dämmerung. Wer kann ermessen, was es den stolzen Mann kostete, die Seele zu sehen, die demütig nur für ihn gelebt hatte und die sich jetzt im Sterben seiner reuigen Liebe entzog! Der Freund ihrer Traumwahl kniete neben dem Ruhebett mit ihren Armen um seinen Nacken und ihrem Mund auf dem seinigen, bis ein gewaltsamer Hustenanfall dem quälenden Auftritt ein Ende machte.

In dieser Nacht entschlummerte Selma unter der Wirkung des Schlaftrunks, um nicht mehr zu erwachen. Aber sie atmete noch weiter bis zum Abend und lächelte immerzu wie im Bann des schönsten Traums. Einer ihrer letzten Wünsche war gewesen, an »Gulberts« Arm im Wald spazierenzugehen. Da hatte Angela ihr frisches Moos unter die Füße geschoben und ein Fläschchen mit Tannennadelduft über ihr Kissen ausgegossen. Daraus mochten ihr beglückende Bilder einer seligen Wanderung zu zweien durch die Lande der Jugend aufgestiegen sein.

Ihr Begräbnis enthüllte erst ganz, in wie weiten Kreisen die Tote geliebt und gefeiert war. Alle Bühnen, wo man sie in Gastrollen gekannt hatte, sandten Blumen und Kränze mit prunkvollen Schleifen und Ruhmesworten. Lange Zeitungsspalten rühmten die unvergleichliche Selma Hanusch. Von der letzten Stätte ihrer Wirksamkeit war ein eigener Vertreter erschienen und feierte die hinreißende Künstlerin, die edle, immer wohlwollende und hilfsbereite Kunstgenossin über ihrem mit Lorbeer zugeschütteten Sarg. Daneben stand der große, der schöpferische Künstler, den nicht ein Blättchen Lorbeer hatte krönen wollen; denn für einen solchen hielt und halte ich ihn noch, wenn auch Schicksal und eigene Führung ihn den Weg zur Vollendung nicht finden ließen. Unaussprechliches mochte bei der Feier in ihm vorgehen. Er redete kein Wort, und die Trauergäste verabschiedeten sich von ihm mit kurzem, stummem Händedruck.

Wir gingen alle drei früh zur Ruhe. Angela war erschöpft von der langen Pflege und den Erregungen, ich hatte alle Gänge und Besorgungen, die mit einem solchen Ereignis und gar auf fremdem Boden, zusammenhängen, übernommen und war gleichfalls todmüde. Gustav sah wie zerschlagen aus und sagte, er wolle lange und fest schlafen. So trennten wir uns.

In der Nacht im Halbschlaf hörte ich einmal die Verandatür, die in mein Zimmer führte, knarren, und es schien mir im matten Sternenschein, als beugte sich Gustavs Gesicht über mein Lager, aber ich war nicht imstande den Schlaf abzuschütteln und glaubte im Erwachen mich getäuscht zu haben. Da jeder der beiden Wohnungsflügel seinen eigenen Ausgang besaß und das Mädchen aus Scheu vor der Nähe des Sterbezimmers jetzt auf unserer Seite schlief, hatte niemand bemerkt, daß Gustav bei Tagesanbruch leise weggegangen war.

In seinem Zimmer stand das Lager unberührt und die Lampe niedergebrannt: ein geschlossener Brief ohne Aufschrift, der an niemand als an mich gerichtet sein konnte, lag auf dem Schreibtisch. Ich las:

Harry, du schläfst, nach all den Mühen, die du noch für mich hattest. Morgen früh, wenn du erwachst, ist dein Freund hinweggegangen.

Dein Schweigen hat mir den Stab gebrochen, lieber Harry, aber quäle dich um dessentwillen nicht. Du konntest keine fromme Lüge sagen, es wäre deiner und meiner unwürdig gewesen, und eben darum habe ich dich zum Richter gewählt. Mein Innerstes hatte selber schon das Urteil gesprochen, und nur wie auf ein Wunder hoffte ich noch, ich Tor, auf das Wort des Heils: Du hast gesiegt. – Nein, ich habe nicht gesiegt, und das Feuer hat schon vor Tagen die Mißgeburt verzehrt. Selma hatte mir's offen gesagt, daß das Gedicht in seiner früheren Fassung besser war. Ich grollte ihr darob, unterschätzte ihre Urteilskraft und fühlte doch, daß sie recht hatte. Aber noch wollte ich mich nicht ergeben, ich wollte weiterringen nach neuen Zielen, da streckte der Gott mir seinen Speer entgegen.

Vielleicht ist Frauenliebe das Schönste auf der Erde. Aber sie müßte der Preis des Siegers sein. Was nützt die Krone dem, der sie sich selber absprechen muß? Wenn doch die Frauen das verstehen wollten: dem, der Großes will und es nicht erreichen kann, ist die Liebe nichts nütze. Sie wird ihm nur zur Qual und er rächt sich dafür. Die inneren Hemmungen, woran er krankt, machen einen bösen Geist aus ihm. Dann kommen die Frauen und wollen mit Balsam heilen, was nur das Eisen heilt.

Der starre alte Mann in seinem Soldatengrab ist Sieger geblieben. Ich bin der Überwundene und werde das stumme Wort nicht brechen, das ich ihm im Jahre Siebzig gab. Dann werden mir wohl auch meine ehemaligen Kameraden glauben, daß es damals nicht das Stückchen Blei war, was ich fürchtete.

Der Morgen bricht an und im Kamin kräuselt sich und verglimmt das letzte beschriebene Blatt. Das Häufchen Ruß, was du dort findest, war der Alexander. Der Brahmane mit seiner Handvoll Asche ist auch bei mir gewesen und hat mich letzte Weisheit gelehrt.

Legt mich nicht zu Selma, ich könnte sie im Grab noch drücken. Ihr ist wohler ohne mich. Nicht weit von ihr ist noch ein Platz frei, wo ich bei der Feier stand. Dort laßt mich allein sein, wie ich es im Leben war, aber in ihrer Nähe. Das schmale Plätzchen hat Raum, um alles Wollen und Streben des Erdballs darin unterzubringen. Daß die Welt mich vergesse, ist das einzige, was ich von ihr erhoffe. Aber in dir und noch einem werde ich ein Weilchen weiterleben, bis auch eure Stunde schlägt. Lebe wohl! Lebt wohl!

– – Als ich aus dem Hause stürzte, um den Verschwundenen zu suchen, prallte ich gegen einen Mann im Überrock mit umgehängter Reisetasche, der eben hastig die Klingel zog – Kuno!

Seine ersten Worte waren: Wo ist Gustav?

Zu spät! Ich wußte es, ich komme zu spät, stieß er hervor, als er mehr aus meinen Gebärden als aus meinen Worten verstand, was vorging. Er warf seine Reisetasche in den Flur und folgte mir in Eile nach. Seltsamerweise kam er nicht wegen Selmas Tod, von dem er noch nichts wußte: eine plötzliche wilde Angst um Gustav hatte ihn aufgejagt und gezwungen, Tag und Nacht zu reisen.

Unterwegs begegneten wir Ruhland, den gleichfalls ein Vorgefühl hertrieb. Dieser übernahm es, auf dem Friedhof zu suchen. Ich wußte schon, dort war er nicht, das letzte Wort auf Erden konnte der Dichter nur tief allein mit seinem Genius gesprochen haben.

Auf einer hochgelegenen Stelle, abseits vom Wege, wo ein paar mächtige Platanen zu einem Hain zusammentraten, stand eine Parkbank mit dem Blick auf den See. Dort pflegte der Dichter, wenn der Geist ihn trieb, zu sitzen und in sein Taschenbuch zu schreiben. Auch heute saß er dort – in sich zusammengesunken und mit einem Arm über der Seitenlehne hängend, die ihn am Niedergleiten hinderte. Die alte Familienpistole lag neben ihm am Boden. Sie hatte gute Arbeit gemacht: Stellung und Gesichtsausdruck des Toten zeigten, daß das Ende leicht und rasch gewesen war.

Trotz der frühen Stunde waren wir nicht die Ersten, die ihn fanden. Eine Wache war schon bei ihm aufgestellt, um zu verhindern, daß jemand ihn berühre, ehe das Gericht zur Stelle sei, und eine Anzahl Menschen stand gaffend in der Nähe.

Die Wache wollte uns das Herantreten verwehren, aber mit einem Sprung war Kuno bei dem Toten und rief außer sich:

Gustav! Gustav! Was hast du getan! Ich kann dir nicht mehr helfen, ich kam zu spät, um zu retten. Du hast dein Gewand weggeworfen, bevor drüben das neue für dich gewebt war. Was soll nun aus dir werden?

Verzweifelt sah er sich nach allen Seiten wie nach einem unsichtbaren Retter um:

Ihr guten Geister, die ihr zum Schutz für die Unglücklichen da seid, laßt ihn nicht nackt und frierend umherirren. Deckt ihn mit euren Fittichen, haltet ihn an eurem Brustflaum warm, bis er wieder hat, worein er sich hülle.

Achtlos auf die Umherstehenden, sprach er bald auf den Entseelten ein, als ob dieser ihn noch verstehen könne, bald zu den Überirdischen, deren Beistand er ihn empfahl.

Die Gaffer, soweit sie die deutsche Sprache verstanden, wurden von Scheu und Schauder erfaßt und bekannten später, daß sie sich gefürchtet hätten.

Die ganzen Tage, die der Tote noch über der Erde verbrachte, war Kuno wie von Sinnen. Er klagte sich aufs bitterste an, daß er zu langsam gewesen sei, die Seele, der er sich zugeschworen hatte, vor ihrem schwersten Mißgriff zu bewahren. Die Not des Freundes, die für uns andere beschlossen war, für ihn begann sie mit seinem Ende.

Bevor der Sarg zugenagelt wurde, kniete er noch einmal bei dem Toten nieder und blickte lange in das entseelte Angesicht, das einen Ausdruck leidvoller Erhabenheit trug. Dann beugte er sich zu seinem Ohr herab, und man hörte ihn dumpf und eindringlich sagen:

Wiederkehren! Besser machen!

Die Blumen auf Selmas Hügel waren noch nicht verwelkt, als wir den ungleichen Schicksalsgefährten neben ihr zur Ruhe brachten. Nur wenige schlechte Freundeskränze schmückten den Dichtersarg. Zuletzt kam ein Knabe und legte einen vollen schweren Lorbeerkranz nieder, dessen weiße Schleife die überraschende Aufschrift zeigte: Von Olaf Hansen. Kuno sah mich durchdringend an, aber das Rätsel löste sich auf natürliche Weise. Angela hatte das Goldstück, das ich noch immer mit einem von Olafs Hand beschriebenen Blättchen bei mir trug, aus meiner Brieftasche genommen und es gemäß dem Wunsch des Längstverblichenen in die ernste Huldigung für den Größten unseres Jugendkreises verwandelt.

Bevor wir abreisten, schüttete ich die verkohlten Papierreste, die wir in Gustavs Kamin zusammenkehrten, in den See, damit nicht die Asche seiner Kinder im Straßenkehricht ende. Die Urschrift des »Befreiers« ist, soviel Kuno Schütte danach fahndete, niemals wieder zum Vorschein gekommen.

Als ich nach Jahren allein und von dem Engel meines Lebens durch das Grab geschieden, zum erstenmal die Stelle wieder betrat, da fand ich sie durch den einfachen liegenden Stein bezeichnet, den unterdessen dichtes Efeugeschling umwuchert hat.

Kein Name stand darauf. Nur die seltsam ergreifende Inschrift:

 

Lasset die Toten ruh'n!
Vergebung sei ihr schützendes Bahrtuch,
Und drüber schweige die große Stille.

 

Wer den Stein gesetzt und den Spruch verfaßt hat, konnte ich nicht erfahren.

* * *


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