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Von Tulpen, Aurikeln und Worten

Ein strahlender Tag, flirrende Lichter und Schatten; mitten im blühenden Garten mein Kinderwäglein und ich selbst darin zufrieden vor mich hinkrahlend – ringsum mich sommerlich gekleidete Frauengestalten, darunter meine liebe Mutter.

Wie ich das heute noch sehe mit den Augen der Erinnerung! Und auch, was dann geschah – – ein großer schmächtiger Mensch in weißem Leinenanzuge – ich erfuhr später, das sei mein Stiefbruder gewesen – sprang unversehens unter die Gesellschaft, packte die Deichsel meines Wagens und galoppierte mit mir davon. Ich sehe noch die Erscheinung meiner Mutter, wie sie mit hochgehobenen Röcken dem Schlingel nachläuft, ich höre noch ihr Angstgeschrei und fühle die Verstörung unter den Anwesenden. Indessen rund um die großen Blumenbeete geht die rasende Fahrt, immer rundum, hin und her wird der Wagen geschleudert und ich finde das unterhaltsam und sehr vergnüglich – da mit einem Male aber kippt der Wagen und ich liege heftig hinausgeschleudert – mitten unter nickenden scharlachroten Tulpen.

Freundlich und gnädig schauen sie zu mir nieder, so als wollten sie sagen: fürchte dich nicht, kleines Menschenkind, wir haben dich lieb!

Und neugierig und interessiert gucke ich ihnen in die dunklen Blumenkelche und habe meinen Schreck vergessen. Denn sie sind wie wunderschöne, stolze und mächtige Frauen, die um seltsame Geheimnisse wissen, und die nur ein Wort zu sagen brauchten, damit man ihnen gehorchte …

Oft habe ich sie in späteren Jahren betrachtet, nie aber habe ich noch das Wort deutlich vernommen, das sie sicher in sich tragen wie ein jedes Wesen, das aus Gottes Hand kommt. Aber das ist mir gewiß: jedes kleinste Blümlein hat sein Wort in sich, und manchmal steht es klar in sein Gesichtlein geschrieben, wenn auch in einer unbekannten Sprache. So redet ein Vergißmeinnicht anders als ein Veilchen und ein Schneeglöckchen wieder anders als eine Heckenrose.

Und oft und oft, wenn meiner Mutter Blick sinnend auf mir ruhte, habe ich sie gefragt: »Was denkst du jetzt von mir, Mama?«

Dann sagte sie wohl manchmal: »Ich denke, daß du mein liebes Aurikelchen bist, du weißt, von jenen braunen mit den gelben leuchtenden Kelchen!«

Ach, wie war ich da beglückt! Das Wort, das solch braunes Aurikelchen zu sagen hatte, mußte doch sicher offen und wahr und herzig sein!

Sicher, ich hatte nicht nötig, die prächtigen stolzen Tulpen, noch die herrlichen duftenden Lilien oder gar die Rosen um ihre Worte zu beneiden – ich war nur ein bescheiden Blümchen – aber ich hatte mein Wort in mir so gewiß wie jene das ihre.

Und das macht mich noch heute glücklich.

 

Die gefesselten Bären

In unser Dorf kamen manchmal Bärenführer, braune, wilde Gesellen, die mit Pfeifen- und Harmonikamusik, mit Pauken und Zimbelschlag, ihre Bären an Ketten hinter sich, ihren Einzug hielten.

Das war natürlich ein Fest für die Dorfjugend, die außer Rand und Band geriet und ihren Mut und Übermut durch Zerren an den Ketten der gefangenen Tiere bekundete. Es war ein frostiger, kalter Tag, ich stand auf dem Fensterbrett, von meiner Wärterin gehalten, und guckte dem absonderlichen Schauspiel, das sich vor unserem Hause entwickelte, neugierig und erwartungsvoll zu.

Es ging auch zunächst alles nach Wunsch. Der größte der drei Bären, ein zottiger Gesell mit blutunterlaufenen Augen, richtete sich auf die Hinterbeine und salutierte. Auf die Frage: »Wie präsentiert der Soldat das Gewehr?« preßte er einen Stock kunstgerecht an seine Seite. Der Kleinere umtanzte ihn derweil, zuerst auf allen Vieren, dann im Takte der Musik auf zwei Beinen, und der von mittlerer Größe, der besonders grimmig aussah, schlug zu der Musik die Zimbeln.

Als sie aber die Rollen wechseln sollten, der Mittlere tanzte und der Kleine die Zimbeln schlug, als dem Großen eine lächerliche Papiermütze auf den Kopf gestülpt, ein Orden um den Hals gehängt und ihm gesagt wurde, er sei jetzt General und müsse die Front abschreiten, da weigerte sich das Tier, stieß ein dumpfes Gebrumm aus und schüttelte den Kopf.

»Wie – du willst nicht?« schrie der Bärenführer wütend, zog und zerrte an der Kette. »Hier wird Order pariert. Allons – marsch, General!«

Wieherndes Gelächter ringsum.

Jetzt aber bemerkte ich und ich sah es mit Entsetzen – an einem eisernen Ring, der quer durch die Nüstern des Bären gebohrt war, hing die schwere eiserne Kette, und an dieser zerrte und rüttelte der Zigeuner, als ob das Tier kein Gefühl habe, ja, um ihm nur recht wehe zu tun.

»Nianja«, schrie ich außer mir – »sieh doch nur, sie haben den Bärchen Löcher in die Nasen gebohrt! Und daran hängen die Ketten! Aber das ist ja schrecklich! Sieh nur Papa, sieh nur Mama! Schrecklich ist das – wie wehe muß das tun. Papa, höre doch – schick' die Leute weg! Ich will nichts mehr sehen, ich will nicht. Sie sollen fortgehen!«

Und an die Scheiben trommelnd schrie ich gellend: »Hör auf, hör auf, böser Mann! Warum quälst du die Bärchen. Schlecht bist du, ganz schlecht, geh' fort!«

Der Zigeuner aber, in dem Glauben, er sei dem herrschaftlichen Kinde noch einen Extraspaß schuldig, riß und schüttelte an der Kette, bis das gequälte Tier sich ächzend aufrichtete und ihm den Willen tat.

Ich war unter diesem grausamen Schauspiel vollends ungebärdig geworden, schlug um mich und brach in ein herzzerreißendes Schluchzen aus.

Gegenvorstellungen, Bitten, Schelte und Drohungen halfen nichts – ich war nicht mehr zu beruhigen.

Mein Vater schickte meine Wärterin mit einem Geldbetrag hinaus und befahl, die Leute sollten weiter ziehen.

Aber mein Herz geleitete die armen Tiere auf ihrer mühseligen Wanderung und ließ sich nicht trösten. Es war dies in Wahrheit mein erstes großes Leid und ich kam nicht darüber hinweg.

Am Nachmittag wurde ich zu einer Spazierfahrt in den winterlichen Wald mitgenommen, damit ich auf andere Gedanken käme.

So still, so schön, so friedlich standen die weißen Bäume im Reiffrost da – es war, als sei der ganze Wald zu einem weißen Feenreich geworden.

Ich saß dick verpackt neben Mama und fühlte wie meine kleine Nase vom Frost gezwickt wurde, schaute und schaute und konnte mich gar nicht satt sehen.

Da – auf einmal – Kettengerassel, dumpfes Geschimpf mitten in der Stille. Aus der weißen Herrlichkeit tauchten zwei braune Zigeuner, die Bären neben sich, stellten sich mitten auf den Weg und heischten eine Gabe.

Meine kaum vernarbte Wunde brach von neuem auf.

»Die Bären, die armen, armen Bärchen!« schrie ich verzweifelt.

Mama winkte dem Kutscher, rascher an ihnen vorbeizufahren. Ich aber warf mich im Übermaß meines Jammers auf die Knie, hob meine Hände in den Fausthandschuhen empor und schrie unter Tränen:

»Lieber Gott, ach, lieber Gott, so nimm doch die armen Bären zu dir und in dein schönes Paradies. Laß sie dort einmal ganz froh sein!«

 

Verwechselt?

Da ich noch sehr klein war, trat ich eines Tages in die Küche und wurde von einem barfüßigen kleinen Bauernmädel begrüßt.

»Das ist Matriosch, deine Milchschwester,« sagte die Köchin, »die Jüngste der Matriona Kondraschowa drüben.«

»Milchschwester?« fragte ich verblüfft. »Was ist denn eine Milchschwester?«

»Nu –« sagte die Köchin lachend –, »ihr zwei habt von der gleichen Muttermilch getrunken; die Matriosch da war die Kräftigere von euch zweien und konnte besser zufassen, darum kam sie zu deiner Mama; du aber warst so ein schwaches Dingelchen und so solltest du das Trinken bei der Matriona lernen. In den ersten Tagen hat sie dich genährt.«

Ich riß die Augen groß auf. War das wirklich wahr? Und warum hatte mir meine Mutter nichts davon gesagt?

Die kleine Matriosch aber stand glücklich lächelnd da und wiegte ihr braunes Köpfchen.

»Wir sollen einander auch zum Verwechseln ähnlich gewesen sein!« bemerkte sie und zeigte ihre weißen Zähnchen.

»Zum Verwechseln ähnlich?« wiederholte ich wie in einem Traum. »Am Ende hat man uns auch wirklich miteinander verwechselt!«

Ein schallendes Gelächter, in das auch die andern Dienstboten einstimmten, beantwortete meine Frage.

Ich schlich mich beschämt davon, aber in meinem dummen, kleinen Herzen war doch ein banger Zweifel wach geworden, den ich nicht zu entwirren wußte. Wenn man uns wirklich miteinander verwechselt hatte, dann war ich ja gar nicht mehr Dudu, das Herrenkind, sondern ein kleines Bauernmädel, eine unter vielen Geschwistern. Dann mußte ich am Ende eines Tages zurück in die enge Bauernstube, mußte winters barfuß laufen wie sie, Holz und Reisig sammeln, alle meine Puppen hergeben und zuschauen, wenn die kleine Matriosch im Schlitten spazieren fuhr. Dann war meine Mama nicht mehr meine Mutter, sondern die häßliche Matriona, und mein schöner Papa gehörte Matriosch! Sie durfte ihm dann auf dem Schoß sitzen. Der grobe Taraß aber, Matrionas Mann, der oft betrunken umhertorkelte, der würde mich sicher nicht auf den Schoß nehmen und mir Bilderbücher zeigen!

Aber hatte man uns denn auch verwechselt? … Ich hatte doch braune Augen und Matriosch hatte blaue!

Ein schwerer Sorgenstein fiel mir vom Herzen. Aber natürlich, daran hatte ich ja noch gar nicht gedacht! Ja, wie sollte denn meine Mama, die auf alle Dinge so gut acht zu geben wußte, ihr eigenes kleines Kind mit einem fremden Kinde verwechselt haben? Das war ja gar nicht möglich. Jubelnd lief ich in unsere Wohnstube, wo ich Mama beim Garnwickeln fand und warf mich ihr in der Freude meines Herzens um den Hals.

»Was hast du denn nur, Dudu, mein Inzing?« fragte sie zärtlich.

Jetzt in diesem Augenblick kam mir die Idee, ich sei verwechselt worden, so unmöglich und so lächerlich vor, daß ich mein Geheimnis für mich behielt und nicht antwortete.

Sie strich mir das Haar aus der heißen Stirn. »Alle Tage wirst du doch deinem Papa ähnlicher!« sagte sie sinnend.

Das war das erlösendste Wort, das sie, obwohl sie nichts von meiner inneren Not ahnte, hätte sprechen können!

Mütter finden manchmal solche Worte.

 

Patengeschenke

Zwei Dinge gab es, die mein dreijähriges Herz mit einem so uferlosen Entzücken erfüllten, wie ich es nie seither an materiellen Gegenständen erlebt habe. Beide waren sie Geschenke einer Pate, die uns ab und zu in unserer Landeinsamkeit aufsuchte.

Einmal brachte sie mir saffianlederne rote Schuhe mit, dazu einen zuckernen Goldfisch in etwa Heringsgröße, der in einer Papphülse steckte und für mich gab es nichts Geheimnisvolleres und Köstlicheres auf der Welt, als eben diesen Goldfisch. Schon die Hülse langsam auseinanderzuschieben und das Schimmern und Glitzern meines Fisches zu gewahren, erfüllte mich mit herzklopfender Erwartung und Seligkeit – und damit die Freude ja recht lange vorhalte, nahm Mama den Goldfisch in Verwahrung mit dem Versprechen, ihn mir jeden Morgen zu zeigen und in die Hände zu geben.

So trat ich denn morgens, kaum daß ich angezogen war, strahlend an die Kommode und verlangte meinen goldenen Fisch zu sehen.

Ach, leider sollte ich trotz aller Vorsicht nur allzufrüh erfahren, daß »alles Vergängliche nur ein Gleichnis«. Zunächst an den Schuhen. Sonntags durfte ich sie anziehen und da alle im Hause bereits ihre Mitfreude an diesem immer wiederkehrenden Ereignis verausgabt hatten, begab ich mich enttäuscht und ernüchtert zu unserem schwarzen Star, um gleich dem heiligen Franz das Miterleben bei den Tieren zu finden, das die Menschen mir verweigerten. Selig umtanzte ich den Käfig, eifrig bemüht, dem Vogel meine roten Schuhe recht deutlich zu zeigen, hob meine Beine abwechselnd hoch und jauchzte: »Sieh Stapelchen, jote Schuh!« Ach, aber ach, ehe ich mir noch bewußt ward, ob »Stapelchen« die Schuhe auch richtig sähe und bewunderte, entstand wohl infolge der Anstrengung, ein die Schönheit der roten Farbe stark herabminderndes Elixier auf dem Boden und siehe – die Schuhe waren gelblich und fleckig geworden.

Aber es blieb mir ja noch der Fisch! Mit unendlicher Ausdauer begrüßte ich nach wie vor meinen goldenen Liebling, zog langsam und schwelgend den Pappdeckel von der Hülse und entzückte mich von neuem an seinem Schimmern und Glänzen.

Wie aber ward mir zumute, da ich eines Tages den Deckel abstreifte und mein Fisch – verschwunden war! Atemlos, tief erschrocken sah ich in die leere Hülse hinein – schwarz wie ein Brunnenloch. Da griff ein Schmerz mit rauher Tatze an mein Kinderherz – eine richtige Verzweiflung packte mich – ich riß meinen Mund auf und begann fürchterlich zu schreien.

»Wo ist mein Fisch? Mein Fisch ist fort!« schrie ich dumpf und dumm vor Kummer.

»Sieh doch nur genauer hin, vielleicht ist er gar nicht weg,« tröstete die Mama lächelnd, »mir scheint, du hältst ihn in der Hand!«

Ich starrte auf den Hülsendeckel – siehe, da hängt ja mein Fisch an einem Faden aus dem Hülsendeckel hervor, den ich krampfhaft in der Hand hatte. Aber weit entfernt, in dieser Tatsache einen Trost zu finden, fühle ich den Schmerz im Innersten noch weher, noch lauter werden. Man hatte mich also verspottet! Man hatte an meinem Kummer seinen Spaß gefunden! Dieses Bewußtsein drückte mich vollends nieder. Ich weinte, schrie und schluchzte und war gar nicht mehr zu beruhigen.

Ganz verdutzt sah die Mama auf ihr Kind, dieses Häuflein Jammer nieder.

»Aber du hast ihn ja doch, deinen Fisch, was weinst du denn noch?« stammelte sie.

»Das hat der böse Papa getan!« brachte ich mühsam heraus.

Und nie seither habe ich wieder nach meinem Fisch verlangt.

 

Der verfrühte Verzicht

Grigor Iwanowitsch war unser guter Nachbar.

Das kleine dreijährige Ding, das ich damals war, hatte bereits eine Vorliebe für ihn und sah ihn gerne an, denn solch hellrotes Haar und solch dunkelroten Schnurrbart hatte sonst niemand. Außerdem liebte es Grigor Iwanowitsch, sich mit mir abzugeben, und da er selbst ein Söhnchen besaß, trug er sich mit Zukunftsplänen für uns beide. Daß ich einmal seine Schwiegertochter würde, stand für ihn fest. Um so mehr aber mußte er es sich angelegen sein lassen, den Charakter und die Artung derjenigen zu studieren und festzulegen, die einmal seines Sohnes kleine Frau werden sollte.

Da erlebte er nun freilich Überraschungen!

Meine Mutter hat es mir nach vielen Jahren oft erzählt, daß der gute Mann an seinen eigenen Prognosen immer wieder irre wurde.

War ich an einem Tage zärtlich und lieb zu ihm, so nahm ich ein anderes Mal gar keine Notiz von ihm, besonders wenn mich etwas beschäftigte. Dann existierte er eben nicht mehr für mich – ich hatte ihn einfach aus meinem Dasein gestrichen.

Es ist nur zu natürlich, daß ein Kind, das in einer mehrsprachigen Umgebung aufwächst, sich sprachlich spät entwickelt und die verschiedenen Sprachen durcheinander bringt.

So bedrängte mich früh schon der Trieb zum Reden, dem ich keinen entsprechenden Ausdruck zu geben vermochte. Ich half mir in solcher Not mit einem wunderlichen, völlig unverständlichen, eigens für den Moment eingegebenen Kauderwelsch, spazierte gänzlich meinem Spieltrieb hingegeben mit zurückgeworfenem Kopf und laut schwatzend und gestikulierend im Saal auf und nieder, indem ich meine Gebärden dem Inhalt meiner dunklen Reden anzupassen suchte. Gott mag wissen, was ich mir dabei dachte!

Grigor Iwanowitsch als mein von mir ignoriertes Publikum, saß verdutzt dabei und sah meinen Evolutionen ratlos zu.

Da trat meine Mutter zu uns in den Saal und nun brach er los, schlug sich auf den Schenkel und rief dröhnend: »Der Himmel strafe mich, wenn das da nicht eine geborene Schauspielerin ist! Marja Petrowna – ich schwöre es Ihnen: das geht zur Bühne! Aber freilich«, er zuckte betrübt die Achseln, »dann würde ich schon auf meine künftige Schwiegertochter verzichten müssen! Denn eine Schauspielerin, wissen Sie …«

 

Der vergeßliche Vater

Es gab keinen geduldigeren, unermüdlicheren und liebenswürdigeren Papa als den meinen, wenn es sich darum handelte, seiner Dreijährigen einigermaßen vernünftige Wünsche zu erfüllen.

Mochte er tief in seinen Plänen und Entwürfen stecken, oder in Muße seine Zeitung lesen, immer und jedesmal, wenn der kleine Spatz ernsthaft angetrippelt kam, ihm von weitem seinen Bleistift entgegenhielt mit den bedauernden Worten: »Wieder taputt, Papa, bitte anspitzen!« oder »Papier fertig!« stand er schweigend, doch mit einem leisen Schmunzeln auf, gab dem Kinde ein neues Blatt, oder er zog sein Taschenmesser und reparierte den Schaden.

Das war denn aber auch jedesmal kunstgerechte Arbeit. Wenn die Bleistiftspitze auch noch so oft abbrach, wurde der Bleistift mit einer Sorgfalt und Genauigkeit von neuem angespitzt, als sei er mindestens für die Königin Viktoria bestimmt und nicht für Papas ungeschicktes Töchterchen. So war es mir immer und von jeher eine Freude, dem Papa bei allen seinen Hantierungen zuzuschauen, denn er war überaus geschickt und meisterte jedes Handwerk. Nicht nur verstand er es, Stühle aufzupolstern, sondern auch unser Klavier zu stimmen.

So knüpfte sich früh schon ein stilles Band des Verständnisses und Einvernehmens zwischen uns beiden, und das Gefühl, daß ich mich in mancherlei Nöten unbedingt auf ihn verlassen könne, erhob und befriedigte mich, zumal weil er mir außerordentlich gefiel und ich ihn schön fand.

Einmal sollte mein Vertrauen aber doch einen argen Stoß erhalten, von dem ich mich nicht sobald erholte. Mit meinem Spitz- und Kosenamen hieß ich Dudu – mein Taufname lag noch unbenutzt und neu wie in einem Schrein verschlossen und kam eigentlich nur zu seltenen und offiziellen Gelegenheiten zum Vorschein, wie wenn ein Freund oder Bekannter des Hauses sich teilnehmend darnach erkundigte.

Nun hatten wir aber eines Tages das Haus voller Gäste – ein in der Stille unseres russischen Landlebens seltenes Ereignis.

Ich wurde schön aufgeputzt und trippelte an der Hand der Wärterin von einem Gast zum andern, um ihm meinen Knix zu machen. Mit vergnüglichem Vaterstolze sah mein Papa zu, und wenn mich jemand nach meinem Namen fragte, sagte ich laut und freudig: »Ich heiße Dudu!«

»Aber lieber Ingenieur«, wandte man sich an meinen Vater – »das ist doch kein Taufname, oder ist er es in englischer Sprache doch? Wie heißt denn nun Ihr Töchterchen mit seinem Vor- und Taufnamen?«

Mein Vater besann sich eine Weile, geriet offensichtlich in Verlegenheit, schlug sich vor die Stirn und stieß endlich wie ein großer Junge die Worte hervor:

»Alle Wetter! Das hab' ich doch wahrhaftig vergessen!«

 

Die tote Großmama

Eines Tages war mit der Landpost eine handfeste Kiste in unser Haus gekommen. Ich war natürlich beim Auspacken dabei und einigermaßen enttäuscht, als nur zwei gemalte Bilder aus der Verpackung zum Vorschein kamen.

»Das ist dein Großvater«, sagte meine Mutter, »und dies ist deine herzgute Großmama!« fuhr sie unter Tränen fort, küßte das Bild und strich zärtlich darüber hin.

Ich stand und sah zu wie die Bilder über den Betten meiner Eltern angebracht wurden.

Den Großvater fand ich ganz abscheulich. Er war dick, hatte ein unangenehmes rotes Gesicht und wasserblaue Äuglein. Die Großmama aber, die war schön und lächelte, und so schloß ich sie ohne weiteres in mein vierjähriges Herz. Sie trug ein schwarzes Seidenkleid, einen gestickten Kragen und über dem sanftbraunen, glattgescheitelten Haar eine weiße Haube mit breiten Haubenbändern.

Auf meine Frage, warum denn die Großmama niemals zu uns nach Rußland komme, brach meine Mutter in ein heftiges Schluchzen aus und sagte, sie könne nun nie und nimmer mehr kommen, weil sie ja gestorben und im Himmel droben sei.

So? Sie war also gestorben? Wie neulich unser Kanarienvogel auch! Sehr beeindruckt betrachtete ich mir das Bild von neuem. Darum also die Haube! Fortan wurde eine Haube, die ich nie an lebenden Personen gesehen hatte, für mich das Attribut derer, die gestorben und im Himmel waren.

»Und der Großpapa? Ist der denn nicht gestorben?« fragte ich wißbegierig

»Nein!« sagte meine Mutter rauh. »Der lebt jetzt allein im alten Hause und hat Zeit darüber nachzudenken, wie gut er es noch hatte, da seine Frau lebte!«

In dieser Nacht wollte es durchaus nicht mit dem Einschlafen gehen. Immer mußte ich an die tote Großmama mit den breiten weißen Haubenbändern denken. Von meinem Bettchen konnte ich in den kalten winterlichen Nachthimmel hinaussehen – glitzernd winkten und funkelten die vielen goldenen Sternlein darüber hin. Mit einem Male aber sah ich – ja ich sah die tote Großmama riesengroß und starr und still quer über den Himmel liegen, nur hatte sie jetzt ein blaues Kleid an und die Haubenbänder hingen traurig und steif auf ihre Schultern nieder.

Ich sah und starrte und sah es ganz genau – ach, und draußen war es ja kalt, wie mußte die Arme doch frieren!

Das war mehr als ich ertragen konnte.

Das Mitleid mit der toten Großmama zerriß mir das Herz. Aus der Fülle meines Herzens begann ich zu weinen, zu schluchzen, ja laut und immer lauter zu schreien.

Mit der Kerze in der Hand kam die Mama die Treppe herauf und herein zu mir.

»Was ist denn nur Kindchen? Warum schläfst du nicht?«

»Ach Mama!« schrie ich von Schluchzen geschüttelt und wies nach dem Fenster – »da ist doch die arme tote Großmama so allein am Himmel bei den Sternen, ach, ach und wie schrecklich friert sie doch!«

 

Etwas vom Lesen und Lesenlernen

Mein viertes Jahr muß meinem eigenen späteren Ermessen gemäß von besonderer Bedeutung für mich gewesen sein, denn wie meine Mutter mir erzählte, begann ich fast jeden meiner Berichte mit den Worten: »Als ich vier Jahr alt war –«

Zudem lernte ich in dieser Zeitperiode lesen, – und das will freilich etwas sagen! Die Welt des Geistes wurde mir zwar anfangs in süßer Form eröffnet, denn die Buchstaben, die ich kennenlernen sollte, waren aus Pfefferkuchenteig und Marzipan. Und erst wenn ich die Gelernten aus einer Reihe anderer hervorzusuchen und richtig zu benennen vermochte, durfte ich sie mir auch körperlich einverleiben.

Jedoch hatte diese Methode ihre Schattenseiten, denn als es nun ans Buchstabieren ging, stellte ich mich vergeblich auf den gewohnten süßen Lohn ein, und da dieser aus blieb, verloren die Lesestunden an Interesse für mich und aus den süßen Erfahrungen wurden bittere.

Als ich aber endlich soweit war zu begreifen, daß diese wunderlichen Zeichen unendlich verkleinert werden konnten und doch dabei ihre Bedeutung behielten, begann mich die Angelegenheit zu belustigen, zumal die Buchstaben die verschiedensten Gesichter für mich bekamen. Das i zum Beispiel, das war so eindringlich und sah fast aus wie ein kleiner aufrecht stehender Pfeil, bereit in jeder beliebigen Richtung abgeschnellt zu werden. Das a sah richtig vergnügt, breitbeinig und bieder drein, das r und x und p hatten etwas Heimliches und Tückisches an sich, denen mochte man nicht gern allein begegnen. Das u war schaurig und tief und dunkel wie ein Brunnen, das große W aber war wie ein gemächliches breites Haus, in dem man bei Sturm und Regen unterschlüpfen konnte und so weiter und so weiter. Zu jedem Buchstaben malte ich mir die Empfindungen und Eindrücke hinzu, die sie in mir wachriefen; so wurden sie mir bald vertraut und so kam es, daß ich im Handumdrehen lesen lernte.

Aber wehe! Die Geister, die man rief, ward man nicht mehr los. Ich las jetzt stundenlang in meinem »Herzblättchens Zeitvertreib«, bald wußte ich alle Geschichten auswendig. Ich war von meinen Büchern nicht mehr wegzubringen, ich las gierig und leidenschaftlich, las morgens und nachmittags und abends – mit dem positiven Resultat zwar, daß ich ein äußerst reines und gewähltes Deutsch zu sprechen begann und dem Negativen, daß ich blaß und schmal und kränklich wurde aus Mangel an gesunder Bewegung.

Da in dieser kritischen Periode beschlossen meine Eltern, einen kleinen Jungen, das Söhnlein unseres russischen Nachbarn ins Haus zu nehmen als Korrektiv gegen das unvernünftige Stillsitzen und »lasterhafte Studieren«, wie mein Vater sich ausdrückte.

Uns zum Glück ließ man uns nach der Begrüßung ein Weilchen allein, worauf sich prompt folgendes Gespräch entwickelte.

Er: rothaarig, sommersprossig und keck. Nach eingehender Besichtigung meiner winzigen Person: »Du, wenn ich groß bin, heirat' ich dich.«

Ich – blaß, besinnlich und gründlich:

»Wie groß? Meinst du hoch?«

Er hastig nickend: »Ja!«

Ich: »So hoch wie die Tür?«

Er wütend und kopfschüttelnd: »Nicht doch!«

Ich: »Also noch höher – so hoch wie die Decke?«

Er: »Ach, du bist dumm, das kommt davon, weil du soviel liesest. Ich meine doch, so wie die erwachsenen Leute sind. Verstehst du nun endlich?«

Ja, Gottlob, ich hatte verstanden.

Und nun faßten wir einander bei den Händen und begannen im heftigsten Tempo durch die Zimmerflucht zu rasen, immer wieder rundum.

Die Lesekrankheit war für eine Weile kuriert. Das Leben hatte mich wieder.

 

Der kleine Aufschneider

So gern ich meinen kleinen Kameraden Kolja auch hatte, einmal war ich doch drauf und dran, ihm mein Vertrauen völlig zu entziehen, und das war so zugegangen:

Saß da eines Morgens der sommersprossige, rothaarige, kleine Kerl am Frühstückstisch meinem Vater gegenüber und erzählte, erzählte ihm das Blaue vom Himmel herunter, wie er neulich, da er bei seiner Tante zum Besuch gewesen, seine erwachsene Kusine Sonja spazieren gefahren habe.

»Nun, von dieser Heldentat hätt' ich doch schon gehört!« meinte mein Vater, »das kommt mir denn doch sehr unwahrscheinlich vor.«

»Aber nein, Iwan Issakowitsch« protestierte der Junge mit geröteten Wangen und blitzenden Augen – »Sie hören ja auch nicht alles. Zu Sonja sagte ich also: Du kannst dich mir ruhig anvertrauen, meine Liebe, denn ich hab' schon mehr als einmal famos gekutscht. Nu, gut, Kolenka, sagt sie, probier also dein Glück. So fahren wir denn in den Wald – eine lange Strecke hinein, und immer dunkler und dichter wird der Wald und immer höher werden die Bäume – da – was glauben Sie wohl, was nun geschah? – Da – sehe ich einen Bären quer über die Landstraße daherzotteln! Groß war er und dick und fürchterlich anzuschauen. Sonja war ganz blaß geworden.«

»Kolja, du lügst!« unterbrach mein Vater Koljas Redseligkeit.

»I wo werd ich denn? Was denken Sie nur von mir, Iwan Issakowitsch? Also Sonja sage ich, fürchte dich nur keineswegs, – ich bin ja bei dir, ich werde dich beschützen! Ich halte also mein Pferd an, werfe ihr die Zügel zu, springe aus dem Wagen und setze dem Bären nach.«

»Kolja, jetzt lügst du aber ganz bestimmt.« Der Junge legt seine Hand aufs Herz und sieht meinen Vater mit seinen blauen Augen treuherzig an.

»Wahrhaftig Iwan Issakowitsch! Ganz wahrhaftig, genau so war es. Ich schwöre es Ihnen. Ich setze also dem Bären nach – der aber trottet immer zu durch das dicke Gestrüpp und brummt und brummt. Wie bringe ich es nur fertig, den Dicken da zum Stehen zu bringen? denke ich bei mir. Ich laufe ihm also nach, ich renne, springe, stürze vor und packe ihn – so – sehen Sie richtig am Schwanz!«

Damit faßte Kolja krampfhaft den Tischtuchzipfel, keuchend fuhr er fort:

»Nu – jetzt aber steht er und sieht sich erschrocken um. Fängt an zu zittern, weiß sich vor Schrecken gar nicht zu fassen. So was war ihm ja auch noch niemals passiert!«

Kaltblütig läßt mein Vater den Prahlhans zu Ende reden. Sieht ihn prüfend an. Sagt endlich:

»Und das willst du wahr und wahrhaftig erlebt haben?«

»Wahr und wahrhaftig!« beteuert mein kleiner Freund.

»Nun und jetzt sage ich dir: Du bist ein Aufschneider, ein Hanswurst und ein Lügenmaul dazu – ein Bär hat ja gar keinen Schwanz!«

Und was geschah? Mein Kamerad und Spielgenosse hielt plötzlich alle zehn Finger vor sein Gesicht und brach in ein erbärmliches Heulen aus.

»Uch, uch, uch, verzeihen Sie, verzeihen Sie, Iwan Issakowitsch – das hatt' ich doch ganz vergessen!«

 

Das Ferkelschwänzchen

Mein kleiner russischer Kamerad und ich, wir hielten immer einmütig zusammen, sobald es galt, unsere Rechte gegen Eingriffe der Erwachsenen zu wahren – wir hatten beide ein ungemein empfindliches Ehrgefühl und eben deshalb boten wir Anlaß zu mannigfaltigen Neckereien.

Eines Tages, da wir bei Tisch saßen und mit Appetit einen Ferkelbraten verzehrten, den mein Vater mit Kunst zu zerlegen wußte, spießte er das gekrümmte braune Schwänzchen auf seine Gabel, blickte zwinkernd die Mama an und sprach: »Dieses gehört eigentlich an Dudus Röckchen, oder sollen wir es an Koljas Kittel heften?«

Wir protestierten einstimmig gegen diese Zumutung. »Wir sind aber doch keine Ferkel!«

»Ob Ihr das nicht seid? Wer hat denn heute die Flecken aufs reine Tischtuch gemacht?« fragte die Mama.

Im Gefühl unserer Schuld senkten wir beide die Köpfe.

»Also Ferkel seid Ihr!« schloß der Papa, »das steht fest und darum gebührt Euch auch das Schwänzchen!«

Einigermaßen erleichtert standen wir vom Tische auf – das Ferkelschwänzchenthema war glücklicherweise fallen gelassen worden.

Aber am nächsten Morgen untersuchten wir aufs genaueste unsere Kleider, ob nicht am Ende doch das gefürchtete Schwänzchen daran befestigt sei, und sprangen vergnügt an unser Spiel, als wir nichts dergleichen vorfanden.

Bei Tisch jedoch sah ich Koljas Augen plötzlich rund und starr werden und folgte seinem Blicke. Siehe, dort an der Tür, die ins Kinderzimmer führte, baumelte an einem Schnürchen trostlos und gekrümmt das besagte Schwänzchen. Und darunter mutete man uns zu durchzugehen …? Wir wurden beide dunkelrot und stocherten betrübt und schweigsam in unserer Speise herum.

»Na, was habt Ihr denn, Kinder?« fragte der Papa. »Ihr seid ja ganz auf den Mund gefallen!«

Kolja ermannte sich zuerst und sah mit sprühendem Blick meinem Papa grad ins Gesicht. »Unter'm Ferkelschwanz gehn wir beide nicht durch«, erklärte er tapfer – »das ist eine Schande.«

»Ja, das ist eine Schande!« echote ich trotzig.

»So? Was wollt Ihr denn aber machen, wenn im Kinderzimmer ein Paketchen für Euch bereit liegt?« fragte der Papa mit seinem liebenswürdigen Lächeln.

Wir schwiegen betrübt und verdüstert.

»Sonst und ohne weiteres bekommt Ihr das Paket nämlich nicht« – bestätigte die Mama, »und wer weiß, was für schöne Dinge drin sind?«

Wir seufzten aus tiefstem Herzensgrunde und blickten ratlos auf unsere Teller nieder. Da war freilich nichts zu machen. So blieben wir eben ohne Paket.

Nach aufgehobener Tafel spazierte der Papa ins Kinderzimmer hinein, setzte sich an den Tisch und begann langsam und gemächlich die Schnüre des Pakets zu lösen.

»Na, kommt nur immer herein, Ihr zwei Neunmalklugen!« sagte er gemütlich.

Da faßten wir einander wie aus einem Impuls bei den Händen und rannten und rasten nach der entgegengesetzten Richtung durch das ganze Haus herum. Atemlos und keuchend langten wir im Kinderzimmer an.

Siehe, da standen zwei allerliebste rosa Glücksschweinchen auf dem Tisch und die sollten uns gehören!

»Aber wir sind doch nicht unterm Ferkelschwanz durchgegangen!« brüstete sich Kolja.

»Ja, denn das ist eine ganz große Schande!« versicherte ich freudig, wenn auch in großer Erregung.

 

Die Saftschnitte

Der dicke und gewaltige Kusma Wassiljewitsch Melnikow, der mein Pate war und den ich nicht liebte, der reichste Mann weit im Umkreise, war zu uns zum Besuche gekommen.

Geschäftig bereitete Mama im Eßzimmer den Tee für ihn und verzierte das Tablett mit allerhand lecker anzuschauenden Konfitüren und verzuckerten Früchten. Wir Kinder standen lüstern dabei und guckten uns die Augen aus dem Kopf nach all den unerreichbaren Herrlichkeiten.

»Aber Kinder, so geht mir doch endlich aus dem Wege!« sagte die Mama ärgerlich, »Dudu bleib doch bei deinem Paten und erzähl ihm was Hübsches.«

Gehorsam trippelte ich davon. Da mein Herz mich nicht zu Kusma Wassiljewitsch hinzog, so verlief unser tête-à-tête den Umständen gemäß. Denn er kam mir auch nicht um ein Haarbreit entgegen.

Mein Kamerad Kolja war indessen nicht so leicht abzuschütteln. Die Mama nahm eine Weißbrotschnitte, bestrich sie dick mit köstlichem Fruchtsaft, drückte sie ihm in die Hand und schob ihn zur Tür hinaus. »Nun iß aber hier nebenan und sieh zu, daß dich Dudu nicht erwischt, denn sonst will sie gleich auch eine, und hat doch einen kranken Magen.«

Und was tat mein kleiner Kamerad? Stracks spazierte er zu uns herein, da ich gedrückt und schweigsam bei meinem Paten hockte, und, die Gegenwart des Gewaltigen völlig übersehend, platzte er triumphierend los: »Dudu, höre nur, ich hab' eine feine Saftschnitte bekommen, geh' nur hin zu deiner Mama, sie gibt dir schon auch eine, aber iß nur so, daß dich der Melnikow nicht erwischt, denn dann will er auch gleich eine und sie will sie ihm nicht geben!«

 

Die Karte von Europa

Nicht lange dauerte die relative Freiheit meiner ersten Kinderjahre. Denn nachdem der schwere Anfang des Lesenlernens einmal gemacht worden war, sollte ich die ersten Sprossen der Schulwissenschaften auf eine neue Art erklettern lernen, eine Art freilich, die mir im Anfang zwar vielversprechend erschien, in der Folge aber manch bitteres Tränlein kostete.

Eines Tages nämlich hing eine große Schulkarte von Europa in unserem Eßzimmer an der Wand, und meine gute Mutter eröffnete mir, daß wir jetzt miteinander Geographie treiben würden.

Geographie? Wie abschreckend fremd und gelehrt klang schon das Wort! »Was ist denn Geographie?« fragte ich einigermaßen gedämpft in Anschauung der unregelmäßigen, fast die ganze Karte bedeckenden gelben Flecken versunken, die nur am Rande von einem grellen Blau umgeben waren.

»Geographie ist Länderkunde«, hob meine Mutter an, »denn wir alle leben ja in Ländern. Das Gelbe auf der Karte, das sind also die Länder, das Blaue sind die Meere.«

»Was sind Meere?« fragte ich wieder.

»Meere sind große Gewässer, die um die Länder herum liegen, so wie unser See rings um die Insel liegt. Die schwarzen Bänder und Streifen, die durch das Land ziehen aber sind Flüsse.«

Ich hatte noch bisher nie einen Fluß gesehen, wenn auch davon gelesen. So fragte ich folgerecht, was denn Flüsse seien und brachte meine Mutter damit in einige Verlegenheit.

»Flüsse sind auch Gewässer, die dünn und klein auf den Bergen entspringen, dann aber groß und breit werden und in die Meere laufen.«

»Warum sind sie denn aber schwarz und nicht blau?«

»Sie sind nun einmal schwarz auf der Karte, damit mußt du dich zufrieden geben.«

Das leuchtete mir durchaus nicht ein. Ich betrachtete den langen, gekrümmten und mühseligen Lauf der vielen Flüsse und dachte mir, daß sie froh sein müßten, endlich ins Meer zu kommen, das so viel freundlicher, so hell und blau aussah.

»Ob die Meere auch froh sind, wenn die Flüsse zu ihnen kommen?«

Meine Mutter sah mich verwundert an. Es war doch nicht so einfach, einem vierjährigen Kinde die Grundbegriffe der Geographie beizubringen!

»Das weiß ich nicht,« gestand sie, »aber es könnte schon sein.«

Mir ist es heute unerfindlich, weshalb meine Mutter nicht ihren Unterricht mit der sehr unterhaltenden Methode begann, wie sie heute den Schulkindern an einem Globus vordemonstriert wird, wo die Verteilung von Meeren und Ländern den Kleinen zunächst anschaulich vorgeführt zu werden pflegt. Kurzum, ohne jede Einleitung noch Vorbereitung war Mama sofort nach Europa hineingesprungen, hatte sich in einem winzigen, mit Bleistift bezeichneten Pünktchen festgesetzt und erklärte nun, das sei Butosch, unser Dorf.

Und das sollte ich glauben? »Wo ist denn unser Haus?« fragte ich kampfbereit – »und wo ist Papa?«

Nun folgte wieder eine lange Erklärung, daß unser Dorf so klein sei, daß man es nicht der Mühe wert gehalten habe, es auf der Karte zu verzeichnen. Da stünden nur die großen Orte und Städte.

Dieses Zugeständnis aber genügte, um mir die ganze Geographie gänzlich unsympathisch und langweilig zu machen. Ja, ich war geradezu gekränkt und empört. Wenn man von unserm Dorf, das ich so sehr liebte, nichts wissen wollte, gut, dann wollte ich auch von der Geographie nichts wissen, und schon begann meine Unterlippe bedenklich zu zittern.

Als ich dann in der Folge erfuhr, daß die Hauptstädte Rußlands Moskau und Petersburg hießen, daß es Länder gebe mit den Namen Deutschland, England, Frankreich und Italien mit den dazugehörenden Hauptstädten, da war ich die ganze Wissenschaft schon so gründlich satt, daß ich in kindischer Willkür die Stadt Berlin nach Rußland versetzte und ein wahres geographisches Chaos anrichtete.

Auch später wurde mir der Geographieunterricht nicht lieber, und ich erinnere mich der bitteren tränenreichen Episoden, da ich im Winkel stehend Muße hatte, darüber nachzudenken, daß jedem Lande seine besondere Hauptstadt gebühre und welche das wohl sei. Naturgemäß interessierte mich das nicht im geringsten, und eine Fliege, die über das Land hinwegspazierte und dann gleich darauf übers Schwarze Meer, das doch eben so blau war wie die anderen Meere, war mir ein Gegenstand weit größerer Aufmerksamkeit.

Um meine Strafen im Winkel abzukürzen, verfiel ich einmal sogar auf das Mittel, Bauchweh vorzuschützen. Aber wehe – der Erfolg war, daß ich im Winkel auf meinem Thrönlein sitzen mußte, statt zu stehen und dazu noch für eine bewußte Unwahrheit Schläge bekam.

Kurzum, der Geographieunterricht war von vornherein ein mißlungenes Experiment und gehört zu den dunkelsten Punkten meiner Kindheitserinnerungen.

 

Die Schwester

Es war nur natürlich, daß in unserem stillen Landhause Erlebnisse und Eindrücke, die das Gemüt des Kindes durchpulsten, in Ruhe wirksam werden konnten, Vor- und Nachklänge hatten und nur langsam neuen Eindrücken weichen wollten. So wie ein Stein auf den Grund eines tiefen unbewegten Teiches gleitet und nacheinander schimmernde Ringe zieht.

Eines Tages erzählte mir meine Mutter, daß ich eine Schwester habe, eine viel ältere verheiratete Schwester. Sie heiße Mary, wohne sehr weit und werde in diesen Tagen zu uns kommen.

Ich war mehr als erstaunt. »Warum hast du nie etwas von der Schwester gesagt?« fragte ich.

Meiner Mutter Stirn umwölkte sich. »Sie war ja noch nie hier seit du auf der Welt bist«, sagte sie ausweichend. »Auch ist sie deine Stiefschwester und nicht mein Kind.«

Sie erklärte mir, was eine Stiefschwester sei und ich begriff, daß sie sie nicht liebte.

»Freust du dich nicht?« fragte ich trotzdem mit der unerbittlichen Rücksichtslosigkeit eines Kindes.

»Das hängt davon ab, wie wir einander verstehen«, sagte meine Mutter wohl mehr zu sich selbst wie zu mir. »Aber von dir erwarte ich, daß du lieb und artig bist, denn sie hat auch schon ein kleines Töchterchen, und ich möchte nicht, daß sie von dir sagte, du seist ein unerzogenes Kind.«

Ich versprach natürlich brav zu sein, und bat meine Mutter, mir noch mehr von meiner unbekannten Schwester zu erzählen.

Da erfuhr ich denn, daß sie an einen Russen, einen Landgutsbesitzer verheiratet sei, daß ihr Mann Nikolai Iwanowitsch Glinka heiße und einen großen Park habe, in dem sie viel zeichne. Sie zeichne überhaupt sehr schön, sei zudem sehr geschickt und spiele gut Klavier.

Wie aber diese mit so vielen Vorzügen ausgestattete Schwester eigentlich beschaffen sei, erfuhr ich dennoch nicht. Das mußte ich abwarten.

Als sie endlich anlangte, war ich bereits zu Bett. Erst am Frühstückstisch des nächsten Morgens durfte ich sie begrüßen.

Wie erstaunte ich, da ich eine zarte, zierliche, kränklich aussehende Frau erblickte, die leicht wie eine Wolke durch das Zimmer glitt, sich zu mir herabbeugte und mich kühl auf die Stirn küßte. Sie hatte mir auch eine Kleinigkeit mitgebracht. Meine Mutter hatte rote Flecken auf den Wangen, immer ein Zeichen innerer Erregtheit. Meine Schwester war dagegen auffallend still und blaß.

Gleich nach meinem Eintritt sprang die Unterhaltung auf ein anderes Gebiet über. Es wurde von Kindern im allgemeinen und im besonderen gesprochen. Die grauen Augen meiner Schwester ruhten forschend und kritisch auf mir und ich fühlte, sie liebte mich auch nicht. Verwirrt und bedrückt nahm ich Platz und bemühte mich, so manierlich als nur möglich zu essen.

Als ich viel älter war, hörte ich, daß diese Schwester außerordentlich tüchtig in der Landwirtschaft sei, ihrem Manne, der ein leiblicher Vetter des berühmten Komponisten Glinka war, eine große Stütze und Hilfe, und zwar auf jedem Gebiet. Sie reite wie ein Kosak, hieß es, oft auf ungesatteltem Pferde und in Männerkleidung. Plötzlich und stets unerwartet tauche sie unter ihren Arbeitern auf und werde von diesen heillos gefürchtet.

Wenn ich in der Erinnerung an das blasse magere, fast japanisch anmutende Gesicht meiner Schwester Mary zurückdenke, wird mir wehmütig ums Herz und ich begreife, daß manches zwischen ihr und meiner Mutter verschüttet, ungelöst und unentwirrt geblieben ist. Sie starb etwa zehn Jahre später, als ich im fünfzehnten Jahre stand, an der Auszehrung und ich habe sie nie wieder gesehen.

Damals aber schon empfand ich, daß etwas nicht stimmte, und ich sehe sie noch in ihrem mausgrauen Kleide und fühle noch ihre feine und kühle Persönlichkeit, die so ganz anders sein mußte, als ich es gewohnt war.

Als mein Vater aus der Fabrik heimkehrte, wurde Mary, wie ich sie zaghaft innerlich ansprach, ein wenig lebhafter und heiterer. Auf seine Bitte setzte sie sich auch ans Klavier und spielte uns vor.

Obwohl ich von wahrer Musik nicht das geringste verstand, hatte ich den Eindruck, daß sie auch im Spiel mit dem Besten in sich zurückhielt.

Sie war für mich wie ein graues feines Fragezeichen, wie ein Klang, der mir fremd blieb, wie eine ungelöste Frage, ein leiser wehmütiger Hauch …

Nur wenn sie über das Zimmer hinschritt, war es nicht wie ein Gehen, sondern ein Gleiten, ein Schweben, so luftverwandt war sie – wie eine zarte graue Wolke, die langsam zerstieben, sich auflösen, entschwinden will.

 

Griechische Götter und der Pastor

Zu meiner Unterhaltung, die gern mit einem nützlichen Zweck verbunden wurde, hatte mir meine Mutter von den griechischen Göttern erzählt, die vormals das Leben so prächtig und heiter gestaltet hatten. Dazu hatte mein Vater eine Menge Figuren aus Pappe geschnitten, bemalt, und mit den richtigen Symbolen und Emblemen versehen, so daß sie nun auf Klötzchen standen und sich von mir herumschieben ließen, je nach Laune und Willkür.

Ich kannte sie alle, den blitzesendenden mächtigen, aber doch gütigen Vater Zeus, Juno, seine eifersüchtige und schöne Gattin, den herrlichen Lichtgott Apoll, die pfeil- und köchertragende, kühn durch die Wälder schreitende Diana, Merkur, den flinken Götterboten, den Kriegsgott Mars und die liebliche Venus, Amor und Psyche, das wunderholde Paar und all' die vielen anderen. Ich liebte sie alle zärtlich und spielte stundenlang mit ihnen, mich unwillkürlich immer mehr in ihr Wesen vertiefend. In einem Alter, da andere Kinder kaum erst ABC-Schützen werden, hantierte ich frei unter meinen Götterbildern herum und wußte schon recht gut, wie geartet ein jedes sei und was zu dem einen passe und was nicht.

Mit der Zeit wurde ich auch mit den Göttern der Unterwelt bekannt. Ein Stanniolpapier, das ich formte wie es mir beliebte und über den Tisch legte, stellte den unterirdischen Fluß Acheron vor, auf dem Charon in seinem Kahn die Toten geleitete. Nicht einmal der dreiköpfige Hund Zerberus fehlte, und die finstere Majestät der Unterweltsgötter war mir bald ebenso vertraut wie die heitere Pracht und Anmut des Olymp.

Nun aber geschah es eines Tages, daß ich meine gute Mutter in große Verlegenheit brachte. Alle drei bis vier Jahre einmal, oder noch seltener, hatte der deutsche Pastor in unserer Umgegend zu tun und versäumte es nicht, uns bei dieser Gelegenheit seinen Besuch abzustatten. Ich spielte vergnügt im Nebenzimmer und war in das Schicksal der holden Proserpina vertieft, die von ihrem finsteren Gatten Pluto, dem Herrn der Unterwelt, die Hälfte des Jahres gefangen gehalten ward, um im Lenz wieder zu ihrer Mutter Ceres zurückzukehren, worauf die Erde sich von neuem begrünte und in den lieblichen Blütenflor hüllte. Nun aber war mir aufgefallen, daß unser russischer Winter viel länger dauere als bloß ein halbes Jahr und mit dieser Unstimmigkeit vermochte ich nicht fertig zu werden.

Glühend vor Wißbegierde und Eifer rannte ich in den Salon hinein, wo meine Mutter sich mit dem geistlichen Herrn unterhielt, und diesen in meiner leidenschaftlichen Geschäftigkeit völlig übersehend, rief ich von weitem:

»Aber Mama, die arme Proserpina muß doch bei uns viel länger als ein halbes Jahr bei dem bösen Pluto bleiben – – wie macht sie denn das in Rußland?«

Der Geistliche beugte sich vor als habe er nicht recht gehört.

Ich ward natürlich zur Ordnung gewiesen und mußte ihm die Hand geben. Doch noch immer betrachtete er mich entsetzt und zweifelnd.

»Aber meine gnädige Frau«, wandte er sich endlich mit sanftem Vorwurf an meine Mutter – »was höre ich? In der griechischen Unterwelt scheint ja Ihre kleine Tochter eigentümlich bewandert zu sein – darf ich fragen, ob sie auch ebensogut vertraut mit unserem Herrn und Heilande ist? Sie kennt Götter – kennt sie denn aber auch unsern Gott?«

Eine kleine Pause. Dann erwiderte meine Mutter lächelnd:

»Sie hätten recht, Herr Pastor, wenn das Kind wüßte, was der Begriff Götter bedeutet. Sie spielt mit Göttern, so wie mit Puppen, und ich glaube kein Unrecht zu begehen, wenn ich sie in diese bunte Welt des Geschehens einführe, ehe sie in der Schule diese Dinge lernen muß, ohne sie lebendig zu erleben.«

Da ergriff der geistliche Herr Mamas schöne weiße Hand und drückte einen respektvollen Kuß darauf. »Ich gestehe, daß ich heute etwas Bedeutungsvolles von Ihnen gelernt habe, gnädige Frau.«

 

Zwei Weihnachtsfeste

Gibt es überhaupt ein entzückenderes Erlebnis für ein Kind als Weihnachten?

Die erste Weihnachtsfeier, deren ich mich bewußt erinnere, muß um mein viertes Jahr herum gewesen sein. Verklärt trippelte ich rund um den Lichterbaum herum, sog all den Glanz in mich und bestaunte immer wieder von neuem die bunten Sächelchen, die Apfelsinen und Äpfel, die goldenen Nüsse, die vielen und mannigfaltigen Herrlichkeiten. War es denn nicht schon überwältigend, daß ein Tannenbaum, auf dem man bisher doch nur Schnee gesehen, nun so über alle Maßen schön und herrlich dastand, strahlend und flimmernd, geschmückt wie ein König und köstlich anzuschauen?

Weil das Christkind Geburtstag hatte! Ein andächtig zärtliches Gefühl für das Christkind, an dessen Geburtstag sich alle Kinder mitfreuen sollten, stahl sich mir ins Herz und ich war noch lange nicht mit meinem frohen Staunen und Bewundern fertig, als meine Mutter mich an einen kleinen Tisch führte, der mit winzigem Spielzeug und einigen Bilderbüchern bedeckt war.

Und das sollte alles mir gehören? Vollkommen verdutzt und überwältigt stand ich lange Zeit davor, dann packte ich die Hälfte der kleinen Täßchen, Tellerchen und Kännchen in mein hochgehaltenes Röckchen und schüttelte alle diese zierlichen Dinge in Mamas Schoß.

Aus der Überfülle meines Herzens heraus fühlte ich ich dürfe sie nicht behalten.

»Das ist zuviel für Dudu!« ächzte ich, »die kannst du alle behalten!«

*

Ein zweites Weihnachtsfest, das einen ungeheuren Eindruck auf mich machte, und da ich das bestimmte Gefühl hatte, jetzt müsse etwas Leidvolles kommen, denn sonst könne ich es vor Glück nicht mehr aushalten, war mehrere Jahre später, da mein Herzenswunsch, einen Vogel zu besitzen, in überschwenglicher Weise erfüllt ward. Unterm Lichterbaum stand ein schöner geräumiger Käfig und darin hüpften fünf entzückende rotbrüstige Dompfäffchen umher! Das war fast mehr als ich ertragen konnte! Die übrigen Dinge, die mir beschert wurden, sah ich kaum, aber die herzigen roten Vöglein mit den glänzenden schwarzen Käppchen und den grauen Flüglein, die so munter und geschäftig umherhüpften und sich schon an ihr blankes Gefängnis gewöhnt zu haben schienen, beglückten mich in einem Maße, daß ich meinte, das Herz müsse mir springen.

In meiner vertieften Glückseligkeit ward ich nur allzu bald von einer jungen Dame, die zu Gast bei uns weilte, gestört. Ich mochte das dicke, laute Fräulein gar nicht recht, sie störte mich gewöhnlich nur, wenn ich am liebsten bei meinem Spiel allein war. Aber durfte ich ihr denn heute widerstehen? An solch einem Weihnachtsabend? Das war unmöglich.

So ergriff sie mich denn bei beiden Händen und wirbelte mich im Kreise um sich her, daß mir Hören und Sehen verging.

Mit einem Male aber ließ sie los – ich stürzte mit einem dumpfen Anprall rückwärts und auf den Hinterkopf.

Da war nun das Leiden, das ich kommen gefühlt hatte. Ich schloß die Augen vor wahnsinnigem Schmerz und öffnete den Mund zum Schreien. Da preßte sich eine feste Hand auf meine Lippen, eine beschwörende Stimme flehte: »Duduchen, geliebtes Duduchen, stille, stille! Um Gottes Barmherzigkeit nimm dich zusammen! Sag' nichts davon, tu's mir zuliebe. Sieh, das würden deine Eltern mir nie verzeihen!«

Sie lag auf den Knien neben mir am Boden, rang die Hände, zitterte und flog.

Leise und bitterlich schluchzte ich in mich hinein und hielt an mich. Wahrhaftig, ich gewann es über mich, meinen Schmerz zu ertragen, ohne die Fremde an meine Eltern, die im Speisezimmer den Weihnachtspunsch bereiteten, zu verraten. Um des dicken Fräuleins aber gewiß nicht. Nur weil das Glück über meine Vögelchen so unerhört, so erdrückend, so über alle Maßen beseligend für mich gewesen, daß ich meinte, ich müsse dafür auch ein Leid auf mich nehmen können.

Nun war das geahnte Leid gekommen! Mein Glück hatte ich mir schwer genug erkaufen müssen, nun erst war es mein!

Aber ein Unverständliches bleibt mir noch heute, daß das fremde Fräulein es über ihr Gewissen brachte, sich auf die Großmut eines Kindes zu verlassen und nicht selbst zu gestehen, was sie verschuldet. War es nicht ein Wunder gewesen, daß ich ohne Gehirnentzündung davon kam?

 

Theologische Bedenken

In jenem goldenen Zeitalter früher Kindheit, da alle Sinne sich langsam zu öffnen beginnen, da das Leben uns täglich und stündlich zulächelt und aus seinem Füllhorn neue Gaben spendet, da die Welt vor uns liegt wie ein ausgebreitetes Tuch, voller märchenhafter Dinge und Geheimnisse, in jener schönen Zeit, da Blumen reden können und Tiere unseresgleichen sind, – hörte ich zuerst von Gott und lernte meine Händchen falten und zu ihm zu reden wie zu einem unsichtbaren gütigen Großpapa.

Ich hörte auch etwas von seinem Sohn, der am Kreuze gestorben sei aus gar großer Liebe zu den Menschen, aber da das Wort »Sterben« über meine Vorstellungskraft hinausging und etwas so unerhört Furchtbares wie ein Martyrium überhaupt unfaßbar für mich bleiben mußte und in den Untergründen des Kindesbewußtseins noch ruhte und schlief, so hielt ich mich zunächst an den Gottvater, der alle Dinge, alle Menschen und alle kleinen Kinder gemacht hatte und der schon aus diesem Grunde gut sein mußte.

Es tat mir zuzeiten leid, daß ich ihn nicht sehen konnte, auch hätte ich gern mehr von ihm gehört, aber offenbar wußte mir niemand etwas Rechtes über ihn zu sagen, denn auch die Erwachsenen bekamen ihn ja nie zu sehen. Und das war gewiß schade! Immerhin war es tröstlich, zu wissen, daß der liebe Gott alles sah und hörte und daß er gleichzeitig überall war und kein dunkles Eckchen vor ihm verborgen bleiben konnte. Dieses zu erfassen machte mir durchaus keine Schwierigkeiten.

Eines Tages aber stieß ich doch auf eine, die mich solchermaßen verblüffte, daß ich sinnend mit meinem Bauklötzchen in der Hand auf dem Boden hocken blieb und meinen Bau jählings unterbrach. Stracks warf ich meinen »Kuhstall« übereinander, rannte mit glühenden Wangen zu Mama hinein und rief schon in der Türe: »Mama, höre doch, Mama – ist der liebe Gott verheiratet?«

Meine Mutter saß über ihren Stickrahmen gebeugt und ließ die Hand mit der Nadel sinken. »Wie kommst du denn nur auf so etwas, Kind?«

»Ja, wieso hat er denn einen Sohn?«

Und aus der theologischen Schatzkammer ihrer Schulweisheit schöpfend, erklärte Mama, daß der liebe Gott sich in dem glücklichen Ausnahmezustande befinde, daß er nicht verheiratet zu sein brauche, um einen Sohn zu haben, und daß wir Menschen alle gewissermaßen Söhne und Kinder Gottes seien, weil er sie ja alle geschaffen habe.

Ich stand und hörte ernsthaft zu. Heute aber, ungefähr sechzig Jahre später, will es mich bedünken, diese Kinderfrage sei seltsam tiefgründig gewesen.

»Also geh' nur wieder spielen, du, und sei ganz unbesorgt: der liebe Gott ist nicht verheiratet und braucht keine Frau.«

Und völlig beruhigt machte ich Kehrt, trabte fröhlich wieder davon und an mein unterbrochenes Spiel.

 

Der Teufel

In meine halbbewußten Kinderspiele, da noch Götter, Helden und Tiere auf Klötzchen geklebt, hin und her geschoben werden konnten und in einer harmlosen und glücklichen Welt miteinander verkehrten, als trennten sie weder Rassen- noch Klassengegensätze – schlich sich allmählich ein Begriff hinein, mit dem ich nicht so recht fertig zu werden vermochte. Und das war der Teufel.

Immer und überall, wo ein Mensch Pech hatte, schimpfte er auf den Teufel, immer wenn etwas vermißt wurde, das doch vor ein paar Augenblicken unbestritten dagewesen, hieß es: Das hat der Teufel geholt; und wenn meine Mutter auch im großen und ganzen sorgfältig darauf bedacht war, mich nicht allzuoft den Dienstboten zu überlassen, so geschah das doch oft genug, so daß ich mir ihre hergebrachten Redensarten, insbesondere wenn sie sich miteinander zankten, wohl gemerkt hatte. Da hieß es nur allzuoft: Dich soll doch der Teufel holen! oder: Dafür wirst du noch in der Hölle braten müssen.

Wer war denn nun eigentlich der Teufel? Und warum hatte ihn der Papa nicht gleich den anderen mythologischen Figuren für mich sichtbar und greifbar gemacht und auf ein Holzklötzchen gestellt? Wäre das geschehen, so hätte ich mich gewiß nicht so intensiv mit ihm beschäftigt, da ein seltsam düsterer und schreckensvoller Nimbus ihn umschwebte. Ich hätte ihn wie die anderen Figuren auch in eine Schachtel packen können und ihn für eine Weile zur Ruhe gewiesen, was gewiß von Vorteil für mich gewesen wäre, statt mich insgeheim und gruselnd mit ihm zu beschäftigen. Es mußte doch schrecklich sein, an allem Mißgeschick, das die Menschen betraf, immer wieder schuld zu sein, und so gewann ich aus einer Art von stiller Vertrautheit mit dem Gegenstande meiner Grübeleien, mehr noch aus einem unbewußten Gerechtigkeitsgefühl den unsichtbaren und ungreifbaren Teufel im Grunde recht lieb. War ich eigensinnig gewesen, hatte ich gar einmal die Unwahrheit gesagt, so konnte selbst meine Mutter mit ernstem und traurigem Gesicht sagen: »Der Teufel ist der Vater der Lüge,« oder »er hat dich heute in Versuchung geführt, mein armes Kind!«

Kurz von allen solchen und ähnlichen Andeutungen und Hinweisen bedrängt, beschloß ich eines Tages, dem Teufel, der von allen geschmäht wurde, ein rechtes Fest zu bereiten.

Wie man das wohl anstellte? Nun, das war doch einfach genug. Man mußte nur ungefähr bei allen Dingen das Gegenteil dessen tun, wofür man sonst gelobt oder geliebkost wurde. Ich muß gestehen, daß mir nicht ganz geheuer bei diesem Vorsatz zumute war, und daß ich ihn wohl auch keineswegs unbedingt und ohne weiteres durchzuführen vermochte.

Immerhin hatte ich doch wissentlich und merkwürdigerweise, ohne daß es bemerkt wurde, am Vormittage zweimal gelogen, hatte mich bei Tisch benommen wie ein rechtes Ferkel, war vorlaut und ungezogen gegen meine gute Wärterin gewesen und hatte Mama sogar hinter ihrem Rücken ein Gesicht geschnitten.

Ob das alles wohl genügte? Am Nachmittage setzte ich meine Vergehungen reuelos und kaltblütig fort und erst am Abende gelang es mir, meine gute Mutter durch eine bisher nie dagewesene Weigerung mein Nachtgebet zu sprechen, in Kummer und Unmut zu versetzen.

Als ich nun aber auch bei meiner Weigerung verharrte und meine Mutter mit allen Tönen einer beredsamen Pädagogik in mich drang, mich zu erklären, als ich vor Zwiespalt und Gewissensnot gepeinigt in ihr tränenvolles Gesicht sah und ich nicht mehr aus und ein wußte, da schmolz die selbsterrichtete harte Rinde meines Herzens dahin – ich brach in Tränen aus und rief schluchzend: »Ich wollte doch dem alten armen Teufel auch einmal eine Freude machen!«

 

Sternenkunde

Es mochte etwa ein Jahr her sein oder zwei nach dem Winter, da die Bärenführer mit ihren Tieren zuerst bei uns aufgetaucht waren. Wie oft hatte ich dieser armen Bären inzwischen gedacht, die ich so inbrünstig in das schöne Paradies hineingebetet hatte! Da nun geschah es daß es Mama an einem sternenbesäten prächtigen Herbsttage einfiel, mich mit den geläufigsten Sternbildern bekannt zu machen.

Schon vorher hatte sie mir von dem Großen und Kleinen Bären erzählt, die ich am Himmel sehen sollte, so daß ich aufs höchste gespannt war, wie sie wohl aussähen.

Als wir jedoch in die blinkende Herbstnacht hinaustraten, da gab es nur ein Meer von Sternen, und wo ich auch nur hinschaute – von Bären war durchaus nichts zu erblicken.

Enttäuscht konstatierte ich diese betrübende Tatsache. Darauf erhielt ich zur Antwort, daß ich mir die Bären nicht so vorstellen dürfte wie die lebendigen Tiere. Es seien eben Sternenbären und die sähen natürlich ganz anders aus.

Als sich nun meine Mutter in dem ungeheuren Himmelsraum orientiert hatte, hob sie den Arm, wies empor und sagte zufrieden: »Da ist er ja schon, der Große Bär – siehst du die vier glänzenden Sterne? Und die drei dort weiter? Dieses Sternbild also heißt ›der Große Bär‹.«

Ich starrte empor und sah nichts als Millionen und aber Millionen funkelnder Sterne, groß und fromm und leuchtend die einen, winzig und lustig blinzelnd die anderen, und dahinter noch Heerscharen über Heerscharen goldener Pünktchen, die man mehr ahnen als sehen konnte.

»Da ist doch gar kein Sternenbär, Mama!« sagte ich endlich mit großer Entschiedenheit.

»Wohl – da ist er; seh ich ihn doch ganz genau. Dort in dieser Richtung, wohin ich meinen Arm halte. Schau noch einmal hin. Du mußt eben den Willen haben, ihn zu sehen. Sonst siehst du ihn gewiß nicht. Nun, siehst du ihn jetzt?«

Nein, ich sah ihn nicht.

»Aber Kind«, ereiferte sich die Mama – »die vier großen Sterne dort im Viereck – siehst du die wenigstens?«

Ja, mir schien jetzt wirklich, als sähe ich sie.

»Ja!« sagte ich zaghaft.

»Nun endlich!« rief die Mama erleichtert – »stelle dir diese als die Beine vor, die drei Sterne schräg ab aber als den Schwanz. Siehst du nun den Großen Bären?«

»Es ist aber doch kein Bär!« sagte ich kläglich.

»Himmlischer Vater, ist das schwierig, dir etwas begreiflich zu machen! Er heißt aber so!« seufzte meine gute Mutter. »Nun pass' auf, wenn du jetzt ordentlich hinschaust, dann weißt du, wo der Große Bär am Himmel steht, genau über unserem Hausdach, zwischen den beiden Schornsteinen also. Hast du ihn dir gemerkt?«

Ich schaute wieder hin. Mit einem Male aber durchzuckte mich ein wunderbarer Gedanke: Wie, wenn der eine der Bären, dessen qualvolles Leben mich so erschüttert hatte, daß ich hatte beten müssen, der liebe Gott möge ihn sterben lassen und zu sich in sein Paradies nehmen – wenn dieser Bär nun wirklich gestorben wäre und dort – für mich sichtbar nun am Himmel stand? Meine kleine Seele jauchzte vor Entzücken. Ja, das war freilich etwas anderes, etwas unbegreiflich Schönes und Herrliches!

In andächtiger Verzückung stand ich da und schaute und starrte und – sah! Und das einfache numerische Bild des Sternbären verklärte sich in meiner Phantasie zu einem lichten Bildnis meines gestorbenen Bären.

»Ja«, sagte ich begeistert, »jetzt seh' ich ihn ganz genau: seinen Kopf, seine Pfoten – ich seh' auch seine Haare!«

Meine Mutter sah mich in tiefster Enttäuschung, ja völlig betreten an.

»Seine – Haare …? Aber Kind – –!« schnappte sie atemlos.

»Komm nur wieder herein ins Haus. An dir ist ja Hopfen und Malz verloren!«

Die Lust, mir Sternbilder beizubringen, war ihr gründlich abhanden gekommen.

 

Philemon und Baucis

In unserem Garten standen eng miteinander verschlungen eine Eiche und eine Linde. Ich erinnere mich noch deutlich des Tages, da meine Mutter zu mir sagte: »Schau einmal her, das sind Philemon und Baucis. Die habe ich mir um deinetwillen aus dem Walde bringen und hier bei uns setzen lassen. Damit du einen Begriff davon bekommst, was Zusammenhalten und Treue bedeutet«, fügte sie nach einer kleinen Pause hinzu.

Nach diesen für mein Kinderverständnis dunklen Worten zog meine Mutter mich auf die Gartenbank zu sich nieder und erzählte mir langsam und eindringlich den alten griechischen Mythos von dem Ehepaar Philemon und Baucis, das in unwandelbarer Liebe und Treue ein Lebensalter verbunden gewesen, stets umeinander werbend, Freude und Leid teilend, bis es ohne einander nicht mehr sein konnte, also daß der Göttervater Zeus ob solch seltenen Einklangs gerührt und betroffen, die beiden Glücklichen in zwei ineinander verschlungene Bäume verwandelt habe.

Und ich fühlte, daß es meiner lieben Mutter darum zu tun war, mir den Ernst und die Schönheit eines solchen Verhältnisses tief in die Seele zu prägen. Heute weiß ich längst, daß sie in ihrer eigenen Ehe das Glück nicht gefunden hatte, das sie sich ersehnt, und um so rührender erscheint mir dieser aus der Sehnsucht ihres unbefriedigten Herzens geborene Versuch, in mir schon früh ein Ideal zu wecken, das mir Richtschnur und Maßstab hätte sein sollen. Sie schloß mit den Worten: »Nun wollen wir aber auch alle miteinander Philemon und Baucis helfen, daß sie erreichen, was den Zeus so gefreut hat. Immer wenn du in den Garten kommst, so sieh zu, wie du die jungen Zweiglein einander nähern kannst, damit sie sich auch richtig ineinander zu schlingen vermögen. Denn schau, wo ein großes Glück ist, da helfen hunderterlei Dinge mit, von denen wir Menschen uns oft keine Rechenschaft geben. Und wer ein Glück stört«, setzte sie mit leiser Stimme hinzu, »der ist nicht wert, daß ihn der Erdboden trägt!«

Nun, nach vielen Jahren, längst nachdem meine Mutter von mir gegangen, sehe ich in meiner Erinnerung durch Frühling, Sommer, Herbst und Winter Philemon und Baucis, die Eiche und die Linde mit verschlungenem Geäst nebeneinander stehen, ein Symbol ehelicher Treue und Liebe, und ich weiß, daß auch ich mein kleines Teil dazu beigetragen habe, daß aus den Zweien eine harmonische Einheit geworden.

 

Vermeille

Ich lag eines Morgens noch im Halbschlaf im Zimmer meiner Mutter, als diese schon aufgestanden war und unsere deutsche Köchin Wiegandt nach einem respektvollen Klopfen eintrat.

Wiegandt, die mit unbegreiflicher Zähigkeit darauf bestand, von unseren übrigen russischen Dienstboten mit dem Titel »Madame« angeredet zu werden, war eine Persönlichkeit, mit der ich mich durchaus nicht einverstanden erklärte, denn sie roch ständig nach Fett und Schmalz, selbst im Sonntagsaufputz, ja ihr ganzes Wesen schien von Fett und Schmalz durchtränkt und ihren Liebkosungen suchte ich auf alle mögliche Weise zu entgehen. Deshalb nahm ich weiter keine Notiz von ihr und stellte mich schlafend.

Nachdem der Küchenzettel für den heutigen Tag durchgesprochen worden war aber fiel ein Wort, das mich prompt aufhorchen ließ.

Mit ihrer fettigen Stimme sagte nämlich Wiegandt: »Gnäd'ge Frau hatten mir doch versprochen, mir die schöne Puppe zu zeigen, die gnäd'ge Frau fortschicken wollten.«

Wie? Es existierte also hier im Hause eine Puppe, die nicht mir zugedacht war? Ich fühlte wie etwas in mir sich zusammenzog.

Meine Mutter mußte Wiegandt ein Zeichen gegeben haben, daß sie leiser sprechen sollte.

Ich vernahm das Aufziehen einer Kommodenschieblade, gleichzeitig aber auch einen entsetzten Schrei Wiegandts.

»Mein Gott, gnäd'ge Frau – ich hab' mir doch zu Tode erschrocken!« keuchte die fette Stimme in gedämpften Lauten – – ein totes Kind, – hab ich mir gedacht. Beim wahrhaftigen Gott, akkrat wie'n totes Kind!« ächzte sie erstickt.

»Aber Wiegandt, so beruhigen Sie sich doch. Wie kommen Sie nur auf so eine wahnsinnige Idee?«

»Nu eben, gnäd'ge Frau, das muß ich mir selber fragen. Wie kommt man nu auf so etwas? Der Schreck, der ist mich rein in die Knochen gefahren. Aber nein, aber nein! Wenn das Gesicht nur nicht so totenblaß wär'! Aber scheen ist die Puppe, da ist kein Wort darüber zu sagen – so goldene Haare … und angezogen is sie wie'n Fürstenkind!«

»Nicht wahr?« hörte ich meine Mutter sagen. Ist ja auch extra aus Paris für das Fräulein Gressy verschrieben worden. Und daß sie so blaß aussieht – – die Farbe ist allmählich von dem Wachsgesicht abgegangen, weggeküßt worden. Fräulein Gressy hat sie ja ungeheuer geliebt und nannte sie Vermeille. Jetzt aber hat das Fräulein geschrieben, daß wir die Puppe den Kindern ihrer Schwester, Frau von Glinka, schicken sollen und so soll sie morgen abgehen. Dudu weiß zum Glück nichts davon.«

Jetzt schielte ich unter den Wimpern hervor nach den beiden hin. Ach, daß ich doch wenigstens das blasse Gesichtchen dieser wunderschönen Puppe mit dem fremdklingenden Namen Vermeille zu sehen bekäme! Aber nein. In devoter Haltung stand die dicke Wiegandt, die Hände über den Bauch gefaltet, gerade vor der Kommode und krächzte:

»Nu natürlich, gnäd'ge Frau haben ja so recht, unser klein Fräuleinchen braucht doch so 'ne fremde Puppe nicht, die noch dazu aussieht wie ne scheene Leiche. Unser klein Fräuleinchen hat doch genug eigene Puppen und von denen geht die Farbe auch nicht so leicht ab. Ich dank' auch gnäd'ge Frau schenstens für das Zeigen. Es war mir 'ne anjenehme Unterhaltung.«

Mit diesen Worten empfahl sich Wiegandt, ich hörte die Schieblade wieder zugehen, empfand eine stärkere Ausströmung von Fett und Schmalz und einen sehnsüchtigen Schmerz im Herzen. Nie würde ich die wunderschöne Vermeille, die meine große Schwester als Kind so geliebt hatte, daß sie blaß geküßt worden war und aussah wie ein Totes, zu sehen bekommen! Noch weniger würde sie mir gehören. Ja, ich durfte ja nicht einmal erwähnen, daß ich von ihr wußte, denn ich hatte ja gehorcht und mich schlafend gestellt!

»So leb' denn wohl, schöne, blasse, für mich unsichtbare und unerreichbare Vermeille! Leb' wohl und laß dir's gut gehen bei den kleinen Kindern, die ich nicht kenne!

Adieu, adieu, Vermeille!«

 

Noch eine Schwester

Ich hatte nun schon meinen sechsten Geburtstag hinter mir, da sah ich eines Tages voller Verwunderung zu, wie eines unserer Fremdenzimmer mit besonderer Sorgfalt hergerichtet wurde. Meine Mutter stand dabei und ordnete alles an. Bald breitete sie eine saubere Decke über die Kommode, bald stellte sie eine Vase mit einem Tannenzweiglein auf den Nachttisch, denn es war ja noch immer Winter.

Jetzt erst fiel mir ein, daß mir vor einigen Tagen gesagt worden war, meine große Schwester Grace werde in dieser Woche aus England ankommen. In der Geographie war ich nun schon soweit bewandert, daß ich wußte, mein Papa stamme aus England, die Hauptstadt heiße London, sei riesengroß und liege an der Themse und der Weg hierher könne entweder über den Kanal und dann zu Lande oder durch die Nord- und Ostsee gemacht werden.

»England ist aber doch furchtbar weit, Mama«, sagte ich mit einiger Besorgnis, »wird die neue Schwester denn auch den Weg hierher finden? Und kommt sie auch aus Birmingham wie der Papa?«

»Du Dummchen!« sagte Mama mitleidig. »Den Weg wird sie sicher nicht verfehlen, hat sie ihn doch schon vor fünf oder sechs Jahren gemacht, bald nachdem du geboren wurdest. Seither hat sie in London bei Verwandten gelebt und jetzt ist sie Braut und bleibt vorerst ein paar Jahre hier, ehe sie heiratet.«

»Freust du dich denn nicht, Mama?« fragte ich zweifelnd, denn das Gesicht meiner Mutter drückte alles andere aus als Freude. »Und warum freust du dich nicht?« fügte ich hinzu, meiner Sache nun schon ganz sicher.

»Hör' doch endlich auf mit deinen unnützen Fragen, Kind. Denk an das Sprichwort: Ein Narr fragt mehr als ein Weiser beantworten kann.«

Meine Fragen närrisch? Vielleicht waren sie eher unbequem. Nach einem forschenden Blick in Mamas erregtes Gesicht wußte ich genau: über meine Schwester zu reden war Mama unbequem. Nachdenklich zog ich den Atem durch die Zähne ein und ging aus dem Zimmer.

Wahrscheinlich liebten Mama und die große Schwester einander nicht. Aber warum wohl? Und weshalb war sie nach meiner Geburt fortgefahren? Da liebte sie mich wohl auch nicht. Jetzt aber, da sie Braut war, kam sie wieder und gleich auf so lange. Wenn man Braut ist, heiratet man doch, grübelte ich weiter. Warum blieb sie denn nicht bei dem Manne, den sie heiraten wollte? Wenn ich einmal ans Heiraten käme, würde ich doch gerade zu dem Manne hinfahren, den ich lieb hatte und nicht von ihm wegziehen.

Diese Fragen beschäftigten mich so eindringlich, daß ich froh war, mein Klavier- und Schreibpensum ohne weitere Störung zu erledigen. Gespannt wartete ich auf den Mittag. Ob die neue Schwester denn noch nicht käme, fragte ich meinen Vater.

Er sah mich pfiffig blinzelnd an und zog die Uhr. »Nicht vor dem Tee«, sagte er heiter.

Nun wußte ich, daß Papa sie lieb hatte und sich auf ihr Kommen freute.

»Die wird uns einen Haufen Nachrichten von der Familie bringen«, bemerkte er zu meiner Mutter gewandt.

»Ob's viel Erfreuliches ist?« antwortete sie.

Am Nachmittage trieb ich mich in der Nähe des Hauses auf dem Eise unseres festgefrorenen Sees umher und schlitterte. Ich wollte durchaus dabei sein, wenn die Schwester ankam. Noch eine Stunde, rechnete ich. Ach, wie lang doch solch eine Stunde war!

Ob Grace schön war oder häßlich? Als Kind sei sie ausnehmend hübsch gewesen, hatte mir der Papa erzählt, habe seidenbraunes glänzendes Haar gehabt und graue Augen.

»Da hab' ich allein die braunen Augen von dir, Papa!« rief ich freudig.

»Natürlich, das Beste kommt immer zuletzt!« hatte er da gesagt.

Ich war wie auf den Mund geschlagen vor Überraschung. Was hatte er damit sagen wollen? Waren meine braunen Augen das Beste, was zuletzt kam, oder war ich es etwa am Ende selbst?

Ein ungeheures Triumphgefühl durchdrang mich wie wohlige Wärme. Wenn ich wirklich für Papa das Beste war, dann wollte ich auch meinerseits meine Schwester Grace lieb haben, denn er würde mich, auch wenn sie da war, nicht weniger lieb haben.

Diese Überzeugung stimmte mich außerordentlich vergnügt und ich schlitterte darauf los, daß es eine Pracht war.

So überhörte ich das Nahen eines Schlittens.

Als ich ihn endlich gewahrte, stand er vor unserer Haustür, und meine Schwester war schon ins Haus getreten.

Atemlos lief ich die Stufen empor und prallte ins Vorzimmer hinein wie eine kleine Bombe.

Vor mir stand eine feine schlanke Gestalt, die sich soeben aus ihren Hüllen löste. Mein Vater half ihr ritterlich beim Auskleiden.

»Und das ist Dudu?« sagte sie fragend. »Schon so groß?«

Er legte seinen Arm um meine Schultern. »Jawohl.

Yankee doodle went to town
Upon a little pony
«

sang er vergnügt.

Und Grace warf sich ihm um den Hals und umarmte ihn. Dann beugte sie sich zu mir nieder. Ich spürte den kalten frischen Hauch ihres Gesichts auf meinen Wangen, spürte den kühlen Kuß …

»Nun Mama, wie geht es dir?« wandte sie sich an meine Mutter.

Diese Umarmung war nicht ganz so, wie sie sein sollte, fühlte ich.

»Ich hoffe, wir werden einander diesmal gut verstehen, Grace«, sagte Mama.

Und fünf Minuten später saßen wir um den runden Teetisch und ich wußte: meine Schwester Grace, die ins Erzählen geraten war, würde mir nie eine rechte Schwester sein, sondern sie war etwas ganz anderes. Ich mußte an die Bilder in den Modeblättern denken, die ich häufig betrachtet hatte – sie war mir fremd wie diese, war eine hübsche gutgekleidete junge Dame.

In meinem Unterbewußtsein aber wußte ich, daß das etwas Trauriges sein mußte, aber etwas, was ich und niemand zu ändern vermöchte.

 

Das erste weiße Haar und der grüngelbe Hut

Einige Monate nach der Ankunft meiner großen Schwester eröffnete mir Mama eines frühen Morgens, daß wir eine Reise machen würden und daß ich nun die Welt kennenlernen solle.

»Eine Reise? Wohin denn, Mama?«

»In meine Heimat!« sagte da meine Mutter, »nach Kurland. Und dann gehen wir auch in ein Bad, zur Kur.«

Diese Nachricht verblüffte mich ganz und gar. Waren wir denn etwa krank, daß wir kuriert werden mußten – im Kurland?

Ich äußerte meinen Einwand, noch im Bette sitzend, während meine Mutter vor dem Spiegel stand und sich kämmte.

»Wir könnten jedenfalls alle beide viel kräftiger sein«, meinte sie. »Es gibt ja auch Kräftigungsbäder. Wir nehmen auch Nadja mit!« fügte sie zufrieden hinzu.

Nadja war meine gute Wärterin, die ich sehr liebte, und diese Aussicht erfreute mich außerordentlich. Andererseits aber ahnte ich, daß es nun wieder Kleideranproben ohne Ende geben würde, und diese waren für mich ungefähr ebenso schlimm wie Klavier- und Geographiestunden. Meine Schwester war sehr ungeduldig und hatte eine lose Hand. Wenn ich nicht mäuschenstille hielt und alles über mich ergehen ließ, war sie es, die mir ohne weiteres manch empfindlichen Klaps versetzte. Meine Mutter dagegen begnügte sich bei diesen Gelegenheiten mit freundlichen und geduldigen Ermahnungen, die Grace besonders zu ärgern schienen.

»Ich habe noch nie ein gleichgültigeres und ungeschickteres Kind gesehen!« sagte sie da oft. »Andere Kinder freuen sich doch über ein neues Kleidchen. Dudu ist alles egal, wenn sie nur vom Anprobieren loskommt! Dafür dürfen andere sich plagen!«

An diese unerfreulichen Szenen dachte ich bedrückt, als mich ein Aufschrei meiner Mutter auffahren ließ.

»Mein erstes weißes Haar!« klagte sie, und hielt mir ein langes Haar vor Augen, »sieh nur, Dudu! Und ich bin doch erst zweiunddreißig Jahre alt!«

Ich betrachtete es genau, konnte aber nicht recht fassen, warum das ein Gegenstand der Trauer sei.

»Was sagst denn du dazu, daß deine Mutter nun schon grau wird?«

»Ach Mama«, sagte ich da philosophisch – »wenn das weiße Haar da ist, so muß es doch auch Zeit dafür sein. Du kannst es ja doch nicht ändern.«

Langsam versenkte meine Mutter ihr erstes weißes Haar in den Wascheimer. »Da hast du ja eigentlich recht«, sagte sie resigniert. »Ich dachte nur, daß mein kleines Mädchen daran mehr Anteil nehmen würde.«

»Du hast ja noch so viele braune Haare, Mama«, tröstete ich.

Am Nachmittage desselben Tages nach vielen ermüdenden Anproben suchte meine große Schwester unter ihren Sachen einen häßlichen gelbgrauen Lappen mit grünem Blumenmuster hervor und sagte: »Daraus machen wir Dudu einen Reisehut.«

Zweifelnd blickte Mama das Zeug an.

»Kommst du nach Riga, so kannst du ihr ja gleich einen Florentiner Strohhut kaufen, Mama, für die Reise aber ist dies gerade das Rechte.«

Ich sah, daß Mama nicht gern widersprechen mochte. Geschäftig verlangte nun Grace nach Zuckerpapier, schnitt und schnippelte daran herum und heftete das gemusterte Zeug daran. So entstand vor meinen Augen in aller Geschwindigkeit ein Hut, ein Monstrum von Hut, wie ihn die welschen Marktweiber auf alten Bildern trugen – eine große, hinten geschlossene, nach vorn sich öffnende Röhre mit ein paar Hutbändern daran, die sich um den Kopf legten, dazu eine Hals und Nacken bedeckende Rüsche.

Stolz auf ihr Machwerk probierte mir Grace den schrecklichen Hut an.

»Er sitzt ja großartig. Nun bedank' dich und vertrag ihn mit Gesundheit!« sagte sie säuerlich.

Mein bedrücktes »Danke sehr« schien Grace nicht sonderlich zu befriedigen.

»Es ist erstaunlich, welch anspruchsvolles Kind du dir da erzogen hast, Mama!« sagte sie und packte ihr Nähzeug zusammen. »Zu meiner Zeit, da wir Kinder waren, machte man nicht so viel Umstände mit uns. Oder solltest du das vergessen haben?«

 

Die Reise

Endlich waren alle Vorbereitungen, mit denen man tagelang beschäftigt gewesen, erledigt. Die Koffer standen gepackt, schon waren die Pferde vor der Tür und mein schrecklicher grüngelber Marketenderhut wurde mir aufgesetzt.

Nun kam der Abschied.

Er kam und ging vorüber und rührte mich nicht besonders: nach sechs oder acht Wochen sah man sich ja wieder.

Wir saßen im Wagen. »Bleib schön gesund, Dudu!« rief Papa und steckte mir einen Bonbon in den Mund. Da ich ihn nicht ordentlich zu sehen vermochte, weil die wie Scheuklappen vorstehenden Ränder meines Hutes sich immer vor alles Sehenswerte schoben, hob ich nur grüßend mein Händchen, während mein Ungeheuer von einem Hut vehement nickte.

Jetzt zogen die Pferde an. Ich saß auf Nadjas Schoß im Wagenfond neben Mama. Nadja bekreuzigte sich ängstlich und murmelte ein paar Gebetsworte. Jetzt erwischte ich noch einen Blick von Papa, der lachend neben Schwester Grace stand und sah auch, daß die Köchin, das Hausmädchen und unser guter Knecht Anani, den ich sehr liebte, am Wagen standen und uns eine gute Reise wünschten.

Die Hände flogen winkend in die Höhe – fort sauste der Wagen und wir mit ihm.

Solange die Pferde in schlankem Trabe die bekannte Dorfstraße hinuntertänzelten, war ich äußerst vergnügt und freute mich über die grüßenden Dorfkinder. Als wir aber in den dichten dunklen Wald hineinfuhren, merkte ich, daß das Bonbon in meinem Munde geschmolzen war und hätte gern noch eins verlangt. Aber von Mama war nichts Derartiges zu holen – das wußte ich schon und so mußte ich mich zufrieden geben.

Und die Reise war weit, sehr, sehr weit, und die Welt war groß, ja ganz ungeheuer groß. Immer wieder taten sich neue riesige Wälder vor uns auf, nahmen uns in ihre grünen Arme und entließen uns zögernd und wie mir schien, mit Bedauern. Dann kamen wieder weite Ebenen und Felder, hier und da tauchte ein Dörflein auf und jedesmal sagte ich befriedigt: »Aber unser Butosch ist doch viel schöner und größer!« wobei Nadja mir immer mit Nachdruck zustimmte. Endlich, all des bunten Wechsels müde, schlief ich ein.

Am späten Nachmittage erst langten wir nach siebenstündiger Fahrt auf der Eisenbahnstation Dubrowka an. Aber damals sollte die Bahn erst gebaut werden. Noch hatte nie jemals eine fauchende Lokomotive den tiefen Frieden dieser endlosen Wälder getrübt. Wir mußten also mit Postpferden etwa zweihundert Werst von Station zu Station weiterfahren. Erst von der Stadt Smolensk an gab es eine regelrechte Bahnverbindung, die ohne Unterbrechung bis Riga führte.

Nach einer ausgiebigen Stärkung in der Station Dubrowka fuhren wir weiter, nur statt in der bequemen Equipage meines Paten in einem abgenutzten hochräderigen Tarantaß mit drei müden Gäulen davor, die aussahen, als ob sie Tag und Nacht gelaufen wären. Auf dem Bock saß ein fremder schäbiger Kutscher, der uns gleichgültig grüßte, als gingen wir ihn nichts an und der uns auch nichts zu sagen hatte.

So fuhren wir denn müde und schläfrig in den Abend hinein. Mehrere Mal blieb der Wagen mitten in der stockdunklen Nacht stehen, weil der Kutscher eingeschlafen war. Mehrmals wurde ich umgebettet und wanderte schlaftrunken von Nadjas Schoß in Mamas Arme.

Einmal fuhr ich aus dem Schlafe, und sah, daß Nadja, die doch bisher immer neben Mama gesessen, vom Bocke stieg und hörte meine Mutter scheltend zu ihr sagen: »Ja, wenn du den Kutscher nicht vor dem Einschlafen bewahren kannst, so will ich's tun. Es bleibt mir ja nichts anderes übrig. Wir können doch nicht alle Fingerlang im Walde stehen bleiben, bloß weil der Mann immer einschläft!«

Ich kam wieder auf Nadjas Schoß und sah Mama, wie sie mit vieler Umständlichkeit den hohen Bock erkletterte, sich neben dem Kutscher zurechtsetzte und hörte sie sagen: »Heda guter Freund, jetzt wird aber nicht mehr geschlafen. Dafür sollst du auch eine prachtvolle Geschichte zu hören bekommen!«

Dieses Mittel endlich verschlug. Mama erzählte und erzählte eine Räubergeschichte um die andere. Mit halbem Ohre hörte ich ein Weilchen zu, während die kühle Nachtluft mir um die Nase strich. Durch ziehende Wolken sah ich hin und wieder ein Sternlein blinken. Endlich versanken Wagen und Pferde, Kutscher und Mamas Räubergeschichten in ein wirres Chaos und ich schlief fest in den nächsten strahlenden Morgen hinein, wo ich auf Mamas Schoß in einem anderen Wagen mit drei Grauschimmeln davor erwachte, die kleppernd über die Landstraße dahintrabten, während ein neuer Kutscher über ihnen seine Peitsche schwang.

 

Die eiserne Bahn

Schon auf unserer langen Reise zu Wagen hatte meine Mutter mir und Nadja erzählt, daß wir die nächste Strecke per Bahn fahren würden und in der Tat hatten wir schon in der Nähe der Stadt Smolensk eine Menge Arbeiter gesehen, damit beschäftigt, blanke eiserne Schienen über den eben gebauten Bahnschwellen aneinanderzureihen.

»Ist das die eiserne Bahn, auf der wir fahren sollen, Mama?«

»Das ist sie, und du wirst sehen, wie glatt und leicht die Räder darüber hinrollen.«

Ich war es zufrieden. Als ich nun aber auf der Smolensker Station die erste Lokomotive mit den vielen Wagen dahinter sah, und erfaßte, daß sie von selbst lief und keine Pferde davor gespannt waren, ergriff mich ein ungläubiges Staunen. Ich hing mich an Nadjas Arm und sperrte die Augen weit auf. Nun erst sah ich, daß diese totenblaß war, sich immer wieder bekreuzigte und mit zitternden Kiefern das rollende Wunder anstarrte, während meine Mutter seelenruhig neben uns stand und offenbar ihren Spaß an uns hatte.

»Du Nadja – du fürchtest dich doch nicht? Ich fürcht mich schon gar nicht mehr!« rief ich vergnügt. »In den großen Wagen sitzen ja schon Leute drin! Guck doch!«

Wir kletterten also die steilen Wagenstufen empor wie die anderen, fanden uns in einem bequemen Raum mit schöngepolsterten Bänken und setzten uns in eine Fensterecke.

Nun erst erklärte Mama der fassungslosen Nadja, daß sie nicht hier bei uns bleiben könne, sondern in der dritten Klasse nebenan, und händigte ihr ihre Fahrkarte ein, die sie ja nicht verlieren dürfe. Ab und zu aber wollten wir nach ihr sehen.

Jetzt klingelte eine Glocke lange und anhaltend, setzte ab und ließ einen lauten Ton hören. »Das ist das erste Glockenzeichen«, sagte Mama. »Das heißt: Macht euch zum Einsteigen bereit! Nun, wir sitzen ja schon da.«

Nach einer Weile kam das zweite Glockenzeichen.

»Was sagt das?« – »Das fragt: Seid ihr schon alle drin?«

Und wieder nach einer Weile erscholl das dritte. »Das sagt: Jetzt gleich fahren wir ab.«

Wir fuhren aber noch nicht ab. Zuerst kam noch ein schriller Pfiff und dann noch einer und endlich, endlich bewegten sich die großen Räder, drehten sich schneller und schneller und jetzt, jetzt rollte der Zug auf seiner neuen eisernen Bahn wie ein donnernder Sturm, tauchte in Wälder hinein, daß die Bäume sich kreisend umeinander bewegten, glitt an kleinen buntbemalten Bahnwärterhäuschen vorüber, donnerte über Brücken, raste scheinbar kopflos in neue Wälder hinein und war ganz und gar toll und verrückt.

»Ach, wie fürchtet sich doch die arme Nadja jetzt!« sagte ich atemlos. »Wir fahren doch so schrecklich, schrecklich schnell, Mama!«

»Daran wird sie sich schon gewöhnen«, meinte meine Mutter, »und du auch.«

Und sie hatte recht. Nachdem wir mehrere Stationen und endlich ein Städtchen passiert hatten, ging mir der Zug mit einem Male nicht mehr schnell genug.

Müde stand ich am Fenster und starrte in die werdende Dämmerung hinein. Die teilnahmslosen Gesichter der Mitreisenden, die offenbar nichts von uns wissen wollten, bekümmerten mich. Warum sprachen die Leute denn nicht mit uns?

Ich drückte mich in meine Ecke und war nach einer kleinen Weile fest eingeschlafen.

 

Riga

Und jetzt waren wir in der großen Stadt, in Riga und schon auf der Station sprachen die Menschen Deutsch miteinander und nicht wie bisher Russisch.

Ich saß zum ersten Male eng an meine Mutter gedrückt in einer Droschke, während Nadja verängstigt auf dem Rücksitz hockte, unsere Reisetaschen und Handkoffer mit beiden Armen umschlingend.

So also sah eine Stadt aus? Das war ja ein Wald von steinernen Häusern. Immer klebte ein Haus dicht an dem anderen, und alle waren sie so hoch, so düster und sahen verdrossen und böse aus.

Nein, ich wollte niemals in einer Stadt leben – da sah man ja vor lauter Häusern die liebe Sonne nicht, und den Mond konnte man wohl nur aus den höchsten Stockwerken sehen und dann auch nur von einer Seite.

Ehe ich jedoch Zeit fand zu überlegen, ob alle Leute in den Dachwohnungen auch wirklich den Mond zu sehen bekämen, hielt unsere Droschke vor einem der düsteren und hohen Häuser. Und über dem Hausportal las ich das mit goldenen Buchstaben prangende Wort: Hotel du Nord.

Mama sprach mit einem dicken Herrn im blauen Rock mit blanken Knöpfen und nannte ihn Portier. Darnach erst wurden wir über teppichbelegte Treppen in unser Zimmer geführt.

Es war kein hübsches Zimmer – durch das Fenster guckte man in einen so engen finstern Hof hinein, daß er aussah wie ein Brunnenloch. Auf meine Frage, warum wir denn nicht in einem helleren Zimmer wohnen sollten, erklärte Mama, dieses hier sei billiger, zudem sei das Hotel sehr besetzt.

Unsere Koffer wurden in unser Zimmer gestellt und sogleich machte sich Mama ans Auspacken und Nadja hing unsere Kleider in den Schrank.

Dann wuschen wir uns auf das gründlichste. Immer wieder mußte Nadja frisches Wasser vom Flur hereinbringen. »Man braucht nur einen Krahn zu drehen«, ächzte sie erschüttert, »da kommt das Wasser von selbst aus der Wand gesprungen!«

Wir zogen unsere besten Kleider an, und auch Nadja mußte sich gründlich säubern und umkleiden. Dann gingen wir in den Speisesaal zum Essen und hierauf in die Straßen und Läden.

Zu meiner Freude wurde ich ein für allemal von meinem abscheulichen Hut befreit, bekam einen hübschen Strohhut und sah nun aus wie andere Kinder auch.

Endlich führte Mama uns in den Wöhrmannschen Park und hier, mitten unter anderen Kindern durfte ich Reifen und Ball spielen und mich an den langentbehrten schönen grünen Bäumen und Pflanzen freuen. Ja, da gab es sogar einen wunderschönen Springbrunnen.

Am nachnächsten Tage, der ein Sonntag war, bat Nadja flehentlich um die Erlaubnis, in die russische Kirche gehen zu dürfen.

»Ja, wie willst du denn aber heimfinden, Nadja«, meinte meine Mutter, »du kannst doch weder lesen noch schreiben, noch wirst du dich in der großen Stadt allein zurechtfinden können.«

Aber Nadja schwor bei allen Heiligen, daß sie ja den Namen des Hotels wisse.

»Das genügt nicht allein. Du mußt auch den Straßennamen wissen, damit du jemanden fragen kannst, wenn du den Weg verfehlst. Vergiß nicht, wir sind nicht mehr im Dorf.«

Nadja wiederholte nun unter Bitten und Tränen solange das Wort: Chotel dinor und den Namen der Straße, bis Mama befriedigt war und sie gehen ließ.

Aber drei Stunden verstrichen und noch war keine Nadja da. Es wurde eins und zwei und drei und vier Uhr – und wir warteten immer noch. Ich weinte bitterlich, glaubte ich doch, meine gute Nadja nimmer mehr wiederzusehen. Endlich um fünf Uhr baten uns die Hotelbesitzer Herr und Frau Pfefferkorn zum Kaffee, und da saß ich nun sehr gedrückt und ganz verweint und ließ mich nicht trösten. Selbst die schönsten Kuchen wollten mir nicht schmecken.

Um sieben Uhr sollte ich zu Bette gehen und Herr Pfefferkorn, der sehr dick und gutmütig aussah, hatte meiner Mutter versprochen, eine Anzeige wegen der verlorenen Nadja bei der Polizei zu machen.

Da, als ich schon ausgekleidet auf meinem Bette saß, ging die Tür auf und verweint, stöhnend und ächzend trat Nadja herein, riß mich an sich und küßte meiner Mutter die Hände.

»Ach Barinja Herrin., verzeihen Sie, verzeihen Sie! Wie viele Stunden bin ich nun umhergeirrt! Das verfluchte Chotel dinor hatte ich doch ganz und gar vergessen, als sei es in ein schwarzes Loch gefallen – – auch die Straße! Und wenn ich nicht einem guten Russenherrn begegnet wär, der mich nach meinem Kummer fragte und der mich von Hotel zu Hotel durch die ganze Stadt geführt hat – da wär ich noch auf der Straße und wohl die ganze Nacht hindurch. Heilige Mutter Gottes! Welch ein Gottesglück, daß ich wieder hier bin!«

Sie brach in Tränen aus. Ich hielt sie fest und wollte sie nicht mehr aus den Armen lassen.

Nadja weinte und lachte vor Freude und ich weinte und lachte aus vollem Herzen mit.

 

Der Zirkus

Heute sollten wir, Nadja und ich etwas Besonderes erleben: wir wurden von Mama in den Zirkus geführt. Auf alle meine Fragen, was es denn da zu sehen gäbe, hatte Mama nur die eine Antwort: »Nur Geduld, du wirst es schon noch erleben.«

Da saßen wir nun in einem runden großen erhellten Bau, nachdem wir uns mühsam an einem Häuschen mit einem Guckfenster vorübergedrängt hatten, worin ein Mann saß und Zettel verkaufte. Das seien die Eintrittskarten, erklärte Mama und ohne eine solche käme keiner in den Zirkus hinein.

Rund um uns herum saßen schrecklich viele Menschen schon auf ihren Plätzen, andere kamen noch und bald war der ganze Raum voller Menschen. Ich versuchte sie zu zählen, aber immer wieder verzählte ich mich, was ich auch anstellen mochte. Meine Erwartungen waren durchaus hochgespannter Art; was ich jedoch in dem runden eingezäunten Kreis, den Mama die Arena nannte, zu sehen bekam, war zunächst einigermaßen enttäuschend. In bunten Anzügen sprangen zwölf Männer mit Rechen in den Kreis und harkten die weiche Erde glatt, während ein ganz dummer, rot und weiß angepinselter Mann in weißen unförmlichen Pluderhosen ihnen zwischen den Beinen durchlief, sie immer störte, sich überkugelte und gräßlich dumme Sachen hervorkreischte. Das sei der Bajazzo, erklärte Mama. Der Bajazzo aber gefiel mir ganz und gar nicht, da brauchte man nur unsere Betrunkenen in Butosch so lächerlich anzuziehen und anzumalen – die machten genau ebenso dumme Sachen.

Mit einem Male aber blieb mir der Mund offen vor Überraschung. In den Kreis herein sprengten zwei wunderschöne Pferde und auf ihnen standen, herrlich anzuschauen, ein Mann und ein Mädchen, beide gekleidet wie ich mir Prinzen und Prinzessinnen beim Aschenbrödelball vorstellte. Bald hielten sie einander umschlungen, während die Pferde nebeneinanderhertanzten, bald wechselten sie ihre Plätze und taten, als wären sie voller Freude und hätten sich sehr lieb – und endlich hob der Mann das schöne blonde Mädchen hoch über seinen Kopf, als sei sie ein leichter Korb voller Blumen, und ritt mit seiner Bürde auf beiden Tieren stehend dreimal um die Arena.

Ich war wie geblendet, restlos beglückt und begeistert. »Sind das König und Königin, Mama?« fragte ich halblaut.

Mama sah nach ihrem Zettel. »Nein, das sind Kunstreiter, Kind, Mr. Charles und Mademoiselle Sylvia.«

Ich seufzte aus tiefster Brust und stieß Nadja an. »Nu Nadja sieh doch nur, sieh!«

Nadja aber machte ein so dummes Gesicht wie ich es nie an ihr gesehen hatte, und schlug ein Kreuz über das andere. Offenbar traute sie ihren Augen nicht und hielt das alles für Zauberei.

Mr. Charles und Mademoiselle Sylvia waren schon von ihren Pferden und sprangen einander leicht bei der Hand fassend nach allen Seiten grüßend in die Arena herein und waren auch schon wieder fort.

Und mir blieb nichts als die Erinnerung, die ich in meinem Herzen festzuhalten suchte. Was hernach kam, machte keinen besonderen Eindruck mehr auf mich, so köstlich und beglückend haftete noch das Bild der beiden jugendlichen schönen Kunstreiter in mir.

Es kamen Damen und Herren in richtigen Reitkleidern und ritten »hohe Schule«, wie Mama uns erklärte. Es kamen Leute, die an furchtbar hohen Schaukeln die halsbrechendsten Kunststücke machten, und andere, die mit Bechern, Schüsseln, Tellern, Stühlen und Tischen spielten wie mit Bällen. Als Schlußstück aber wurde zuletzt von vielen gleichgekleideten Männern auf einem breiten Brett ein prachtvoller weißer Stier hereingetragen. Langsam ließen sie das Brett von ihren Schultern auf den Boden nieder und nun brachten sie dem Stier einen runden Klotz, den er auf den Hinterbeinen stehend mit den Vorderfüßen rund um die Arena rollte, dann eine Kugel und endlich einen Tisch, und immer tat der Stier, was sie von ihm verlangten.

Nach jeder Vorführung aber klatschten die Leute vor Vergnügen in die Hände und machten einen solchen Heidenlärm, daß wir betäubt aufstanden und uns von der nachdrängenden Menge aus dem Zirkus schieben ließen. Endlich standen wir wieder in der freien Luft, und über uns blinkten die Sterne.

Tagelang redeten Nadja und ich von nichts anderem als dem Zirkus.

Ein paar Tage später saß ich bei einer Familie de Corval mitten unter anderen Gästen neben Mama am Kaffeetisch und bemühte mich, vernünftig und deutlich auf alle Fragen zu antworten.

»Was hat dir denn im Zirkus am besten gefallen. Kleine?« fragte mich die freundliche Hausfrau. »Gewiß der weiße Stier?«

»Ach nein!« sagte ich bescheiden, »die Kunstreiter Mr. Charles und Mademoiselle Sylvia! Der Stier war ja auch recht schön, aber bei uns im Dorfe tut ein Stier noch viel schönere und schwerere Dinge. Hier stand der Stier bloß auf einer Kugel, bei uns aber stellen sie sich gerade so auf eine Kuh und das ist doch viel schwerer!«

Es entstand eine peinliche Pause. Was hatte ich denn nur verbrochen?

 

Die Leierkastenleute

Zwei Leierkastenleute zogen eines Tages die Landstraße in Kemmern herauf mit drei Tieren – einem Kamel, einer Ziege und einem Äffchen.

Unweit unserer Wohnung hielten sie und veranstalteten eine Vorstellung.

Das Kamel und das Äffchen interessierten mich natürlich brennend – nicht aber die Ziege. Eine Ziege sah man doch alle Tage, was war denn an der Besonderes?

Da hörte ich einen alten weißbärtigen Herrn, der mitten unter den Zuschauern stehen geblieben war, zu zwei jungen Leuten sagen:

»Seht Euch einmal die Ziege genauer an! Aus hellgelber Pupille, in der ein schmaler schwarzer Längsstrich – sieht sie in die Welt hinaus, höhnisch, ungläubig und boshaft zugleich. Daneben das schwerfällige rauhhaarige Kamel – weltverachtend, gleichmütig und weise, der geborene Philosoph – endlich das jämmerliche Äffchen auf dem Leierkasten, kläglich, wehleidig und erschütternd menschlich blinzelt es uns aus seinen klugen Äuglein an – ein elendes kleines Geschöpf des Südens, zart und schwindsüchtig meist, den rauhen Winden unseres nordischen Klimas ausgesetzt – mit bunten Fetzen bekleidet, in beständiger Unruhe, Hast und Bewegung.«

Andächtig hörte ich dem alten Herrn zu. Ob ich damals schon voll verstand, was er meinte, als ich zum ersten Male dieses tierische Dreigestirn mit seinen menschlichen Begleitern, einem robusten blonden Deutschen und einem dürren kleinen Südländer die Straße heraufziehen sah?

Schwerlich. Aber der alte Herr hatte mich sehen gelehrt, und ich war von dem Menschlichen, Allzumenschlichen in diesen Tieren instinktiv gefesselt. Eine große Traurigkeit, ein tiefes Mitleid erfüllten mich.

Der blonde Riese schmetterte mit Fanfaren und Paukenschlag drein, der Italiener drehte in fabelhafter Geschwindigkeit seinen Leierkasten.

Der kleine Affe schoß ein Kanönchen ab, saß auf einem Stühlchen, hüpfte unter einem Schirmchen daher, rasselte mit seinen Kettchen und sammelte schließlich die Münzen ein mit demütiger Bettlergebärde. Die Ziege zog ihn samt seinem Zubehör auf einem kleinen Schiebkarren weiter, das Kamel aber wiederkäute, verachtete sie beide und den ganzen Menschenrest dazu.

Es johlte die Menge, es kreischten die Kinder – – Staub, Staub – – vorüber.

 

Der Ball

An einem Festtage legte mich meine Mutter am Nachmittag zu Bett und sagte: »Jetzt wird einmal ausnahmsweise geschlafen, denn abends gehen wir ins Kurhaus zum Ball.«

»Zum Ball, Mama?« Sollen wir denn da tanzen?« »Nein Kind, aber zusehen wie die Leute tanzen. Das wird auch dir gewiß Spaß machen.«

Ich war immer gern dabei, wo es etwas zu sehen gab, und so ging ich folgsam zu Bett und hatte den besten Willen einzuschlafen.

Als ich endlich aufwachte, war Nadja gerade dabei, Mamas grauseidenes Kleid mit den Spitzen aufzubügeln und mein dunkelrosenrotes Röckchen hing bereits über dem Stuhl und sah nagelneu und prächtig aus.

Nach dem Abendessen gingen wir in unsern schönen Kleidern also »zum Ball«. Von weitem, ehe wir noch das Kurhaus betraten, hörten wir eine prächtige Orchestermusik und sahen, daß alle Fenster hell erleuchtet waren.

Wir legten unsere Mäntel ab, bekamen Eintrittskarten und schritten in den Festsaal.

Der Ball war bereits im schönsten Gange.

Schwarzgekleidete, festlich aussehende Herren hielten ihre Damen, die bunte seidene Schleppenkleider anhatten, im Arm und flogen zu den Klängen der lebhaften Musik den Saal auf und nieder.

Das sei ein Galopp, sagte die Mama. Der ganze große Saal duftete nach den schönsten Blumenarten und es lag eine besondere Fröhlichkeit auf all den Gesichtern, die auch mich froh machte.

Wir hatten unsere Plätze auf roten Polstern in einem halbrunden Vorbau und konnten die Tanzenden in aller Muße betrachten. Jedesmal, wenn ein neuer Tanz einsetzte, beugte sich Mama zu mir nieder und flüsterte: »Dies ist ein Walzer« oder »das ist eine Mazurka«, denn eine Polka kannte ich schon, da mein Papa mir die Polkaschritte vor einem Jahr etwa beigebracht hatte und zuweilen abends mit mir tanzte.

Ein großer Herr mit einem schwarzen Schnurrbart fiel mir besonders auf, weil er laut und scharf mir unverständliche Worte in den Saal hineinrief. »Das ist der Tanzvorsteher«, erklärte Mama, »was der sagt, das müssen die anderen Herren und Damen ausführen, siehst du und jetzt gerade ruft er eine Quadrille aus.«

»Was ist eine Quadrille?«

»Ein Tanz, den alle gemeinsam tanzen und der aus verschiedenen Figuren besteht.«

Ich sah aufmerksam zu und zählte fünfzehn Paare, die sich einander gegenüberstellten.

»Es fehlt noch ein Paar«, sagte Mama, »der Herr da sucht vergebens nach einer Dame, aber niemand von den Zuschauerinnen will sich erbitten lassen.«

Indessen war der schlanke Herr in unsere Nähe gekommen, verbeugte sich vor Mama und sagte: »Sie erlauben, gnädige Frau, daß ich Ihr kleines Töchterchen engagiere?«

»Ums Himmelswillen!« rief Mama erschrocken, »das Kind versteht ja nichts vom Tanzen.«

»Oh ja, doch Mama!« sagte ich da, »ich tanze doch manchmal Polka mit dem Papa.«

Der Herr lachte und zeigte seine weißen Zähne, dann beugte er sich zu mir nieder und bot mir seinen Arm. »Kommen Sie nur getrost, kleines Fräulein, das Nötige will ich Ihnen schon beibringen.«

Ich sprang bereitwillig auf und trippelte vergnügt mit ihm in den Kreis der Tanzenden.

Alle lachten mich freundlich an oder nickten mir zu. »Da ist ja der rettende Engel!« hörte ich einen Herrn sagen.

Und nun setzte die Musik ein.

»Nur hinübergehen – bei den anderen vorbei und dann wieder zurück!« flüsterte mir mein Herr eindringlich zu.

Ich stürzte mich in das Gewühl, tauchte unter, kam wieder zum Vorschein, machte Kehrt und erschien freudestrahlend bei meinem Herrn.

»So! Das war recht!« lobte er. »Aus Ihnen wird noch 'mal eine famose Tänzerin. Wie heißen Sie eigentlich?«

»Ich heiße Frances«, sagte ich vertraulich, »aber man nennt mich Dudu.«

»Also Fräulein Dudu!« er drückte mir die Hand.

Durch die Gefahren der ersten und zweiten Tour ward ich glücklich hindurchbugsiert. Bei der dritten Tour aber verließ mich mein guter Geist: ich rannte ziellos hin und wieder und richtete in meiner Hilfslosigkeit eine große Konfusion an.

Mein Herr seufzte, stellte sich neben meinen Stuhl, auf dem ich sitzen durfte wie die anderen großen Damen auch und erklärte mir eindringlich meine nächsten Schritte. »Haben Sie verstanden, Dudu?«

Ich nickte ein wenig unsicher und erklärte ihm, daß ich doch viel lieber sitzen bleiben wolle – er solle nur, wie jetzt eben, Wache bei mir stehen.

»Aber das geht ja doch nicht, das geht ja doch nicht!« rief er und fuhr sich mit allen zehn Fingern in die Haare. »Jetzt – jetzt also!« Er schob mich vorwärts.

Ich verlor den Kopf – guckte ihn an, blieb stehen, rannte rechts herum, dann wieder links – da sah ich, wie Mama in großer Aufregung auf mich zukam, mir streng sagte, auf meinen Platz zu gehen und meinem Herrn erklärte, sie wolle für ihre dumme kleine Tochter einspringen.

Ich schlich betrübt davon und nun erst ging alles regelrecht und vorzüglich.

Das waren die Erfahrungen meines ersten Balles.

*

 

Nachspiel

Aber mein erster Ball, der einen ungeheuren Eindruck auf mich gemacht hatte, sollte doch noch ein Nachspiel haben, ehe er für eine lange, lange Zeit in Vergessenheit geriet.

Nach einer glimpflich verlaufenen Klavierstunde bat ich Mama, mir einen Tanz zu spielen, da ich jetzt zu Ball gehen wolle.

Mama willfahrte mir und ich lief ins Schlafzimmer kehrte mit einem Bettkissen wieder und drehte mich mit dieser meiner Dame im Polkatakt um und um.

Dann rückte ich meinen Stuhl heran, setzte »meine Dame« darauf nieder und stand selber stocksteif daneben.

Mamas Hände glitten von den Tasten.

»Nun, warum spielst du nicht?« fragte ich ungeduldig.

»Aber du tanzest ja nicht – wozu soll ich denn spielen?«

»Ich tanze aber wohl, Mama«, rief ich eifrig – »ich stehe bloß ›Wache‹ bei meiner Dame, wie neulich der Herr bei mir!«

 

Fünf Kopeken

Meine Tage in Kemmern wurden mit mancherlei neuen Dingen ausgefüllt.

Des Morgens ging ich mit Mama in die Badeanstalt, wo jedes von uns ein warmes Moorbad bekam. Anfangs machte es mir großen Spaß, wenn wir gänzlich schwarz aus unseren Wannen stiegen, nachher aber konnte ich nicht umhin, ein gewöhnliches, sauberes Wasserbad viel lieber zu haben, denn manchmal kamen in dem gekochten Moor gar beängstigende Dinge vor, einmal zum Beispiel ein so großer Regenwurm, daß ich ihn im ersten Schrecken für eine Schlange hielt. Außerdem aber roch das Moor schlecht.

In der feuchten und überaus fruchtbaren Erde Kemmerns gediehen übrigens Schlangen auf das beste, und es war ein Glück, daß man auf erhöhten Bretterstegen weit in den Wald hinein konnte, denn die Schlangen, die ich häufig sah, jagten mir jedesmal einen solchen Schrecken ein, daß ich wie erstarrt auf meinem Stege stehen blieb, nicht vorwärts und nicht zurück konnte. Die Volkssage spann zudem um die Schlangen wunderliche Geschichten. So hatte ich an einem Tage zwei Schlangen gesehen, die auf dem Kopfe einen goldgelben Fleck trugen – unsere lettische alte Hauswirtin aber bemerkte dazu, ich sei ein Glückskind, da ich die so selten sichtbaren Schlangen mit den goldenen Krönlein gesehen hätte.

Oft spazierten wir auf der Kurpromenade in der Nähe des Kurhauses, wo es täglich Musik gab, fein sittsam umher, und da diese in der Nähe unserer Behausung lag, riskierte ich mitunter allein einen kleinen Ausflug, ließ meinen Reifen auf den schönen Parkwegen vor mir herrollen und war in meiner Weise vergnügt.

Eines Tages nun sah ich einen Mann, der einen allerliebsten rotgezäumten Esel hinter sich herführte. Einen Esel kannte ich bisher nur aus meinen Bilderbüchern, und so trat ich dicht an das schöne Tierchen heran, um es zu betrachten.

»Willst du reiten?« fragte mich der Mann.

Selig streckte ich meine Arme zu ihm empor. »Oh ja!«

In demselben Augenblick aber kam mir ein kleiner stämmiger Junge zuvor, der dem Manne etwas hinreichte und sofort und herrisch auf den Esel kletterte.

»Zuerst kommt der!« sagte der Mann grinsend. »Du mußt warten.«

Er ergriff den Esel beim Zügel und trabte eine gute Weile neben dem kleinen Reiter her. Mittlerweile sammelten sich noch mehr Kinder und jedes von ihnen wollte reiten.

Ich sah sie entschlossen der Reihe nach an. »Zuerst komme ich!« sagte ich mit großer Bestimmtheit. »Ich war zuerst da.« Und als der Mann mit dem schmucken Langohr seine Runde gemacht hatte, trat ich wieder vor und wurde von ihm auf den Esel gesetzt.

Ich empfand eine grenzenlose Wonne, streichelte und liebkoste den Esel und war so strahlend glücklich, daß selbst der Mann seinen Spaß daran hatte. Im besten Einvernehmen kamen wir, leider viel zu früh, an den Ausgangspunkt zurück, denn ich wäre natürlich gern stundenlang geritten. Ich sprang geschickt von dem Tierchen und sagte in überströmendem Gefühl: »Ich danke dir auch, du guter Mann!«

Da aber sagte er rauh und unwirsch: »Das kostet fünf Kopeken.«

Ich stand erstarrt. Ich hatte doch keine fünf Kopeken – wo sollte ich sie hernehmen? Bis nach Hause zu laufen, war doch verhältnismäßig weit.

»Wart' guter Mann« – rief ich voll Eifers, »ich bringe dir die fünf Kopeken!« und stürzte – in das erste beste Haus.

Eine Familie saß beim Frühstückstisch.

»Ach bitte!« rief ich flehend, »geben Sie mir fünf Kopeken, ich bin auf dem Eselchen geritten.«

Großes Erstaunen. Niemand rührte sich. Kalt überlaufen machte ich kehrt, lief stracks in das nächste Haus hinein. Hier standen zwei säuerlich aussehende ältere Damen im Vorzimmer und rüsteten sich zum Ausgange.

»Ach bitte, bitte geben Sie mir fünf Kopeken!« rief ich voll wahrer Not.

Eisig sahen die Damen zu mir nieder. »Wenn man so gut gekleidet ist, bettelt man nicht!« sagte die eine, »denn es ist eine Schande zu betteln« – die andere.

Schon war ich wieder draußen und in ein drittes Haus hineingesaust wie ein Pfeil. Da waren junge Herren und Damen beisammen, lachten und machten Tanzschritte miteinander. Einer saß am Klavier und wollte den anderen etwas vorspielen.

»Bitte, bitte« schrie ich in Verzweiflung, »der Mann mit dem Eselchen wartet – geben Sie mir doch fünf Kopeken, ich hab' sie so nötig!«

»Was will das Kind?« sagte jemand lachend.

»Fünf Kopeken!« schrie ich atemlos.

»Wir haben keine fünf Kopeken. Geh, und such sie anderswo.«

Gelächter ringsum.

Beschämt machte ich wiederum kehrt. Ach, wie schlecht waren doch die Menschen! Ich schluchzte bitterlich vor mich hin. Doch dazu war ja keine Zeit. So gab ich es denn auf, an fremder Leute Türen zu pochen und lief und rannte in Windeseile den Weg nach Hause zurück, während meine Schritte auf dem Brettersteg dahinklapperten wie kleine Hämmer.

Ich fand Nadja im Vorgärtchen am Waschtrog und flog in ihre Arme.

»Ach Nadja, liebe gute Nadja – schnell gib mir fünf Kopeken! Ach, die Menschen sind ja so schlecht! Und frag' nicht und red' nicht, – ich bin nur auf einem schönen Eselchen geritten!«

Nadja griff in ihre Tasche. Schon hielt ich das ersehnte Kupferstück in der Hand und atemlos und verstört und dennoch seltsam getröstet eilte ich den Weg zurück, den ich gekommen.

 

Der Großvater

Eines Morgens, da Nadja mich gewaschen und angekleidet hatte, sagte sie mir: »Es ist ein grauer alter Herr bei deiner Mama – geh nur hinein.«

»Wer ist denn das, Nadja?« fragte ich lebhaft.

Sie zuckte die Achseln und wußte nichts zu antworten. »Er ist aber nicht von hier –« sagte sie, »er kommt von weitem, denn er hat eine Reisetasche mit.«

Auf den grauen Herrn mit der Reisetasche war ich nun recht neugierig und trippelte gespannt in das Eßzimmer hinein, wo das Klavier stand und ich Stunde zu haben pflegte. Es war leer. Man hatte offenbar schon gefrühstückt. Ich trat vor die Veranda, – da saß der graue Herr auf der Verandabank und neben ihm Mama.

Er war richtig grau gekleidet und hatte weißgraue Haare, doch ein rotes Gesicht und wasserblaue Äuglein. So saß er breit und behäbig da.

»Das ist also Dudu?« fragte er mit einer gewissen Kühle im Ton.

»Ja, das ist Dudu. – Und dies ist dein Großvater, Dudu, geh und sag ihm guten Tag.«

Ich erinnerte mich der Ölbilder zu Hause, die meinen Großvater und meine liebe verstorbene Großmama vorstellten, und trat auf ihn zu, während er mich auf die Stirn küßte, und mir wie einem zweijährigen Kinde seine dicke goldene Uhr zeigte.

So ließ er mich eine Weile zwischen seinen kurzen Beinen stehen und es fiel ihm auch gar nicht ein, sich mit mir zu beschäftigen. Die Uhr ließ er in meinen Händen und fuhr fort, sich mit meiner Mutter zu unterhalten. Und da stand ich nun ratlos, die Uhr in den Händen und wußte nichts damit anzufangen, noch weniger mit dem Großvater.

Wußte er denn nicht, daß ich schon sechs Jahr alt war? Und warum sprach er denn immerzu von Geschäften, Dinge, die ich absolut nicht verstand?

Mein Interesse an ihm war bereits völlig erlahmt, ehe es noch zum Erblühen gekommen war. Ich fand den Großvater häßlich, langweilig, viel zu dick und kalt wie eine rohe Kartoffel. Ich spürte auch, daß Mama sich ihm gegenüber riesig zusammennahm und das Gespräch nicht recht in den Fluß kommen wollte, und ich war froh, als Mama endlich sagte: »Geh, spiel dem Großpapa etwas vor.«

Nie bin ich lieber ans Klavier gegangen. Ich wußte auch ganz genau, daß es gleichgültig war, wie und was ich spielte, denn er hörte ja doch nicht zu und machte sich nicht das geringste daraus. Ich spielte also schlecht und recht drei meiner schönsten Stücklein und als ich damit fertig war, merkte ich, daß er und meine Mutter immer weiter redeten. So setzte ich mich denn an den Frühstückstisch, trank meine Milch und kümmerte mich ebensowenig um den Großpapa wie er sich um mich. Blutsbande schienen zwischen uns ganz und gar nicht zu existieren, aber ich fühlte und begriff, daß er weder meine Mutter lieb hatte, noch sie ihn.

Nach einer Weile waren sie alle beide von der Veranda verschwunden und Nadja sagte mir, sie seien miteinander zum Kurhaus gegangen.

»Weißt du, wer das war, Nadja?« fragte ich, die Augen starr auf sie gerichtet.

Sie schüttelte den Kopf.

»Das war mein Großvater!« sagte ich mit einem Tone, der mir selber wunderlich klang.

Sie schlug die Hände zusammen. »Dein Großvater, Dudotschka? Was hat er dir denn mitgebracht?«

»Gar nichts!« erwiderte ich. »Er hat auch gar nicht gemerkt, daß ich ihm vorspielte. Er hat mich nicht ein bißchen lieb, Nadja, weißt du, und ich hab' ihn auch nicht lieb.«

Das Mittagessen nahmen wir später im Kurhause gemeinsam ein und der Großvater trank Bier und schimpfte ärgerlich über die harten Erbsen.

Nach dem Essen aber sah er nach seiner Uhr und sagte »Jetzt wird's bald Zeit. Kommt Ihr mit zur Bahn?«

Wir kamen mit. Wieder küßte er mich kalt auf die Stirn – ich dachte an die rohe Kartoffel – gab Mama einen gleichgültigen Kuß auf die Wange und stieg in den Eisenbahnwagen.

Ich war erleichtert, als der Zug endlich abfuhr mitsamt dem Großvater.

Ich habe ihn seither nie wieder gesehen.

 

Heimreise

Mitten im Spätsommer traten wir die Heimreise an.

Ich sah Riga zum zweiten Male, aber diesmal trug es ein viel freundlicheres Gesicht. Zwar war es noch das alte Hotel du Nord, das wir bewohnten, aber wir hatten ein großes und helles Zimmer und dieses wurde eines Tages noch einmal so hell, seit die liebe Tante Lonny darin mit uns wohnte. Sie sah wirklich aus wie der liebe Frühlingssonnenschein, war jung und froh und voller Zärtlichkeit für mich und ich hatte sie vom ersten Augenblick an lieb.

Bisher war sie Lehrerin in einer kurländischen Baronsfamilie gewesen, nun aber wollte sie mit uns tief hinein nach Rußland reisen, denn der Bruder meiner Mutter, der in der Ukraine seine erste Stellung als junger Arzt bekleidete, war ihr Verlobter und bei uns sollte die Hochzeit sein.

Auf der Station Dubrowka sollten wir einander von verschiedenen Seiten kommend treffen. Man kann sich denken, daß wir alle vergnügt und voll froher Erwartung waren.

So wurde es eine lustige Reise trotz ihrer Länge. Tante Lonny wußte so prächtige Geschichten zu erzählen, daß nur die Zeit nimmer lang wurde, und jedesmal, wenn wir an eine größere Stadt kamen, zählten wir zwei eifrig die Stunden, die uns noch von Dubrowka trennten. Dabei verzählte ich mich beständig, ließ mich gern von Tante Lonny im Rechnen unterweisen und fand diese Unterrichtsstunden so viel hübscher als die ich bei Mama zu haben pflegte.

So unter Lachen und Scherzen, Essen und Schlafen hatten wir die Stadt Dünaburg passiert, waren unterwegs nach Witebsk und hatten die größere Strecke bereits hinter uns. Schon sah das Land für mich wieder heimischer und ganz russisch aus, und ich dachte an Nadja, die in der dritten Klasse saß und gewiß noch froher war als ich, da sie in den letzten Wochen manchmal vor Heimweh geweint hatte. Ich freute mich über die lieben langgestreckten kümmerlichen Dörfer und Weiler, an denen unser Zug so gleichgültig vorübersauste und sagte immer wieder zu Tante Lonny: »Aber unser Butosch ist doch viel schöner!«

So kamen wir endlich nach Smolensk und erfuhren zu unserer Überraschung, daß die Bahnstrecke in den zwei Monaten unserer Abwesenheit bis über die Station Dubrowka hinausgebaut worden war, so daß wir nicht mehr nötig hatten, die letzte lange Strecke mit Postpferden zu fahren.

Ich klatschte in die Hände und tanzte vergnügt im Wartesaal umher; mit einem Male aber sah ich, daß Tante Lonny und Mama beide ganz traurig und besorgt aussahen.

»Ach Mariechen«, rief Tante Lonny, »da gibt's sicher eine große Konfusion! Am Ende verfehlen wir Albing – –«

»Ja, wer konnte denn auch denken, daß man die Strecke so schnell bauen würde! Übrigens kann ich mir nicht vorstellen, daß Albert vorausfahren wird ohne seine Herzliebste!«

Bald saßen wir wieder im Wagen und in fünf Stunden schon mußten wir in unserer Bahnstation Dubrowka sein, wozu wir vor zwei Monaten etwa fünfundzwanzig Stunden gebraucht hatten.

Ich stand am Fenster und guckte in den mächtigen Wald hinein. Ob ihm nicht seltsam zumute war, daß jetzt seit ein paar Tagen eine fauchende Lokomotive mit so vielen großen Wagen durchsauste? Die armen Häschen, die Eichhörnchen, ja selbst die Füchse und Wölfe mußten sich doch fürchten! Ob wohl hier die Stelle war, da unser Postkutscher immerzu einschlief?

In großer Spannung langten wir endlich auf unserer Station an – ich hatte den Kopf weit aus dem Fenster gestreckt – – es war kein Onkel zu sehen!

Tante Lonny war ganz blaß geworden. »Um Gotteswillen, was ist ihm nur passiert?« ächzte sie.

Nadja half uns, unser Gepäck hinaustragen. Sie sah ganz selig aus. »Ich weiß wohl, daß du dich freust, Nadjuschka, aber sieh nur, die arme Tante ist so traurig, denn der Onkel – Bräutigam ist nicht da!«

»Er wird vorausgefahren sein!« tröstete Nadja.

Und so war es auch. Nach vielem Hin- und Herfragen ergab es sich, daß der Onkel schon gestern angekommen und mit der uns entgegengeschickten Equipage vorausgefahren sei.

»Schadet nichts, Lonnychen«, tröstete die Mama.

Es trennen dich nur noch fünf Stunden von deinem Schatz!«

Sie hatte soeben geschäftig mit zwei Bäuerlein verhandelt, die uns ihre ruppigen, mit Stroh ausgepolsterten Teleggen mit je zwei mageren Pferdchen vorfuhren, und ohne uns weiter auf der Station aufzuhalten, kletterten wir in die hohen Bauernwäglein und setzten uns so gut es ging, zurecht.

Huidi – nun konnte die Fahrt losgehen!

 

Die Hochzeitsfahrt in vier Bildern

Ob in meines Paten schöner Equipage, ob mit elenden Bauernpferdchen – das war gleich, es ging ja doch heim und mein Kinderherz pochte laut vor Freude.

So rasseln wir durch einen endlosen russischen Wald in zwei bäuerlichen Holzkarren, voran Tante Lonny und Nadja, als Nachzügler Mama und ich.

Ein schweres Gewitter steigt auf, es wird von Sekunde zu Sekunde unheimlicher.

Meine Mutter zum ersten Bäuerlein: »Ob wir vor dem Ausbruch des Gewitters noch irgendwo unterkommen, guter Freund?«

Der Bauer zuckt ergeben die Achseln. »Wie's Gott gefällt, Herrin.«

»Fahr schnell zu, Lieber – wie weit ist's noch bis zum nächsten Dorf?«

»Fünf Werst, Herrin.«

Aber schon im selben Augenblick verfinstert sich die Welt zu einem unerbittlichen Schwarz, Blitze sprühen durch das Dunkel, ein Donnergebrüll rast los und eine Regenflut, nein, eine Sturzsee umwogt uns, richtet Wasserwände zwischen den nächsten Dingen auf, zwischen mir und meiner vorgestreckten Kinderhand, unserm Bäuerlein und mir, dem Gefährt meiner Tante und uns.

Jetzt stockt die Fahrt.

»Marie – lebst du noch?« kreischt Tante Lonny über das Gebrause hinaus.

»Ja, wir leben und du …?«

»Ach, um Gott, ich sehe meinen Bauern nicht mehr … fort ist er …«

Wir tasten nach unserem Kutscher hin – auch der ist verschwunden. Ratlos und zitternd sitzen wir da. Zerschlagen. Verlassen.

Aber aus der Tiefe, aus dem Dunkel, über das Wüten und Tosen der Elemente hinaus hören wir ein monotones, inbrünstiges Beten: Góspodi pomilui! Herr erbarme dich! Erbarme dich unserer Not, Herr und vergib uns unsere Sünden!«

Und allmählich erfassen wir, daß die Bauern unter unsern Wagen kauern. Ob das wohl das Ende ist …?

»Falte die Hände, mein Kind und bete auch du!« sagt meine Mutter. »Wir können jetzt nichts Besseres tun!«

Ich gehorche: Lieber Gott, ich bitte dich, ein gutes Kind laß werden mich.

Vater, laß die Augen dein, über meinem Bettchen sein!« bete ich laut.

Ach, mein Bettchen ist bald eine schwimmende Stätte; mitten unter dem Stroh wird unser Handgepäck vom Wasser über den Karrenrand gedrängt. Überall nichts als flutendes Wasser; Wasser und flutende Finsternis.

»Komm Herr Jesu, sei unser Gast, und segne uns, was du bescheret hast!« bete ich tapfer weiter, ohne an den Sinn des Gebetleins zu denken, aber es tut schon gut, sein Stimmlein dem Rauschen und Brausen gegenüber durchzusetzen – es ist eine Kraftäußerung!

Und siehe, je lauter ich bete, desto stiller werden die Mächte ringsum. Und auch die Finsternis lichtet sich von Minute zu Minute. Das Gewitter läßt wahrhaftig nach.

Und wie aus der Versenkung hervor tauchen unsere Bäuerlein, vertieft und schweigsam; schwingen sich auf den Karrenrand, ergreifen die Zügel.

» No – nuka, pascholl!« ertönen ihre Stimmen nacheinander; ein Ruck und knarrend und gurgelnd drehen sich die Räder durch Wasser und Schlamm.

»Fahr uns in Euer Dorf, Brüderchen!« sagt meine Mutter. »Wir wollen bei Euch übernachten.«

»Wie du befiehlst, Herrin!« erwidert gleichmütig der Bauer.

 

Das Strumpfband

Eine dunkle verräucherte Bauernstube. Kienfackeln in eisernen Haltern geben ein trübes Licht; vor dem Heiligenbilde in der Ecke glüht das ewige Lämpchen.

Bärtige ernste Gesichter, neugierige Frauenköpfe tauchen durch das Dämmerdunkel. Man hört halblaute Bemerkungen, manchmal ein mitleidiges Lachen.

Ich stehe splitternackt auf dem Tische des Hauses, lächle die Bauern an und werde mit vereinten Kräften von Mutter und Tante Lonny mit Branntwein abgerieben.

Ein unerhörter Vorgang wahrlich für die Zuschauenden, und offenbar eine strafbare Vergeudung: das Fest des Branntweingenusses gebührt doch von jeher allein dem Magen!

»Damit das Kind sich nicht erkältet!« sagt meine Mutter erklärend. »Den Rest trinkt zu unserer Gesundheit.«

Ein breites Grinsen fliegt über die starren Männergesichter. »Wir danken ergebenst, Herrin.«

Zufrieden stolpern sie mit ihrer Branntweinflasche zur Tür hinaus.

Ein paar junge Weiber bleiben zurück – ob sie uns nicht beim Entkleiden helfen dürften? fragten sie bescheiden.

In ein grobes trocknes Bauernhemd gehüllt, liege ich zufrieden auf dem sauberen Stroh und blinzle. Da gewahre ich, wie das eine der jungen Weiber meiner Tante die nassen Stiefel aufknöpft und sich voller Staunen über ihr Knie beugt.

Bewundernd hält sie das altmodische gestickte Perlenstrumpfband ans Licht.

»Ach, ist das schön!« sagt sie mit einem tiefen Seufzer. »Schade, daß du so etwas Prächtiges unterm Kleid trägst, Herrin, wo es doch niemand sieht!«

»Wo würdest du es denn tragen?« fragt Tante Lonny lächelnd.

»Nun als Kopfschmuck, als Kokoschnip natürlich. Ich bin nämlich Braut, Herrin und soll nächsten Sonntag Hochzeit machen.«

»Nun, und ich bin auch Braut«, erwidert Tante Lonny strahlend, und soll, so Gott will, schon morgen getraut werden, sobald wir nur ankommen. Aber nimm das Perlenband nur zum Andenken von mir; hoffentlich bringt es dir Glück! Bekommst du einen braven Mann?«

Und da Tante Lonny sieht, wie die Lippe des anderen jungen Weibes zittert, reicht sie ihr das zweite Strumpfband.

Beglückt und dankend beugen sich beide über ihre Hände.

»Die Schwester ist schon verheiratet!« sagt die erste. Man muß den Mann nehmen, wie er einem beschert wird. Das ist schon Frauenlos!« fügt sie leise hinzu. »Aber niemand im Dorf und weit im Umkreis kann sich nun sehen lassen wie wir zwei! Gelt Dascha – wie werden wir beide beneidet werden!«

Und sie lachen wie glückliche Kinder die Perlenbänder sich gegenseitig ins Haar steckend.

Dann wünschen sie uns eine gute Nacht, und nehmen sorglich den einen brennenden Kienspan mit hinaus. Lichter und Schatten werden dunkler und tiefer und flackern noch eine Weile infolge der entstandenen Zugluft. Nur das ewige Lämpchen glüht stetig vor dem Muttergottesbilde.

Gute Nacht.

 

Der Klaps

Ein lachender Sommermorgen und ein Tag, wie er nicht schöner gedacht werden kann – das war Tante Lonnys Hochzeitstag!

Der blaue Himmel hing voller Lämmerwölkchen, alle Menschen waren lieb zueinander und der neue Onkel war der schönste, der freigiebigste, der lustigste aller Onkel. Das strahlende Brautpaar wandelte Arm in Arm durch unsere Zimmerflucht, so daß es schon schwierig war, mit ihm Schritt zu halten. Offenbar wollten die beiden Glücklichen miteinander allein sein. Dem deutschen Herrn Pfarrer, der eine Zweihundertkilometerfahrt hinter sich hatte, servierte man im Eßzimmer einen Imbiß.

Mit mir wußte niemand was Rechtes anzufangen und so spazierte ich denn in unserm Blumengarten immer rund um die großen Beete, bald hier, bald da eine Blume für Tante Lonny pflückend.

Im Dorf hatte sich die große Neuigkeit herumgesprochen, daß bei den »Ausländern« eine Trauung stattfinde und der Gartenzaun stand gedrängt voller neugieriger Kinder.

Ich hatte mein schönstes rosa Festkleidchen an und war nicht wenig eitel auf den Eindruck, den ich offenbar hervorrief. So nahm ich denn keine Notiz von den gaffenden Dorfkindern und ließ mich vergnüglich anstaunen.

»Eh – du da!« rief eine Stimme – Ihr habt also Hochzeit heute?«

Ich nickte gelassen.

»Wo ist denn Euer Pope?«

»Der frühstückt eben.«

»Ist das so Mode bei Euch, daß der Bräutigam im herrschaftlichen Wagen anfährt, die Braut aber im Bauerkarren mit zwei schäbigen Katzen davor?«

»Das war nur ein Versehen«, erkläre ich würdevoll, »wir hätten mit dem Onkel Bräutigam auf der Station zusammentreffen sollen. Wir haben uns aber verfehlt.«

»So? Und da seid Ihr im Regen naß geworden und fast ersoffen wie die Ratzen –?« höhnt eine freche Knabenstimme.

Ich fühle, hier sprüht mir aus unbekannten Gründen eine Feindseligkeit entgegen, der ich nicht recht zu begegnen weiß.

»Trägt Euer Pope auch langes Haar?«

»Nein!« sage ich energisch. »Das hat er nicht nötig.«

»Dann ist er auch kein Pope!« kichert es gehässig um mich her.

»Ach, laßt sie doch – diese Ausländer sind ja alle Heiden!« sagt ein größeres pockennarbiges Mädchen verächtlich.

Ich überlege eben, ob ich meinen Rückzug ins Haus antreten soll, um mich so vor den lästernden Jungen zu retten. Da höre ich einen großen Jungen sagen: »Nein, bleib hier, Fräuleinchen, komm näher an den Zaun heran – näher, noch näher – so. Und nun gib mir die Hand.«

Ahnungslos strecke ich dem Jungen meine sechsjährige Pfote hin – da schmettert er einen gewaltigen Klaps auf meine Hand nieder, daß ich vor Schmerz und Entsetzen aufschreie.

Brüllendes hämisches Gelächter ringsum. Wie ein Rudel häßlicher grinsender Teufel feixen die Kinder hinter mir her. Warum wohl? Was habe ich ihnen getan?

Da tritt Tante Lonny in ihrem Brautschmuck aus der Glastür in den Gatten – schön wie ein Engel des Lichts, vom weißen Brautschleier umwallt.

»Schnell Herzchen, komm herein – gleich wird der Herr Pfarrer anfangen!«

Ein staunendes »Ah!« geht durch die Reihen meiner Quälgeister, und mit rotem Kopf und stürzenden Tränen hänge ich an ihrem Halse.

»Mein Herzenskind – was ist denn?« fragt sie zärtlich.

»Nichts, Tante Lonny – ich hab' dich nur so lieb!«

 

Der Lammsbraten

Die Zeremonie war vorüber. Man saß beim Festessen. Als der Braten aufgetragen wurde – nach meinem kindlichen Kriterium war es ein Lammsbraten – sah ich, daß meine große Schwester dem Papa bedeutsame Blicke zuwarf, sich das Taschentuch vor den Mund hielt und ein Lachen zu verbergen suchte. Meine Mutter saß mit rotem Kopf an der Spitze der Tafel, neben ihr der Herr Pfarrer, diesem gegenüber der neue Onkel neben seiner jungen Frau. Ich mußte sie immerzu ansehen, sie schien mir die ganze Tafel zu erhellen. Der Pfarrer hob sein Glas gegen das junge Paar und hielt eine kurze Rede, von der ich nicht viel verstand. Auch ich bekam mein Glas voll Champagner und stieß so energisch mit allen an, daß meinem Glas eine Ecke ausgeschlagen wurde. Dann aber begann der neue Onkel in seiner launigen Weise zu plaudern.

»Es gibt eigentlich nur drei Dinge, gegen die ich von jeher eine tiefeingewurzelte Abneigung habe: Spinnen, ungewaschene Patienten und Lammsbraten – nicht wahr Mariechen«, wandte er sich an meine Mutter, »das weißt du noch von unserer Jugend her?«

Ich sah, daß meine Mutter verlegen aussah und meine Schwester einem neuen Lachanfall zu erliegen drohte. Auf einen verzweiflungsvollen Blick meiner Mutter aber richtete sie sich auf und saß ernst und kerzengerade.

»Nicht wahr, Lonnychen, Lammsbraten gibt's nie in unserm künftigen Heim, oder nur wenn ich einmal auswärts bin?«

»Ja, was tut man aber, wenn auf dem Lande kein anderes Fleisch zu haben ist?« fragte sie.

»Nun, dann essen wir eben keines. A propos Mariechen, dieser Hasenbraten ist aber geradezu köstlich.«

Schon tat ich meinen Mund auf, um über den Tisch zu rufen: »Aber das ist ja gar kein Hasenbraten«, als ich einen warnenden Blick meines Vaters auffing und meine Schwester mir unter dem Tisch einen Puff versetzte.

Gekränkt ertränkte ich meinen Kummer in meinem Champagner, den ich langsam und schwelgend bis auf den letzten Tropfen austrank.

Als das Blanc-manger aufgetragen wurde, dem ein Obstdessert folgte, aß ich schweigsam und so reichlich davon als es mir meine Niedergeschlagenheit und das Unbeachtetsein erlaubte.

Mochten die Großen doch reden, was sie wollten, dachte ich bekümmert, die Wahrheit sagten sie ja doch nicht. Wie konnte denn nur der neue Onkel glauben, daß er Hasenbraten gegessen habe? Und warum erlaubte man mir nicht, die Wahrheit zu sagen?

Ich gestehe, daß mir die weiteren Vorgänge in eine nebelhafte Ferne gerückt erschienen. Die Menschen bei Tisch schienen hin und her zu schwanken, und selbst Tante Lonnys zartes Gesichtchen verwandelte sich ab und zu in eine nickende weiße Lilie. Raum- und Zeitbegriffe schoben sich wunderlich durcheinander, und als die Tafel endlich, endlich aufgehoben wurde, verzog ich mich still in den Garten, legte mich auf die harte Bank und war in wenigen Minuten fest eingeschlafen.

 

Die verzauberten Hühner

Am späten Nachmittage, da der Pastor bereits abgereist war und das glückliche junge Ehepaar sich im Garten erging, fand man mich noch immer schlafend auf der Gartenbank. Ich erwachte von einem zärtlichen Kuß meiner Tante.

»Sieh doch nur das arme Würmchen!« sagte sie mitleidig, »ganz in aller Stille hat es sein erstes Champagnerräuschlein ausgeschlafen!«

Sie nahmen mich in ihre Mitte, und so von ihnen beiden umschlungen, wanderte ich beglückt mit ihnen über die Gartenwege, zeigte ihnen meine Lieblingsstellen und unsere prächtigsten Blumen und sagte so recht aus Herzensgrund »Zu Hause ist es doch am allerschönsten!«

»Habt ihr denn auch Hühner auf dem Hof?« fragte Onkel Albert unvermittelt und zwinkerte seiner jungen Frau pfiffig zu –, »dann könnten wir Dudu eine Vorstellung geben!«

»Der Onkel kann nämlich zaubern!«, sagte Tante Lonny geheimnisvoll, »aber freilich, dazu braucht er Hühner!«

»O wir haben Hühner, Enten, Gänse und Truthühner!« rief ich eifrig. »Wieviel Hühner brauchst du denn für die Vorstellung?«

»Je mehr, je besser –«, sagte der Onkel lustig, »sagen wir also drei oder vier.«

Ich lief spornstreichs davon und kam in etwa fünf Minuten wieder, während Nadja einen Korb voller Hühner herantrug.

»Nadja darf doch auch zusehen?« rief ich strahlend.

»Aber gewiß. Du magst ruhig das ganze Haus zusammentrommeln.«

Wieder verschwand ich wie ein Pfeil, und auf mein Rufen sammelten sich alle miteinander auf der großen Balkonveranda.

»Nun paß mal auf!« sagte der Onkel und streifte seine Hemdsärmel zurück. Dann ergriff er ein Huhn, schwang es in großem Bogen rasch im Kreise mehrmals um seinen Kopf und setzte es auf den Gartentisch, wo es betäubt und wie betrunken sitzen blieb.

Nun duckte er den Schnabel des Tieres auf den Tisch nieder, nahm ein Stücklein Kreide aus der Tasche und zeichnete einen weißen Strich über den Tisch und über den Schnabel des Huhnes.

»Jetzt ist es verzaubert!« sagte er schmunzelnd. »Es glaubt nämlich, der Kreidestrich sei eine Schnur und es sei damit an den Tisch gebunden.«

Voller Staunen sah ich zu. Wirklich, das dumme Huhn rührte sich nicht. Unsere Dienstboten wollten sich ausschütten vor Lachen.

Und bald saßen noch vier andere Hühner in der gleichen gebückten und unnatürlichen Stellung neben dem ersten und bildeten sich ein, sie wären mit dem Kreidestrich gefesselt und verzaubert.

»O ihr dummen, dummen Hühner!« rief ich einmal über das andere. »Ihr seid ja doch gar nicht angebunden, ihr seid ja frei! Nur wissen müßt ihr's!«

»Da liegt eben der Haken!« sagte Onkel Albert lachend. »Nur wissen müßten sie's. Aber so geht's nicht nur den Hühnern, so geht's auch den Menschen, den Nationen und Völkern. Und damit hast du ein weises, großes Wort gesprochen, kleine Dudu.

Jetzt ist aber auch meine Kunst und meine Vorstellung zu Ende!«

Er nahm die Hühner, packte sie wieder in den Korb und händigte sie Nadja ein.

 

Lampen und Laterna Magica

Natürlich hatten wir eine Überraschung für Papa von unserer Reise mitgebracht und diese befand sich in einer sauber vernagelten Kiste.

Wohl tagtäglich fragte ich sehnsuchtsvoll: »Wann bekommt denn Papa seine Überraschung?«, worauf Mama lächelnd zu erwidern pflegte: »Wenn die Tage noch kürzer geworden sind. Es ging nun schon in den Herbst hinein, die Abende wurden länger und immer noch fragte ich: »Sind denn die Tage noch nicht kurz genug, Mama?«

Da, endlich – es war an einem Sonntag – durfte Papa seine Überraschung, die für mich natürlich auch eine war, aus der Kiste packen.

Schmunzelnd und so sorgfältig und methodisch wie er alle handwerklichen Dinge tat, ging er mit Stemmeisen und Hammer ans Werk, während ich vor Hochspannung ihn und die Kiste umtanzte und kaum eine Sekunde ruhig stehen bleiben konnte.

Als ersten Gegenstand hob er eine schöne hohe Tischlampe und eine eiförmige Glocke aus mattem Glase aus der Holzwolle.

»Nun«, meinte er, »das ist ja famos – so soll die Kerzenwirtschaft denn ein Ende haben.« Denn bisher hatten wir nur Kerzen gebrannt. Dieser Prunklampe folgten mehrere andere, einfachere und Papa stellte sie alle nebeneinander auf den Tisch vor uns hin.

»Das ist ja eine ganz ansehnliche Batterie!« sagte er zufrieden. »Aber da, in der Kistenecke sitzt ja noch was –« und er zog einen schwarzen kleinen, seltsam aussehenden Apparat hervor, dazu mehrere lange schwere Kästchen, von denen man die Deckel zurückschieben konnte, und in denen schmale schwarze Glasplatten steckten.

»Aha!« sagte er schmunzelnd – »das ist ja wohl die Hauptüberraschung!«

»Was ist denn das?« fragte ich zitternd vor Erwartung.

»Das ist eine Laterna magica, kleines Mädchen«, sagte er. Machte mir eine spaßhafte Verbeugung und sprach: »Hiermit gebe ich mir die Ehre und das Vergnügen, Miß Dudu zu einer Abendvorstellung einzuladen, mitsamt so vielen ihrer Freunde, als in Mamas Empfangszimmer hineingehen.«

Und weiter war aus ihm nichts herauszubekommen, was ich auch anstellen mochte und trotz meiner Siedehitze von hochgespannter Erwartung.

»Kleine Mädchen dürfen nicht so neugierig sein, sonst bekommen sie lange, spitze und krumme Nasen. Und damit Schluß. Basta.«

Am Abende aber gab es allerhand merkwürdige Vorbereitungen. Zuerst wurde die offene Flügeltür, die aus dem Kinderzimmer in das Empfangszimmer führte, mit einem großen weißen Bettlaken verhängt. Dann durfte ich soviel Stühle heranschleppen, als in den Raum hineinpaßten, und in Sitzreihen hintereinander aufstellen, wie ich es noch vom Zirkus her in Erinnerung hatte.

»Heute gibt es Zirkus bei uns!« verkündete ich freudestrahlend unseren Dienstboten in der Küche. »Und wir haben achtundzwanzig Sitzplätze. Also dürft Ihr soviele Freunde mitbringen als hineingehen, und Nadja, vergiß ja nicht, deine Nichten Natascha und Mascha kommen zu lassen. Um sieben Uhr soll der Zirkus beginnen.«

Für Mama und mich hatte ich zwei Lehnstühle, erste Rangplätze reserviert.

Unser Saal steckte schon voller tuschelnder erwartungsvoller Leute, die ich freudig begrüßte. Zu meiner Befriedigung war der böse große Junge nicht dabei, der mich am Hochzeitstage Tante Lonnys so derb auf die Hand geschlagen hatte.

Jetzt ertönte ein Glockenzeichen. »Herein, bitte nur alle herein!« rief ich, zog meine Mutter mit mir und setzte mich auf meinen Platz.

Das Zimmer war dunkel; nur auf dem Laken sah man einen weißen helleuchtenden Kreis.

Und jetzt – ah, das war ja wunderschön – strahlte ein farbiger, buntleuchtender Stern in dem Kreis auf und bewegte sich. Die Farben flossen ineinander, bildeten immer neue glänzende Muster, daß es eine Pracht war und man sich daran nicht satt sehen konnte. Dazu hörte man ein leises Drehen, als würde ein Rädchen um und um bewegt.

»Ach wie schön, Papa!« rief ich und klatschte in die Hände. »Ist das der Stern zu Bethlehem?«

Papa brummte etwas Unverständliches.

Mit einem Male aber jagte ein großer Hund auf der Leinwand vorüber und der hatte eine Wurst im Maule. Hinter ihm her aber rannten mit Knüppeln vier, fünf, sechs Buben und konnten doch dem Hund nicht beikommen.

Das war sehr lächerlich und machte uns allen großen Spaß.

Und nun kam eine richtige Zirkusszene: zwei schöne Damen mit Blumenreifen tanzten auf ihren Pferden stehend an uns vorüber – wieder und wieder in immer neuen Stellungen. Ich sah mich um, kniff Nadja, die hinter mir saß, in den Arm und flüsterte: »Gelt Nadjuschka – du weißt doch noch – das ist der Zirkus in Riga!«

So folgte ein Bild auf das andere, und unser Publikum lachte vor Entzücken, ächzte vor Verwunderung oder machte seine halblauten Bemerkungen, je nach dem vorgeführten Gegenstande und ich war überaus zufrieden mit seiner Anteilnahme.

Zuletzt kam noch eine wunderschöne farbige Sonne, größer noch und bunter und strahlender als der Stern, und die Farben darin waren ein glitzerndes Wunder!

»Nun ist's aus!« proklamierte Papa. »Geht alle nach Haus.«

Die Stühle knarrten, das Zimmer leerte sich – noch gänzlich verzaubert blieb ich eine Weile auf meinem Sessel sitzen und seufzte: »Ach, das war aber schön, Papa! Darf ich jetzt zu dir hinein, Papa?«

»Später!« sagte Papa. Zuerst muß die Zauberlaterne wieder eingepackt werden. Sie geht jetzt schlafen.«

 

Robinson

Die Doppelfenster standen schon im Korridor bereit und wurden sauber gewaschen – also stand der lange russische Winter vor der Tür.

Ein großer Korb mit Sand, ein anderer mit Moos wurden in die Zimmer getragen und auf einem Servierbrett lagen schon alle großen bunten Muscheln, die als Schmuck zwischen die Fenster kommen sollten.

Da ich bereits einigen Geschmack entwickelt hatte, überließ man mir gern die Anordnung der Muscheln.

Ich war also eifrig bei der Arbeit – zuerst kam eine Schicht Sand, damit man keinen Zugwind verspüre, darauf eine Schicht grünen Mooses und nun endlich die Muscheln.

Ob ich nicht auch ein paar meiner Porzellanfigürchen hinzutat? Das würde doch gar nicht schlecht aussehen. Ich lief mit meinem Vorschlag zu Mama. »Nein«, sagte diese, »nur keine Neuerungen, lassen wir's einfach bei den Muscheln.«

Enttäuscht ging ich davon. Ein paar Figürchen so mitten im grünen Moose müßten doch reizend aussehen wie Menschen inmitten einer grünen Wildnis. Ein Figürchen insbesondere, das ich Robinson Crusoe nannte, könnte einen ganzen Winter lang auf seiner grünen Insel hausen, die von mächtigen Muschelgebirgen durchzogen war, und ich hätte ihn stets vor Augen. Aber Mama blieb bei ihrem Nein und Papa lachte mich aus und meinte, da müsse ich ja eine ganze Galerie Figuren haben – dann ließe sich freilich schon etwas damit machen, nicht aber mit so ein paar Figürchen. »Wir haben doch einundzwanzig Fenster – wo willst du denn die Figuren dazu hernehmen?«

Das sah ich natürlich ein und so wurden denn die Muscheln in hergebrachter Weise gruppiert, die Doppelfenster vorgelegt und verklebt, und dann war es dunkler in den Zimmern geworden und der Winter mochte kommen.

Aber mich ließ doch der Einfall, eine Robinsonade zu veranstalten, nicht ruhen. Ich wußte mir zu helfen. Ich schnitt mir eine Reihe Papierpuppen aus, nannte eine derselben Robinson Crusoe, und führte mit diesen ein allererstes bewegtes Stücklein auf dem Fensterbrett auf, indem ich meinen Helden schreckliche Abenteuer bestehen, unerhörte schroffe Felsmauern – nämlich vom Boden bis zum Fensterbrett – erklimmen ließ, mich seiner Not bediente, um ihm eine Hütte aus Papier zu bauen und ihm seine Insel häuslich einzurichten half. Statt des Schiffbruches richtete ich einen Massenabsturz von der steilen Felswand an, wobei alle außer Robinson den Tod fanden und wandelte derart seine Erlebnisse ab, wie es mir für mein Terrain gut schien, zum ersten Male wirklich folgerichtig erfinderisch und geistig tätig. Robinson unter seinen Tieren, Robinson auf der Suche nach Beute usw. usw. Seltsamerweise verzichtete ich auf das beglückende Zusammensein mit seinem treuen Diener Freitag, wohl weil es mir schwerer und heldenhafter erschien, wenn er sich allein in seiner Wildnis zurechtfand und diese sich unterwarf.

So spielte ich manches Stündlein vor mich hinwispernd und Robinsons Schicksale lenkend und war glücklich, indem ich meines Helden Wohl und Wehe auf meine kleinen Schultern nahm. Und das Schönste von allem war, daß niemand, niemand davon wußte, darnach frug und man mich mir selbst überließ.

Robinson und ich – als sein seelisches zweites Selbst – wir waren miteinander allein, wir waren einig und so war ich unter dem Miterleben seiner Drangsale in meiner beschränkten Weise zum ersten Male gestaltend schöpferisch geworden.

 

Wettroff und Ungaren

Regelmäßig zweimal im Jahr hatten wir einsamen Landbewohner uns des Besuchs des Kaufmanns Wettroff aus Moskau zu erfreuen, der in zwei hochbepackten, mit je ein paar kräftigen Gäulen bespannten Wagen bei uns anfuhr.

Wenn Wettroff da war, wurde es ein Fest für das ganze Haus. Die Schulbücher flogen beiseite, die Klavierstunden wurden unterbrochen und wir alle versammelten uns in dem geräumigen Zimmer, das den massivsten und größten Tisch enthielt. Hier nun wurden die Stoffwaren ballenweise hereingetragen und ausgepackt, galt es doch jedesmal einen Vorrat für ein halbes Jahr anzuschaffen.

»Na, wie geht's Wettroff?« fragte dann mein Vater – »Wie sieht's draußen in der Welt aus?«

»Wollt Ihr nicht zuvor ein heißes Glas Tee trinken, um Euch zu erwärmen?« – meine Mutter.

Und der dicke Kaufmann im langen Pelzkaftan dankte, erkundigte sich nach unserer aller Wohlergehen, erzählte wohl einiges von den Ereignissen, die sich da und dort zugetragen haben mochten, auf Gütern, die er passiert, von Nachbaren, die wir flüchtig kannten, und nahm sich nicht einmal die Zeit, sich zu setzen, um sein Glas Tee auszutrinken.

Vielleicht sollte das auch eine besondere Respektsäußerung für unser Haus sein.

Dann aber ging er sofort ans Werk, pries seine Waren an, erzählte von den in Moskau beliebten Modefarben und das Auspacken begann.

Welch unumstößlicher Beweis für die damals herrschende Sicherheit in Rußland seine weiten Fahrten über das Land waren, kam uns allen nicht einmal zum Bewußtsein. Man stelle sich vor – zwei unbewaffnete Männer allein zogen tagsüber, oft bis in die späte Nacht hinein mit ihren wertvollen Waren auf unwegsamen Straßen durch riesige Wälder, von Ort zu Ort, von Dorf zu Dorf, übernachteten bald hier, bald dort in elenden Einfahrten oder auf Gutshöfen, ohne daß sie jemals überfallen oder beraubt wurden! Meist marschierten sie dabei zu Fuß, und kamen nur langsam vorwärts, denn die schweren Fuhren gestatteten ihnen ein Aufsitzen erst nachdem sie einen großen Teil der Waren verkauft hatten. Und trotzdem waren sie guten Mutes und von einer robusten, geradezu stahlharten Gesundheit.

Das einzige, was sie befürchteten, waren Wölfe, mit denen sie bereits mehrere Abenteuer bestanden hatten. So erzählte der blonde Wettroff schmunzelnd, daß sie öfters stundenlang von einem Rudel Wölfe verfolgt worden seien, und daß sie zur Winterszeit Stücke vergifteten Fleisches bei sich führten, die sie den Wölfen als Köder zuwürfen.

»Hat erst ein Wolf das Fleisch im Magen«, sagte er pfiffig, »dann macht er's auch nicht mehr lange. Die anderen fallen über ihn her, und so vergiften sie sich immer wieder aneinander.«

Kamen dann beim Auspacken die Kleiderstoffe zum Vorschein, so war es gewöhnlich Papa, der seine Auswahl traf und uns alle reichlich beschenkte. Für die Dienstboten wurden Kattune und billige Wollenzeuge, Kopf- und Umschlagtücher zu Weihnachts- und Ostergeschenken gekauft; unsere Haus- und Tischwäsche wurde erneuert und jedesmal strich Wettroff zufrieden seinen Geldbetrag ein und verwahrte ihn in einer ledernen Geldkatze, die er an einem dicken Leibriemen unter dem Pelzkaftan trug. Wenn er sich verabschiedete, wünschte er uns immer eine gute Gesundheit und versprach, das nächste Mal alles nur Gewünschte an Stoffen und Farben mitzubringen.

Noch viel riskanter und schwieriger wie für diese Kaufleute gestaltete sich solch ein Ziehen über Land für die ungarischen Händler, die ihre Kurzwaren in großen Kisten einfach auf dem Rücken trugen. Wie müde und abgeschafft sahen meist solche Wanderhändler aus, die den Mut hatten, sich allein durch die finsteren Wälder zu wagen! Kaum jemals ging einer von uns fort, ohne daß mein Vater ihm etwas Namhaftes abgekauft hätte.

Es war doch ein hartes Los, so Tag für Tag mit einer schweren Bürde durch ein fremdes Land zu ziehen!

Aber auch diese Leute wußten nichts von Raubüberfällen oder dergleichen zu erzählen. Das russische Volk hatte damals noch eine tief eingewurzelte Frömmigkeit, und öffnete dem einsamen Wanderer gastlich Türen und Herzen.

Und heute? Wie ist es anders geworden! Und nicht nur in Rußland allein. Wer wagte es noch heute, selbst in den zivilisierten Ländern, einsam und unbewaffnet mit Waren über Land zu ziehen?

 

Das Neujahrsfest

Einmal – ich mochte sieben Jahre alt sein – wurde ich zu einer Neujahrsfeier auf ein Nachbargut mitgenommen. Es sollten noch mehrere Kinder dort sein, hieß es und es gäbe auch einen Christbaum.

Was eigentlich ein Christbaum bedeuten sollte, der erst zu Neujahr hergerichtet und angezündet würde, war mir nicht recht klar. Immerhin freute ich mich auf den Lichterbaum, auf das Fest und die Kinder.

Als wir nach zweistündiger abendlicher Fahrt durch den winterlichen Wald anlangten, stand der Oberst Nikolai Iwanowitsch Chrapoff behäbig, breit und vergnügt bereits auf der Treppe und begrüßte uns auf das herzlichste.

Ich hatte Nikolai Iwanowitsch immer gerne gemocht, weil er so frisch, so lustig war und immer frei von der Leber weg redete. Mama nannte ihn zwar ein Original und Papa einen wunderlichen Patron, aber mit solchen Worten wußte ich damals noch nichts anzufangen.

Im Wohnzimmer, wo schon mehrere Gäste saßen, kam uns Alexandra Timoféjewna in einem hellblauen Kleide mit einer rauschenden langen Schleppe entgegen. Sie war sehr zart, schlank und blond und sah aus, als sei sie eine Königin. Tatsächlich war sie Hofdame am vormals kaiserlichen Hof gewesen, sprach und schrieb am liebsten französisch und konnte sich auf dem Lande unter ihren Bauern absolut nicht zurechtfinden.

Ja selbst ich mit meinen sieben Jahren empfand schon damals, daß diese Frau aus einer anderen Welt käme. Am Teetisch sah sie elegant und reizend aus, wenn sie mit ihren schlanken, weißen Händen den Tee einschenkte oder ihren Gästen den Zucker und die Sahne hinreichte. Aber ihr Hausstand war so unglaublich vernachlässigt und sonderbar, daß sie mir vorkam, als sei sie in die Höhle eines Bären geraten und würde darin durch Zauber festgehalten.

Im Besuchszimmer, durch welches ab und zu plumpe Mägde auf nackten Füßen trabten, hingen die Tapeten in großen Fetzen nieder, so daß sie sich über darunter stehende Stühle wölbten wie Lauben. Die Kristalltellerchen, auf denen man uns Eingemachtes servierte, waren so unsauber, daß die Gäste sie zuerst heimlich abzuwischen versuchten. Dabei waren die vergoldeten, mit verblichener blauer Seide bezogenen Möbel so zierlich und zerbrechlich, als kämen sie aus einem vergrößerten Puppenhause. Und als erst die beiden Söhnchen zur Begrüßung hereingeführt wurden, benahmen sich diese zarten Kinder in einer Weise, daß man sie sofort wieder wegtragen mußte, fuhren mit den Fingern in die Zuckerdosen und Kristallschalen, als verstünde sich das von selbst und vollführten einen Mordsspektakel. Dabei warfen hohe, blindgewordene Spiegel von verschiedenen Seiten das Bild der Gäste und der zarten, blonden Schönen zurück, die in ihrem eigenen Hause so fremd und verlassen dasaß, wie ein wunderschöner Märchenvogel unter häßlichen grauen Enten und Hühnern.

Von den Großen unbemerkt, gelang es mir, mich von ihnen weg in das Kinderzimmer zu stehlen, wo eine heillose Unordnung herrschte und wo die beiden Kleinen unentwegt nach Tee und Biskuits schrien.

Endlich wurde ich von einer barfüßigen feisten Magd ins Besuchszimmer zurückgebeten, da der Sohn eines entfernten Nachbars angekommen sei und mit mir spielen wolle. Ich kam, und wir Kinder begrüßten einander kameradschaftlich.

»Im Saal wird schon der Lichterbaum angezündet«, flüsterte er mir zu – »ich sah es durch die Türritze. Nachher erst kommt das Festessen. Und weißt du – die Geschenke sind in große Bottiche gepackt – das ist doch großartig!«

»In Bottiche?« fragte ich verwundert. »Im Saal stehen doch niemals Bottiche …«

»Hier aber wohl!« nickte er und sah mich vergnügt und pfiffig an. »Du wirst's schon sehen, wenn du's auch nicht glaubst.«

So redeten wir noch eine Weile hin und her – da wurden die Flügeltüren aufgeworfen, ein heller Lichterglanz strömte uns entgegen, und scheu, einander bei den Händen fassend, folgten wir den Großen auf dem Fuße, da Nikolai Iwanowitsch uns freudestrahlend und wiederholt einlud, zu kommen.

Der Baum war nun wirklich wunderschön und glitzerte geheimnisvoll und verheißend in seinem bunten und vergoldeten Schmuck. Lamettafäden zogen sich wie ein Netzwerk von Zweig zu Zweig – da bekam ich einen tüchtigen Puff von meinem Kameraden. »Sieh nur – da stehen die Bottiche, Dudu! Und das auf dem glatten Parkett!«

Da nun aber niemand Anstalt machte, uns den Inhalt dieser riesengroßen, häßlichen Fässer auszuteilen, nahmen wir zwei uns ein Herz und schlichen uns an sie heran. Ja, prosit – mit unsern Nasen reichten wir nicht über den Faßrand hinaus.

Wie eine Katze kletterte der Junge an den Faßreifen empor, warf einen Blick hinein, und sofort verwandelte sich sein hübsches, rundes Bubengesicht und nahm einen Ausdruck grenzenloser Enttäuschung an.

»Weißt du, was drin ist?« fragte er halblaut. »Nun?« fragte ich, während mein Herz klopfte bis an den Hals.

»Pökelfleisch!« knurrte er in einem Ton, als sei er schwer beleidigt worden. »Nichts als scheußliches, rotes Pökelfleisch!«

»Vielleicht aber in dem anderen Bottich …?« fragte ich zögernd.

»Hoho! das wollen wir doch gleich sehen!« rief mein kleiner Kamerad. Und schon hatte er sich an dem zweiten Faß hochgezogen.

»Saure Gurken!« sprach er dumpf.

Ich sah ihn versteinert an – er mich.

Dann setzten wir uns still nebeneinander auf einen Schemel in eine Ecke und als Nikolai Iwanowitsch einen goldenen Pfefferkuchenmann vom Baum nahm und ihn uns präsentierte, verzehrten wir diesen in tiefem Schweigen, Bein um Bein und Arm und Arm. In Kopf und Rumpf teilten wir uns so genau und gewissenhaft als nur möglich, und so waren wir trotz der Enttäuschung doch einigermaßen getröstet.

Die Uhr schlug zwölf. Die Erwachsenen wurden mit einem Male außerordentlich lebendig, schüttelten einander liebenswürdig die Hände und beglückwünschten sich gegenseitig zum neuen Jahr.

»Ein neues Glück zum neuen Jahr!« klang es rings um uns her.

 

Vor der Beichte

Zu Anfang der Fastenzeit, sechs Wochen vor Ostern, kam Alexandra Timoféjewna mit einem Reisekoffer und einer ihrer Mägde, die diesmal Schuhe trug, zu uns angefahren, warf sich meiner Mutter um den Hals und rief enthusiastisch:

»Sie wissen gar nicht, Teuerste, welches Geschenk Sie mir machten, als Sie mich aufforderten, die Fastenzeit bei Ihnen in Ihrem Hause zu verbringen. Endlich bin ich doch für eine Weile meinen entsetzlichen Gatten los und kann mich bei Ihnen in aller Ruhe meinen religiösen Pflichten widmen und mich auf die heilige Beichte und das Abendmahl, so wie es sich gehört, vorbereiten! Glauben Sie etwa, daß mir das in dem Chaos daheim möglich wäre? Ach, Sie erweisen mir in der Tat eine unaussprechliche Wohltat!«

Sie blickte mit tränenden Augen zur Decke empor, und ich dachte mir, daß sie auch im dunklen Kleide und weinend wunderschön aussähe.

Mama mochte ihr ein Zeichen gegeben haben, daß ich nicht alles zu hören brauchte, was sie zu sagen hätte, und so streckte sie mir mit unnachahmlicher Liebenswürdigkeit beide Hände entgegen, zog mich an sich und rief:

»Ach ich vergaß – voilà votre chère petite! Enfin elle a l'air très intelligent – je vous félicite, madame!«

So viel Französisch hatte ich bereits aus meinen Lektionen gelernt, daß ich den Inhalt dieser Worte einigermaßen verstand, wenn auch nicht wortwörtlich. Um so mehr erwartete ich bei ihrer spontanen Begrüßung von ihr geküßt zu werden, und hob schon meine Arme empor, um sie zu umhalsen. Aber nein – plötzlich ließ sie mich los und wandte sich in klagendem Tone wieder an Mama, indem sie ihren Arm um sie legte und im Saal auf und ab zu gehen begann.

» Vous savez ma chère, mon mari, c'est une horreur!« begann sie von neuem, und da mir Mama einen Wink gab, zu verschwinden, lief ich direkt an meinen Schultisch, nahm meinen Margot zur Hand und suchte mühsam das Wort mari heraus und darnach das unverstandene Wort horreur. Aha – da hatte ich's ja: mari hieß Mann und horreur Greuel. Ihr Mann war also ein Greuel! Das war mir neu. Ich hatte doch den guten lustigen Nikolai Iwanowitsch immer sehr lieb gefunden.

Nun begann ein neues Leben für uns. Statt Milch trank man süße Mandelmilch, was sehr viel besser schmeckte. Statt Fleisch gab es Fische und alle Eierspeisen waren ausgeschaltet und verpönt. Den Tee trank man mit Zitrone und Eingemachtem, den Kaffee sehr süß und schwarz mit einem leichten Zusatz von Zitronat und bittern Mandeln, und einmal hörte ich Mama seufzend zu Papa sagen, dieser Fastenhaushalt sei doch sehr viel kostspieliger als unser gewöhnlicher, worauf Papa entgegnete, sie solle doch dem Gast allein diese Art Essen servieren, nicht aber uns allen. Das geschah denn auch, jedoch mit dem Resultat, daß Papa sich vergnügt bald vom Fleisch, bald vom Fisch nahm und eine Ersparnis eigentlich nicht an den Tag kam.

Am Vormittage hörte man Alexandra Timoféjewna in ihrem Zimmer laut und anhaltend beten und sich ihren religiösen Pflichten widmen. Am Nachmittage saß sie mit einer feinen Stickerei bei Mama und klagte tränenvoll über ihr hartes Los und ihren horreur de mari. Ja einmal hörte ich aus dem Nebenzimmer, wo man mich offenbar nicht vermutete, daß sie ihr zweites Söhnchen, den kleinen Petruscha nicht lieben könne, da er ihrem Gatten so ähnlich sehe. »Ja, zuweilen ist mir, als müsse ich dieses Kind hassen!« klagte sie schluchzend.

An Mamas Stimme hörte ich, daß sie entsetzt sei und beschwörend auf Alexandra Timoféjewna einzusprechen begann.

»Aber das ist ja eine große Sünde, Liebste!« sagte sie. »Wie können Sie nur das arme Kind entgelten lassen, was Ihr Mann verbrach? Wie, wenn Ihnen der Himmel den Kleinen für immer nähme? Ich bitte Sie dringend, kommen Sie doch zur Besinnung und Selbsterkenntnis. Das ist doch die Hauptforderung Ihrer religiösen Vorbereitung.«

Unter Tränen und Seufzen versprach Alexandra Timoféjewna Besserung und ein paar Tage darauf – die Zeit war so merkwürdig schnell vergangen und manche meiner Unterrichtsstunden wurden sogar gestrichen – kam sie blaß und verweint und tief schwarz gekleidet zu meiner Mutter, kniete vor ihr nieder und sagte:

»Heute also gehe ich zur heiligen Beichte, – ich bitte Sie, teure Marja Petrowna, bitte Sie inständig, vergeben Sie mir alles, womit ich Sünderin mich jemals in Worten, Werken oder Gedanken an Ihnen vergangen habe!«

Meine Mutter hob die schöne Büßerin lächelnd auf und küßte sie auf die Stirn.

»Aber davon ist ja gar keine Rede, Teuerste, wir haben ja stets miteinander im besten Einvernehmen gelebt!«

»Also Sie verzeihen mir …?« hauchte Alexandra Timoféjewna inbrünstig.

»Da ist ja absolut nichts zu verzeihen, Liebe, aber wenn ich mir eine Bemerkung erlauben dürfte …«

»Jede – jede!« rief Alexandra Timoféjewna und faltete die Hände.

»So machen Sie Frieden mit Lisaweta Andrejewna, unserer Nachbarin – –«

Da fuhr die schöne Frau zurück, sah meine Mutter mit flammenden Augen an und hielt abwehrend beide Hände vor sich.

»Niemals!« schrie sie. »Was denken Sie nur von mir? Ich werde mich doch nicht dazu erniedrigen, diese Krämerin um Vergebung zu bitten!«

»Ich meinte, Sie wollten Frieden machen mit Ihrer Seele!«

Eine große Enttäuschung klang durch Mamas Ton.

Alexandra Timoféjewna aber schüttelte den Kopf und sprach:

»Sie mißverstehen mich. Hier liegt die Schuld keineswegs an mir, sondern an jener.«

Und rauschte hocherhobenen Hauptes zur Tür hinaus.

 

Verödung

Längere Zeit nach Alexandra Timoféjewnas Aufenthalt in unserem Hause traf uns die Nachricht, daß ihr ungeliebtes Söhnlein Petruscha plötzlich an einer Halsentzündung gestorben sei.

Meine Mutter war erschüttert. »Wie wird die arme Frau sich jetzt mit Gewissensbissen quälen!« sagte sie einmal über das andere. »Ich muß morgen gleich hinfahren und nach ihr sehen. Du darfst mitkommen, Dudu.«

Wer war froher als ich? Das Ausfahren auf ein fremdes Gut war mir immer ein Fest, selbst wenn der Anlaß dazu ein trauriger war.

Während der Fahrt schärfte mir Mama ein, mich besonders still und artig zu verhalten, da Alexandra Timoféjewna sehr traurig sei und keinen Lärm vertragen könne. »Es wird wohl das Beste sein, wir nehmen sie wieder mit zu uns!« sagte sie nachdenklich.

»Ist denn der arme kleine Junge schon begraben?« fragte ich.

Mama nickte und schweigsam setzten wir unsere Fahrt fort.

Als wir anlangten, sah das Haus wie ausgestorben aus. Kein Mensch begrüßte uns auf der Treppe, kein Dienstbote nahm uns die Mäntel ab. Alles grabesstill ringsum.

Befremdet gingen wir von Zimmer zu Zimmer. Nichts hatte sich verändert. Noch immer standen die häßlichen Bottiche im Saal, die Tapeten hingen wie vormals in großen Fetzen von den Wänden; überall Verwahrlosung, Staub und Verödung! Doch standen alle Türen weit offen und von Raum zum Raum gehend langten wir endlich vor dem Schlafzimmer an.

»Wer ist da?« fragte eine müde Stimme.

»Gute Freunde!« antwortete Mama und stieß die Schlafzimmertür auf.

Da lag die arme Frau im Bett, sah blaß und krank und abgehärmt aus.

»Liebe Alexandra Timoféjewna!« sagte Mama in herzlichem Ton, und beugte sich über sie. »Wir kommen, um Ihnen unsere Teilnahme auszusprechen!«

Sie sah uns mit starren gramvollen Augen an und reichte uns die Hände.

»Ja, ja sagte sie mühsam, »hätte ich nur beizeiten auf Sie gehört, Marja Petrowna! Mich verfolgt der Gedanke, daß ich schuld bin an Petruschas Tod …«

»Er starb ja aber doch an einer Halsentzündung, hörten wir«, sagte Mama.

»Ja doch, gewiß. Aber hätte ich ihn mehr geliebt, so hätten wir ihn vielleicht doch noch gerettet. Die Bonne, die Sie mir empfahlen, die ist ja doch die einzige gewesen, die sich wirklich ernstlich um das Kind gekümmert hat. Jetzt aber ist Petruscha im Himmel und klagt mich an, klagt seine lieblose Mutter an!«

Sie brach in Tränen aus.

Beschwichtigend sagte Mama: »Er sieht aber auch wie Sie leiden – und hat Ihnen verziehen.«

Alexandra Timoféjewna weinte vor sich hin, ach, wie leid sie mir tat!

»Warum denn aber sind Sie so allein?« fragte meine Mutter.

»Heute ist doch Feiertag. Das Fräulein Letz mit Serioscha hab' ich zu Natalie Michailowna aufs Nachbargut geschickt. Mein Mann ist in Geschäften verreist.«

»Und Ihre Mägde? Und die Köchin? Und der Kutscher?«

»Alle ausgegangen.« Alexandra Timoféjewna winkte mit der blassen Hand. »Alle weg.«

»Aber Sie können doch nicht so mutterseelenallein liegen bleiben!« sagte Mama. »Wie lange liegen Sie denn so zu Bett?«

»Seit zwei Tagen!« ächzte Alexandra Timoféjewna.

»Jetzt aber müssen Sie aufstehen, ich will Sie unbedingt zu uns mitnehmen.«

Die Augen Alexandra Timoféjewnas leuchteten einen Augenblick auf, dann erloschen sie wieder.

»Ach!« sagte sie traurig – »Zu Ihnen käme ich wohl gern. Aber wozu …? Kümmern Sie sich doch nicht um mich. Lassen Sie mich sterben!«

»So schnell stirbt sich's nicht, Alexandra Timoféjewna«, sagte Mama in spaßhaftem Ton. »Kommen Sie mit uns, Sie sind herzlichst eingeladen!«

Sehnsüchtig blickte Alexandra Timoféjewna uns beide an. »Ich kann ja nicht!« sagte sie hilflos. »Wer soll mich denn ankleiden?«

Mama lächelte. »Ich natürlich. Gestatten Sie mir heute, Ihre Jungfer zu sein.«

»Aber es geht ja doch nicht!« stöhnte Alexandra Timoféjewna. »Sie sehen, mein Bett habe ich mir des Lichts wegen quer vor den Kleiderschrank schieben lassen – wie komme ich denn nur an meine Kleider?«

»Nun, nichts einfacher als das. Wir schieben das Bett weg.«

»Dieses schwere Bett? Unmöglich, Liebste!«

»Aber es ist ja doch auf Rollen. Ich wette, Dudu allein bringt es fertig, das Bett fortzuschieben.«

»Oh ja! Ich glaube schon!« sagte ich zuversichtlich, packte fest zu und siehe – ich bewegte es von der Stelle.

»Wart Kind, ich helfe dir!«

Jetzt rollten wir das Bett mit gemeinsamen Kräften von dem Schranke weg.

Und wie ein Lamm ließ sich Alexandra Timoféjewna von meiner Mutter ankleiden und frisieren.

»Es muß aber doch wenigstens eines im Hause wissen, daß ich zu Ihnen fahre!« sagte sie hilflos.

»Schau im Hofe nach, Dudu, vielleicht findest du einen Knechtsjungen oder die Waschfrau.«

Ich rannte suchend und rufend durch Haus und Hof. Alles totenstill und vereinsamt.

Endlich fand ich in der Milchkammer ein kleines Bauernmädchen, das voller Behagen eben dabei war, einen Topf Sahne auszuschlecken.

Ich sah sie verwirrt an – sie mich.

»Wie darfst du hier stehlen?« sagte ich verweisend.

Da lag sie schon vor mir auf den Knien und rang die Hände zu mir empor.

»Niemandem sagen, Fräuleinchen!«

»Das wollen wir erst sehen!« meinte ich.

»Aber du sagst es dem deutschen Fräulein, daß Alexandra Timoféjewna mit uns nach Butosch gefahren ist. Versprichst du's mir?«

»Ja!« heulte sie.

»Und dann bleibst du auf dem Hof, bis jemand von den Hausleuten zurückkommt. Wirst du das tun?«

»Ja! Bei Gott!« schwur sie zitternd.

»Nun dann schweige ich auch. Dein Name?«

»Parascha.«

So war denn alles Notwendige erledigt und wir nahmen Alexandra Timoféjewna mit uns.

 

Erwachende Dämonen

Auf einem Streifzuge durch unsere und fremde Fluren, über Hecken und Zäune hinweg kam ich eines Tages vor einen Anblick, der mich erschütterte.

Über das Zaungeflecht unseres bäuerlichen Nachbars lag hingewunden und über den ganzen Körper krampfhaft zuckend eine schwarzweiß gestreifte große Schlange.

Der Tag war ungewöhnlich heiß. Der Schlange war der Kopf halbwegs zerschmettert, wohl durch einen Steinwurf oder einen handfesten Stock – und nun lag sie da hilflos, einem jeden Vorübergehenden preisgegeben und konnte nicht leben und konnte nicht sterben! Wie furchtbar mußte sie leiden!

Ich hatte bisher nicht viele Geschöpfe sterben sehen.

Wie schnell und leicht aber starb doch ein Vögelchen – wie ein aufgeplusterter kleiner Federball saß es zuvor einige Stunden reglos auf seinem Stänglein, dann fiel es plötzlich schwer auf den Boden und war tot, ein kleines Häuflein Jammers, aber immer noch rührend und lieblich. Wie schwer und bedrückend war dagegen das Sterben der Schlange! Ihr halbgeschlossenes Auge funkelte mich noch beobachtend und tückisch an und ich fühlte, wie mir ein Grauen über die Haut kroch.

Mehrmals nahm ich einen Stein zur Hand und zielte nach dem Kopf des Tieres, ich wollte seinem Leiden ein Ende bereiten – nein – ich vermochte es nicht.

Seltsam! Ich wollte das Leiden des Tieres verkürzen und wollte es doch wieder nicht. Ja, ich war in einen wunderlichen Zwiespalt mit mir selbst geraten und begriff mich selbst nicht mehr. Ich, die ich sonst mit jedem Geschöpf Gottes in einer Art Geschwisterschaft lebte, ich wollte nicht das Leben – ich wollte den Tod dieser hilflosen gequälten Kreatur! Und es erwachte etwas wie lüsterne Genugtuung in mir an diesem schweren Sterben. Sie sollte es nicht leicht haben, das war tatsächlich mein Kinderwille und sie hatte es wahrlich nicht leicht. Mir fiel die Geschichte von der Versuchung Evas durch die böse Schlange ein, aber soviel Gerechtigkeitssinn war mir noch geblieben, daß ich verstand, diese Schlange sei nicht an dem Unglück schuld. Immerhin aber lag es wohl an der Rasse des Geschöpfs, das unter allen anderen verflucht worden war, also daß wir Menschenkinder es nicht lieben konnten.

Wie fasziniert stand ich wohl eine Viertelstunde lang bei der Schlange, während mir diese Gedanken durch den Kopf gingen und ich fühlte, wie mir der Schweiß durch alle Poren drang und wie erregt und unaufhaltsam mein Herz pochte.

Nur schwer riß ich mich von dem gemarterten Geschöpf los, denn am Nachmittage wollte ich wieder kommen und sehen, was mit ihm geworden war.

Ich kam am späten Nachmittage wieder – die Schlange lag noch in dem gleichen Zustande. Nicht leben konnte sie und nicht sterben.

Halb Mitleid im Herzen, halb eine mir bisher fremde kalte Lust, beobachtete ich sie und fühlte meinen Körper wie von elektrischen Stößen durchlaufen. Wie, wenn ich selbst einmal so schwer sterben müßte?

Und wieder ging ich fort, ohne der Qual ein Ende zu machen!

Erst nach Sonnenuntergang kehrte ich wieder. Das Interesse an der Sterbenden war mehr als ich ertragen konnte und peitschte mich immer wieder von jeder Beschäftigung fort.

Aber jetzt – jetzt endlich war die Schlange tot. Schlaff und leblos wie ein welkes Pflanzengewinde hing sie über den Zaun.

Hatte sie nun endlich ausgelitten?

Ich betrachtete sie lange, immer noch mit pochendem Herzen und mir war zumute, als hätte ich ihr in bitterer Reue etwas abzubitten.

 

Das Gebet

Der Begriff des Betens gab mir schon früh zu denken, besonders seit ich von einigen wunderbaren Gebetserhörungen vernommen hatte.

So nahm ich mir denn an einem schönen, heißen Sommertage vor, auszuprobieren, ob auch mein Gebet erhört würde.

Ich saß in unserer Akazienlaube vor dem Tisch und blinzelte in den sonnenbeschienenen glitzernden See hinaus. Wie schön mußte es doch sein, wenn dort hinter dem See, wo der Waldrand blaute, sich zackige Berge erhöben, wie ich sie in Bildern aus Schweizer Landschaften gesehen hatte! Einen Berg kannte ich bisher nur von den Bildern, ja selbst auf unserer langen Reise nach Kurland und Riga gab es keine Berge. So einen leibhaftigen Berg zu erblicken, mußte doch ganz herrlich sein – warum sollte ich nicht darum beten? Gott mußte es doch ein Leichtes sein, den See da wegzunehmen und einen Berg dafür hinzustellen. Nun hatte ich vor kurzem noch den Spruch gelesen: »Der Glaube vermag Berge zu versetzen.« Ob das wohl wirklich so war? Gestern noch war ich zu Mama gegangen mit der schweren Frage, ob Gott uns wirklich alles gäbe, worum wir ihn ernstlich bäten.

»Ja gewiß, mein Kind«, hatte meine Mutter da gesagt. »Alles, worum wir ihn von ganzem Herzen und im Glauben bitten, gibt uns der Herrgott.«

Hatte ich da nicht eine klare und genaue Antwort auf meine Frage?

Auf den Glauben kam es ja freilich hauptsächlich dabei an, aber dieser konnte doch nicht so ungeheuer schwer zu erringen sein? Oder am Ende doch?

Wieder starrte ich auf den See hinaus. Ein paar größere Bauernmädchen badeten kreischend und verfolgten einander im Wasser, und schon meinte ich, die zackigen und schroffen Umrisse eines Berges zu sehen, der sich majestätisch über den See erhob.

Nun denn, ich wollte einen solchen Berg heranbeten. Schwer atmete ich auf, vergrub meinen Kopf in meine Hände und begann: »Lieber, lieber Gott, ich glaube ja, daß du alles kannst, ach ja, ich glaube das ganz bestimmt. Mach, daß statt des Sees ein großer, großer Berg hinkommt! Bitte, bitte, lieber Gott!«

Und ich betete so gläubig, so inbrünstig, so heiß um den Berg, daß ich die Augen fest einkniff und gar nichts sehen wollte, bis das Wunder geschehen war und fertig dastand.

So betete ich noch eine geraume Weile, betete bis mich kalte Schauer überliefen, betete bis der Schweiß mir aus allen Poren drang und wagte noch immer nicht die Augen zu öffnen. Man mußte ja auch dem lieben Gott Zeit lassen, sein Wunder zu vollbringen. Endlich aber hielt ich es nicht mehr aus – ich fühlte mein Herz klopfen bis zum Halse. Jetzt … jetzt mußte der Berg fertig sein und ich riß die Augen weit auf und – – –?

Aber ach – keine Spur von Berg, auch nicht einmal ein Hügel – – festlich und blank und still schimmerte der See und sah so unschuldig drein! Ja wie eine Perlmutterschale lag er vor meinen Blicken. Nur die beiden badenden Mädchen waren verschwunden!

Da saß ich nun mit meiner großen Enttäuschung wie so mancher andere Träumer vor mir und mußte damit fertig zu werden suchen. Gott hatte mein Gebet nicht erhört, trotzdem ich ernstlich, von Herzen und in allem Glauben gebetet hatte.

Vollständig zerschlagen fühlte ich mich, ja, wie vernichtet saß ich da. Ich fühlte und wußte: es war etwas in mir geschehen, das nicht so einfach gutgemacht werden konnte. Wie sollte ich denn jemals wieder glauben, an Gottes Versprechungen glauben können? Oder hatte ich am Ende doch gezweifelt?

 

Um einen Hahn

Von jeher hing ich als Kind an Tieren, die oft meine einzigen Spielkameraden waren, und so war mir auch ein natürliches Gefühl für die Bedürfnisse der Tiere eigen und oft empfand ich ihre Leiden als seien sie die meinen. Daß Tiere geschlachtet wurden, damit wir sie äßen, erschien mir als der Gipfel aller Ungerechtigkeit, und die Erklärung, daß Gott das so geordnet habe, wollte mir nie recht einleuchten. Wie konnte denn nur Gott, der doch alle Wesen geschaffen, wollen, daß seine lieben Tiere qualvoll zu Tode gebracht und von uns Menschen verzehrt wurden? Ich für mein Teil, ich hätte schon damals mit Freuden auf allen Fleischgenuß verzichtet, wenn nur damit das Schlachten der Tiere aus der Welt geschafft worden wäre. Ich war überzeugt, daß man sehr gut ohne Fleisch leben könne, und daß ich recht hatte, beweist mein späteres jahrelanges Vegetariertum. Aber auch, daß man Tiere quälte, konnte ich nicht fassen und es gab kaum etwas, was mich so in Harnisch brachte, als wenn ein Mensch sich aus Übermut und Grausamkeit an einem Tiere verging. Ein unausgesprochenes tiefes Kameradschaftsgefühl verband mich mit aller stummen Kreatur, und ich konnte meinen Vater nicht begreifen, daß er Freude an der Jagd fand, und nicht fassen, daß die Fuhrknechte ihre Pferde, diese willigsten aller dienstbaren Tiere mißhandelten. Um das Leben freudig und erträglich für ein Tier zu gestalten, hätte ich mir manches Opfer auferlegt und von einem solchen will ich hier erzählen.

Ich litt seit einigen Tagen an einem wackelnden Zahn und keine Überredung vermochte mich dazu zu bewegen, ihn mir ziehen zu lassen.

»Es ist doch mein Zahn und mir gehört er, nicht dir!« pflegte ich meiner Mutter auf all ihr Drängen zu antworten. »Und ich werde ihn mir schon selber eines Tages ausziehen.« Diesen heroischen Entschluß verschob ich indessen von Stunde zu Stunde, und schon daß ich mir um den Störenfried einen Faden binden ließ, war die größte aller bisher erreichten Konzessionen.

Daß ich unter dieser Pein blaß wurde und an Appetit verlor, und kümmerlich von Zimmer zu Zimmer schlich, immerfort mit meinem Zahn beschäftigt und doch nicht fähig, ihn mit einem Ruck zu entfernen, machte meine Gegenwart unerfreulich genug für alle Erwachsenen. Und so verfiel meine Mutter zunächst darauf, mich durch verschiedene lockende Versprechungen zu der Operation zu bewegen. Aber was sie auch vorbringen mochte, ich blieb starr und stumm und schüttelte nur immer den Kopf dazu.

»Ich meine, wir machen da kurzen Prozeß und helfen dem Kinde mit Gewalt zu seinem Frieden!« sagte der Papa, und schon lief ich bestürzt und trostlos aus dem Zimmer, trotzdem mich ein leichtes Kopfschütteln meiner Mutter vergewissert hatte, daß es so schlimm nicht werden würde.

In diesem Augenblick aber trat die Köchin mit einem Prachtexemplar von Hahn ins Zimmer, der sei ihr soeben von einer Bäuerin zum Schlachten angeboten worden.

In der Wehleidigkeit, in der ich mich selber befand, ging mir die Not des Hahnes schwer zu Herzen.

Ich machte kehrt. »Wenn ich mir den Zahn jetzt ziehen ließe, Mama«, sagte ich zaghaft, »dann könnte der Hahn doch leben bleiben!«

»Ja, dann gehört er dir ganz allein und er soll alt werden wie Methusalem«, sagte Papa lachend.

»Ganz gewiß und wirklich?« fragte ich zitternd.

»Ganz gewiß und wirklich!« beteuerte Papa.

»Nun dann also zieh!« rief ich, schloß die Augen und warf mich dem Papa in die Arme.

Im gleichen Augenblick war ich schon von dem Unhold befreit, und im erhobenen Bewußtsein, dem Hahn das Leben erkauft zu haben, hörte ich, schon unter Tränen lachend den feierlichen Befehl mit an, kraft welches der Hahn länger leben als wir alle und mir fortan zu Erb und eigen gehören solle.

 

Nadjas Beichte

Meine gute Kindsfrau Nadja, die heute früh in aller Feierlichkeit zur Beichte gegangen war, kehrte soeben aus der Dorfkirche zurück und wir hörten sie im Dienstbotenzimmer mit Tatjana unaufhaltsam lachen, so anhaltend und zügellos lachen, daß Mama ärgerlich aufstand und sie hereinrief.

»Sag' mal, Nadja«, – sagte sie streng, »ich denke, du bist heute zur Beichte und zum heiligen Abendmahl gegangen. Ich bin zwar keine Russin wie du, aber das weiß ich denn doch, daß nach solch einer Feier ein wenig mehr Einkehr und Selbstzügelung am Platz wäre.«

Nadja hörte den Sermon demütig an, aber ihre schwarzen Augen tanzten vor verhaltenem Gelächter und plötzlich platzte sie wieder los und lachte, und lachte, indem sie sich krümmte, sich hin und her wiegte und sich die Hände vor den Mund hielt.

»Aber Nadja!« sagte meine Mutter, »ich muß doch sehr bitten, daß du dich zusammennimmst. Wenn du auch kein Gefühl für den Ernst und die Heiligkeit einer Beichte und das Sakrament des Abendmahls hast, so solltest du doch wissen, was du deiner Herrschaft schuldig bist!«

Nadja wischte sich die Tränen aus den Augen und gab sich die redlichste Mühe stille zu sein. Umsonst. Wieder brach das tolle Gelächter aus ihr hervor wie ein Krampf.

»Frag' sie doch, warum sie so lacht, Mama!« rief ich aufgeregt dazwischen. »Die arme Nadja muß eben lachen – sie kann doch gar nicht anders.«

Dankbar kam Nadja auf mich zu und schloß mich in ihre Arme. »Dudotschka hat ja bei Gott recht«, Herrin – und wenn Sie das erlebt hätten, müßten Sie auch lachen.«

»Also fass' dich und erzähle!« sagte meine Mutter milder.

»Ich ging also heute zur Beichte« – begann Nadja ernsthaft und platzte doch wieder los, »verzeihen Sie Barinja – es ist wirklich nicht meine Schuld. Und unterwegs dachte ich: was soll ich denn dem Batiuschka (Popen) heute wohl beichten, hab' ich doch weder gestohlen, noch gelogen, noch irgend schlimme Gedanken gehabt? Gerade in diesen letzten Wochen hab' ich so gar keine besondere Sünde auf dem Gewissen. Da aber – wie ich vor den Beichtstuhl trete, merke ich, daß der Batiuschka so kurios beduselt und schläfrig aussieht wie nach einer verzechten Nacht und so ein recht erbärmliches Gesicht zieht, und da fällt mir ein, wie er am vorigen Freitag schwer betrunken bei unserm Küchenfenster vorbeitorkelte und wie sehr wir, die Köchin, die Tatjana und ich über ihn gelacht hatten. Halt – denk' ich bei mir – da haben wir ja eine richtige, fette Sünde zum Beichten!

»Ach Batiuschka', sage ich – ›wohl habe ich eine große Sünde auf dem Herzen. Am vorigen Freitag war's da hab' ich so furchtbar lachen müssen!‹

»›Lachen müssen …‹ er wiegt seinen grauen Kopf hin und her. ›Lachen ist keine Sünde, meine Tochter. Worüber hast du denn so gelacht?‹

Da muß ich denn losprusten – und er – reißt seine roten schimmernden Äuglein auf – so ganz starr und dumm. Ich sehe ihn an – er mich – ich meine ersticken zu müssen an meinem Lachen!«

»Nun, und dann?« fragt meine Mutter gespannt.

»Du hast ihm doch nicht etwa gesagt …?«

»Natürlich hab ich's ihm gesagt, Barinja. War es doch die pure Wahrheit. Was hätt' ich denn sonst sagen sollen?

›Über Sie Batiuschka hab' ich lachen müssen –, wie Sie so ganz besoffen und schwankend an unserm Fenster vorbeigingen. Das sah so ungeheuer komisch aus, daß wir wohl noch eine Viertelstunde lang haben lachen müssen. Und der – will uns unsere Sünden vergeben?‹ sagten wir einander. ›Der, ist doch ein weit größerer Sünder als wir!‹

Und wieder mußte ich lachen …

›Schweig, so schweig doch!‹ murmelt der Batiuschka und wird purpurrot im Gesicht. ›So halt' doch endlich dein ungewaschenes Maul! Ich erlege dir eine Kirchenbuße auf.‹

›Ach was, Kirchenbuße!‹ sage ich. ›Das gibt's nicht. Sie sind's ja gerade, die mich zur Sünde verleitet haben. Gehn Sie mir mit Ihrer Kirchenbuße!‹

›Nun denn – du Sünderin!‹ flüstert der Batiuschka ›hebe dich hinweg von mir, nein doch: gehe hin in Frieden. Deine Sünden sind dir vergeben.‹

Reicht mir das Kreuz zum Kusse, und schlägt mit zitternder Hand ein Kreuz über mich.

Ich reiße mir das Kopftuch ab, knülle es zusammen und halte es mir vor den Mund, denn bald hab' ich nicht mehr gekonnt, wäre vor Lachen erstickt, Barinja!

Die Leute aber glaubten alle – ich weinte!« stieß Nadja wieder lachend hervor. »Ach, heiliger Nikiphor – steh mir doch bei! So bin ich mit Not und Mühe nach Hause gekommen!«

Ich sehe wie auch meine Mutter mühsam mit dem Lachen kämpft. Laut lache ich los – und da stehen wir nun alle drei, sehen einander an und lachen und lachen bis zu Tränen …

 

Halberwachsen

Weihnachten mit seinem Glanz und Flimmer war verrauscht; das neue Jahr hatte mir meinen Geburtstag gebracht, und ich war nun wirklich acht Jahre alt.

Das sei die Zeit, hatte Mama mir erklärt, wo man ernstlich anfange, vernünftig zu werden, wo man seine Schulpflichten als Aufgabe betrachten lerne, ja wo man schon etwas leisten könne. Darum sei es auch die allerhöchste Zeit, eine Französin ins Haus zu nehmen, damit ich die französische Sprache, die Mama über alle anderen liebte, ordentlich sprechen lernte. Auch habe sie bereits Schritte dazu getan und im Herbst solle meine neue Lehrerin denn auch wirklich kommen.

Ich war eher neugierig auf diese Eröffnung als erbaut von ihr, aber bis zum Herbst ließ sich doch gar nicht voraus denken. Jetzt hatten wir doch erst Anfang März und noch kam Ostern und dann der Sommer, den wir diesmal zu Hause verbringen sollten und damit wieder Schwester Grace, die wieder einmal bei Mary war, um dann im nächsten Frühling ganz und gar nach England zu reisen.

Aber Mama war noch nicht fertig mit ihrer Rede. »Siehst du«, sagte sie, »schon an deinen Weihnachts- und Geburtstagsgeschenken kannst du sehen und ermessen, daß man dich nicht mehr als kleines Kind einschätzt. Du hast einen Guckkasten erhalten, und wenn du die Bilder darin besiehst, machst du schon im Geiste große Reisen nach London und Paris und Berlin und in die Schweiz. Mancher erwachsene Mensch wäre froh über solch einen Guckkasten!«

»Ja schon!« sagte ich betrübt, denn der Gedanke ans Erwachsensein hatte etwas Unheimliches für mich. »Aber zu Weihnachten kriegte ich doch noch das große Puppenhaus mit den zwei Etagen, worin man selber so gut hocken kann, wenn man die Möbel ausräumt.«

»Da haben wir ja wieder einmal deine große Kinderei!« ereiferte sich Mama. »Ist denn das Puppenhaus dazu da, damit du hineinkriechst wie eine Schnecke in ihr Gehäuse? Das ist doch für deine Puppen gemacht, damit du es in Ordnung halten lernst und all deinen Puppenkram beisammen hast. Auch warst du zu Weihnachten noch sieben Jahre alt und das Puppenhaus war sozusagen das Abschiedsgeschenk an deine erste Kindheit, ebenso der Puppenschlitten. Aber jetzt bist du ganze acht Jahre alt. Bedenke doch – mit sechzehn ist ein junges Mädchen erwachsen; du bist also schon halberwachsen, vergiß das nicht.«

»Ach Mama –« sagte ich da flehend, »ich will doch lieber niemals erwachsen sein! Ich will immer ein Kind bleiben! Ich find' es schrecklich, wenn die Menschen erwachsen sind.«

Dieses Wort pflegte meine Mutter später öfters anzuführen, um sich und anderen zu beweisen, wie froh und glücklich meine Kindheit gewesen sei. Da hatte sie mich aber gründlich mißverstanden. Ich war ein viel zu nachdenkliches Kind, um richtig fröhlich zu sein wie andere Kinder auch. Ich hatte viel zu offene Augen für die seelischen Zustände der Großen; ich fühlte ihr Leid und ihre Leiden schmerzlich und bitter, insbesondere aber das Leiden der Tiere, die ich zärtlich liebte. Vor allem aber war ich viel zu sehr überlastet mit Unterrichtsstunden, insbesondere mit dem Klavierunterricht, so daß meine Gesundheit schon damals stark ins Schwanken geriet. Nein, ich war schon damals kein glückliches Kind mehr, obwohl es mir an Spielzeug und hübschen Dingen nicht mangelte, denn meine seelischen Fühlfäden lasteten immer schon sorgsam und unerbittlich die Beziehungen der Großen zueinander ab und ließen sich niemals täuschen. Ich fühlte und wußte, daß meine Eltern von Jahr zu Jahr unbefriedigter nebeneinanderherlebten, ich wußte, daß sie einander gar nicht verstanden, obwohl ich selbst, ich beide verstand und beiden gleich nahe war. Und ich hatte niemanden, dem ich diese schweren und trüben Dinge hätte sagen können!

Noch lange nicht aus dem goldenen Paradies der Kindheit entlassen, stand ich doch bereits mit einem Fuße jenseits der Kindheitsschwelle und was ich da sah und erfühlte, war dumpf und schwer und grauenvoll. Wie ein schwerer schwarzer Schatten lag damals schon das Wissen um die Dinge über mir, und so war es kein Wunder, daß ich immer, immer noch ein Kind bleiben wollte, ja bleiben mußte, um nicht vom Leben erdrückt zu werden.

Zeitweilig konnte ich ein ganz altes weises Gesichtlein bekommen, wenn ich so in mein Inneres, das mir alle Dinge sagte, hineinlauschte, und das Gefühl einer schweren Einsamkeit, einer gänzlichen inneren Verlassenheit und eines von niemandem Erkanntwerdens wollte mir manchmal den Atem rauben.

So wiederholte ich denn nach einer Pause angstvoll und inbrünstig: »Nein, Mama, nein, ich will nicht erwachsen und auch nicht halberwachsen sein. Das ist zu schrecklich!«

Meine arme Mutter aber, die nichts von dem allen ahnte, was mich erfüllte, strich mir über den Kopf und sagte spaßhaft:

»Du Dummerchen, wie über alle Maßen glücklich mußt du doch bisher gewesen sein, um das zu wollen! Andere Kinder freuen sich doch auf das Erwachsensein.«

Ich bin aber kein anderes Kind!« sagte ich traurig und wissend.

 

Osterküsse

Wenn vor Weihnachten die große Kuchenbäckerei stattfand und auch ich mein bescheiden Stücklein Teig erhielt, um nach eigenem Ermessen und Dafürhalten mit kleinen Blechformen Sandkuchen, Makronen und Pfefferkuchen auszustechen und sie auf eigenen kleinen Kuchenbrettern mit in den Backofen zu schieben, wenn ich auf einem Spirituslämpchen in meiner Puppenküche eine richtige wohlschmeckende Schokolade kochen durfte oder wenn zu Ostern das wichtige Amt des Eierfärbens auch an mich herantrat und Papa auf die hübschesten Einfälle dabei geriet und mich lehrte, Herzen und Blumen oder Buchstaben mit dem Taschenmesser in die gefärbten Eier hineinzuritzen oder diese mit einer ätzenden Säure zu bemalen, so daß die Farbe je nach Belieben mehr oder weniger dahinschwand, und meine Eier somit die schönsten, jedenfalls aber die interessantesten wurden und jedermann gern mit mir tauschen mochte, dann schlug auch mein Herz noch fröhlich und voll glücklicher Erregung, und ich war von ganzer Seele dabei.

Die schöne russische Ostersitte, da man Eier und Küsse miteinander tauscht mit den Worten: Christ ist erstanden! worauf die Gegenantwort: In Wahrheit erstanden! erfolgt, hatte ich bisher nur im engeren Kreise mitgemacht. Da ich aber bemerkt hatte, daß alle Leute auf der Straße, gleichviel ob hoch oder gering, einander am Ostersonntag also begrüßten und ernsthaft und ehrerbietig drei Küsse miteinander wechselten, wollte ich das natürlich auch.

Unbewußt mochte ich dabei den Ausgleich, der tatsächlich in dieser ehrwürdigen Sitte liegt, mitempfinden, kurz, ich stellte mich diesmal nach der Begrüßung mit den weiblichen Dienstboten in der Küche ein und verlangte dringend auch Ananias, unsern Hausknecht, zu küssen.

Lachend und kreischend vor Jubel lief meine Kindsfrau Nadja in den Hof, um Ananias, der ihr Bruder war, zu holen. Aber es dauerte lange bis sie mit ihm zurückkehrte.

»Der Schmutzfink muß sich doch zuvor waschen und ordentlich striegeln!« sagte Akulina, die Köchin lachend. – »Auch wohl ein reines Hemd anziehen.«

»Ja, habt Ihr ihn denn alle ungewaschen geküßt?« fragte ich erstaunt.

»Nu – mit uns macht man doch nicht so viele Umstände.«

Ich wartete also geduldig. Endlich kam Nadja wieder und zog ihren Bruder am Ärmel hinter sich herein.

Ich sah sofort, daß sein Gesicht rot und glänzend aussah von Seife, sein Haar fett und ölig, sein Hemd sauber. Er lachte verlegen, doch seine Augen waren traurig.

»Ananias, Christ ist erstanden!« sagte ich und bot ihm meinen Mund dar.

Er bückte sich zu mir nieder: »In Wahrheit erstanden, Fräuleinchen!« Und wir küßten einander dreimal ernsthaft und gründlich, wie es sich für das Ritual geziemte.

»Sieh, ich hab dir auch mein allerschönstes Ei mitgebracht. Das Herz darauf mit den beiden Farnwedeln hab' ich selbst gemacht.«

Er nickte freundlich, bot mir sein Ei dagegen und lachte, doch immer noch waren seine Augen traurig.

»Ananias«, sagte ich und rüttelte ihn ungeduldig am Arm, »sag' doch, weshalb bist du traurig?«

»Mein Söhnchen ist erkrankt, Fräuleinchen, wer weiß, ob's mir leben bleibt? Ich muß noch heute heim zum Weib und zum Kind und nach ihnen sehen.«

Ich wußte, daß Ananias sich so sehr über sein vor kurzem geborenes Söhnchen gefreut hatte. Bisher hatte er nur Töchter gehabt.

Mit einem Male dünkte mich sein Los besonders hart und schwer. Seine Familie lebte in einem anderen Dorf, fünfzehn Werst weit von uns, und immer, wenn die Mägde ihren Feiertagsausgang hatten, ging er heim, um die schwere Hausarbeit zu tun, seinen Acker zu pflügen und zu bestellen. Einen rechten Feiertag kannte der arme Ananias nie.

Das gab mir zu denken – er tat mir in der Seele leid.

»Ananias, dein Söhnchen wird dir wieder gesund werden!« sagte ich tröstend. »Sieh mal, heut' ist doch der Christ erstanden. Er wird dir helfen!«

»Gott geb's! Gott geb's, Fräuleinchen!« sagte der Arme. »Und sieh mal, dein schönes Ei will ich dem Kleinen bringen, wenn er noch lebt!«

»Wenn er noch lebt?« wiederholte ich leidenschaftlich. »Er wird leben, er wird ganz gewiß leben, guter Ananias – glaub' mir!«

Er lächelte traurig und sah mich traurig an.

Ich schlich beschämt aus der Küche. Mich dünkte, das waren traurige Osterküsse gewesen, die ich soeben mit ihm getauscht.

 

Gräber

Die neue Reise nach Talsen, Mamas Geburtsort, war ein Vergnügen für mich.

Nicht, daß mich das hügelige Städtchen mit seinen einstöckigen Häuschen und freundlichen Straßen besonders anheimelte, aber es war doch kein Schrecknis mehr da, das mich zuvor am Strande in Gestalt eines schwarzen Mannes verfolgt hatte.

Und ich sah die Gräber meiner Großeltern und erfaßte und verstand, daß ich ihnen Dank schuldig sei, obwohl mir mein Großvater so gar nicht gefallen hatte. Denn ohne die Großeltern hätte ja meine Mutter nicht da sein können, und ohne meine Mutter wäre ich ja auch nicht auf der Welt.

So betrachtete ich die stillen Gräber mit ihren Kreuzen und den schöngepflegten Blumen mit einem bisher unbekannten Gefühl von Zusammengehörigkeit, nein eher von Zusammenhang und dachte, daß die Großeltern sich freuen müßten, wenn sie wüßten, daß ihr Enkelkind an ihren Gräbern stehe.

Jetzt trat ein uraltes, weißhaariges gebücktes Dämchen mit Ringellocken an den Schläfen zu uns heran, begrüßte uns und sah mich mit tränenden Augen an. Fräulein Hartmann nannte Mama sie und dankte ihr für die Fürsorge an den Gräbern.

Das alte Fräulein Hartmann aber hob die verwitterten runzligen Hände empor und sagte:

»Nu, das ist doch einfach selbstverständlich, Mariechen. Dafür brauchen Sie mir nicht extra zu danken!«

Und dann erzählte sie, wie lieb sie die Großmama gehabt und wie sie diese in ihrer letzten Krankheit gepflegt habe. Und so still und friedlich sei die liebe Großmama gestorben im Glauben an ihren Heiland und Erlöser.

»Der alte Peter da muß ja auch zuguterletzt seinen Frieden gefunden haben«, sagte sie auf das Grab des Großvaters deutend. »Denn drüben, in der anderen Welt kann er doch nicht mehr die Rubelchen und Kopeken zählen. Und das muß er auch vorher gewußt haben, denn, Hartmannchen, hat er kurz vor seinem Tode gesagt, ›lesen Sie mir einmal was aus dem Gesangbuch vor‹; und wie ich nun anfing zu lesen, hat er die Hände still gefaltet und nur ab und zu an 'mal geseufzt. Aber gelitten hat er sehr, Mariechen, das kann ich nun nicht anders sagen. Gelitten hat er sehr.«

Und sorglich zupfte sie mit den krummen steifen Fingern ein paar welke Blättchen von den Gräberblumen. »Sehen Sie nur, Mariechen – ihm hab' ich Fuchsien aufs Grab gepflanzt – das paßt so zu seiner n' bißchen renommistischen Art. Ihrer geliebten Mutter aber könnt' ich nicht anders als Rosen geben, und im Frühjahr Vergißmeinnicht und Veilchen! 's war doch wirklich eine herzgoldene Frau!«

Fräulein Hartmann brach in Tränen aus.

»Und ein Begräbnis hat sie gehabt – ich sag' Ihnen, nicht schlechter als unsere Fürstin! Die ganze Stadt ist ihrem Sarge nachgefolgt, alt und jung und reich und arm, nu und ganz besonders die Kinder! Wie hat sie doch immer die Kleinen so lieb gehabt! Nie ging sie aus ohne ihren Beutel mit selbstgebackenen Zuckerplätzchen oder Pfefferkuchen zu füllen – für ihre lieben Kleinen. Jedes Kind kannte sie bei Namen – wenn eines blaß drein schaute, bückte sie sich zu ihm nieder, strich ihm übers Köpfchen und sagte mit ihrer lieben warmen Stimme: ›Wie geht es dir, mein Kindchen? Wo fehlt's denn‹? Ja, sie war aller Jugend eine Mutter und eine Großmutter! Und nun steht doch ihr Enkelkindchen an ihrem Grabe! Was hätte sie doch für eine Freude gehabt, das Duduchen noch mit leibhaftigen Augen zu sehen! Oft hat sie von ihrem Großkindchen gesprochen und gesorgt hat sie sich, ob es denn auch recht gesund sei – ja wohl. 'n bißchen blaß und ernst sieht das Kind nu wohl aus, Mariechen – aber sonsten wohlgewachsen und brav.«

Und sie legte mir ihre zitterige Greisenhand auf den Kopf und ich wagte mich nicht zu rühren.

»Soll ich die liebe Großmama nu schön von dir grüßen, mein Duduchen, wenn ich selber hinübergehe und sie wiedersehe?«

»Ach ja, bitte!« rief ich aus vollem Herzen.

Die zitterige alte Hand glitt von meinem Scheitel auf meine Schulter nieder; es schien, als wolle sie nicht von mir lassen.

Und so gingen wir alle drei von den toten Großeltern. Mama trocknete sich die Augen, Fräulein Hartmann aber ließ ihre Hand auf meiner Schulter ruhen und wies mit der anderen auf einen Spruch, der in goldenen Lettern auf einem weißen Grabkreuz stand. »Kannst du das lesen, mein Kindchen?«

»Selig sind, die in dem Herrn sterben!« las ich laut.

Sie nickte vor sich hin und murmelte: »Jawohl, jawohl – so ist's. Bald komme auch ich an die Reihe. So sterben wir alle nacheinander weg, einer um den anderen. Alte und Junge – da tut eines not: daß wir alle in dem Herrn sterben lernen – verstehst du mich, mein Kindchen?«

»Ja!« sagte ich treuherzig. Aber damals verstand ich sie noch nicht.

 

Orpheus und Eurydike

In Mitau blieben wir auf der Rückreise nur noch eine Woche bei dem Onkel und der Tante Metz, und eines Tages teilte meine Mutter mir mit, daß wir heute abend in die Oper gehen würden.

Eine Oper war ein Theaterstück, bei welchem nicht gesprochen, sondern gesungen wurde – das wußte ich schon.

»Und damit du gleich weißt, worum es sich handelt«, sagte Mama, »das Stück ist aus der griechischen Mythologie und heißt Orpheus und Eurydike. Ich habe dir früher schon einmal von dem großen Orpheus erzählt, der die Musik erfunden hat. Seine Frau, die er sehr liebte, aber mußte vor ihm sterben – und in seiner großen Trauer dachte er, dem selbst die reißenden Tiere nicht zu widerstehen vermochten, wenn er seine Laute spielte – in die Unterwelt, den Orkus zu gehen, die Höllengeister durch seine wunderbare Musik zu bezaubern, so daß sie ihm seine geliebte Eurydike wiedergeben mußten.«

Die ungewöhnliche Romantik der Situation nahm sofort mein Interesse in Anspruch. »Und gaben ihm die bösen Orkusgeister die Eurydike wieder?«

»Das weiß ich nicht mehr recht«, gestand Mama, »aber das wirst du ja alles heute abend selber sehen.«

Ich konnte natürlich den Abend kaum erwarten. Wir gingen also nach einem schmalen Abendessen ins Theater. Denn Tante Metz, eine fahrige und unruhige alte Dame, behauptete, ein reichliches Essen vor einer Abendvorführung wirke immer schlecht auf ihre Nerven. »Denn Mariechen«, sagte sie, »du weißt doch, ›der Mensch lebt nicht vom Brot allein‹ sagt ja schon die Bibel. Auch Auge und Ohr bedürfen der Nahrung, und eine Vorstellung, an der diese Sinne beteiligt sind, wirkt genau wie leibliche Nahrungsaufnahme.«

Ich sah die Tante Metz ungläubig an, dann Mama, und endlich den Onkel, der mit steinernem Gesicht dasaß und schwieg.

»Du hast jedenfalls viel von deinem Gatten gelernt, Tante Metz«, sagte Mama in einem Tone, der mir zu denken gab.

Ehe wir uns aber zum Ausgehen ankleideten, hob ich mich auf den Zehenspitzen zu Mama empor und flüsterte ihr ins Ohr: »Mama, ich glaub, die Tante Metz ist eigentlich ein bißchen geizig und dann – hat sie ja auch gelogen!«

»Ssst Kind!« sagte Mama und legte mir die Hand auf den Mund. »Das kannst du mir später erzählen, wenn wir erst wieder unterwegs sind.«

Wir kamen also ins Theater. Es war kein schönes Gebäude und innen, in den dunklen Gängen, ja im Theaterraum selbst, roch es ganz abscheulich nach Petroleum und Benzin. Die Plätze füllten sich nach und nach; wir saßen ziemlich nahe am Orchester.

Gewaltig setzte die Musik ein, der Kapellmeister, dem alle gehorchen mußten, schwang seinen Stab und sah aus, als mache er allein die ganze Musik. Das gefiel mir außerordentlich – ich dachte, das müsse doch herrlich sein, so mit einer einzigen Handbewegung das Orchester bald zum Spielen zu bringen und bald zum Stillesein.

Ja, da hätte ich noch lange zuhören und zuschauen mögen, da aber ging der Vorhang auf und mit einer goldenen Leier im Arm stand eine Frau in einem hellblauen hemdartigen Kittel und dicken rosigen Beinen da und sang und sang.

»Das ist der Orpheus!« flüsterte mir Mama zu.

»Aber Mama«, sagte ich erregt, »das ist doch gar kein Orpheus, das ist eine Frau.«

»Sie stellt aber den Orpheus vor, also sei ruhig.«

Ich war aufrichtig betrübt. Allmählich kam mir zum Bewußtsein, daß die Frau, die den Orpheus vorstellte, vor dem Orkuseingang stand und jammerte und um Eurydike wehklagte.

»Warum geht sie denn nicht hinein, um die Eurydike zu holen?« fragte ich halblaut.

»Sie muß doch singen«, sagte Mama.

Das konnte ich nun gar nicht begreifen. Wenn man sich einen lieben Menschen aus dem Orkus zurückholen sollte, dann stand man doch nicht erst eine halbe Stunde und sang!

Diese Frau aber stand da, ging einen Schritt vor, dann wieder einen und sang und sang. Das war wirklich abscheulich.

»So geh' doch einmal hinein!« rief ich, meiner Erregung nicht mehr mächtig.

»Ssst! Still doch!« wurde mir von mehreren Seiten zugerufen.

Ich erschrak und beschloß, nicht mehr hinzusehen, denn der Vorgang ärgerte mich über alle Maßen.

Endlich fiel der Vorhang und ich saß verschüchtert und wagte kaum, mich zu rühren.

»Jetzt darfst du ja sprechen«, sagte Mama tröstend. »Gefällt dir denn nicht die schöne Musik?«

»Die schreien ja nur!« sagte ich verstockt, »die singen ja gar nicht. Auch die Orpheusfrau.«

»Närrchen du – das ist doch eine große Künstlerin.«

Ich schüttelte den Kopf. Mir gefiel sie nicht. Zudem taten sie ja nicht das Richtige. Denn die Frau, die Orpheus sein sollte, hatte ihre Eurydike im Orkus endlich gefunden, die wirklich sehr schön war und ein langes weißes Gewand trug – nun aber sangen die beiden einander an, daß es zum Verzweifeln war, anstatt sich auf und davon zu machen.

Das war doch nicht richtig, das war falsch und also unwahr. Jetzt kam der richtige Bock über mich. Ich nahm mein kleines neues Portemonnaie aus der Tasche und zählte meine wenigen Kupferstücke und Silbermünzen. Nein, wenn die großen Künstlerinnen so dumm waren, uns was vorzumachen, also zu lügen, wollte ich nichts von ihnen wissen. Der Verlauf der Oper interessierte mich nicht mehr im geringsten. Ich langweilte mich erbärmlich. Endlich schlief ich ein.

Als ich wieder aufwachte, standen die Leute schon von ihren Plätzen auf und gingen fort. Und da hörte ich die Tante Metz zu Mama sagen:

»Das war nun wieder einmal ein unerhörter Kunstgenuß, Mariechen.«

Und Mama, die kaum eine falsche Note von einer richtigen unterschied, antwortete:

»Die Reinheit dieser Musik hat mich wahrhaft ergriffen!«

Schlaftrunken taumelte ich empor. Das war ja auch gar nicht wahr, und auch Mama hatte jetzt die Unwahrheit gesagt.

Mein Herz tat mir weh, mein Magen war leer. Wieder stand ich bekümmert vor der alten Frage, die mich, ach so oft schon gequält:

Warum logen denn nur die Erwachsenen?

 

Der Blumengarten

Schon längst waren wir wieder daheim.

Heute nachmittag sollte also die Französin, meine neue Lehrerin, ankommen, und ich sollte sie Mademoiselle nennen. Es war ein Sonntag und so hatte ich keinen Unterricht und erging mich nachdenklich und ernst gestimmt in unserem Blumengarten.

Ich sah mir die lieben bunten Herbstblumen, die ich so gut kannte, noch einmal herzlich und liebevoll an und dachte, ob sie wohl alle noch so schön und licht dastehen würden, wenn die Mademoiselle da war? Da waren noch die Feuerlilien, die so stolz und prächtig aussahen, die bunten und schönen Zinnien, die stolzen Georginen, und mir wollte scheinen, als ob diese alle die neue Mademoiselle noch gut aushalten und ertragen würden. Wie aber würde es mit den zarten Frühlingsblumen werden? Den herzigen Schneeglöckchen, den Krokus und Veilchen, den Primeln und den lieben, lieben Rosen?

Ob die noch die gleichen süßen Gesichter machten, wenn Mademoiselle sie ansah?

Schon zweifelnd sah ich die Stiefmütterchen an, die mir heute so besorgte Gesichtlein schnitten, als ob sie sagen wollten: Nein nein – nein nein – die Mademoiselle, die mögen wir nicht. Es war viel besser für uns alle, da sie noch fern war. Viel besser, viel besser, auch für dich, Dudu …

Ich pflückte mir so ein gelbbraunes Stiefmütterchen mit goldenem Kelch und sah ihm beklommen ins Angesicht.

»Denkt Ihr wirklich so?« fragte ich leise.

Und da schien mir, als habe das Stiefmütterchen leise genickt, und ich fühlte wie mein Herz schwer wurde.

»Warum aber denkt Ihr anderen nicht ebenso?« wandte ich mich fragend an die Zinnien und Georginen.

Die standen so kühl und ungerührt da in ihrer Pracht und ließen sich zufrieden die Herbstsonne in die Gesichter scheinen.

Die fühlen nicht so fein und leise wie ich! mußte da plötzlich das Stiefmütterchen in meiner Hand geflüstert haben und nickte wieder. Die haben ja dicke und grobe Stengel, daher denken sie nur an sich.

Ja, das war wirklich wahr. Ich sah mir genau die saftigen breiten Stengel dieser Blumen an und verglich sie mit dem zarten Stenglein meines Stiefmütterchens, das mit seinem innigen Häuptlein so wunderfein nickte, als ob es zu mir reden wollte.

»Ach könntest du doch richtig reden!« sagte ich zärtlich und leise.

Und siehe: bei jedem Schritt bewegte es sein goldbraunes Häuptlein, sah mir leuchtend und innig ins Angesicht und wisperte hauchzart: Kein Glück! Kein Glück!

Und nun wußte ich, daß ich mich keineswegs auf Mademoiselle freuen durfte, denn sie brachte uns und unserem Hause, brachte auch all den lieben Blumen Leid und Trauer!

 

Mademoiselle

So war sie denn angekommen, die meine Mutter so sehnlichst erwartet hatte, und deren Ankunft ich nur allzugern noch lange hinausgeschoben hätte!

Wir saßen rings um den Teetisch. Mama sprach französisch mit ihr, Papa machte hin und wieder einen Scherz, ich trank meine Milch und hatte Muße, sie mir eingehend zu betrachten. Vor allem war sie gar kein bißchen hübsch, die Mademoiselle. Sie hatte eine grobe, graugelbe Haut, wirres schwarzbraunes Haar und trug eine große dunkelgraue Brille auf der etwas flachen Nase, so daß man die Farbe ihrer Augen nicht zu erkennen vermochte, ja überhaupt nie mit Sicherheit sagen konnte, wohin sie blickte. Sie sprach mit großer Geläufigkeit, rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her und war überhaupt ungeheuer beweglich. An ihrem Daumennagel hatte sie einen großen blauschwarzen Fleck, so als sei ihr Daumen gequetscht worden, und ihre blassen Lippen waren in fortwährender Bewegung, auch wenn sie schwieg.

Besonders unangenehm waren mir ihre Hände, die an Vogelkrallen erinnerten, so mager und braun waren sie, obschon sie selbst eine rundliche und ziemlich untersetzte Figur hatte. Auch fiel mir auf, daß sie sehr kleine Füße in hohen Knöpfstiefeln besaß, die sie gern vorstreckte und zeigte, so daß man ihre Zierlichkeit bemerken mußte. Und das gefiel mir schon gar nicht an ihr.

Wie sie innerlich beschaffen sein mochte, hatte ich freilich noch nicht ergründet. Begrüßt hatte sie mich zwar auf das freundlichste und mich ohne weiteres chérie und mignonne genannt, aber das war doch ein wenig anders gewesen, als wie sonst die Erwachsenen zu mir sprachen, und was dies andere war, konnte ich nicht recht herausbringen.

Nun, mit der Zeit würde ich schon dahinterkommen, dachte ich mir, und richtig, im Laufe einiger Tage schon wußte ich, was es gewesen.

Wenn wir nämlich allein miteinander waren, nannte sie mich auch chérie und mignonne, aber die feinen Fältchen um ihre Augen blieben dabei ganz unbeweglich. Waren aber Mama oder Papa dabei, so zuckten diese Fältchen, und daraus merkte ich, besonders da ihre Augen immer hinter der Brille steckten, daß sie aufmerksam darauf hinlauschte, ob die Eltern auch bemerkten, wie freundlich sie zu mir wäre.

Am Nachmittage des nächsten Tages gingen wir allein miteinander spazieren und ich führte sie die Dorfstraße entlang und nachher in den Wald. Von meinem schönen grünen Walde, den ich so sehr liebte, schien sie nicht viel zu halten, sondern fragte mich nur ängstlich, ob hier auch Wölfe seien. Es machte mir aus irgendeinem unbekannten Grunde Spaß, ihre Frage ausdrücklich zu bejahen, obwohl ich bisher noch keinen einzigen Wolf gesehen hatte. Hernach fragte sie, wo denn unsere Nachbarn wohnten und war entsetzt, als sie vernahm, daß nur noch die Familie meines reichen Paten im gleichen Dorf zu Hause sei. » Mon Dien, que c'est triste!« sagte sie und redete lange kein Wort mehr.

Als sie eine fette Kröte mitten auf der Landstraße sah, die ich sorglich fortscheuchte, damit sie nicht unter die Wagenräder geriet, kreischte sie entsetzt auf, und ich hätte ihr gern alle paar Schritt lang eine Kröte hingelegt, nur damit sie mit einem so komischen Schrei beiseite spränge.

Ich wußte nun, sie liebte überhaupt keine Tiere, weder Hunde, noch Katzen, noch auch die süßen Singvöglein, und als wir auf dem Heimwege einen Truthahn sahen, der kollernd und zornig sein Rad schlug, stand sie verwundert still und sagte: » Quest que c'est que cela?«

Worauf ich im Bewußtsein meines Besserwissens ernsthaft erwiderte: » Mais c'est un dindon!«

» Un dindon?« frug sie zurück und machte ein Gesicht, als ekele sie sich vor dem Puter – » Tiens tiens que c'est drôle!«

Und damit trippelte sie schon weiter mit hochgehobenen Röcken, so als könne der dindon sie beschmutzen.

Das alles zusammen machte mir einen üblen Eindruck, und auf Mamas Frage, ob wir denn miteinander geredet hätten, sagte ich: »Mama, die Mademoiselle hat kein gutes Herz. Sie liebt keine Tiere, sie fürchtet sich vor einer Kröte und vor Wölfen; sie findet es hier langweilig und sagt von unserm Puter nur, daß er komisch aussieht, aber wenn sie so vor den Kröten davonspringt, ist sie noch viel häßlicher und komischer.«

»Aber Dudu« – sagte Mama ganz entsetzt, »ich kenn' dich doch gar nicht so unliebenswürdig, – bedenk' doch, die arme Mademoiselle kommt doch aus ihrem schönen Lande und hat gewiß Heimweh. Da mußt du extra lieb zu ihr sein.«

Ich aber ließ mich in meiner Auffassung keineswegs beirren. Mit meiner Rechten machte ich eine abwehrende Handbewegung, zog meine Brauen düster zusammen und wiederholte:

»Und sie hat doch kein gutes Herz. Ich weiß es.«

 

Kein gutes Herz

Im Laufe der Zeit sollte sich meine Behauptung bewahrheiten: Mademoiselle hatte wirklich kein gutes Herz!

Zuerst war sie ungeheuer zuvorkommend gegen Mama und tat alles, was sie ihr an den Augen absehen konnte. Verlor Mama ihr Taschentuch, so stürzte sie aus dem Nebenzimmer herbei um es ihr aufzuheben. Nie ging Mama aus dem Zimmer, ohne daß sie die Tür vor ihr aufriß, ja oft küßte sie ihr ohne allen Grund die Hand. Besonders wenn Mama ihr Sonntags eine Predigt in französischer Sprache vorlas. Da war sie immer sehr gerührt und wischte sich die Augen.

Als sie aber sah, daß Papa Sonntags zur Jagd ging, begann sie rastlos auf und nieder zu gehen, hob die Augen zur Decke empor und sagte, einmal über das andere: » Oh que c'est ennuyeux! Que c'est ennuyeux!« Denn sie hatte nicht bemerkt, daß ich im Nebenzimmer war. Und nun begriff ich freilich schnell genug, daß sie sich langweilte, weil Papa fortgegangen war. Also mußte sie Papa doch sehr gern haben!

Als ein paar Wochen später meine Schwester Grace ankam, bemerkte ich, daß sie und Mademoiselle sehr bald eine große Freundschaft zueinander faßten, und immerzu miteinander schwatzten und kicherten. Wenn jedoch Mama unversehens ins Zimmer trat, hörten sie sofort auf wie auf den Mund geschlagen, oder fingen gleich an von etwas anderem zu reden, woraus ich schloß, daß sie kein ganz gutes Gewissen hatten. Auch hatte ich nach einer geflüsterten Bemerkung Mademoiselles Graces Augen mit einem spöttischen Ausdruck auf mir ruhen sehen, und während meiner Unterrichtsstunden bei Mama hockten die zwei immer zusammen und waren ein Herz und eine Seele; ja und an einem Sonntage blieb Papa sogar von seiner Jagd zurück und die drei machten einen langen Spaziergang miteinander und waren sehr vergnügt. Mit der Zeit kam das immer häufiger vor, ja manchmal blieb auch Grace daheim.

Die täglichen Spaziergänge aber, die Mademoiselle mit mir machte, waren schrecklich langweilig, denn niemals erzählte sie mir etwas Hübsches oder von ihrem Daheim, sondern fragte mich nach allerhand Dingen aus, über die ich nicht viel zu sagen wußte, zum Beispiel, wie lange denn meine Mutter Gouvernante in Papas Hause gewesen sei, ehe er sie heiratete, und wo mein Stiefbruder Harry jetzt lebe und ob er reich sei. Von Papa schien sie übrigens sehr entzückt, und obwohl sie mir kein Wort darüber sagte, merkte ich es doch recht gut, denn sie bekam eine ganz andere süße Stimme und einen roten Kopf, wenn sie mit ihm sprach und lachte, wo es gar nichts zu lachen gab. Redete sie aber mit Mama, so sagte sie alle Augenblicke sehr respektvoll: » Madame a complètement raison!«, aber ich glaubte ihr nicht, daß sie das wirklich so meinte.

Einmal als Papa und Mama bei Tisch einen kleinen Streit miteinander hatten, merkte ich, wie Mademoiselle und Grace einander zulächelten, und nachdem Mama den Tisch verlassen hatte, saßen die anderen noch lange beisammen und knackten Nüsse und Mandeln.

Als das Weihnachtsfest herankam, sagte mir Mama, Mademoiselle bekäme ein schönes Kleid geschenkt, sie wolle es ihr aber nicht unter den Baum legen, sondern am ersten Weihnachtsfesttage in ihre Schieblade. Kaum jedoch hatte sie das getan, so schien Mama sehr ärgerlich und betrübt zu sein, denn sie hatte rote Flecke auf den Wangen, und den Grund hierfür erfuhr ich erst viel später. In Mademoiselles Kommodeschublade hatte Mama nämlich eine ganze Menge Süßigkeiten und Naschwerk gefunden, die Mademoiselle sich heimlich von den Schüsseln und vom Baume – genommen hatte.

Und daß sie ertappt worden war, wußte Mademoiselle recht gut, denn sie kniete vor Mama nieder, als sie sich für das Kleid bedankte und brach in Tränen aus – das sah ich mit meinen eigenen Augen und konnte es gar nicht begreifen, warum sie so weinte. Man kniete doch auch nicht nieder, wenn man ein Kleid geschenkt bekam – das taten ja nur die Zigeuner und auch nicht alle.

Viel später erst sagte mir Mama, sie habe sie damals fortschicken wollen, weil sie gestohlen hatte und das wäre auch sicher das Beste gewesen. Aber kurz nach Neujahr gab es einmal einen schrecklichen Auftritt zwischen Mama und Mademoiselle, und da befahl ihr Mama, das Haus zu verlassen. Mademoiselle aber gab ihr nur eine schnippische Antwort und sagte, wenn Monsieur sie gehen heiße, wolle sie gewiß gehen, Madame aber habe ihr nichts zu sagen.

Und fortan gab es Zank und Streit in unserem lieben stillen Hause, Türen wurden heftig zugeschlagen, erregte Stimmen dröhnten durch die Räume. Papa und Mama sagten einander furchtbare Dinge und sprachen oft so zornig aufeinander ein, daß Mama einmal in Krämpfe fiel und wie tot auf dem Boden lag, Papa aber einen Fidibus entzündete und ihr diesen vors Gesicht hielt. Da ich glaubte, er wolle meiner Mutter etwas zuleide tun, lief ich schreiend auf ihn zu und jammerte: »Du darfst Mama nicht anzünden!« Worauf er mich heftig beiseite schleuderte.

Unterdessen saß Mademoiselle seelenvergnügt auf ihrem Zimmer und nähte an ihrem Putz und Kram, während sie vor sich hinlächelte. So fand ich sie, da ich mich zur Stunde bei ihr einstellte. Lachend sagte sie da: » Ce scandale, n'est il pas encore fini?«

Und nach einer Weile: »Geh weg, du langweilst mich. Ich habe heute Kopfschmerzen!«

Und nun wußte ich es sicher: sie hatte nicht nur kein gutes, sie hatte ein schlechtes Herz, denn sie allein war schuld an all diesem Elend, und Papa hatte sie viel lieber als meine arme Mutter!

 

Das Unglück

Mit Mademoiselles Einzug in unser Haus, in dem sie sich schon längst nicht mehr langweilte, war gleichzeitig auch ein anderer Gast bei uns eingezogen, nur schlich dieser auf so leisen Sohlen durch die Zimmer, daß wir ihn zuerst nicht spürten, und nur als er sich breit und behaglich zu machen begann – da wußten wir, wenigstens Mama und ich: es war das Unglück!

Freilich, meine Kinderahnung hatte die Glocken längst läuten hören, aber wer hört denn auf ein Kind? Wann wird ein Kind um seine Meinung gefragt? Erwachsene wissen alles doch soviel besser.

Nun aber war das Unglück da und setzte sich mit Behaglichkeit bei uns fest. Wie sollte man es jemals wieder fortbekommen?

Ich sah meine Mutter oft bitterlich weinen, und eines Tages, da stand Papas Bett nicht mehr in unserem Schlafzimmer und er hatte sich in der kleinen Gastkammer eingerichtet, die neben Mademoiselles Zimmer lag. Oft sah ich ihn und Mademoiselle beieinander und einmal, da ich jäh in den Salon hineinstürmte, lag sie von seinem Arm umschlungen zärtlich hingeschmiegt an seiner Brust.

Ich erschrak so heftig, daß ich gleich wieder kehrt machte, aber ich hütete mich wohl, meiner Mutter etwas davon zu sagen. Ich wollte sie doch nicht noch unglücklicher machen.

Ach, welch traurige, traurige Zeit das doch war! Wie schlug mir das Herz oft so bange, wenn ich morgens früh aus dem Schlafzimmer trat und leise die Treppe hinunterschlich! Was würde heute noch Schreckliches kommen?

Es schien mir, als hätte Papa mich gar nicht mehr lieb. Er war so ganz und gar verändert. Er kümmerte sich nicht mehr im geringsten um mich. Oft saßen er, Mademoiselle und Grace zum Nachttisch lange und vergnügt beieinander und schmausten allerhand gute Dinge, von denen sie mir scherzweise wie einem Hunde ein paar Brocken, Nüsse oder Bonbons, zuwarfen.

Ich aber bückte mich nicht nach solchen Almosen und ließ sie liegen. Bei Mademoiselle hatte ich längst keinen Unterricht mehr, aber auch nicht annähernd soviele Stunden wie sonst bei Mama. Sie hatte ja nicht mehr die Kraft, sie mir zu geben. Nach und nach fielen selbst die Klavierstunden aus, denn meine arme Mutter litt an fürchterlichen Kopfschmerzen, Weinkrämpfen und Erbrechen, und konnte sich oft stundenlang vom Divan nicht rühren. Ach und wie blaß und gelb und mager sie geworden war!

Ich getraute mich zuerst gar nicht, an meine Freiheit zu glauben und hielt mich gewissenhaft in ihrer Nähe, falls sie mich dennoch zur Stunde rufen sollte. Aber oft vergingen ganze Tage, ohne daß ich Unterricht hatte. Ich sollte nur immer wieder das Gelernte wiederholen und bekam ab und zu eine schriftliche oder Rechenaufgabe zu lösen. Aber da Mama auch diese nicht mehr durchsah, schlich ich mich immer öfter in den Garten, denn das Haus war mir ja doch verleidet. Ich fürchtete mich vor den heftigen Szenen, die ab und zu immer wieder vorkamen, und einmal hörte ich während einer solchen, daß Mama in schrecklicher Ruhe und Entschlossenheit zu Papa sagte: »Und wenn du auch dein äußerstes tust – – in die Scheidung willige ich nicht ein. Niemals. Das bin ich unserem Kinde schuldig!«

Lange zerbrach ich mir den Kopf, was sie wohl damit gemeint haben könnte, aber ich kam nicht recht dahinter und wagte mich auch nicht, ihr zu nähern und sie zu liebkosen. Denn meine Scheu, daß sie fühlen könnte, wie sehr ich mit ihr litt und ihren Kummer durchschaute, war noch größer als mein Vermögen, ihr helfen zu können. Ich wußte, niemand vermochte ihr zu helfen als nur Papa allein, und auch das nur, wenn er die Mademoiselle für immer fortschickte.

Aber daran war gar nicht zu denken, und so beschloß ich denn in meinem Innersten, Mademoiselle in meiner Weise zu strafen, und zu diesem Zweck schleppte ich eines Abends mit großer Mühe und Anstrengung die Sofamatratzen in die Mitte des Saales, legte sie übereinander, blies das Licht aus und ging unverfroren auf Mademoiselle zu, die mit Papa eben eine Partie Bezique beendet hatte und sagte: » Venez avec moi mademoiselle, je vous montrerai quelquechose!«

» Laisse-moi!« sagte sie zuerst, » ce sont des enfantillages!« Endlich aber ging sie doch mit mir.

Ich faßte sie klopfenden Herzens bei der Hand und führte sie im Dunklen direkt auf die Sofamatratzen zu. Natürlich purzelte sie hin und es tat mir leid, daß sie nur mit dem Schreck davongekommen war.

Sie aber erhob ein Mordsgeschrei, stürzte mit hochgehobenen Händen zu Papa und übergoß mich mit den häßlichsten Schimpfworten.

Und nun geschah etwas Entsetzliches: Papa geriet in einen maßlosen Zorn, packte mich wie ein Rasender, stürzte mit mir ins Nebenzimmer und verabfolgte mir eine solche Tracht Prügel, daß mir schwarz und blau vor Augen wurde – und als Mama mich ihm empört aus den Armen reißen wollte, erhielt sie einen Stoß, daß sie taumelte.

Dies war das schrecklichste Erlebnis meiner Kindheit – und ich klammerte mich laut weinend an Mama, die auf einem Stuhl zusammengebrochen war und schluchzte.

So weinten wir beide herzbrechend miteinander, während die anderen, so als sei nicht das geringste vorgefallen, ruhig zu Tische gingen.

Uns beiden war Essen und Trinken vergangen. Wir waren nur noch die Ärmsten der Armen, die Ausgestoßenen, die Vergessenen und Gehaßten – wir, meine Mutter und ihr einziges Kind!

 

Die fremde Teufelin

Konnte das alles denn noch schlimmer werden, als es schon war? fragte ich mich oft, wenn ich des Morgens aufwachte und in Mamas rotgeweinte Augen sah?

Es schien wirklich so, denn jeder Tag brachte uns neue Pein und neue Demütigungen.

Eines Tages wurden Mama alle Schlüssel weggenommen und in ihrem Beisein Mademoiselle übergeben! Meine Mutter war eine Fremde in ihrem eigenen Hause geworden und ich mit ihr. Jede Begegnung mit Papa und Mademoiselle oder Grace hatte etwas Herzzerreißendes für uns beide – wir fürchteten uns vor den dreien, besonders aber vor Papa, der wie eine Gewitterwolke einherging.

Aus freien Stücken schickte mich Mama jetzt oft zu den Dienstboten oder in den Garten, und da sie selbst nicht mehr zu Tisch kam, sondern auf ihrem Zimmer aß, kamen wir uns vor wie Gefangene. Dennoch sprachen wir selten oder nie miteinander über Papa und Mademoiselle, obwohl ich genau wußte, daß sie beide allerhand Anschläge auf Mama hatten und sie immerzu beobachteten.

Auch in mein armes dummes Kinderherzlein kam etwas Geängstigtes, Verschüchtertes, ja etwas Lauerndes – ich huschte wie ein Schatten durch die Zimmer, aß oft mit am Tische der Dienstboten und verwilderte zusehends. Es kam vor, daß ich mich halbe Tage im Wald und auf den Wiesen herumtrieb. Ich schloß Freundschaft mit den Hüterjungen, saß an ihrem Feuer und briet Kartoffeln mit ihnen, kletterte über Zäune und ritt auf ihren mageren Pferden mitten unter ihnen in den tiefen Wald hinein.

Ich hätte bei dieser Lebensweise beinahe glücklich sein können, wenn nicht die entsetzliche Angst um meine Mutter mich wie ein Alp immerzu verfolgt hätte. Wie wenn ich sie eines Tages tot fand, wenn ich ins Haus zurückkehrte? Sie sah manchmal so seltsam aus und wenn sie mich mit ihren großen hellbraunen Augen durchdringend ansah, war mir zumute, als müßte ich mich auch vor ihr fürchten!

Ich hatte auch in Wahrheit Grund genug dazu, denn meine arme Mutter war damals in einem Zustande der Verzweiflung und dem Wahnsinn nahe. Ein Grauen schüttelte mich, wenn ich sie so mit einem unaussprechlichen Ausdruck vor sich hinstarren sah, und einmal bemerkte ich, daß sie ein großes Weinglas Kognak hinunterstürzte und laut mit sich zu reden begann. Nun war auch sie mir vollends unheimlich geworden und ich floh vor ihr, als würde ich verfolgt.

Ostern kam und ging diesmal vorüber wie der Alltag. Niemand hatte mich dazu ermuntert, Eier zu färben wie sonst. Nur in der Küche steckten mir die Dienstboten heimlich welche zu.

Eines Tages kam Nadja zu uns hinaufgeschlichen, um sich zu verabschieden. Sie war von Papa entlassen worden und weinte bitterlich. Ich hing schluchzend an ihrem Halse.

Sie wandte sich an Mama, die teilnahmslos vor sich hinstarrte. »Barinja, Barinja!« flüsterte sie ihr zu. »Die fremde Teufelin wird nächster Tage abreisen und das Fräulein mit ihr!«

Wie aus einem Schlafe erwachend, sah Mama sie an. »Ist das wahr, Nadja?«

»Ja bei Gott! So wahr wie ich hier stehe!«

Sie bekreuzigte sich und bückte sich über Mamas Hände.

»Leben Sie wohl, Barinja! Mögen Sie alle Heiligen beschützen!«

»Ach Nadja«, murmelte Mama, »mich beschützen die Heiligen nicht mehr.«

Aber schon war Nadja aus dem Zimmer geschlüpft.

Und nun war ein großes Warten über uns gekommen. Wann würde die fremde Teufelin denn nur abreisen?

Ich spähte und lauerte im ganzen Hause herum.

Fast trunken vor Seligkeit kam ich eines Morgens angestürzt. »Sie wird wirklich abreisen, Mama, sie packt schon ihren Koffer! Und Grace auch!« stieß ich atemlos hervor.

»Freu' dich nicht zu früh, mein armes Kind!« sagte Mama dumpf. »Die eine, die Teufelin, kommt wieder!«

Ich stand bestürzt. »Nein – o nein, Mama!«

»Aber uns kann's gleich sein«, murmelte meine Mutter – »denn wir beide, wir werden selber wegfahren müssen – und für immer.«

Das gab mir einen Stoß, daß alles Blut aus mir wich. Ich hätte mich am liebsten lang auf den Boden hingestreckt, um zu sterben.

Zwei Tage vergingen. Wirklich stand der Reisewagen vor der Tür, wirklich wurden die Koffer hinausgetragen. Im Speisezimmer wurde ein Frühstück serviert; es roch nach allerhand guten Sachen.

Mama saß kerzengerade in ihrem Lehnsessel und starrte mit brennenden Augen vor sich hin. Wieder fürchtete ich mich vor ihr und wagte sie doch nicht allein zu lassen.

Niemand kam zu uns herein; niemand verabschiedete sich von uns. Weder Mademoiselle, noch auch Grace. Und Grace reiste doch jetzt ganz fort – nach England zurück.

Ich hörte die Pferde anziehen und stürzte auf den Schlafzimmerbalkon.

Da saßen die beiden. Grace hob die Hand, um mir zu winken. Ich aber hatte meine Hand fest in meiner Tasche zusammengeballt und rührte mich nicht.

Und nun ward unser Haus still wie ein Grab …

 

Auszug

In fieberhafter Unruhe harrte ich der Dinge, die nun kommen würden.

Etwa eine Stunde verrann. Endlich tönten Schritte auf der Treppe … vor der Tür … Jemand pochte an.

Papa trat ein. Er war sehr bleich und sagte kalt:

»Was wir jetzt noch miteinander zu verhandeln haben, kann in aller Ruhe geschehen. Dudu, verlaß uns!«

Zitternd flog ich zur Tür hinaus.

Zu Mittag wurde wie früher für drei gedeckt. Nach langer, langer Zeit saßen wir wieder beisammen.

Aber die Eltern sprachen kein Wort miteinander. Zerstreut richtete Papa ab und zu eine Frage an mich. Ich wagte ihn gar nicht anzusehen, so verändert, so düster sah er aus.

Und auch Mama saß da, als wäre sie von Stein. Schweigsam schluckte ich mein Essen hinunter und fühlte dennoch, daß ich Hunger hatte.

In der Fabrik blieb Papa länger als sonst, ging auch wieder auf die Jagd. Das Haus war leer und stumm.

Mama wanderte stundenlang im Saal auf und ab. Das ertrug ich besser, als wenn sie wie im Traum durch alle Zimmer ging, sinnend und in tiefen Gedanken stehen blieb und bald diesen Gegenstand, bald jenen leise berührte und darüber hinstrich wie zum Abschied.

Es sollte ja auch ein Abschied sein.

Mir schnürte sich bei diesem Gedanken immer wieder von neuem das Herz zu. Ich vermochte noch nicht daran zu glauben.

Es war doch nicht möglich, daß wir, Mama und ich, unser Heim für immer verlassen sollten! Ich wurde blaß und elend unter dieser Vorstellung.

»Lieber Gott, lieber Gott«, flüsterte ich vor mich hin – »hilf doch – – es kann ja doch nicht sein!«

Aber an Gebetserhörungen zu glauben hatte ich armes Kind ja seit einiger Zeit verlernt. Ich glaubte nichts mehr, als was ich sah.

Und eines Tages sah ich, daß unsere Reisekoffer vom Boden gebracht und gelüftet wurden.

Jetzt also würde es geschehen. Jetzt half nichts mehr.

Mama begann umständlich und sorgsam zu packen. Von meinem Lieblingsspielzeug nahm sie soviel mit als irgend anging. Natürlich mußten die großen Sachen zurückbleiben, auch viele meiner Bücher.

Und völlig vernichtet schlich ich von Zimmer zu Zimmer und stand vor dem Käfig, worin Stapelchen, der Star saß, den Papa so schön pfeifen gelehrt hatte.

Ach, daß ich das liebe Haus, den Blumengarten, den Star nicht mitnehmen konnte!

Der Garten sah verwildert aus; Mama hatte sich ja monatelang nicht um ihn gekümmert.

Die gelbbraunen Stiefmütterchen, die anderen, die violetten und weißen, wucherten unordentlich über die Beete hin, die Tulpen waren längst verblüht, die Rosen standen ungepflegt, die Narzissen und Lilien sahen mich fremd an.

Ich strich zärtlich über die gelben Stiefmütterchen hin.

»Ihr habt alles gewußt!« sagte ich wehmütig. »Und nun ist's zu spät.«

Die Blumen sahen mich alle so tot und traurig an. Dieser Garten war nicht mehr »mein« Garten, dieses Haus nicht mehr »unser« Haus.

»Wir gehen fort – –«, sagte ich manchmal laut vor mich hin, wenn ich allein war, »und das, was ich lieb habe, bleibt hier und ist nicht mehr, was es war! Was nützen mich die Puppen? Die sind nicht lebendig, die könnten auch hier bleiben. Ich brauche sie nicht.«

Wenn ich doch wenigstens meinen mir durch das Zahnausziehen verdienten Hahn mitnehmen könnte! Aber mein Hahn stolzierte an mir vorüber, kümmerte sich nicht um mich und ich ward ihm böse. Meinetwegen hätte man ihn auch schlachten können! Was ging der Undankbare mich an?

Viel schneller als ich gedacht, war der Tag der Abreise da.

Die fremde Magd, nicht meine gute Nadja, kleidete mich an, setzte mir den Hut auf, knöpfte mir den Mantel zu.

Ich stand und ließ alles mit mir geschehen. Draußen stand schon der Wagen, die Pferde stampften vor der Tür, die Koffer wurden verschnürt und hinten an den Wagen gebunden.

Auch Mama stand angekleidet und zur Abreise bereit.

Da trat Papa, der eine starke Zigarre rauchte, zu uns heran, reichte meiner Mutter die Hand und sprach:

»Lassen Sie es sich wohlgehen, Madame, und werden Sie in Zukunft glücklicher als bisher!«

Ich starrte ihn verblüfft und erschrocken an. Wie? Er nannte Mama – Madame? Meine Augen wurden starr … war er denn verrückt geworden?

Jetzt aber riß er mich in seine Arme, küßte und umarmte mich heftig. » Doodoo, my Doodoodarling!« rief er, während die Tränen ihm aus den Augen stürzten. »Leb wohl. Kleines! Willst du noch was von mir? Kann ich dir etwas mitgeben?«

Mich durchblitzte ein Gedanke.

»Stapelchen!« rief ich beglückt. Ach hätte ich doch das Wort nie gesprochen!

Stapelchen wurde aus seinem großen schönen Käfig genommen und in ein enges kleines Bauer getan. Ich drückte es fest an mich, konnte vor Glück nichts sagen.

Aber ich wußte: Papa hatte mich doch noch lieb. Er schickte mich ja gar nicht fort – er weinte ja und war traurig – – warum blieben wir denn nicht alle zusammen hier?

Aber schon hatte er mich in den Wagen gehoben – es war zu spät, mich zu erklären.

Die Dienstboten umdrängten uns. Ich sah nur Papa … warum, ach warum schickte er uns denn nur fort?

Der Kutscher schwang die Peitsche, die Pferde zogen an.

Da riß sich ein durchdringender Schrei aus meiner Kinderbrust: »Papa, ach Papa!«

Schon fuhren wir die Dorfstraße entlang.

 

Die große Reise

Der Kummer über den Abschied, die Freude über das lebendige kleine Wesen, das bei den Stößen und Ungleichheiten des Weges ängstlich in seinem Bauer umherflatterte, erfüllten mein Kinderherz bis zum Rande.

Ich beschloß, mein Stapelchen, das mir fortan allein gehörte und für mich die ganze verlorene Heimat bedeutete, so gut zu halten und zu betreuen und so lieb zu haben, daß es gerne bei mir bliebe und sich nicht nach seinem umfangreichen Käfig und hellen ruhigen Zimmer zurücksehnen möge, das uns allen durch seinen Gesang so traut und heimisch geworden war.

Ach, welch eitler Wahn war das! Und wie wenig vermochte ich, seine Leiden zu lindern, wiewohl ich den Käfig mit vorgestreckten Armen vor mich hin hielt, um die Wucht der Stöße abzudämpfen. Allmählich färbte sich das Stänglein, worauf der arme kleine Sänger verschüchtert saß, mit Blut, und nun wurde meine Trauer so schmerzlich, daß ich sie kaum ertragen konnte. Dazu kam, daß Mama bitterlich vor sich hinweinte.

Ach, wie in aller Welt verlassen waren wir doch, und das arme Stapelchen dazu, das nicht einmal wußte, weshalb ihm so übel mitgespielt wurde und das gewiß das Unschuldigste von uns dreien war.

Ich hätte ja mein armes Vöglein fliegen lassen können, aber ihm völlig zu entsagen, war mein kindisches Herz nicht fähig, und so kämpfte ich denn meinen ersten schweren Kampf zwischen meinem Mitleid und meiner Selbstsucht bewußt aus, kämpfte zäh und beharrlich und unterlag, wie ich seither so oft unterlegen bin.

Freilich, wer konnte denn auch wissen, ob der seit Jahren in Gefangenschaft gehaltene Vogel sich gefahrlos in der Freiheit bewegt haben würde?

O, wie lang und ermüdend war diesmal der Weg, wie von Regen durchweicht und voller Knüppelbrücken und Pfützen die Straße! Wie viele unzählige Stöße würde mein Stapelchen noch auszuhalten haben, ehe es endlich zur Ruhe käme!

»Später fahren wir ja mit der Eisenbahn; »Stapelchen«, flüsterte ich ihm zu, da wirst du nicht mehr gestoßen – ach verzeih, und sei mir nicht böse – – ich kann ja nichts dafür!«

Aber das Jammerbild meines geschundenen Lieblings verfolgte mich späterhin noch manches Jahr, als der kleine Sänger längst in seinem Gräblein lag. Und das gleiche ohnmächtige Mitleid mit den armen gemarterten Tieren, unseren jüngeren Brüdern, an deren Elend ich fortan keine Schuld tragen wollte, hat mich mein Leben lang gequält. Es ist mit das Schmerzlichste, ein hilfloses, unschuldiges Geschöpf leiden zu sehen, ohne daß wir ihm zu helfen vermöchten, und davon gibt es immer noch Legion!

Nach einer mich unendlich dünkenden Fahrt von vielen, vielen Stunden langten wir in unserer Gouvernementstadt Orel an. Hier empfing uns ein seltsam trauriges, eintöniges Glockengeläute, und wir sahen viele Särge, die an uns vorübergetragen wurden. Auf Mamas Frage, was das zu bedeuten habe, erwiderte der Kutscher, es herrsche in Orel die Cholera und es stürben täglich viele Leute.

Was ich an schmerzlicher Sorge für meinen Vogel, das mag zu dieser Stunde meine arme Mutter für mich empfunden haben!

Wir stiegen in einem düsteren Hotel ab, und ich war froh, meinem Stapelchen frisches Wasser zu geben und ihn zum ersten Male zu versorgen.

Im übrigen waren wir beide so müde, daß wir kaum etwas zu essen vermochten und baldmöglichst zu Bette gingen.

Aber in der Nacht ward mir unversehens so schlecht zumute, daß ich mich erbrechen mußte und angstvoll stöhnend dalag.

»Das Kind hat einen Cholerineanfall, gnädige Frau«, sagte der schleunigst herbeigerufene Arzt zu meiner Mutter. »Verlassen Sie baldmöglichst diese durch und durch infizierte Stadt. Einen anderen Rat kann ich Ihnen nicht geben.«

Und also zogen wir drei Heimatlosen am nächsten Tage schon aus der verpesteten Stadt hinaus und setzten unsere qualvolle Wagenfahrt fort – um schwere und schmerzliche Erfahrungen reicher.

Du lieber Gott im Himmel – war so das Leben?

 

Unter Buben

Ich war noch sehr matt und elend, als wir nach vielen Stunden endlich in dem Städtchen Schisdra bei unseren Freunden, der Doktorsfamilie Bauk-Hage anlangten.

Hier sollten wir eine Weile bleiben und ich entsinne mich noch heute des hilflosen Schreckens, der mich durchfuhr, als drei Paar blitzende Knabenaugen sich auf mein wundes Vöglein hefteten und ebenso viele Hände begehrlich nach dem Bauer griffen.

»Laßt! Laßt!« schrie ich in energischer Abwehr. »Das ist mein Vogel und er ist krank und müde von der Reise und muß Ruhe haben!«

Inzwischen waren die drei Buben von ihrer großen stattlichen Mutter, die meine Patentante war, zur Ordnung gewiesen worden, und ich wagte es erst jetzt, sie mir ordentlich anzuschauen.

Meine Patentante aber machte kurzen Prozeß. »So, das ist ja die Dudu!« sagte sie zu Mama. »Sieht ja wie das reine Elend aus, Mariechen. Nicht immer also scheint die Landluft günstig zu wirken.«

»Mein Gott, Auguste, was haben wir aber auch durchgemacht!« klagte Mama, während sie sich von Mantel und Tüchern befreite.

»Also her mit euch Jungens!« rief die Tante Auguste. »Dies ist also der Maxel, das der Edwin und dieser kleine Kerl hier unser Wolde. Na ordentlich Kompliment machen, ihr Buben, und der Tante Marie die Hand küssen. Der Dudu dürft ihr schon einen Kuß geben.«

Ich fühlte mich im Handumdrehen von den beiden Großen gepackt, die etwas älter sein mochten als ich, und mit großer Energie geküßt. Der kleine Wolde hing sich an mein Röckchen und ruhte nicht eher, als bis er auch seinen Kuß bekam.

»Und nun ihr Jungens, bedenkt vor allem, daß ihr Kavaliere seid und Duduchen nicht herumstoßen dürft wie ihr einander. Macht euch also angenehm und vergeßt nicht, daß Dudu euer Gast ist.«

Max und Edwin faßten mich sofort unter und führten mich im Schnellschritt durch alle Zimmer. Wolde lief jammernd hinterdrein, da er auch seinen Anteil an mir beanspruchte.

Ich blieb resolut stehen. »Wo schlafen wir«, fragte ich. »Dort muß der Käfig hin und Stapelchen soll zuerst versorgt werden.«

Die Jungen schleppten mich über eine enge Wendeltreppe in den oberen Stock. Da aber keiner von ihnen losließ, wurde es eine gefährliche Expedition.

Endlich hatte ich mich ihrer soweit entledigt, daß sie meine Arme freigaben, ich ein geschütztes Winkelchen auf dem Fensterbrett für meinen Liebling gefunden hatte und seinen Napf mit frischem Wasser füllen konnte.

Nun erst wandte ich mich an meine künftigen Gefährten. Aber schon kam mir Max zuvor.

»Kannst du Französisch?« examinierte er mich.

»Jawohl. Aber kannst du Englisch?« fragte ich zurück.

Schweigen.

»Kannst du Schlittschuhe laufen?« fragte nun auch Edwin, ein bildhübscher Junge.

»Nein. Aber kannst du Klavier spielen?« – meine Antwort.

Wieder Schweigen. Ich hatte offenbar an Terrain gewonnen.

Nachdem sie nun auch in Erfahrung gebracht hatten, daß ich Ostereier färben und Windmühlen machen könne, schafften sie Papier, Stecknadeln, Spähne und Schere herbei und ich sollte ihnen meine Kunst gleich vorführen.

Inzwischen aber, während ich an den Mühlen arbeitete, zeichnete mir Max mit großer Präzision einen prachtvoll uniformierten Soldaten mit einem riesigen Helmbusch, an dessen Rock auch kein Knopf fehlte.

»Das ist ein Gardeulan!« sagte er wichtig. »Den schenke ich dir.«

Ich präsentierte ihm dagegen eine fertige Windmühle.

»Ha – die ist fein!« rief Edwin, riß die Mühle seinem Bruder aus der Hand, worauf sofort eine Schlägerei einsetzte. Die Mühle lag zertreten am Boden.

»Du kriegst auch eine, Edwin! Ihr braucht euch doch nicht gleich zu prügeln.«

»Mir – mir auch eine!« brüllte Wolde und hing sich an meinen Arm wie eine Klette.

»Ja, wenn du mich festhältst, kann ich doch nicht schneiden«, sagte ich voller Besorgnis, denn in dieser Weise von drei Buben, die sich gleich prügelten, in Beschlag genommen zu werden, war keine angenehme Aussicht und ich war ja so müde.

»Hände weg, Wolde!« kommandierte Max. »Laß Dudu schneiden.«

Nun hatte jeder seine Mühle. »Hoho! Famos!« schrien die Jungen und rasten auf und nieder.

Ich erwischte indessen ein Gelegenheitlein und entfloh meinen Quälgeistern.

»Halloh, das gibts nicht. Du bist unsere Gefangene!« Und schon fühlte ich die harten Bubenfäuste, die rechts und links meine Arme umklammerten.

Da ertönte eine Glocke.

»Zum Essen!« brüllten die Jungen einstimmig und zerrten mich die Wendeltreppe wieder hinunter, so daß ich atemlos anlangte.

Jetzt kam uns ein kleiner Herr mit klugen grauen Augen und einer Habichtsnase entgegen, beugte sich zu mir nieder und gab mir einen Kuß auf die Stirn.

»Willkommen, Dudu!« sagte er freundlich. »Na Jungens, reißt mir die Dudu nicht in Stücke. Ich will auch etwas von ihr haben.«

Damit bot er mir mit einem spaßhaften Kompliment den Arm und führte mich ins Speisezimmer, wo das Abendessen schon bereit stand.

»Sie kann Englisch« – –

»Und Klavier – – und Windmühlen machen, Papa!« riefen die Jungen durcheinander.

»Wo hast du denn aber meinen Soldaten, Dudu?« fragte Max eindringlich.

Wolde stürzte triumphierend vor und hielt das Blättchen hoch. »Ich – ich hab ihn!«

»Der gehört dir nicht!« sagte Max mit vieler Würde und nahm dem Kleinen das Blatt fort.

Der hob ein Zetergeheul an.

»Rrrruhe, Buben! Und Schnedderedeng!« schnarrte der kleine Doktor mit fürchterlicher Stimme. »Daß dich das graue Mäuslein beißt, Wolde!«

Und jetzt gab es tatsächlich für eine Weile Ruhe, denn wir setzten uns alle um den runden Tisch und Tante Auguste füllte die Teller mit Suppe.

Bei Tisch aber durften die Jungen nicht reden und mir fielen die Augen fast zu vor Müdigkeit. Mama hatte offenbar wieder geweint und der Onkel Doktor fragte sie eingehend nach verschiedenen Dingen, während die Tante Auguste ihre Buben, die einander unter dem Tisch mit den Füßen traten, mit ihren großen stahlblauen Augen in Bann hielt.

Gleich nach dem Essen sagten wir Kinder gute Nacht und wurden von einem handfesten Dienstmädchen zu Bett gebracht – ich zuerst in Anbetracht meiner großen Müdigkeit.

Kaum sank ich ins Bett, als ich schon einschlief.

So endete mein zweiter Tag in der Heimatlosigkeit.

 

In Jisdra

Jisdra war eine kleine Stadt mit spitzen Pflastersteinen, über die selten einmal ein Wagen rumpelte, öfter aber Schweine trappelten oder verängstigte Hühner flatterten, aber auch Jisdra hatte seinen Anziehungspunkt und das war der Stadtgarten.

Außer einer Generalswitwe und einem pensionierten Obersten und seiner Familie verkehrte niemand bei den Doktorsleuten. So war denn das Leben nicht gerade gesellig, aber es fehlte ihm die Ruhe und die Heiterkeit des Landlebens.

Die Vormittage verliefen fernerhin ziemlich gleichförmig, weil die Buben Unterricht bei ihrer Mutter hatten; und nicht immer ging es friedlich dabei her. Voller Angst und Schrecken hörte ich aus dem dritten Zimmer Ohrfeigen klatschen, mitunter auch ein kurzes, aber um so eindringlicheres Geheul.

Nach den Stunden aber stellten sich Max und Edwin mit großen Geberden vor mich hin und deklamierten prahlerisch und einer den anderen überschreiend Schillersche Gedichte. Ich sollte entscheiden, wer es besser gemacht und entledigte mich meines neuen Amtes mit Würde und Gewissenhaftigkeit.

Am Nachmittage wurden wir von Warwara, einem älteren Dienstmädchen, im Trupp spazieren geführt. Ich erstaunte über die ungezogene und herrische Art der Jungen, die die armen und kleinen Leute einfach beschimpften, wenn sie nicht vom Bürgersteig traten und ihnen Platz machten. Gewöhnlich ging es in den Stadtgarten, wo es eine Rutschbahn und einen Turnapparat gab, von denen wir alle gleichermaßen begeistert waren.

An diesen Apparaten erwiesen sich die Buben mir durchaus überlegen. Sie kletterten an glatten Stangen ebenso flink empor wie an einem Seil oder einer Strickleiter, turnten am Reck, hingen in den unmöglichsten Stellungen, oft mit dem Kopf nach unten an schwingenden Ringen oder an einem hoch angebrachten Trapez und fühlten sich durch meine Bewunderung sehr geschmeichelt. Ja, sie taten ihr möglichstes, um auch mich zu turnerischen Übungen heranzuziehen, und da ich mir redliche Mühe gab, konnte ich es ihnen in kurzer Zeit beinahe gleich tun. Freilich bis zu ihrer Vehemenz und Präzision im Turnen brachte ich es nie, aber das entschuldigten sie beide mit einer gewissen nachsichtigen Ritterlichkeit und gaben mir das Zeugnis, daß ich für ein Mädchen schon recht viel leistete.

Nur mit der Rutschbahn ging es uns allen Vieren gleichermaßen schlecht, denn wohl brachten wir es nach einem kräftigen Anlauf auf die Hälfte der sehr steilen und glatten Bahn, dann aber blieben wir jämmerlich stecken und konnten weder vorwärts noch zurück, und hämisch betrachteten uns einige schäbig gekleidete Kinder, die vermittelst ihrer nackten Sohlen immer höher kamen als wir. Uns aber Schuhe und Strümpfe auszuziehen, war uns streng verboten.

So bildeten die Doktorsbuben und ich dazu ein Ärgernis und einen Angriffspunkt für die Kinder der ärmeren Klassen, die sich weidlich über uns lustig machten. Max und Edwin schäumten dann vor Wut und schüttelten ihnen drohend die Fäuste entgegen; meist jedoch blieb es bei mündlichen gegenseitigen Verunglimpfungen, da es als unanständig galt, sich mit Gassenbuben zu raufen. Beim Hinunterrutschen waren wir alle jedoch gleich flink und zwar auf Kosten unserer Beinkleider, und zu meinem Kummer waren meine Höschen immer weniger widerstandsfähig als die festen Hosen der Buben.

Alles in allem tat mir die schneidige und anstrengende körperliche Disziplin, die ich unter den Jungen mitmachte, gut. Ich erholte mich von meinem elenden Zustande, wurde munterer und schlagfertiger und lernte es, mit den Buben umzugehen und mich in Respekt bei ihnen zu setzen.

Was mir aber die verlorene Spannkraft wiedergab, das war im tiefsten Grunde die Tatsache, daß mein Vöglein, mein liebes Stapelchen allmählich wieder genas und sich von seinen Strapazen erholte. So hatte ich es diesmal nicht nötig, in ihm das Symbol meines verlorenen Heims zu betrauern. Ich hing an dem Vogel, wie nur ein Kind an einem Wesen zu hängen vermag, das ihm mehr bedeutet, als es an sich ist, denn woran sonst sollte ich, so beschaffen wie ich einmal war, wohl hängen? An die Erhörung von Gebeten konnte ich seit meiner Erfahrung nicht mehr glauben, ebensowenig wie an die Vollkommenheit meiner Eltern, denn sonst wären sie ja nicht getrennt und wären wir, meine Mutter und ich, nicht in die Fremde geschickt worden. Die Liebe zu Christus, zum Jesuskinde war mir nie recht nahegebracht worden – was blieb mir also übrig, als mein Herz an Tiere zu hängen, die ich ja liebevoll behandelte, wenn sie von mir abhingen, von denen ich mich aber nicht zu trennen vermochte, wenn es zu ihrem Besten war? Tiere waren die Wesen, denen ich mich verwandt und vertraut fühlte, waren mir Freunde und Geschwister. Insbesondere aber empfand ich sie, nur im höheren Grade wie mich selber, hilflos der Willkür und dem Willen der Erwachsenen preisgegeben – und das war das Band, das mich an sie fesselte, mit einer verstehenden und mitleidsvollen Liebe, einer Liebe, wie ich sie selbst für mich vielleicht unbewußt beanspruchte, und die ich bisher noch nirgends gefunden hatte, weder bei meinen Eltern noch bei Fremden.

Waren meine Ansprüche etwa zu groß, oder am Ende zu bescheiden? Wer vermochte mir das zu sagen? Wer darüber zu entscheiden?

 

Steppenfahrt

Eines Tages stand wieder eine Postchaise vor der Tür. Wieder weiter hinaus sollten wir ziehen in die unbekannte fremde Welt, immer weiter fort von meinem geliebten Heimatsort.

Wir nahmen Abschied von den freundlichen Doktorsleuten und ihren drei Buben und ich erzählte meinem Vöglein, daß es nun nicht mehr lange so schlimm gehen würde, denn bald käme ja die Eisenbahnfahrt. Ach jawohl, sie kam, freilich, aber zuvor war mein Liebling doch wieder wund gestoßen worden und ich vermochte ihm nicht zu helfen!

Wir fuhren südwärts auf der kurz zuvor ausgebauten Eisenbahnstrecke über Kursk und Charkow nach Jekaterinoslaw. In den meisten dieser Städte herrschte die Cholera und es war nicht rätlich, sich darin aufzuhalten. Da uns nun Onkel Albert, Mamas Bruder und Tante Lonny dringend eingeladen hatten, längere Zeit bei ihnen zu bleiben, so mußten wir zu Wagen durch die Steppe reisen, und diesmal war es ein Planwagen und ein jüdischer Kutscher.

So stundenlang in der brennenden Sonnenglut unter ewig blauem Himmel über die graue, ausgedörrte Fläche zu fahren, wo man weder Baum noch Strauch sah, weder einen Weg noch einen Wanderer, wo einem nur selten ein knarrendes Gefährt mit ein Paar Ochsen davor entgegenrückte, wo ein Haus einem fast unwirklich vorkam und der glührote Vollmond aus der Erde selbst hervorzutauchen schien, – war wunderlich genug und brachte einen seltsamen Zustand von Überwachheit über mich. Mit geschärften Sinnen nahm ich die neue Welt ringsum wahr, horchte auf jeden Laut und fühlte mich in ein Märchenland versetzt. Dazu paßte auch der langgestreckte häßliche Planwagen mit seinem unsauberen Leinendach, das sich im Bogen über uns wölbte, die prallen Sonnenstrahlen auffing und uns nur nach vorn die Aussicht frei ließ, während wir ausgestreckt auf dem Stroh lagen, ich mit meinem Käfig im Arm. Vor uns der gekrümmte und schmächtige, immerzu hin und her pendelnde Rücken unseres jüdischen Kutschers und die spitzen beweglichen Ohren unserer Pferde. Und über dem allem eine seltsam reine und dünne Luft, die uns eine etwa auftauchende Scheune oder Hütte beinahe schreckhaft nahe brachte.

Gegen Abend sah ich, daß Joskes Rücken sich immer gewaltsamer krümmte und hörte ein heiseres unterdrücktes Stöhnen, das in ein lautes Wehklagen überging.

»Was ist euch, Joske?« fragte Mama erschreckt.

Der Mann wandte sich um, sein knochiges bartloses Gesicht war krampfhaft verzerrt.

»Au waih geschrien, hab ich doch die Cholera im Leibe!« jammerte er. »Soll mer der Gott Abrahams und Isaaks und Jakobs helfen aus meinen Nöten! Werd ich doch nicht können weiterfahren bei die Schmerzen!«

Meine Mutter setzte sich aufrecht hin.

»Hört Joske«, sagte sie – »keinen Kopeken Trinkgeld bekommt Ihr, wenn Ihr euch jetzt nicht zusammennehmt! Hier!« Sie zog aus ihrer Ledertasche ein Fläschchen – »nehmt diese Medizin und euere Schmerzen werden vergehen. Aber nehmt nicht mehr als einen Schluck – hört Ihr!«

Gehorsam schluckte Joske die Medizin und sank in sich zusammen. Nach einer kleinen Weile ward es still.

»Werden wir doch missen übernachten in einer jiddischen Herberge …?« stöhnte er fragend.

»Tut wie Ihr wollt. Ist die Herberge noch weit?«

Er schüttelte den Kopf und die Zügel. In rascherem Tempo ging die nächtige Fahrt.

Langsam füllte sich der dunkle Himmel mit glitzernden Sternen. Wie sahen sie uns arme Heimatlose so heiter und freundlich an, so als ob es gar kein Leid gäbe! Zu ihnen hätte ich beten mögen, sie würden uns am Ende doch erhören!

»Ach lieber Gott«, stammelte ich aus alter Gewohnheit, »hilf uns doch! Hilf dem armen Stapelchen, daß es nicht stirbt!«

Und so, den Blick aufwärts gerichtet, gewahrte ich zu spät, daß wir uns dem dunklen Schatten eines Gebäudes näherten, das groß vor uns aufstieg. Aus einem winzigen Fenster glomm ein rotes Licht. War das wohl die Herberge?

Jawohl – sie war es. Joske stieg vom Wagen und wankte an die Haustür. Mit polternden Schlägen, die unheimlich in die stille Nacht hinausklangen, bearbeitete er die Tür. Dann stieß er in hebräischer Sprache einen Wortschwall hervor, der wie ein Notschrei klang.

Auch wir waren mittlerweile ausgestiegen. Noch lebte mein Stapelchen und rührte sich, ein kleiner trauriger Schatten in seinem Käfig.

Endlich hörten wir ein heiseres Brummen. Vorsichtig ward der Türbolzen von der Innenseite zurückgeschoben – die Tür öffnete sich.

Ich schrak zusammen. Vor uns stand, von einem kurzem Hemde bekleidet, lang und dürr ein alter, alter Mann mit schneeweißem Bart, lodernden Augen und spinnendürren Beinen.

War das der Herbergsvater?

Und hinein traten wir in eine muffige, nach Knoblauch riechende Stube, die eine elende Talgkerze notdürftig erhellte.

Ein Napf Milch und ein Viertellaib Schwarzbrot stillte Hunger und Durst.

Stapelchen bekam sein Näpfchen voll frischen Wassers und seine Portion Hanf vorgeschüttet, und dann legten wir uns erschöpft und doch seltsam wach in die harten Betten unserer nackten häßlichen Kammer und versuchten zu schlafen.

Lange wollte der Schlaf nicht kommen. Immer wieder fuhren wir erschreckt auf.

Mein letzter Eindruck war der, daß der dürre alte Herbergsvater mit einer Kerze in der Hand in seinem kurzen Hemde an unserer nur halbangelehnten Tür vorüberstrich und einen Augenblick lauernd stehen blieb.

Dann ward es still und dunkel und mir fielen die Augen zu.

 

Ankunft

Früh morgens ging die Steppenfahrt weiter, doch die Sonne schien hell und heiter, nur wurden ihre Strahlen von Stunde zu Stunde brennender und heißer. Ich litt an einem entsetzlichen Durst. Wir kamen durch ein deutsches Kolonistendorf und meine Mutter versprach mir, Milch von den Leuten zu kaufen.

Wir hielten vor einem größeren Hause und wurden im Nu von einer Schaar Neugieriger umringt.

Mama redete sie in deutscher Sprache an und bat sie um Milch.

Stumpfsinnig standen die Leute da und rührten sich nicht. »Ich will Euere Milch ja kaufen«, sagte meine Mutter dringlich. »Gebt doch nur dem Kinde ein Glas voll.«

»Nix Milch!« sagte eine große grobknochige Frau. »Die brauchen wir all' selber!«

Das war uns noch nie passiert. In russischen Dörfern hatten wir noch nie eine Fehlbitte getan.

Endlich schöpfte man uns unwillig einen Krug Wassers und wir tranken alle der Reihe nach.

Was waren das nur für Menschen, die sich nicht einmal einer einsamen Frau und eines Kindes erbarmten? Ich sah sie traurig an und die Tränen traten mir in die Augen.

Nachdem Joske, der nun wieder munter war, auch die Pferde getränkt hatte, ging unsere langwierige Reise weiter.

Aber allmählich wurde die Steppe lebendiger. Wir sahen immer mehr Ochsengespanne, manchmal auch ein Stück Ackerland. Hier und da hob sich verdorrtes Gebüsch aus dem Boden und endlich wurde die Gegend auch von Bäumen belebt, aber es waren andere Bäume als ich sie daheim kannte, weder Tannen noch Eichen und Birken, sondern eine Art struppiges Gehölz voll feinen Blättergefieders.

Wir kamen durch sonderbare Dörfer, deren Hütten nicht aus Holz waren wie bei uns, sondern aus Lehm und schmutzige Strohdächer trugen.

Ernsthaft standen Kinder in langen Hemden vor den Türen und verbeugten sich gewohnheitsgemäß tief bis zum Gürtel. Weiber trugen reichbestickte breitärmelige grobe Hemden und kurze blaue Röcke, starrten uns an, lachten und grüßten.

»Das sind Kleinrussen«, sagte mir meine Mutter, – »wir sind an der Grenze von Podolien.«

Aber ich war bis in die Tiefe meiner Kinderseele traurig und innerlich verletzt und verwundet. Das waren ja nicht meine Russen, die ich kannte und liebte. Das war ein fremdes sonderbares Volk.

Warum nur hatten wir alles verlassen müssen, was uns lieb und vertraut war? Wie würde es uns in diesem heißen merkwürdigen Lande ergehen? Ob diese Kleinrussen uns auch einen Schluck Milch weigern würden wie die deutschen Kolonisten?

Aber ich war zu müde und seelisch zu erschlafft, um auch diese Bauern auf die Probe zu stellen. Lieber verzichtete ich auf die Milch.

So schwieg ich denn und ergab mich in alles, was noch kommen sollte.

Und jetzt stieg ein kleines Städtchen vor uns auf voller graugelber Häuschen, aus denen hin und wieder weißgestrichene bessere Häuser herausragten, alle aber unter den gleichen grauen Schindeldächern.

Wir fuhren in einen Herbergshof ein, wo die Pferde rasten und wir selbst mit frischen Pferden und in einem anständigen Tarantaß die letzte Strecke fahren sollten.

Aber eines freute mich dennoch. In der Ferne hatte ich einen Fluß blinken sehen, also war die Steppe zu Ende, und an diesem gleichen Fluß, der Bazaluk hieß, lag nicht nur das Städtchen Nikopol, in das wir eingefahren waren, sondern auch das Ziel unserer Reise, das Dorf Gruschewka. Demnach konnte es doch so gar weit nicht mehr sein!

Ach, ich armes Kind – was wußte ich denn von Flußläufen und Entfernungen im heiligen russischen Reich?

Immer noch weit, ja sehr weit war die Reise, besonders für uns arme Erschöpfte!

Wir verabschiedeten uns freundschaftlich von Joske, wünschten ihm gute Besserung, und nachdem wir das furchtbare Pflaster des Städtchens hinter uns hatten, konstatierte ich, daß wir federnd auf glatten trockenen Straßen dahinrollten und Stapelchen nicht mehr so schrecklich gestoßen wurde.

Immer noch saß mein Vögelchen verschüchtert auf seinem Stänglein, doch hüpfte es ab und zu an sein Näpfchen, stärkte sich mit einem Schlücklein Wasser und pickte ein paar Körnlein Hanf auf; während der Fahrt hatte es das sonst nie getan, nur wenn wir ein paar Minuten rasteten.

Also waren die Wege wirklich besser und wir kamen schneller vorwärts.

Einige Stunden aber mochte die Fahrt dennoch gedauert haben. Wir kamen in ein großes und stattliches Dorf, fuhren im schlanken Trabe an einem prachtvollen, säulenumstandenen, von zwei mächtigen Baumalleen flankierten Schloß mit großem Garten vorüber und bogen in die Hauptstraße ein.

»Wohnt hier der Onkel Albert nicht?« fragte ich enttäuscht.

»Nein Dudu, das ist ein großfürstliches Jagdschloß und jetzt lebt der Herr Oberverwalter darin. Aber bald, bald sind wir da.«

Nun tauchte am entgegengesetzten Ende der Dorfstraße ein schönes breites Herrenhaus auf, inmitten schlanker hoher Bäume, umringt von mehreren kleineren weißgetünchten Gebäuden.

Vor einem derselben, einem niedrigen freundlichen Häuschen hielten wir.

»Da wohnt der neue Doktor!« sagte unser Kutscher schmunzelnd.

Und auf der Schwelle stand meine gute, meine geliebte Tante Lonny und winkte und breitete lachend und weinend ihre Arme aus.

»Endlich, endlich seid Ihr gekommen!«

Mama stürzte schluchzend in ihre Arme.

Ich hob meinen Käfig hoch empor – auch mir liefen die Tränen über die Wangen.

»Ich hab' auch mein Stapelchen mitgebracht, Tante Lonny!«

Ich fand kein anderes, kein besseres Begrüßungswort.

Stapelchen war doch mein ganzes Daheim!

 

Das Doktorhäuschen

Das Doktorhäuschen mit seinen vier winzigen Räumen war ein rechtes Märchenhäuschen und steht mir licht und freundlich in der Erinnerung. Denn in ihm wohnte das Glück.

Und das Glück zweier Menschen, die einander lieb haben, das sollte ich wohl in dieser kleinen Hütte kennen lernen, denn bei uns, in unserem großen Hause war es ja nicht daheim gewesen.

So war ich denn auch ganz bezaubert von dem Glück des jungen Ehepaares, denn es leuchtete förmlich aus allen Winkeln – dieses Glück und diese Einigkeit!

Nicht daß Onkel Albert und Tante Lonny nicht auch zuweilen aneinander gerieten, – sie waren ja beide äußerst temperamentvoll, ja heftig, aber selbst ich ließ mich von solchen Streitereien weder erschrecken noch aus der Fassung bringen, weil ich in ihren Augen und besonders in ihren Mundwinkeln die Liebe und die schalkhafte Freude auf eine echte rechte Versöhnung schon hervorblitzen sah. Solche Versöhnungen waren denn aber auch wirklich entzückend.

Und doch war der Onkel oft äußerst niedergeschlagen und verstimmt, denn er als Nachfolger des verstorbenen Doktors Garnier, dessen Familie noch in dem großen weißen Herrenhause wohnte, hatte es nicht leicht, sich das Vertrauen und die Anhänglichkeit der Bevölkerung zu sichern, die Doktor Garnier in vollem Maße besessen hatte.

Tante Lonny jedoch war eifrigst darauf bedacht, »ihrem Albing« alles an Anerkennung und Ehren a priori zu verschaffen, was sein Vorgänger sich auch nur im Laufe vieler Jahre errungen hatte. Und in dieser Hinsicht kam es vor, daß sie mit Heftigkeit forderte, wo sie sich hätte gedulden müssen.

So lebte sie von einer wunderlichen Eifersucht auf einen Verstorbenen erfüllt, den sie niemals gekannt hatte, und zornsprühend und weinend konnte sie sich über den Unverstand der Bevölkerung ereifern, die das goldene Herz ihres Gatten nicht sofort unter seiner schroffen und manchmal herrischen Art sich zu geben, herausfühlten.

Auch war sie voller Bitterkeit, wenn sie der ersten Stellung ihres Mannes in dem deutschen Kolonistendorf Tarutino gedachte, wo er allerhand Demütigungen von seiten der spröden, hartnäckigen und fanatischen Herrenhutergemeinden ausgesetzt gewesen, und diese bitteren Erinnerungen übertrugen sich sogar auf die treue, derbe und arbeitsame Josepha, die deutsche Kolonistenmagd, die dem Doktorpaar hierher nach Gruschewka gefolgt war.

Ich dagegen, ich verstand mich mit Josepha von vornherein vortrefflich, saß oft bei ihr in ihrer blitzsauberen Kammer, die mit Bibelsprüchen und frommen Bildchen geschmückt war, und ließ mir gern von ihr vom lieben Herrn Jesus erzählen, mit dem sie offenbar auf vortrefflichem Fuße stand, und den sie zu kennen schien, als sei er ihr Bruder. Im allgemeinen aber liebte es auch Josepha, sich über die Schlechtigkeit der Welt und insbesondere der Kleinrussen zu entrüsten, hauptsächlich weil sie anderen Glaubens waren als sie selber und trotz ihrer Kirchenlauferei »doch nur reine Heiden« seien. Ihrer Herrschaft gegenüber war Josepha von einer geradezu unheimlichen Gewissenhaftigkeit und hätte sich nie erlaubt, mir ohne Extrabewilligung einen guten Bissen zuzustecken, obwohl sie das ganze Küchenregiment führte.

»Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen«, war ihr Lieblingsspruch, und in bezug auf Glaubenstreue und Glaubenseifer hatte ich nie etwas Ähnliches erlebt, und schon aus diesem Grunde war sie mir lieb und wert und interessant, wenn auch Tante Lonny oft von ihr sagte, sie sei dumm wie ein Stiefel.

Übrigens lebten wir nicht mit im kleinen Häuschen, schon weil kein Platz da war, sondern im großen weißen Doktorhause, wo man uns zwei Zimmer reserviert hatte. Zu den Mahlzeiten mußten wir täglich mehrmals über den umfangreichen Hof wandern und jedesmal gab es ein erfrischendes und freudiges Wiedersehen. Da ich mich in den ersten Tagen nicht an die vielen Kinder gewöhnen konnte, trieb ich mich gern einsam umher, untersuchte Scheunen, Ställe, Remisen, Holzlager und Heuschober auf das genaueste, und kam eines Tages verstört und zitternd zu Josepha gelaufen – ich hatte eine Schlange gesehen!

»Nu Duduchen, das wird nicht die letzte hier gewesen sein!« sagte da Josepha phlegmatisch und legte mir mitleidig ihre ehrliche breite Hand auf den Kopf. »Hierorts gibt es viele Schlangen – und wie die Bibel schon sagt: Hüte dich vor der bösen Schlange der Verführung.«

Ja, Josepha war sehr bibelfest, aber das war mir kein Trost: ich fürchtete mich doch entsetzlich vor Schlangen.

Aber eines Tages wurden mir von dem guten Onkel Albert ein Paar Stelzen geschenkt und nach vielen vergeblichen Versuchen lernte ich darauf gehen und nun erst war ich sicher vor den Schlangen, stelzte vergnügt in Hof und Garten umher und begann mich wieder meines Lebens zu freuen.

Stapelchen lebte, das Glückshäuschen war da und ich konnte es auf meinen Stelzen schnell genug erreichen, und die Schlangen konnten mir nichts mehr tun. Was brauchte ich mehr?

 

Die Doktorskinder

Eines Tages aber lernte ich doch die Doktorskinder kennen, die sich neugierig um unsere Tür drückten und lachend davonstoben, wenn sie aufgetan wurde.

Es waren drei Buben und vier Mädchen, von denen mir gleich Robutschka, der älteste Sohn, und Lulussia, das zweite Töchterchen am besten gefielen. Die Älteste, Marussia, schon im dreizehnten Jahr, war hellblond, sommersprossig und zählte sich offenbar zu den Erwachsenen. Wenigstens kümmerte sie sich keineswegs um uns anderen.

Aber Robutschka war ein bildschöner Junge, und Lulussia, ein toller Wildfang, ja ein kleiner Teufel, die ihrer Bonne mehr Mühe machte, als alle anderen Kinder zusammen.

Sie war es denn auch, die mich sofort in eine dramatische Situation verwickelte.

Wir waren in den großen Garten gelaufen und standen um einen merkwürdigen Baum, der mit seinen gewundenen Ästen nach allen Seiten weit ausgriff, als wehre er sich in innerer Seelenqual vor einem Eindringling. Da plötzlich rief Lulussia schrill: »Holla –, wer kein Feigling ist, steigt auf den Baum!«

Anstatt ihr nun zu antworten, sie möge den Anfang machen, ging ich dummes Kind in die Falle, stürzte tapfer auf den Baum los und begann den Stamm zu erklimmen, mich von Ast zu Ast weiter zu schwingen, bis ich nicht weiter konnte, während die Kinderschar mich gaffend umstand.

»Aha – da bin ich!« sagte ich stolz.

Aber die siebenjährige Lulu rief kaltblütig:

»Das ist noch gar nichts. Jetzt aber spring herunter und zeig, was du kannst!«

»Nein doch!« schrie Robutschka dazwischen – »Unsinn! Tu's nicht!«

Aber Lulu hob unten einen rasenden Indianertanz an, wobei ihre Beine in Gürtelhöhe umeinander wirbelten und kreischte: »Etsch! Etsch! Du bist feige!«

»Nein!« brüllte ich zornig zurück.

»Ei, dann spring doch!«

Ich fühlte, wie das Blut mir in den Kopf stieg. Unbesonnen genug wagte ich den gefährlichen Sprung von einer sehr beträchtlichen Höhe.

Aber ein barmherziger Ast verhakte sich in mein Röckchen und so hing ich ein Weilchen zwischen Himmel und Erde und kam nach einigen weiteren Hindernissen zerkratzt und zerschunden zu Boden, wo ich direkt auf die Nase fiel.

Völlig betäubt blieb ich ein paar Sekunden liegen; mein Gesicht war blutüberströmt, dann aber stand ich würdevoll auf und trabte ruhig davon, als sei nichts geschehen. In meinem Rock klaffte ein großes Loch.

Da ich zurückblickte, sah ich, daß Robutschka Lulussia ein paar strafende Hiebe versetzte, und von diesem Augenblick an hielt ich zu ihm.

Oft überließ ich ihm meine Stelzen und er lernte ebensogut laufen wie ich. Lulussia aber bekam sie nie, und wenn sie sie doch einmal erwischte, so brachte sie es doch zu keiner Fertigkeit damit, denn sie war viel zu ungeduldig und hastig, um etwas gründlich zu machen. Hingegen fürchtete sie sich aber auch vor keinem Teufel, weder vor Schlangen noch vor Ratten, und einmal sah ich sie zu meinem Entsetzen, wie sie eine in der Hand auf mich losstürmte.

»Eine Schlange, Dudu« – rief sie – »eine Schlange! Die werf ich dir ins Gesicht.«

In dieser Sache aber verstand ich keinen Spaß. Ich wurde starr und eiskalt.

»Versuch's nur, Lulu«, sagte ich heiser, »und ich schlag' dich tot!«

Schon aber hatte Robutschka sie beim Arm gepackt und hielt sie fest.

Da fiel die Schlange – es war eine Blindschleiche – zu Boden und verschwand im Grase.

Ich bekam nachträglich einen Weinkrampf, vor dessen Heftigkeit selbst Lulu erschrak.

Mit der Zeit gelang es mir, mit Lulussia Frieden zu halten. Sie mußte mir versprechen, mich niemals mehr mit Schlangen zu erschrecken, und ich machte dafür alle Dummheiten mit, zu denen sie uns anstiftete. Allmählich aber wurde ich unabhängiger von ihr, denn im Gehen, Laufen, Polkatanzen auf Stelzen entwickelte ich eine Virtuosität, in der es mir niemand gleichtat, und das war immerhin etwas.

Am Ende des Gartens, der in einen weiten Park auslief, gab es einen Hügel, der von den Kindern der Schneckenberg genannt wurde, und diesen ziemlich steilen Hügel pflegte ich mit respekteinflößender Kaltblütigkeit empor- und wieder hinabzustelzen. Das war selbst in Lulus Augen eine Leistung, und so setzte ich mich trotz meiner Schlangenfurcht mit meinem Stelzengehen ihr gegenüber in ein heil- und wirksames Gleichgewicht.

Was mich aber an Lulussias Wesen so besonders befremdete, das war ihre niederträchtige Art, immer die anderen für ihre eigenen Dummheiten hineinzulegen, und so erinnere ich mich eines Auftritts, der mir erst nach vielen Jahren in seiner schwülen Bedeutung verständlich wurde. Sie lockte mich und ihr jüngeres Brüderchen, den stillen und schwächlichen Amandik, in eine abgelegene Dienstbotenkammer, rückte einen Tisch vor die Tür und befahl ihm, sich zu entkleiden.

»Weißt du auch, daß die Jungens anders sind wie wir?« fragte sie mit funkelnden Augen.

Ich schüttelte den Kopf – ich hatte über diese Tatsache nie nachgedacht.

Inzwischen stand der kleine Kerl nackt vor mir da, während sie mir mit großer Sachkenntnis erklärte, was weit über mein damaliges Begriffsvermögen hinausging.

Nun aber polterten die Mägde an der Tür, der Tisch fiel um und rot und verlegen standen wir da und sahen einander an.

»Die Dudu hat durchaus wissen wollen, wie ein Junge aussieht«, log Lulu frech drauf los – »ja, und deshalb hat Amandik sich entkleiden müssen!«

Kreischend vor Lachen wiesen die Mägde mit den Fingern nach mir und fanden kein Ende ihres Spottes und Hohnes. In ihren Augen war ich natürlich ein grundverdorbenes Kind!

Was half es, daß ich mich empört zur Wehr setzte?

Was nützte mir alle Unschuld der Tauben, da ich sie nicht mit der Klugheit der Schlangen zu vereinen wußte?

Man glaubte mir ja doch nicht.

 

Chomka

Unter dem Doktorshause hatte sich vor einiger Zeit ein lahmer, dreibeiniger Hund eingefunden, der niemandem gehörte und ein erbärmliches Dasein fristete.

Übel genug mußten ihm die Menschen mitgespielt haben, denn er war entsetzlich scheu und wagte sich nur im Dunkel ins Freie, um sich von Küchenabfällen zu nähren, ja er zog es offenbar vor, ganze Tage lang mit seinem kranken Bein beschäftigt unter der Treppe zu hocken.

Als ich ihn das erstemal im Mondschein erblickte, war ich von der Armseligkeit des Tieres ergriffen, das seine gebrochene Vorderpfote vor sich hinschlenkerte und jäh vorüberhuschte wie ein heller Schatten.

Ich rief ihn an, trat langsam näher, und da er zitternd stand und sich kaum zu rühren wagte, streichelte ich ihm das struppige weißgelbe Fell und sprach ihm gut zu. Da legte er sich mir auf Gnade und Ungnade zu Füßen und stieß jammervoll flehende Laute aus, die mir ins Herz schnitten.

»Ich tu dir ja nichts, du armes, du elendes Bettelmännchen! Oh wie haben sie dich doch schlecht und grausam behandelt!«

Und ich kauerte zu ihm nieder und drückte des Hundes Kopf an meine Knie. Diese eine Regung des Verständnisses und des Mitgefühls aber genügte, um das verstoßene Tier ganz und gar zu verwandeln und umzuschaffen. Es war außer sich, es konnte sein Glück nicht fassen, es gab zärtliche kläffende, vor Jubel erstickte Laute von sich, es leckte mir Füße und Hände, ja es atmete schwer wie eines, dem etwas Unerhörtes geschehen sei und legte sich immer wieder vor mich nieder.

Ich hatte sein Vertrauen, seine Liebe auf einmal und ganz und gar gewonnen!

Es traf sich, daß ich ein Stück Brot bei mir hatte. Das gab ich ihm und sah zu, wie gierig er sich darauf stürzte.

Als der Hund damit fertig war, nahm ich ihn in meine Arme und sagte ihm eindringlich: »Jetzt heißt du Chomka, weißt du, – du sollst doch auch deinen Namen haben!«

Er sprang in frenetischem Jubel an mir empor, auf alle nur mögliche Weise versuchend, mir seine Liebe und Dankbarkeit zu erweisen. Jetzt aber schritt der rohe Hausknecht, der Michailo über den Hof und ich zuckte zusammen. – »Geh, versteck dich nur!« raunte ich dem Hunde zu, »das ist ein Böser!«

Und wie ein Pfeil schoß Chomka wieder unter das Haus und witterte nur, die helle Schnauze von Mondschein beschienen, zu mir hin.

Von nun an hatte ich eine Aufgabe.

Ich fütterte meinen Chomka und was ich irgend an Knochen und Speiseresten erwischen konnte, trug ich ihm zu, und gleichzeitig ward mir klar, daß ich besser tat, meinen vierbeinigen Freund und Kameraden vor den anderen nicht zu erwähnen. Die Kinder waren unbedacht und grausam, immer bereit, mit Steinen nach einem Tier zu werfen, das bei ihnen kein Heimatsrecht besaß, und Onkel Albert mochte Hunde überhaupt nicht.

So wurde unser Verhältnis zueinander zu einem rechten Geheimbunde. Mit der Zeit aber gelang es mir kaum, den ungebärdigen Jubel Chomkas, wenn ich über die Treppenstufen ging, zu unterdrücken. Er keuchte, kläffte, winselte und gab Laute des Entzückens von sich, schoß ängstlich hervor, überkugelte sich und kroch von seiner eigenen Kühnheit verschüchtert wieder in seine Finsternis zurück, daß die Großen, wenn sie mit mir gingen, insbesondere aber Mama, immer wieder aufmerksam auf ihn wurden.

»Was hast du dir denn da für ein garstiges Vieh zugelegt?« sagte sie einmal unwirsch.

Da aber brach es heiß und gequält aus mir hervor: »Ach Mama, wenn du wüßtest, was der Chomka für ein goldenes und dankbares Herz hat, – und wie schlecht die Menschen zu ihm gewesen sind! Er hat ja eine gebrochene Pfote, dazu ein blaues und ein braunes Auge – ach, und er hat mich so furchtbar lieb. Sag nur Onkel Albert nichts von ihm!«

»Aha!« meinte meine Mutter halb lachend, halb ärgerlich. »Dahin gehen also alle die Speisereste, die du zusammensuchst! Ich verstehe. Aber neulich hat schon Onkel Albert davon gesprochen, daß du blaß und mager aussiehst, wohl weil du dem Hund dein Teil verfutterst. Er mag auch nicht, daß du so auf die Restejagd gehst.«

Ich umklammerte meine Mutter leidenschaftlich und stieß hervor: »Mama, ich bitt' dich, sag nur dem Onkel nichts und laßt mir den Hund! Oh bitte, bitte, laßt nur dem Hund nichts zu leide tun – ich hab' ihn lieb! Er versteht mich ja doch besser als ein Mensch. Immer weiß er, wenn mir etwas fehlt, wenn ich traurig bin und leckt mir die Tränen vom Gesicht!«

»Die Tränen vom Gesicht?« fuhr meine Mutter auf. »Das verwahrloste Vieh? Na, ich danke. Da kannst du dir ja eine böse Ansteckung holen.«

Ich war außer mir. »Ich hole mir keine Ansteckung – ich hab mir noch nie was Schlechtes von einem Tier geholt. Ich bitt' dich so sehr ich nur kann: sag' dem Onkel nichts und laßt dem Hunde nichts zuleide tun, bitte, bitte, Mama!«

»Ich kann dir nichts versprechen, Kind. Vor allem mußt du diese Leidenschaftlichkeit deiner Natur zügeln lernen!«

»Versprich, versprich mir's doch!« schluchzte ich. Eine ungeheure Angst um Chomka war über mich gekommen.

Meine Mutter löste meine Hände von ihren Schultern. »Du weißt, ich lasse mir keine Versprechungen abzwingen, keine Bedingungen stellen. Was wir Erwachsene tun, hat ein Kind nicht zu kritisieren.«

Verzweifelt schrie ich: »Ich kritisiere ja nichts, Ihr sollt bloß den Hund in Ruhe lassen – ich hab ihn lieb, und Ihr wißt es, daß ich ihn lieb habe!«

Und heiß schluchzend schlug ich die Hände vors Gesicht und stürzte mit wehem Herzen und vor Angst gepeinigt hinaus auf die Straße.

 

Der Kampf mit dem Knochen

Der ungewöhnlichen Schneewehen wegen, die den ganzen weiten Hof unwegsam gemacht hatten, durfte ich oft abends zum Essen bei Doktors bleiben.

Die gute Frau Doktor Garnier nahm sich stets mütterlich meiner an, setzte mich neben sich und versorgte mich mit allem Nötigen. Es mochte ihr wohl Spaß machen, zu sehen, wie ernsthaft und höflich sich das fremde Kind für jede Handreichung bedankte.

Einst gab es Hühnerbraten, mag vielmehr ein bejahrter Hahnenbraten gewesen sein, denn das Fleisch war entsetzlich zähe, und während die Doktorskinder ihre Hühnerknöchelchen ohne weiteres mit den Fingern zum Munde führten, säbelte ich in meiner Wohlerzogenheit ausdauernd und ungeschickt an meinem Hühnerbein herum, und es wollte mir trotz aller Mühe nicht gelingen, das Gelenk zu durchschneiden.

»So gib doch deinen Teller her, Dudu!« sprach die Erzieherin freundlich, »ich will dir helfen.«

»Nein danke vielmals Mademoiselle – es wird schon werden.«

Es wurde aber nicht, trotz erbärmlicher Anstrengungen. Der Hühnerknochen blieb ganz und die Kinder erhoben ein fröhliches Gelächter.

»Willst immer alles allein machen und kannst's doch nicht!« rief Robbi, mein spezieller Freund.

Ich fühlte mich dunkelrot werden und ging mit erneutem Eifer ans Werk. Platsch – da lag das Hühnerbein auf dem Tischtuch!

»Oh verzeihen Sie, Frau Doktor!« rief ich entsetzt.

»Tut nichts, Kind, aber sieh, das kommt davon, daß du dir nicht helfen lassen willst«, sagte Frau Doktor freundlich. »Nun will ich dir aber das Knochengelenk durchschneiden.«

»Nein, bitte nicht«, rief ich flehend, »ich kann's selbst, und habe doch immer selbst …«

»Nun sag, – wie bist du denn nur zu Hause mit solch Hühnerbein fertig geworden?« fragte Frau Doktor.

»Zu Hause …?« Ein Gefühl der Verklärung durchdrang mich. »Ach zu Hause … das ist etwas ganz anderes. Zu Hause gibt mir mein Papa doch immer schönes Fleisch, hier aber bekomme ich nur Knochen.«

Stürmisches Gelächter ringsum. In tiefer Zerknirschung sehe ich mich hilflos um und frage atemlos: »Habe ich denn was Dummes gesagt?«

 

Die alte Kalesche

Selige Zeit der Kinderträume!

Zum Feenreich wird uns ein alter Holzschuppen – zum kostbaren Besitz ein völlig wertloser vergessener Gegenstand. Kinderträume spinnen und weben glänzende Goldfäden um all den elenden Kram, bunte Märchenblumen nicken aus den dunkelsten Ecken geheimnisvoll hervor und ein Kinderherz ist befriedigt.

Auch ich hatte mein Königreich. In einem Winkel des geräumigen Hofes bei meinem Onkel hatte ich einen alten, gänzlich defekten Wagen entdeckt. Es war ein sehr alter, ein sehr häßlicher Wagen. Auf vier enormen Rädern stand das alte Ungeheuer und die blau gewesenen, zerschlissenen Tuchreste, die ehemals die Polster gedeckt hatten, flatterten bei dem geringsten Luftzuge gespenstisch im Winde. Das aber war gerade das Feine daran. Das konnte bald als flatternde Fahne vom hohen Kastell, bald als Segel zu meinen Phantasiemeerfahrten aufgefaßt werden.

Das Verdeck ließ sich auch aufschlagen – mit vieler Mühe zwar, aber da fehlten alle Lederteile – wie ein Gerippe starrten die rostigen Eisenteile in die blaue Luft hinaus. Sonne und Mond, Regen und Schnee hatten gleichmäßig ihr Teil an dem Zerstörungswerk gehabt. Hier und da sah man noch einen Fetzen der früher blau gewesenen Borte, die den Wagen in seiner Glanzzeit umkleidet hatte, hier und da hing auch ein gedörrtes verschrumpftes Lederstück herunter – vom Kutscherbock starrte nur das verwaschene Holzgestell weiß und moderig aus dem schwarzen Wagengerippe hervor – und dort im Vordersitz ließen sich noch einige Roßhaare zwischen der verschalten Verkleidung hervorziehen.

Wie in eine einsame Insel flüchtete ich täglich in dieses Wrack; hier hielt ich trotz glühenden Sonnebrandes stundenlang aus, hier konnte ich Robinson am besten nachfühlen, wie er auf seiner Insel sich seine Welt schuf, hier hatte auch ich meine eigene stille ungestörte Welt. Niemand suchte, niemand vermutete mich hier und ich liebte es zwischen halbgeschlossenen Augenlidern dahinzuträumen.

Ein paar Tage war ich schlechten Wetters wegen ausgeblieben – heute aber wollte ich wieder hin und zwar gleich.

Flüchtigen Fußes lief ich auf mein Königreich zu – es krachte das alte Gestell, als ich es bestieg, doch o Schrecken – eine freizügige Bande hatte sich meine Abwesenheit zunutze gemacht, hatte Besitz ergriffen von meinem Reich! Drohendes Wespengesumme! Ein ganzer Wespenstaat hatte sich zwischen den Holzwänden und der moderigen Tuchverkleidung eingenistet und mir ward der Eingang in mein Reich verwehrt.

Verblüfft, fassungslos starrte ich den Eindringlingen entgegen. Da ich mich ganz still verhielt, beruhigten sich die Wespen und fuhren emsig in ihrer Arbeit fort, krochen geschäftig ein und aus zwischen den Tuchfetzen. Schon hatte ich mich an den Kutscherbock gedrückt – ich überlegte: sollte ich dem bewehrten Volke da ohne weiteres, ohne Schwertschlag mein kleines Reich überlassen? Oder würde es gelingen, Frieden zu halten und sollten wir uns gegenseitig dulden?

Vorläufig wußte ich nichts Besseres zu tun. Ich zog meinen Robinson hervor und begann in der glühenden Sonnenhitze zu lesen.

Summ, summ, summ machten die Wespen dazu – ich hielt aus auf meinem Posten und warf hin und wieder einen Späherblick auf die brummende Schar.

Die Stellung wurde allmählich unbequem – ich retirierte – und eine bittere Enttäuschung regte sich in mir. Also Rückzug! Sollte es wirklich völliger Rückzug werden?

Es schien so. Die Wespen hatten mich aus meinem Paradiese vertrieben.

Es sollte aber noch ganz anders kommen.

Als ich am nächsten Tage wiederkam, lag der Wagen umgestürzt da: drei Räder waren verschwunden, man hatte den Bock mit Beilhieben vom Wagen getrennt, die Holzteile waren wohl verheizt worden. Im Fond zwischen den Tuchresten summten noch die Wespen …

So war mein Königreich den Weg alles Fleisches gegangen – zertrümmert, vernichtet – Staub – Moder – Asche! …

 

Ein schwerer Verlust

Der Herbst war noch nicht Winter geworden, als ich einmal frühmorgens mein Stapelchen tot in seinem kleinen Bauer fand.

Schon des abends zuvor war mein liebes Vöglein so still gewesen, hatte mit gesträubten Federn und halbgeschlossenen Äuglein auf seiner Stange gesessen und nicht auf mein Zureden geachtet.

Und jetzt war es starr und tot – war über Nacht still und einsam gestorben …

Ich nahm die kleine Vogelleiche aus dem Bauer, hauchte sie an und sprach zärtlich mit ihr. Ach – umsonst! Mein letztes Stücklein Heimat war dahin.

Ich fühlte den Schmerz in mir von Augenblick zu Augenblick weher, schärfer und schwerer werden. Ich konnte es nicht fassen, daß nun doch geschehen war, was ich so lange schon gefürchtet und geahnt: mein armer kleiner Kamerad hatte die Fremde, hatte das kleine Bauer nicht ertragen, und war still und ohne Abschied von mir gegangen. Vielleicht hatte es ihm auch an der gewohnten Nahrung gefehlt. Unser Hanf war ausgegangen, neuen Hanf konnte ich hierorts nicht erlangen, und so fütterte ich ihn wohlmeinend aber unvernünftig mit Brotkrümeln und Resten von unseren Mahlzeiten. Das war meinem lieben kleinen Sänger offenbar nicht bekommen, er war in unerfahrene Kinderhände gegeben worden, und leider hatte meine Mutter nie ein besonderes Interesse an ihm gehabt; kamen nun noch die wiederholten Strapazen unserer vielfachen Reisen hinzu, außerdem die unfreiwillige Einsamkeit, der mein Liebling während meines Unterrichts ausgeliefert war, so ist sein Hingang freilich leicht genug zu erklären. Denn heute, da ich mir auf dem Gebiet der Vogelpflege mancherlei Erfahrungen gesammelt habe, weiß ich, daß diese zarten und munteren Geschöpfchen ebenso an Heimweh und an seelischer Vernachlässigung eingehen können, wie an Mangel an körperlicher Pflege.

Mit gesenktem Kopf und völlig zerbrochen von der Tatsache, daß Stapelchen unwiderruflich tot sei, schlich ich ins Freie und über den Hof. Wenn mich nur jetzt niemand sah, niemand anredete! Ich fühlte mein Herz dumpf und schwer in mir klopfen und fand doch keine Tränen, vielleicht aus Übermaß meines Leides. Denn trotzdem ich meinen Verlust wußte, und bitter, bitter empfand, so war doch etwas in mir, das noch nicht daran zu glauben vermochte. Ja, ich litt mehr, als meine Natur gewillt war auf sich zu nehmen und zu tragen – selbst ein vereinsamter, ins Tiefste getroffener scheuer Vogel.

Da kam mir zum Unglück meine liebe Tante Lonny entgegen.

Scherzend sprach sie mich an: »Dudulein – was ist denn mit dir? Was läßt du den Kopf so hängen?«

Da in diesem Augenblick fühlte ich wie etwas in mir zerriß. Jäh schrie ich auf: »Mein Stapelchen ist gestorben!« drückte meine Hände an meine Schläfen und begann ächzend, irr und sinnlos im Kreise zu laufen – immer wieder rundum.

Ach, ich war ja so tief unglücklich, so über alle Maßen betrübt, so verwirrt und vereinsamt! Hätte ich mich doch nur bei einem lieben erwachsenen Menschen ausweinen dürfen!

Aber Tante Lonny erfaßte nicht das Übermaß meines Schmerzes – wie konnte der denn auch einem Vogel gelten? So gut und liebevoll sie war – hier versagte sie.

»Aber Dudu!« sprach sie rügend, »wie kannst du dich nur so elend gehen lassen? Sieh einmal, was tätest du denn nur, wenn dir deine Mutter gestorben wäre? Glaubst du denn, Gott könne sie dir nicht nehmen?«

Ich stand und starrte sie an – verzerrt, seelisch krank. Wie konnte, wie sollte ich ihr nur sagen, daß sie unrecht hatte? War mir in diesem Vöglein nicht mehr als Stapelchen, war mir nicht die Heimat, nicht das Süßeste und Beste, das ich zu erfassen vermochte, gestorben? Nicht jener andere, der uns besitzt, sondern der, dem wir uns freiwillig hingeben, ist unser Liebstes, unser Eigenstes, unser Innerstnächstes – – und in Stapelchen hatte mir eine ganze Welt hineingedichtet, ja Wahrheit und Dichtung war mir mein schwarzes Vöglein gewesen – dieses wunderliche Gemisch von Wahrheit, Zärtlichkeit und Dichtung, das ich besessen, das aber von mir gegangen war, vielleicht weil ich es doch nicht genug geliebt …

Was waren das für Gründe und Geheimnisse meines eigenen Innern, mit denen ich da hilflos kämpfte und rang?

Ich war fortan allein, weil das kleine Geschöpf, von dem ich glaubte, daß es mich liebte und verstand, nicht mehr war. Ich war allein und mußte es fortan lernen, in meinem Bewußtsein allein zu sein.

Tränen fand ich keine, solange man mich verkannte, mich schalt oder mir zusprach. Niemand gab es für mich, der den Kern meines Schmerzes erfaßte. Tränen fand ich erst, da ich nachts wach lag und fühlte und wußte, wie meine Kinderseele blutete.

 

Emilie Andrejewna

Die Seele des Doktorhauses, seine Triebkraft und sein innerer Zusammenhalt war Emilie Andrejewna, die Erzieherin, ein feines unscheinbares Persönchen, das in ihrem gebrechlichen Körper eine Willens- und Liebeskraft trug, die ich erst in viel späteren Jahren verstehen gelernt habe.

Von morgens früh bis spät abends unermüdlich tätig, ihre Zöglinge in irgendeiner Beziehung zu fördern, war Emilie Andrejewna viel zu stolz und zu herbe, um die Anerkennung der Frau Doktor zu suchen oder gar um die Liebe ihrer Zöglinge zu werben. In ihren eigenen Augen tat sie nichts als ihre Pflicht, und gerade die Kinder des Hauses, die sich als Opfer ihrer eisernen Pflichttreue fühlten, brachten ihr oft einen Widerstand und eine Abneigung entgegen, die ihr wehe tun mußte.

Ich persönlich hatte sie liebgewonnen, vielleicht weil ich den Unterschied zwischen Echtem und Unechtem instinktiv erfaßt hatte und mir das Bild Mademoiselles so eigen vor die Seele trat, vielleicht auch weil sie etwas Vereinsamtes und Verlorenes in ihren schönen dunkelbraunen Augen hatte, das mich rührte und ergriff.

Auf Mamas Bitte, mich doch mit in ihrer kleinen Klasse zu unterrichten, ging sie mit großer Freundlichkeit ein, und wenn es ihr auch weit lieber gewesen wäre, wenn die Doktorskinder ihre besten Schüler blieben, so war sie doch gerecht genug, mich gelten zu lassen, wenn ich besser lernte oder aufmerksamer war als jene.

Ja, ich fühlte es deutlich, daß sie mich eigentlich gegen ihren Willen liebgewann, und daß sie sich einen Vorwurf daraus machte, nicht den Doktorskindern allein ihre ganze Kraft und Treue zu widmen. Ich aber lernte gern und gab mir Mühe, auch war mir ihre Art des Unterrichts viel sympathischer als die Mamas, weil sie viel mehr Ruhe hatte.

Ich erinnere mich heute noch einer französischen Stunde, da wir alle nacheinander das Wort aujourd'hui auf die Tafel schreiben sollten. Die anderen vor mir machten es alle falsch, vergaßen entweder das Apostroph oder das h oder gar beides. Da trat ich an die Tafel, nahm die Kreide und schrieb das Wort richtig. In Emilie Andrejewnas Stimme, als sie mich lobte, lag aber ein Anflug von Trauer, den ich mir damals nicht zu erklären vermochte.

Überhaupt war mir als Kind noch manches rätselhaft, an Emilie Andrejewna, was ich seither längst zu begreifen gelernt habe.

Einmal waren alle Doktorskinder mitsamt ihrer Mutter und der alten Tante Betty ausgefahren, auch die Kleinen und Allerkleinsten unter Obhut ihrer beiden Wärterinnen.

Ich war aus unbekannten Gründen zu Hause gelassen worden, und da Mama bei Tante Lonny im Doktorhäuschen war, trieb ich mich vergnüglich allein in Hof und Garten umher, wie das so meine Art war.

Plötzlich aber hörte ich jemanden im Saal Klavier spielen in einer Weise, wie sie mir fremd war, ja wie ich sie bisher nie vernommen. Es klang so unsagbar wehmütig, so seelenvoll, so süß und traurig wie die Klage eines vereinsamten Herzens. Ich schlich mich auf die Gartenveranda und hörte still zu. Ja, zum erstenmal hörte und empfand ich Musik.

Und da ich einen verstohlenen Blick ins Fenster hineinwarf, sah ich die zarte Gestalt Emilie Andrejewnas am Klavier und sah sie weinen, während ihre Hände über die Tasten glitten.

Das gab mir einen Stoß. Ich wäre so gern zu ihr hineingegangen, um sie zu trösten. So gern hätte ich sie gefragt, was ihr Kummer sei und warum sie so still und schmerzlich vor sich hinweine. Ich wagte es nicht.

Ihr Leid hatte etwas so Tiefes, so Unnahbares, ja Heiliges an sich. Ich armes Kind hätte ihr ja doch nimmer helfen können und zudem hatte ich sie, die sich allein wähnte, belauscht.

Nach vielen, vielen Jahren erst, in einer Stunde seltsamer Vertiefung ist mir Emilie Andrejewnas Leid eines Tages plötzlich offenbar geworden.

Sie hatte den vor kurzem verstorbenen Doktor Garnier, den Vater ihrer Zöglinge, geliebt. Das war das treu gehütete Geheimnis ihres Lebens gewesen. Aus Liebe zu dem Toten hütete und versorgte sie seine Kinder und diese dankten es ihr wahrlich schlecht genug, denn ihre Aufopferung, ihren Eifer nahmen sie hin wie ein Lästiges und Unbequemes, und wußten doch nicht, aus welcher reinen und heiligen Quelle ihre Kraft täglich immer wieder von neuem erstand.

Unverstanden von allen und jedem einzelnen, vereinsamt, oft verspottet von jenen, denen sie täglich ihr Bestes gab, lebte diese feine Seele und verzehrte täglich ihre Kraft und ihr Können an der eigenen reinen Flamme wie an einem Altar.

Sie und Frau Doktor waren Menschen, die einander nimmer verstehen konnten. Die leichtlebige, gutherzige und oberflächliche Natur der Frau des Hauses war ihrer eigenen so tief entgegengesetzt wie Wasser und Feuer. Still und unerkannt lebte Emilie Andrejewna ihrer heimlichen großen Liebe und mußte es mit ansehen, daß die kinderreiche muntere Witwe ihren Schmerz um den verlorenen Gatten vergaß und mit Nichtigkeiten übertäubte.

Ich allein empfand schon damals das tief Tragische ihres Lebens, und heute, da sie schon längst der Grabhügel deckt, habe ich das Bedürfen, ihr zu danken und ihr zu sagen, daß sie nachträglich nun doch erkannt und verstanden worden ist.

Ich möchte ihr mit diesen Zeilen danken, ihr sagen, daß sie nicht umsonst gelebt, nicht umsonst geliebt hat. Wohl ihr und Friede ihrer Asche!

 

Vorfrühling

Als mein neunter Geburtstag herankam, hatte ich eine große, besonders freudige Überraschung: mein Papa, den ich mir manchmal Mühe gab, zu vergessen, schickte mir in einem aparten Brief eine Papierfigur, die er selbst gezeichnet, bemalt und ausgeschnitten hatte in einem verwegenen, rot und blauen Kostüm, die er Miß Flora nannte. In ihren Händen trug Flora zierliche Täschchen, auf denen sorgfältig meine Lieblingsblumen, Stiefmütterchen und die zarten blauen Nemophillablümchen gemalt waren, und diese Täschchen enthielten Samen für Stapelchens Grab!

Auf so einen lieben Einfall konnte doch nur mein Papa geraten, und mit besonderem Stolze zeigte ich allen im großen Doktorhause wie auch im Glückshäuschen mein reizendes kleines Geschenk. So hatte er doch richtig gewußt, was mich am meisten erfreuen mußte. Ach, also hatte er mich doch noch lieb!

Warum denn nur gingen Menschen auseinander, die sich lieb hatten? Wieder quälte mich die alte schmerzliche Frage und ich wußte mir keine Lösung. Freilich, ob ihn Mama noch lieb hatte, konnte ich nicht recht ergründen. Ja, manchmal wollte es mir scheinen, als ob sie ihn gleichzeitig lieb hatte und haßte, denn nach jedem von ihm erhaltenen Briefe hatte sie rote Augen und weinte bis tief in die Nacht hinein.

Ich konnte das oft nicht mehr ansehen, und da sie gewöhnlich viel später zu Bett ging als ich, schrieb ich eines Abends mit steiler Kinderschrift einen Brief an sie und legte ihn auf ihr Kopfkissen, in dem ich sie inständig bat, doch nicht immer zu weinen und nicht so traurig zu sein – der Papa hätte uns gewiß lieb, denn wie sonst hätte er mir die schöne Flora geschickt mit den Samen fürs Stapelchen?

Jetzt konnte ich den Frühling schon gar nicht erwarten – wann nur würde ich die Samen auf meines Lieblings Grab säen dürfen?

Um nur ja dem Frühling nachzuhelfen, stocherte ich eifrig in den mit dünnem Eise bedeckten Pfützen herum, und verfiel schließlich auf den Gedanken, mir eigens zu diesem Zweck einen extra schönen Stock zu fabrizieren, der mein Frühlingsstab heißen sollte.

Unter dem aufgeschichteten Holz in der Nähe der Ställe, wo früher die ausrangierte Kalesche gestanden hatte, befanden sich junge Hölzer mit einer weichen, grauen Rinde, und diese Rinde in rhythmischer Musterung abzuschälen, wurde mein nächster Sport, an welchem mein Freund Robbi tapfer mit teilnahm, da er gleich mir ein nagelneues schönes Taschenmesser besaß. So schnitzten, säbelten, schälten wir mit Leidenschaft an unseren Stöcken herum, ein jedes darauf erpicht, den schönsten Stock fertigzustellen, und ruhten nicht eher, als bis unsere Taschenmesser stumpf und rostig waren und die harte Arbeit uns Beulen an den Händen eintrug. Aber um so verdienstlicher war sie natürlich, und so wurden denn allmählich alle Kinder von uns mit beschnitzten Stöcken bedacht, die sie zu unserm Kummer nie gehörig zu schätzen wußten.

Wie viel Mühe, Schweiß und Beulen klebten doch an jedem unserer Machwerke und wie schön waren sie anzuschauen!

Nie waren wir zudem einiger und friedlicher miteinander, als wenn wir so in unserer Werkmeisterei über unserer Arbeit saßen.

»Mit meinem Stock will ich Schlangen töten!« erklärte Robbi. »Und du, was machst du?«

»Oh allerhand!« sagte ich und wurde sehr rot. Endlich faßte ich mir ein Herz und sagte geheimnisvoll: »Ich mach' dem Frühling ein bißchen schneller die Türen auf damit; ich schlag alles Eis, das ich finde, kaput.

»Oho!« lachte Robbi – »da kannst du lange arbeiten!«

Aber im Grunde war ich doch immer seiner freundschaftlichen Anteilnahme gewiß und wußte, daß er mich nicht an die wilde und höhnische Lulu verriet. Auch war ich es meist, die ihm neue Muster und Ideen für die Ornamentik seiner Stöcke eingab, die er alle gewissenhaft auszuprobieren pflegte, ehe er sie als unschön verwarf.

So konnte man uns manchmal gemeinsam über den Hof schreiten sehen, unsere zebragefleckten Stöcke in den Händen, eifrig darauf bedacht, jedem Rinnsälchen Luft zu verschaffen und die hemmenden Eiskrusten zu sprengen. Ich nannte das »den Frühling beschwören« und übte mein neues Amt mit Würde und Gewissenhaftigkeit – – bis sich einmal tatsächlich der Vorfrühling erweichen ließ und mit glitzernden flinken Rinnsälchen, mit warmer Luft und goldenem Sonnenschein seinen ersten Ausguck in unsere Welt hielt.

 

Aufbruch

Aus einem Gespräch der Erwachsenen im Doktorshause entnahm ich zu meinem Schrecken, daß man sich zur Abreise rüste und bald ernstlich ans Packen gehen werde.

Voll meiner seltsamen Kunde eilte ich zu Robbi und fragte ihn, ob das wahr sei.

Er sah mich groß an. »Gewiß!« sagte er. »Wir ziehen doch in die Stadt, nach Kiew.«

»Aber warum denn?« fragte ich fassungslos.

»Geh, du bist dumm!« meinte er. »Du weißt doch, daß unser Papa gestorben ist, ehe Ihr herkamt. Nun, und dein Onkel ist doch der neue Doktor und der soll nun im Doktorshause wohnen. Wir aber gehen weg, denn das Witwenjahr ist bald um.«

Ich stand sprachlos. »Oh Robbi!« rief ich endlich, »wie wird das große Haus leer und traurig sein, wenn ihr geht! Jetzt leben doch alle Zimmer und sind voll von euch – dann aber …« ich stockte – »Und Onkel und Tante passen ja so viel besser in das kleine Häuschen hinein.«

Robbi klinkte sein Taschenmesser auf und wieder zu, sah mich von der Seite an und sagte ein wenig verlegen: »Also wirst du uns vermissen?«

Ich nickte heftig – da aber rief uns die Erzieherin schon zur Stunde.

Nach wenigen Tagen schon begann das Packen.

Oh Gott, welche Arbeit das war! Alle waren wir mit dabei beschäftigt, die Frau Doktor, Emilie Andrejewna, die alte Tante Betty, ein paar Handwerker, die drei Dienstboten und wir vier größeren Kinder. Die Bücher, Bilder und Porzellansachen wurden in Kisten verpackt; der Flügel kam in einen riesigen Kasten; die Möbel und Betten wurden mit Stroh verschnürt, – ja, wenn es nicht so traurig gewesen wäre, hätten wir lustig dabei sein können, so komisch sahen die alten vertrauten Dinge in ihren putzigen Umhüllungen aus! Dazu kam noch aus alten Kommoden und Schränken manch alter Tand, manch zerschlissener Maskenanzug zum Vorschein, und Robbi sorgte dafür, daß ich bei der Verteilung nicht leer ausging.

Tag für Tag sahen die Zimmer seltsamer und fremder drein; ach, ich spürte es schon jetzt, wie starr und vorwurfsvoll sie mich anschauen würden, wenn ich allein und verlassen in ihnen umherwanderte. Ja, schon jetzt klangen unsere Schritte hohl und häßlich. Jedes Geräusch machte sich schmerzlich vernehmbar und der Boden lag voller Papierfetzen, Stroh und Lumpen.

Als endlich alles fertig und bereit stand und wir lärmend durch die Zimmer liefen, besonders die drei Kleinen, sagte Frau Doktor wehmütig: »Lauft nur, lauft, Kinderchen, und nehmt Abschied von dem großen alten Hause! In Kiew gibts nur fünf kleinwinzige Zimmerlein für uns alle!«

Die letzten paar Nächte schlief die ganze Familie im Oberhof unter Tante Tonis liebevoller Obhut und heute standen schon drei große Wagen vor der Tür und es hieß Abschied nehmen.

Übereinander her kletterten die Kleinen in den einen Wagen. Tante Betty hielt das Kleinste im Schoß, Frau Doktor und eine Wartefrau drückten die drei Jüngsten an sich. Koffer und Kisten, Reisesäcke, Taschen und Schachteln, alles übereinander gestapelt, wurden in einem Bauernkarren verstaut und die zwei Hausmägde erboten sich, auf diese Dinge zu achten wie auf ihren eigenen Brautschatz.

In dem Wagen der Großen saß mein Freund Robbi auf dem Bock, Emilie Andrejewna neben Marussia, ihnen gegenüber Lulu und Amandik.

Nun schien es, war man fertig. Die Meinigen aus dem kleinen Doktorhäuschen und ich, wir umstanden die Wagen; die Abschiedsstimmung war über uns alle gekommen.

»Sieht man einander jemals wieder?« rief uns Frau Doktor mit tränenden Augen zu.

»Uns zwei sehen Sie gewiß zunächst!« antwortete meine Mutter. »Glückliche Reise und glücklichen Einzug in die Stadt.«

»Adieu kleine Sonja, adieu Karlik, adieu Robbi! Leb wohl! Und Sie, liebe Emilie Andrejewna! Und Sie, Frau Doktor!«

Eine Menge Hände flogen grüßend aufwärts. Schnupftücher wehten, Tränen flossen.

»Adieu! Adieu! Adieu!«

Die Pferde zogen an und durch den allseitigen Lärm erregt, kläffte mein Chomka, der sich bisher still verhalten hatte, außer sich von unter der Treppe hervor.

Ich schrak zusammen – jetzt hatte der Onkel ihn gewiß gehört. Oh Chomka, wärst du doch still gewesen! Wenn das nur kein böses Ende nimmt!

Aber noch lachten uns ja die vielen lieben Kindergesichter an. Noch standen wir grüßend und winkend alle nebeneinander.

Jetzt – jetzt verließen die Wagen den großen Hof – jetzt rollten sie die Dorfstraße entlang, wurden kleiner und kleiner – – Staub, Staub – vorbei, vorüber!

 

*

 


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