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An einem regnerischen Sonntagnachmittag, der kein Umhertreiben im Freien gestattete, beliebte es uns müßigem Knabenvolke, fünf, sechs Mann hoch einzufallen – und zwar wo anders als in dem stillen Hinterhäuschen unseres alten Buchdruckers, von dem wir uns Geschichten erzählen ließen, wenn wir nicht selbst welche machen konnten? Freundlich lachend schob er beim Anblick der Einquartierung die Chronik weg, in der er gelesen hatte, nahm die in Horn gefaßte Nasenbrille ab und steckte sie vorsichtig, um sie außer den Bereich unseres Fürwitzes zu bringen, in die Tasche seines abgetragenen Hauskamisols.
Wir blätterten in seiner Chronik, malten mit Griffel und Kreide auf der Schieferplatte, die nach alter Weise in seinen Tisch eingelassen war, und wandten dazwischen kaum die Augen von ihm ab. An Mitteln der Unterhaltung gebrach es ihm nie, denn er verstand tausend kleine seltsame Künste, die wir ihm abzulernen bemüht waren. Am liebsten aber suchte er Spielereien jener Art hervor, wobei dunkle Naturkräfte mitzuwirken schienen.
Daher, nachdem er uns geheimnisvoll etwas ganz Neues, noch nie Gesehenes angekündigt, brachte er ein leeres Glas und seinen einstigen Trauring, den er an einem Faden befestigte, worauf er den Faden zwischen die Finger nahm und den Ring in das Glas hängen ließ. Dieses Spiel, das seitdem und schon früher die Runde oft genug durch die Welt gemacht hat, war damals für uns eine völlige Neuigkeit. Nicht lang, so begann der Ring sich leise am Faden zu bewegen und in immer weiteren Schwingungen hin und wieder zu schweben, bis er klingend erst an einer und dann an beiden Seiten des Glases anschlug.
Der Alte ergötzte sich an unserem Staunen, widerlegte unsere Zweifel durch die Versicherung, daß er nichts getan habe, um dem Ringe eine Bewegung zu geben, und ließ uns dann gleichfalls einen um den anderen unser Heil versuchen.
Der Ring war nicht allen gleich günstig. Dem einen, obgleich derselbe sichtbar rüttelte, tat er keinen Gefallen, dem anderen, der die Finger unverrückt über dem Glase hielt, war er bald wie eine von unsichtbarer Hand geschwungene Glocke zu Diensten. Dies gab allerlei Streit, man riß sich den Faden aus den Händen und beschuldigte einander unredlicher Kunstgriffe, so daß der Alte immer wieder Frieden stiften mußte, was ihm auch gar leicht gelang.
Endlich kam die Reihe an einen, der eine besondere Kraft in den Fingerspitzen zu haben schien. Der Ring wurde unter seiner Hand gleichsam lebendig und läutete mit sanften aber entschiedenen Schlägen ohne Aufhören fort.
Der Buchdrucker nickte beifällig. Fragen Sie ihn, wie lange Sie leben werden, sagte er.
Auf diese Worte kam die kleine Glocke erst recht in Bewegung, und das Geläute wollte kein Ende nehmen, bis die anderen Knaben, von geheimem Neid getrieben, über den neuen Methusalah zu spotten begannen und diesen hierdurch ob seines Glücks verlegen machten. Ich mag nicht so alt werden, rief er, indem er, mit dem kindischen Trotze, der den Knaben in solchen Fällen eigen ist, den Ring in das Glas fallen ließ.
Schade, sagte der Buchdrucker neckend, der Ring hat Ihnen, wie der Kuckuck im Frühling, ein langes Leben ansagen wollen, und das haben Sie nun vielleicht verscherzt.
Wäre so etwas möglich? fragten wir.
Nun, entgegnete er, das hier ist freilich nur ein Spiel, aber es gibt in der Tat Mittel und Wege, um einiges von der Zukunft zu erforschen. Ich selbst habe vor Jahren einen Bekannten gehabt, der es verstand, aus den Namen eines Menschen und den Namen seines Vaters, Vor- und Zunamen zusammengenommen und die Buchstaben in gewisse Zahlen gebracht, Jahr und Tag seines Todes voraus zu berechnen. Er wollte mich seine Kunst lehren, aber mir graute davor, auch gab ich ihm die Materialen zu meiner Lebensrechnung nur unter dem Beding, mir das Fazit zu verschweigen. Er sagte mir deshalb bloß im allgemeinen, ich werde so alt werden, daß ich damit zufrieden sein könne, und das ist auch, wie Sie sehen, bereits eingetroffen.
Schade! riefen nun auch wir, nicht über das Eintreffen der Prophezeiung, sondern über den Untergang der Kunst. Diese sechste Spezies der Arithmetik deuchte uns so unschätzbar als das sechste Buch Mosis, und wir würden uns ohne Grauen darüber hergemacht haben, einander den Lebenspaß zu visieren.
Der alte Buchdrucker schüttelte jedoch den Kopf. Solche Rechenexempel tun nicht gut, sagte er. Verloren ist übrigens die Kunst nicht, denn es gibt immer noch Leute, die sich auf sie verstehen, in dieser oder jener Weise.
Wir waren höchlich verwundert über diese Mitteilung, und als er uns nun die spärliche Kunde gab, die er sich von jenem dunklen Reiche zu verschaffen gewußt hatte, vom Aufbau der himmlischen Häuser, von Aspekten, Quadraturen, Konjunktionen, Oppositionen, Triplizitäten, da verschlangen wir ihm die Worte vom Munde weg.
Aber, setzte er hinzu, es ist weislich eingerichtet, daß nur wenige der Sache mächtig sind. Der Mensch verträgt es nicht, in die Zukunft zu blicken, und was hätte er gar davon, die Stunde seines Todes zu wissen? Wenn er's verbrieft hätte, daß er nach etlichen Wochen, nach wenigen Tagen, morgen, heute sterben müßte, er oder jemand von seinen Angehörigen, er hätte ja keinen frohen Augenblick mehr. Das hat einer bitter erfahren, und ein anderer dazu, der bei dem vermessenen Werke behilflich war. Der letztere ist Ihnen vielleicht noch bekannt gewesen, denn er kam ja oft in die Stadt herein: der alte Schultheiß von –
Der Geisterbanner! riefen mehrere zugleich.
Ja, er hat manchen Geist im Sack fortgetragen, den in eine abgelegene Waldklinge, jenen unter eine verlassene Brücke – nun lauf' wenn du kannst! So sagt man wenigstens. Aber gewiß ist's, daß er bis an sein Ende vielen Hunderten ein Retter und Wohltäter gewesen ist, bald durch Waldpflanzen, die er kannte wie keiner, bald durch Sympathie, daß, wo der Ärzte Macht zu Ende war, die seinige erst anfing, und daß es fast keine Krankheit gab, der er nicht gewachsen gewesen wäre. Wie manch einer, der sein Leben lang über Quacksalberei, Schäferei und Heilsprechen gespottet hatte, hat zuletzt noch an den alten Schultheißen glauben müssen und hat gern nach ihm geschickt! Und wenn man ihn dann die Straße daherwandeln sah seinen langsamen Gang, da war's, als zöge der Engel des Lebens im Krankenhause ein.
Freilich, er war der größte Wunderdoktor weit und breit, bemerkte altklug einer der kleinen Zuhörer, der den Erwachsenen nachzuschwatzen liebte.
Ach, er hat nur allzuviel gewußt, versetzte der Buchdrucker, indem er die Achseln zuckte und den Kopf schüttelte. Aber das Kräutlein, das für den Tod gewachsen ist, hat er doch nicht gehabt.
Da wir gewahrten, daß er nach diesen Worten sein Taschentuch hervorzog und jene Zurüstungen traf, die wir als untrügliche Vorboten einer Erzählung kannten, so versammelten wir uns mäuschenstill um ihn, obwohl nicht in der besten Ordnung, denn die einen setzten sich auf die ihm zugekehrten Tischecken, die andern knieten auf den Boden, legten die Hände auf den Tisch und das Gesicht auf die Hände, alle voll Erwartung nach ihm hinblickend. Die Beweglichkeit, die den Knaben selten lang' in der gleichen Lage verharren läßt, erhielt unsern Konventikel stets in einer kleinen Unruhe, die aber den alten Erzähler niemals zu stören schien.
Von dem reichen Virginier werden Sie wohl schon gehört haben? fragte er.
Wir verneinten dies.
Es ist freilich schon eine geraume Weile her, fuhr er fort. Der reiche Fritz, oder der Virginier, wie man ihn nannte, war auf seiner Wanderschaft in die Hände von preußischen Werbern geraten, dann aus Preußen desertiert und in der Not unter braunschweigische Fahnen getreten, hierauf aber mit braunschweigischen, hessischen und anderen Landeskindern an England verhandelt worden, um gegen die Amerikaner zu fechten. Ob er nun von diesen gefangen wurde, oder ob er zu ihnen überging, weiß ich nicht, kurz, die Engländer waren um einen Soldaten geprellt, den sie noch obendrein dem Herzog von Braunschweig teuer bezahlen mußten.
Nun trug es sich zu, daß eine Amerikanerin an dem deutschen Soldaten Gefallen fand und er in ihr eine reiche Braut gewann. Er nahm deshalb Gewehr bei Fuß und ließ sich im Staat Virginien bürgerlich nieder. Seine Braut starb jedoch unerwartet schnell, hatte aber vorher noch Zeit gehabt, ihn zu ihrem Erben einzusetzen. Mit ihrem Gelde gründete er ein Geschäft, bei welchem ihm das Glück blühte, so daß er in kurzen Jahren einen unermeßlichen Reichtum zusammenbrachte. Wie er nun tief genug in der Wolle saß, wurde ihm das einförmige amerikanische Wesen langweilig. Er gab sein Geschäft auf, packte Kisten und Kästen voll und segelte nach der alten Welt zurück.
Längere Zeit trieb er sich in Holland und Frankreich umher, stürzte sich in die Vergnügungen der großen Städte und genoß alles, was, wie man zu sagen pflegt, der Welt Brief ausweist. Auf die Letzt aber zog es ihn doch wieder in die Heimat, die er nicht vergessen hatte, und wo er eine größere Figur machen konnte, als in Amsterdam oder Paris. Er kam also hierher, kaufte ein Haus, lebte von seinem Geld, und das ziemlich locker. Bald hatte sich ein Kreis von gleichgesinnten Kumpanen um ihn gesammelt, die alles mitmachten, Ledige und Verheiratete. Die Weiber der letzteren wünschten ihm, daß er an einer amerikanischen Bleibohne erstickt oder unterwegs ins Wasser gefallen wäre, aber er kümmerte sich nichts darum, sondern lebte wie der Herrgott in Frankreich. Wer Geld hat, der kann's treiben wie er will, wenigstens bis zu einer gewissen Grenze.
Dennoch hatte der Virginier einen geheimen Wunsch, der zu seinem freigeisterischen Leben in einem sonderbaren Gegensatze stand. Er sehnte sich nämlich nach dem einzigen Glück, das er bis daher mich nicht gekostet hatte, nach der uneigennützigen Anhänglichkeit einer getreuen Hausfrau. Zu gleicher Zeit jedoch trug er als Wildling ein Grauen vor dem Joch der Ehe und wollte nicht auf immer gebunden sein.
In diesem Widerstreit von Verlangen und Abneigung verfiel er auf einen unerhörten Gedanken. Er ritt zum Schultheißen hinaus, seinem Vetter, von dem er wußte und glaubte, daß er mehr als Brot essen könne, und beichtete ihm sein Anliegen. Da er einen Treubruch verabscheue, sagte er, und auch ein Scheidungsprozeß ihm keineswegs anständig wäre, so wisse er nur ein Mittel, wodurch er seinen Zweck erreichen könnte, nämlich, wenn ein weiser Mann ihm eine bezeichnen würde, von der sich, neben sonstigen wünschenswerten Eigenschaften, Herausrechnen ließe, daß sie bloß noch so oder so lang' zu leben hätte; auf diese Weise würde ihm, ohne daß er etwas Unrechtes zu tun brauchte, seine Freiheit von selbst wieder zuteil werden, und er verspreche, seine Erkorene bis zu der gesetzten Frist auf den Händen zu tragen.
Der Schultheiß bedankte sich gar sehr für des Vetters Vertrauen, sagte, man sehe wohl, daß er sich unter den Engländern aufgehalten habe, die so ziemlich alle einen Sparren zu viel im Kopfe haben sollen, und bat, ihn mit einer so traurigen Brautschau zu verschonen. Der Virginier wurde hitzig und bot dem Adepten Geld, so viel er haben wolle, dieser aber, sein Leben lang ein Ehrenmann, ließ ihn rechtschaffen ablaufen und hätte ihn beinahe zum Haus hinausgeworfen, auch war eine Zeitlang eine große Fremde und Kälte zwischen ihnen.
Nun fügte es sich, daß der Schultheiß zu einem Kranken gerufen wurde, denn er war schon dazumal, als der Erbe von seines Vaters geheimen Büchern, für einen unvergleichlichen Arzt erkannt. Dieser Gang führte ihn in das Haus der bittersten Armut, wo ihm aber ein Bild in die Augen fiel, das in solchen Umgebungen zuweilen, wie um die Wunderkraft der Natur zu zeigen, doch aber selten genug vorkommt. Eine Tochter, die im groben Kittel nicht dem schmucksten Frauenzimmer wich, wohlanständig von Manieren, fein von Gestalt und im Antlitz zart und weiß wie Wachs. Sie sah ganz aus wie guter Leute Kind, und war dies auch in der Tat, denn ihre Eltern hatten früher bessere Zeiten gesehen und waren unverschuldet ins Elend gesunken. Das Mädchen war ihre einzige Stütze, sie verdiente mit zierlichen Näharbeiten und mit Spitzenklöppeln den Unterhalt für die Familie, stand der kränklichen Mutter in der Pflege der kleineren Geschwister bei und wartete obendrein oft halbe Nächte dem kranken Vater ab.
Der Heilmeister nahm alles wohl in acht, so ihre Jugendschönheit als ihre häuslichen Tugenden; noch mehr aber machte ihm ein Zug auf ihrer Stirne zu schaffen, der eine Auslegung von ihm verlangte, wie eine dunkle Stelle in halbleserlicher Schrift. Bei näherer Bekanntschaft nahm er sich Gelegenheit, in ihre Hände zu sehen, denn er verstand sich auf Chiromantie; und da er hier die gleiche Anzeige entzifferte, so fragte er sie um Tag und Stunde ihrer Geburt und entwarf ihr Horoskop in astrologischer Figur genau nach dem Gestirn. Auch hier war das Ergebnis seiner Forschungen das nämliche, und er konnte nicht mehr im Zweifel sein: die Frau, die er seinem wunderlichen Kunden suchen sollte, sie war gefunden.
Anfangs jedoch warf er den Gedanken weit weg und vergaß ihn auch zum Teil wieder über den Bemühungen zur Herstellung des alten Mannes, die ihm nach einiger Zeit vollkommen gelang. Nachdem aber diese Sorge abgetan war, trat das Mitleid mit der Lage der Armen um so mächtiger hervor, und besonders zu Herzen ging ihm der Anblick des guten Kindes, das so selten einen frohen Tag gesehen hatte und nun so wenige mehr erleben sollte. Er mußte sich sagen, daß es in seine Hand gegeben sei, ihren frühen Abend durch die Verbindung mit einem Manne, den er bei manchen tolleren Eigenschaften als brav, zuverlässig, wohldenkend kannte, zu verschönern und ihr noch verborgenes, aber unabwendbares Schicksal dereinst durch die Aussicht auf eine sorgenfreie Zukunft der Ihrigen zu erheitern.
Immer wieder drang sich ihm der Gedanke auf; wenn er ihn zur Tat werden ließ, so war nach allen Seiten nur Gutes gestiftet und nirgends sah er einen Schaden, der daraus erwachsen konnte. Daher, als ihm der Abgewiesene auf der Gasse begegnete und trutzig ausweichen wollte, vertrat er ihm den Weg und sagte, wofern ihm seine Grille noch nicht vergangen sei, so könne er ihm zu der Rechten verhelfen; ihr Horoskop stehe ganz nach Wunsch, wohl fast zu sehr, denn wenn er sie auch nur ein Jahr lang behalten wolle, so möge er eilen.
Der Virginier ließ sich das nicht zweimal sagen, er sah das Mädchen, sie gefiel ihm und der Astrolog mußte den Freiwerber machen. Die guten Leute wußten nicht, wie ihnen geschah, sie glaubten im Himmel zu sein, und das Mädchen gab das Jawort ohne Zaudern, schon aus Liebe zu den Ihrigen. Der Bräutigam tat, wie sein Freund ihm gesagt hatte: er eilte, und nach wenigen Wochen stand, zur Verwunderung der Stadt, mit dem reichsten Manne das ärmste Mädchen am Altar. Die Hochzeit wurde mit großem Aufwand gefeiert, denn der Virginier hatte sich das Wort gegeben, seine Angetraute jede Stunde ihres kurzen Lebens vollauf genießen zu lassen. Indessen trübte den Tag eine Anwandlung des Stifters dieser Ehe, der, von heimlicher banger Traurigkeit befallen, ein plötzliches Unwohlsein vorschützte und das Fest verließ.
Der neue Ehemann brachte seine Flitterzeit sehr vergnüglich zu. Den Tag über machte er mit seiner jungen Frau Spaziergänge und Spazierfahrten nach Ausflugsorten, wo etwas Gutes und Teures zu haben war, und den Abend und die halbe Nacht saß er, wie sonst, bei seinen lustigen Gesellen, denen er sein jetziges Leben als ein doppelt glückliches pries, da es die Freuden der Ehe und des ledigen Standes vereinige. Allmählich aber kam er seltener zu ihnen; erst fehlte er einen Tag, dann zwei, dann mehrere, und als sie zu spotten und auf das Pantoffelregiment zu sticheln begannen, so blieb er endlich ganz weg.
Das häusliche Glück hatte über die Junggesellenlust den Sieg davongetragen, ohne daß die Veränderung der jungen Frau ein Wort kostete. Sie war überglücklich, ihre alten Eltern und ihre Geschwister im Wohlstand zu sehen, und hatte aus Dankbarkeit eine herzliche Liebe zu ihrem Gatten gefaßt. Nie machte sie ihm einen Vorwurf, wenn er sich nach seiner früheren Weise gehen ließ, aber eben ihre immer gleiche bescheidene Freundlichkeit und Lieblichkeit nahm ihn so gefangen, daß er keinen Augenblick mehr ohne sie sein konnte.
Da ihr das beständige Umherschweifen angreifend war und sie sich in der Stille des Zimmers am wohlsten fühlte, so hörten auch die Ausflüge nach und nach auf, so daß er nun Tag für Tag einsam mit ihr zu Hause saß und doch keinen anderen Zustand der Welt gegen den seinigen eingetauscht hätte. Sie verfertigte schöne Stickereien für ihn, bei deren Zeichnung sie ihn zu Rate zog, und da sie eine zwar zarte, aber wohlklingende Stimme hatte, so ließ er ihr durch einen gereiften Lehrer Unterricht erteilen, wodurch sie es bald so weit brachte, daß sie die beliebtesten Lieder singen und dieselben auf dem Spinett, das damals üblich war, begleiten konnte. Ihm aber war es sein Einziges, auf ihre Stimme zu hören, wenn sie sang, oder ihr beim Sticken zuzusehen, und Rede mit ihr zu pflegen, während ihre feinen Finger die Fäden zogen. Er wich ihr kaum von der Seite, und konnte nicht mehr begreifen, daß er die Ehe für ein Joch gehalten hatte.
Freilich hatte diese Unzertrennlichkeit noch einen besonderen geheimen Grund, denn mitten im Glück war eine namenlose Angst über ihn gekommen, die ihm unaufhörlich in die Erinnerung rief, wie das enden werde, und wie bald! Diese Seelenpein entging den stillen Blicken des jungen Weibes nicht, und da er allem Forschen auswich, so begann sie sich im Verborgenen zu grämen. Sie hatte von Anfang an gezweifelt, ob sie ihm gut und schön genug sei, und glaubte jetzt diesen Zweifel bestätigt zu sehen.
In ihrem ganzen Tun und Lassen erschien eine gewisse Spannung, eine fieberhafte Hast, womit sie sich anstrengte, es ihm zu Dank zu machen und seinen Wünschen zuvorzukommen. Aber die Wolken verschwanden nicht von seiner Stirne, und dies vermehrte die ängstliche Befangenheit, die ihr das Leben vergiftete. Ihre Nächte wurden schlaflos, ihre Augen trübten sich, das innere Leiden teilte sich nach und nach dem Körper mit.
Die ersten Zeichen eines noch unbestimmten Übels steigerten seine Angst. Es trieb ihn endlich von Hause fort, er warf sich aufs Pferd und jagte zu seinem Freunde hinaus, um ihn um Hilfe anzuflehen, und diese Besuche wiederholte er einmal um das andere. Der Schultheiß, bald traurig, bald wild vor Unmut, wies ihn einmal wie das andere ab und sagte, Gottes Ratschluß sei nicht zu hintertreiben, er solle sich in das Unvermeidliche fügen, er habe es ja voraus gewußt und nicht anders gewollt.
Da alle seine Bitten vergeblich blieben, so suchte er sich selbst zu helfen. Man sprach damals viel von einem Lebenselixier, das in hohem Ansehen stand und schon manchem gut getan haben sollte. Er kaufte es um schweres Geld und beredete seine Frau, es zu nehmen. Aber, sei es nun, daß er ihr zu starke Gaben reichte, oder daß es ihr überhaupt unzuträglich war, es bekam ihr nicht, und sie verfiel jetzt erst in eine ernstliche Unpäßlichkeit. Wiederum ritt er zu dem Schultheißen hinaus, und wiederum sagte ihm der, da sei nicht zu raten noch zu helfen, er solle sie nicht unnötig quälen.
Er aber nahm Ärzte über Ärzte an, die einander im Rezeptschreiben überboten, so daß die arme Frau mit Arzneien überschwemmt wurde. Die Doktoren kurierten sie aus einer Krankheit in die andere hinein, bis zuletzt ein Zehrfieber dem Rest ihrer Kräfte ein Ende machte. Nun erst erschien der Schultheiß und verschaffte ihr wenigstens Erleichterung, indem er sie von den vielen Arzneien befreite, und ihr ein Mittel gab, das zwar keine Heilung bewirkte, aber doch das Leiden und die Unruhe linderte.
Auch ihr Gemüt fand den Frieden wieder, als sie, den Tod vor Augen, ihren Gatten geradezu zu fragen wagte, was die Ursache jenes seines Trübsinns gewesen sei, und von ihm die Versicherung erhielt, es habe ihn nichts anderes gedrückt als die nur allzufrüh schon nagende Sorge um ihr Leben, ohne die er vollkommen glücklich gewesen wäre. Das frevelhafte Spiel, das er mit seinem und ihrem Glück getrieben hatte, verschwieg er ihr, und so genoß sie beim Abschied von der Welt in voller Reinheit das tröstliche Gefühl, dem Manne, der sie aus dem Elend gehoben, lieb und wert gewesen zu sein und die Ihrigen, die an ihrem Sterbebette weinten, wohlversorgt zu hinterlassen.
Die Prophezeiung des Horoskops war in Erfüllung gegangen: der Virginier hatte sich kaum ein Jahr lang' seines häuslichen Glückes erfreut. Sein Verhalten als Witwer gefiel den Leuten nicht. Er stand so unbewegt am Grabe seiner Frau, als ob ihn der Todesfall gar nichts anginge, und es war die allgemeine Meinung, er sei seiner Freiheit froh, werde sich's nach einigen Anstandswochen wieder wohl sein lassen und zu seinem alten ledigen Leben zurückkehren.
Aber es kam ganz anders. Er verschloß sich in sein Haus und ließ keinen Menschen zu sich, nicht einmal die Angehörigen seiner verstorbenen Frau. Mit derselben scheinbaren Gleichgültigkeit und kalten Pünktlichkeit, womit er die Leichenfeier betrieben, hatte er auch seine künftige Bedienung ein für allemal angeordnet. Sie war einer alten Frau aus der Nachbarschaft übertragen, die während der Krankheit der Verstorbenen zu allerlei Diensten gebraucht worden war. Aber auch diese bekam ihn nie zu Gesicht.
Das Haus war wie ausgestorben, und man hatte sich schon an die neue Wunderlichkeit seines stillen Bewohners gewöhnt, als die Nachbarn eines Morgens durch einen Knall, der aus seinem Zimmer kam, aufmerksam gemacht wurden. Man brach die Türe ein und fand ihn tot auf dem Kanapee. Er hatte sich durchs Herz geschossen. Auf dem Tische daneben stand mit Kreide geschrieben: »Ich muß Ihr nach!«
Sein Tod brachte ein Testament zum Vorschein, das er in den letzten Lebenslagen seiner Frau gerichtlich niedergelegt hatte; sein sämtliches Vermögen war darin ihrer Familie vermacht. Die Achtbarkeit, zu welcher dieselbe hierdurch gelangte, brachte es, doch nicht ohne Mühe, dahin, daß er an der Seite der Vorangegangenen begraben wurde.
Auf diese Weise, so schloß der Buchdrucker seine Erzählung, ist es geschehen, daß ein Mensch durch das Vorherwissen der Zukunft und durch die Erreichung eines auf sie berechneten Wunsches unglücklich geworden ist.
Und der Geisterbanner hat auch seinen Geistern das Lehrgeld zahlen müssen, sagte ein Nachbar, der unter der Erzählung eingetreten war und durch mehrmaliges Nicken seine Bekanntschaft mit ihrem Inhalt bemerklich gemacht hatte. Dem ist die Geschichte, daß er Gott hat versuchen helfen, sein Leben lang nachgegangen, und hat ihn zum Trinken gebracht.
Er war bis dahin ein nüchterner Mann gewesen, versetzte der Buchdrucker. Am Begräbnistage des Virginiers brachte er seinen ersten Rausch nach Hause, und seitdem manchen. Er ist zwar alt dabei geworden, denn er war ein Mann wie eine Eiche, und im Ansehen und Zulauf hat es ihm auch nichts geschadet, aber es hat ihn doch in manche Ungelegenheiten gebracht – wenn ich nur das nehme, daß die Geschichte durch ihn bekannt geworden ist. Denn nüchtern hätte er sich natürlich nicht darüber ausgelassen, und es hat auch mancher deswegen, bei allem Respekt, ein Grauen vor ihm gefaßt. Aber wenn er auf seinen Gängen durch die Stadt an des Virginiers Haus vorüberkam, und in späteren Zeiten oft auch ohne das, hat er's eben nicht lassen können, es hat ihn ins Wirtshaus getrieben, um den Wurm abzutöten. Und wenn er dann Feuer unterm Dachgiebel hatte, so konnte er Dinge an die Glocke hängen, die ihn gewiß nachher manchmal gereut haben.
Es hat ihn ja zuletzt das Leben gekostet, sagte der Nachbar. Wenn er bei Nacht heimging, und früher kam er nie zum Fortgehen, und wenn er einen Sturm hatte, und ohne den ging er nicht fort, dann lauerten ihm die Geister auf und rächten sich dafür, daß er sie so viel inkommodierte. Wie oft hat er braune und blaue Flecken heimgetragen! Und in seiner letzten Nacht, da erwischten sie ihn um Mitternacht auf dem Kreuzweg bei der Teufelsbrücke, und ließen ihn nicht mehr los, und peinigten ihn, daß er nimmer von der Stelle kam und am Morgen tot gefunden wurde. Bei Tag war er Meister über sie und züchtigte sie für alles was sie angestellt hatten, des Nachts aber waren sie Meister und gaben's ihm mit Zinsen wieder heim.
Man glaubt nämlich, bemerkte der Buchdrucker zu unserer Aufklärung, daß die Geister einem beikommen können, wenn er nachts unterwegs ist und über Durst getrunken hat.
Und besonders auf Kreuzwegen, setzte der Nachbar feierlich hinzu, indem er den silberbeschlagenen Ulmer Kopf, der ihm unter dem Reden auszugehen drohte, heftig ziehend wieder zum Dampfen brachte.