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Der Abend, an welchem das Leichenbegängniß stattfinden sollte, war herangenaht und zu allem waren Vorkehrungen getroffen, was man zur würdigen Feier dieser Stunde für nöthig hielt und wie es der Wunsch des Entschlafenen zur Vorschrift machte. Das Gewölbe, in welchem die Grafen von Hayna beigesetzt wurden, war zwei Stunden vom Schlosse entfernt, in der Kapelle Friedheim. In einem freundlichen Thale zwischen sanft sich erhebenden Bergen und dem Ufer des Rheines lag das alterthümliche Gebäude, die Friedensstätte, wo die Ahnen des gräflichen Hauses schlummerten, und wo auch Beaumont ruhte, an dessen Seite der alte Graf sich selbst die Stätte bereitet und angeordnet hatte.
Der schwarzumflorte Todtenwagen umfaßte schon das reich verbrämte Sarg, eine Menge Equipagen füllten sich mit den Edelleuten der Umgegend, die dem würdigen Nachbar die letzte Ehre erweisen wollten, und an den Zug schloß sich ein dichtgedrängter Haufe Fußgänger, theils die Diener des Grafen in tiefster Wehmuth über den Tod des geliebten und geehrten Herrn, theils die Bauern des Dorfes, Greise mit weißem Haupthaar, selbst reif zur Grube, aber auch Mädchen und Knaben in feierlichem Anzuge, mit ängstlichem Schweigen und in stilles Schauen versunken.
Vor der Treppe des Schlosses hielt noch der herrschaftliche Wagen; der Schlag war geöffnet, Diener standen auf beiden Seiten bereit. Cäsar führte Emilien am Arme langsam die Stufen hinunter, hob sie in den Wagen und ließ sich selbst an ihrer Seite nieder.
Cäsar fürchtete für Emilien, da er ihre Reizbarkeit kannte, er hatte sie gebeten, dem Leichenbegängniß ihre Gegenwart zu entziehen und die Gruft des Vaters in Friedheim nicht zu besuchen; allein sie gab seinem Wunsche kein Gehör. Auch schien sie, die Blässe ihrer Wangen abgerechnet, die heut' bei dem Schwarz des Trauerkleides auffallender war, ziemlich wohl auf zu sein; sie war freundlich und liebreich, sie entbehrte nicht des heitern Trostes und Cäsar war beruhigt über das stille Sinnen, in welches sie mitunter auf längere Zeit verfiel.
Ihre Gedanken waren nicht mit dem Verstorbenen beschäftigt, den sie ja für glücklicher hielt als irgend ein Mensch zu sein vermag; auf die Lebenden, die der Tod des Grafen in Trauer versetzt, war ihr Sinn gerichtet, und wunderbarer Weise war Otto schon den ganzen Tag über der Punkt, an dem sie haften blieb, wenn sie in ihr stilles Gedankenspiel versank. Sie äußerte ihre Besorgniß um Otto's Schicksal ihrem Begleiter, der aber wenig geneigt schien, in die Theilnahme, die sie dem Unwürdigen schenkte, miteinzustimmen. –
Der ganze Leichenzug bewegte sich jetzt langsam vorwärts, während der gräfliche Wagen etwas schneller voranfuhr, weil Emilie den Wunsch hegte, vor der Bestattung die Gruft ihres Vaters allein zu besuchen. An Cäsars Arm betrat sie den Garten in Friedheim. Das welkende Laub der Lindenbäume, welche die Gräber umschatteten, in denen die Diener der gräflichen Familie ihre Ruhestätte fanden, gemahnte an die Bestimmung des Ortes in wenig freudiger Erhebung des Gemüthes; die Kapelle war geöffnet, Chorknaben im weißen Feierkleide umstanden das leere Gewölbe, in welchem der Entschlafene beigesetzt werden sollte; Fackeln leuchteten aus der Dunkelheit des Todtenhauses und in dumpfen Tönen, die sich an den Mauern der Halle brachen, erscholl der Trauergesang, den die Knaben begannen.
Emilie fühlte ein ängstliches Beben im Innern: ich will mich vorbereiten, sagte sie zu Cäsar, indem sie ihren Arm dem seinigen entzog und durch eine Seitenallee nach dem Ende des Gartens sich wandte, wo der Grabhügel ihrer treuen Amme und Pflegerin befindlich war. Sie hing einen Immortellenkranz, den sie mitgenommen, um die Urne, betrachtete mit zufriedenem Lächeln die herbstlichen Astern, die man ringsum gepflanzt, und eilte dann nach der Kapelle, an deren Eingang sie Cäsar erwartete. Er legte ihr den Mantel, den er aus Fürsorge mit sich genommen, um die Schulter, damit die feuchte Luft des Gewölbes ihr nicht empfindlich seyn mochte, und geleitete sie in die Halle des Todes. Sie winkte mit der Hand den Knaben zu; der Gesang verstummte, nur die Orgeltöne wogten noch in gedämpften Accorden hin und her, und Emilie kniete vor der Gruft des Vaters, in stilles Gebet versunken, indem der Leichenzug aus der Ferne langsam näher wallte.
Während der Feier der Bestattung sah man von der entgegengesetzten Seite einen einzelnen Reiter dem Schlosse zueilen. Das schweißbeträufte Roß stolperte im matten Trabe vorwärts, es schien seine Kraft schon bei der Anstrengung des Tages erschöpft zu haben und Thier und Reiter senkten müde den Kopf zur Erde. Das Dorf war erreicht. Noch war es heller Tag, aber eine todte Stille lag rings in der ganzen Gegend; die freundlichen Bauerhütten standen leer und verlassen, das sonst so belebte Dorf schien ausgestorben, kein Laut wurde ringsum vernommen.
Da begann die Glocke vom Kirchthurm zu tönen; der Reiter hielt, ein banges Gefühl ergriff seine Seele, er spähte nach allen Richtungen hin, nirgends ließ sich ein Mensch erblicken, und der Thürmer, der die Sterbeglocke zog, schien das einzige lebende Wesen.
Was ist das? flüsterte Otto, denn niemand anders war der Reiter, und drückte den Sporn dem ermüdeten Gaul hastig in die Seiten. Der Gedanke an den kranken Vater hatte ihn auf der Reise fortwährend beschäftigt, ja mit Vorwürfen seine Seele überhäuft: bei'm heiseren Ton der Glocke überwältigte ihn eine quälende Angst.
Er hatte das Schloß erreicht; das Thor war geschlossen. Vergebens war sein Rufen; Niemand von den Dienern war zurückgeblieben, ein jeder wohnte dem Leichenbegängniß bei und nur der Hofhund antwortete gellend auf Otto's Zuruf. Er sprang vom Pferde, dessen Zügel er an der Mauer befestigte, und eilte nach der kleinen Pforte, die zur Wohnung des Gärtners führte. Auch diese hemmte seinen Tritt und nun überstieg er den Gartenzaun, kletterte durch ein Fenster in die Wohnung des Jägers, welche in einem Seitenflügel des Gebäudes lag, und gelangte so in den innern Raum des Schloßhofes.
Hastig stieg er die Stufen im Hauptgebäude hinan, er eilte durch den Corridor, der zu den Zimmern seines Vaters führte, alle Thüren standen geöffnet, alle Gemächer menschenleer. Die Angst, die ihn vorwärts getrieben, verdrängte jetzt die lähmende Ueberzeugung vom Tode des Vaters, sein Schritt ward immer langsamer und gedehnter, ein Schwindel jagte seine Sinne wie ein Wirbelwind im Kreise umher und er mußte sich auf den Boden niedersetzen, um dem Taumel nicht zu unterliegen.
Matt und schlaff erhob er sich wieder, er öffnete die Thür, die zum Schlafzimmer des Grafen führte; die Fenster waren offen, die Betten des Krankenlagers auf den Fußboden hingebreitet: er ist todt, todt! flüsterte Otto, ohne die Worte, die seinen Lippen entflohen, unterdrücken zu können, und verließ eilig die Wohnung seines Vaters. Er durchwanderte das ganze Schloß, er wollte einen Menschen finden, den er fragen, mit dem er reden könnte; nirgends zeigte sich Jemand und er wankte von Gemach zu Gemach, bis die Reihe derselben sich mit Emilien's Lesezimmer endigte.
Sein Weiterschreiten war gehemmt, er hätte umkehren müssen, aber er fühlte sich hier wie von geheimer Macht gefesselt. Ein weiblicher Anzug, der auf dem Ruhebett lag, verrieth ihm, daß er sich im Zimmer einer Dame befand; die regellose Mannigfaltigkeit im engen Raume zerstreute ihn und zog ihn doch wunderbar an. Er betrachtete die Bücher auf dem Tische, die Gemälde an der Wand und schob den grünen Vorhang, der über dem unteren hing, zurück. Es war das Bild des gekreuzigten Heilandes, das Emilien's zarter Sinn, als zu heilig und zu keusch für die Alltäglichkeit des gewöhnlichen Lebens, zu verhüllen pflegte.
Otto's Aufmerksamkeit wurde wieder auf den mit Büchern bepackten Tisch gelenkt; auf einem Blatt, das Emilie erst heut' beschrieben hatte, blieben seine Blicke haften. Es war ein Beitrag zu ihrem kleinen Tagebuche; das Datum des Tages stand oben an mit der Ueberschrift: »Am andern Morgen nach dem Sterbetage des alten Grafen.« Otto trat mit dem Blatt an's Fenster und las folgendes:
»Wenn wir sehen, daß die Natur absterben muß, daß die Winde des Herbstes und der Wintersturm den schönen Leib der Mutter Erde wie ein verzehrendes Fieber befallen, so könnten wir uns trösten lassen, daß auch wir der allgemeinen Notwendigkeit unterliegen; aber das ermüdende Einerlei der Natur ist kein Bild und kein Trost für den Menschengeist, dessen Leben ein ewiges Werden, ein ewiges Ringen nach der Höhe des Höchsten ist. Wenn wir nicht den menschgewordenen Sohn Gottes hätten, so ermangelten wir des Trostes zur Versöhnung und der freudigen Zuversicht, daß die Pforten des Todes für uns überwunden sind, weil er uns hinüberführt. –
Welches ist aber die Ursünde, die uns so elend machte, daß wir ohne den Vermittler, ohne den Sohn, nicht mehr zum Vater gelangen können? Als ich noch Kind war, betete ich zu Gott, dem lieben Allvater, mit der treusten Hingebung; ich kannte den Heiland nicht, ich hatte keinen Selbstwillen, ich fühlte nur reine, keusche Hinneigung zum himmlischen Vater, meine Seele glich der ungetrübten Spiegelfläche eines Baches, der willenlos des Himmels Bläue aufnimmt. Ich erwuchs zur Jungfrau. Mannigfaltig nahm das Leben mich in Anspruch, Haß und Liebe zog mich hier und dorthin, irdischer Wünsche und Begierden war die Seele voll, ich verlor des Kindes treue, unvermittelte Hingebung zum Vater, und als die Angst des Lebens mich wieder zum Bewußtsein brachte: warum sucht' ich nun den Trost des Sohnes, warum trieb es mich zu ihm, als wär' ich des Stellvertreters, des vermittelnden Organs bei dem Vater nun bedürftig? –
Ungehorsam nennt die Schrift die Sünde, welche die erste war und die letzte bleiben wird; der Abfall der Kreatur vom Schöpfer also, dieser Akt des Hochmuthes, sich unabhängig in seinem Erdendasein zu fühlen, dieß ist die Ursünde des Geschlechtes, welche das unmittelbare Verhältniß zwischen Gott und Menschen aufhob. Blieben wir alle wie die Kinder, so bedürfte es des Heilandes nicht, so wie der Sohn bei dem Vater geblieben und der Vater hätte den Sohn nicht gesandt, damit er, als das Gegenbild der selbstsüchtigen Menschenseele, den Akt der Selbstverläugnung, der Selbstaufopferung hienieden vollzöge.
So aber werden wir alle abtrünnig und suchen uns, einer einzelnen Richtung im Menschenleben preisgegeben, irgendwo einen Götzen, dem wir huldigen. Wir sind werkthätig und brüsten uns mit den irdischen Thaten, wir haben Unglückliche gerettet und sind uns im stolzen Bewußtsein des Verdienstes selbstgenügend, wir geben uns der Freundschaft und der Liebe hin und lassen beide in ihrer gemeinen Natürlichkeit, oder es rotten sich Schwärmer zusammen und tanzen um den Altar des Vaterlandes, meinend, dieser Götze sei der höchste, und siehe! sie opfern dem Baal und verachten es, dem sterbenden Vater die Hand zur Versöhnung zu reichen; sie träumen Wunder wie! erhaben ihre Seele sei und vergessen die Pflichten der Liebe.
Was sind die Tugenden des Menschen doch so nichtig, was ist die irdische Hütte doch so zerbrechlich! Es giebt aber eine Hütte, deren Pfeiler ewig dauern, und dieweil wir gefangen sind mitten unter den Trümmern der irdischen, endlichen Behausung, so sehnen wir uns, daß der Körper verwese, damit der Geist gedeihe und das Sterbliche verschlungen werde von dem ewig Lebendigen.«
Wie ein Strafgericht des Himmels ergingen diese Worte über Otto. Starr die Blicke darauf gerichtet, leuchtete ihm Emiliens Schrift wie mit Flammenzügen entgegen, eine Decke, däuchte ihm, fiel vor seinen Augen nieder und er übersah den ganzen Abgrund, welchem seine bisherige Blindheit ihn entgegen geführt hatte.
Ja, ja! der Mensch, dieses endliche Wesen, suche nur seine Existenz zu sichern und seine nächste Umgebung, die Menschen, denen er angehört, zu befriedigen: wagt er sich in ein weiteres Gebiet mit seinen Wünschen, seiner Liebe, seiner Sehnsucht, er verliert sich als ein Fremdling in der Einöde, es wird immer einsamer um ihn her, weil er die Hand derer von sich stieß, die ihn liebten, die allein ihm geneigt seyn konnten. Er hoffte, Großes zu verrichten; darum verließ er das Kleine, das Beschränkte, aber die Stimme seines Eifers ist wie der jämmerliche Laut des hirtenlosen Schafes in der Wüste, er wird ein wahnsinniger Narr, weil er sich dünkte, getreu im Großen zu seyn, ohne im Kleinen treu und redlich zu bleiben.
O ich Elender, den Ruf des sterbenden Vaters zu überhören und zu verachten!
Mit diesen Worten, die er verzweifelnd ausstieß, stürzte er aus dem Zimmer.
Im Schloßhofe war es lebendig geworden. Das Thor ward geöffnet, die Wagen kehrten zurück und hielten vor den Stufen zum Hauptportal, während Fußgänger sie umringten und die hohen Herrschaften in Augenschein nahmen.
Ein Blick durch das Fenster hatte Otto die Rückkehr des Trauerzuges gezeigt und er eilte fort, entschlossen jene Menschen zu fliehen, denen er entweder ein Gegenstand der Verachtung oder des Spottes zu seyn glaubte. Ein bestimmter Plan war in ihm noch nicht zur Reife gediehen, aber er wollte fort, zu Pferde, um den Ort, wo er als ein Nichtswürdiger erscheinen mußte, auf immer zu vermeiden.
Wie ein Wüthender, die Hände vor der Stirn gefaltet, stürmte er durch die Schaar der Diener, welche ihm entgegen kamen, die Treppe hinunter, während Emilie und Cäsar, in Begleitung der Fremden aus der Nachbarschaft, die Stufen hinaufstiegen. Staunend sahen die Diener dem wilden Stürmer nach, indem sie nicht begriffen, wie Jemand aus dem Hause, das sie leer und verschlossen wußten, ihnen entgegenkommen könnte:
Otto, Otto! riefen Cäsar und Emilie, die ihn am schwarzen Rock erkennen mochten. Er blickte auf; eine düstre Verzweiflung lag in seinen Zügen:
Fort, fort! rief er und stürzte die Stufen eiliger hinunter, sank aber ohnmächtig und krampfhaft auf der letzten zu Boden.
Cäsar vertraute einem seiner Begleiter Emiliens Arm und bat die Gesellschaft, sich nicht stören zu lassen und ihren Weg fortzusetzen, während er selbst sich zu Otto wandte, dem einige Diener zu Hülfe eilten. Er hieß den Ohnmächtigen in das nächste Zimmer tragen; man entkleidete ihn, brachte ihn eiligst in das wärmende Bett und als der herbeigerufene Arzt erschien, überließ Cäsar diesem das Weitere und eilte in den Gesellschaftssaal, um die Pflichten des Wirthes nicht länger zu versäumen.
Emilie hatte die Gesellschaft sogleich verlassen und, eine Unpäßlichkeit vorschützend, sich in ihre Zimmer zurückgezogen. Eine vielfach zerdehnte und zerspaltene Unterhaltung, wie sie unter vielen verschiedenartigen Personen nur stattfinden kann, galt ihr heute um so zweckwidriger zum Beschluß des feierlichen Tages, da sie sonst schon in solcher geselligen Gemeinschaft mehr Anstrengung als Zerstreuung fand. Hatte das Leichenbegängniß ihr Gemüth in Anspruch genommen, so versetzte sie Otto's Erscheinen in eine ängstliche Unruhe und sie fühlte dringend das Bedürfniß, allein zu sein, um sich zur Beruhigung zu bringen.
Der erste Blick in ihre Zimmer hatte ihr verrathen daß Jemand in ihrer Abwesenheit daselbst gewesen war; sie fand die Thür, welche aus dem Musikzimmer in das kleine Gemach führte, geöffnet, die seidne Gardine über dem Christusbilde war verschoben und die schönen Falten derselben verrückt.
Emilie rief das Kammermädchen, das sie eben abgefertigt hatte, zurück und fragte, wer bei ihrer Abwesenheit das Zimmer besucht und sich erdreistet hätte, das Gemählde zu enthüllen. Das Mädchen wußte keine Auskunft zu geben; die übrige Dienerschaft ward herbeigerufen: jeder betheuerte, nichts davon zu wissen, da sie alle dem Leichenzuge gefolgt wären und Niemand im Schlosse zurückgeblieben sei.
Waren meine Zimmer verschlossen? fragte Emilie.
Das nicht, war die Antwort, wohl aber der Corridor unten und die Pforte. –
Sie winkte mit der Hand, die Diener entfernten sich: eine Ahndung war plötzlich in Emiliens Seele aufgestiegen. Sie eilte zum Schreibtisch, auf dem die Bücher und Hefte lagen. Es war alles in Ordnung; aber das Blatt zu ihrem Tagebuche fehlte. Sie schob alles aus einander, sie wußte, es müsse auf dem Tische liegen, vergebens; sie fand es auf dem Fensterbrette. Zitternd nahm sie es in die Hand und las, was sie am Morgen, als der Gedanke an Otto sie beschäftigte, niedergeschrieben:
– »oder es rotten sich Schwärmer zusammen und tanzen um den Altar des Vaterlandes, meinend, dieser Götze sei der höchste, und siehe! sie opfern dem Baal und verachten es, dem sterbenden Vater die Hand zur Versöhnung zu reichen; sie träumen Wunder wie! erhaben ihre Seele sei und vergessen die Pflichten der Liebe. Was sind die Tugenden des Menschen doch so nichtig, was ist die irdische Hütte doch so zerbrechlich!« –
War es ein Gefühl der Scham oder der Angst: eine dunkle Röthe übergoß Emiliens Wangen, als sie die Möglichkeit überdachte, Otto sei im Zimmer gewesen und habe diese Zeilen gelesen. Steht nicht unten ein Pferd am Schloßthor? Otto kömmt, den Vater zu besuchen, der Vater wird begraben; er hört den Ton der Sterbeglocke, findet alles leer, übersteigt die Mauer, eilt durch die öden Säle, von Gemach zu Gemach, einen Menschen zu suchen, der ihm Rede stände, und findet hier in meinem Zimmer, in diesen Zeilen den Aufschluß über alles und zugleich ein Strafgericht, so streng, so bitter, wie kein Richter urtheilt. Stürzte er nicht bleich die Treppe herunter? Er sah uns in der Farbe des Todes vom Grabe des Vaters zurückkehren; sein Blick voll Verzweiflung zeigte den ganzen Jammer seiner Seele. Fort, fort! ruft er, hier bin ich ein Verbannter, ein Verstoßener, hier richtet man mit den Furien der Hölle. Er stürzt von hinnen, er will fliehen und muß doch bleiben, denn die Natur überwältigt ihn und er sinkt ohnmächtig nieder.
Emilie übersah den ganzen Zusammenhang, sie erkannte das ganze Unheil, das sie unwissender Weise angerichtet hatte, und verwarf die Strenge ihres Urtheils, wie sie überhaupt ihre Meinungen und Ansichten, im Allgemeinen zwar scharf und durchdringend, gern zur Milde herabstimmte, wenn sie den Einzelnen betrafen, weil bei jedem Einzelnen die Bedingungen seines Werdens so verschiedenartig sich gestalten können.
Die ängstliche Unruhe stieg zur quälenden Pein in Emiliens Innern; sie warf den Mantel um die Schulter und eilte fort: sie mußte wissen, ob Otto's Zustand gefährlich sei. Die Gänge im Schloß waren schon erleuchtet, hastig eilte sie, um von Niemand bemerkt zu werden, die Treppe hinunter. Zitternd betrat sie das Krankenzimmer, das eine Lampe nur düster erleuchtete. Der Arzt stand über das Bett des Kranken geneigt, der jetzt zu schlummern den Anschein hatte, aber zwei Diener standen zu jeder Seite bereit, um den Fieberkranken bei den Ausbrüchen der erhitzten Einbildungkraft, in denen er vom Lager aufspringen wollte, mit Gewalt festzuhalten.
Unbemerkt schlich Emilie näher und zupfte den Arzt mit der leisen Frage: Wie steht's? am Kleide.
Noch schlecht, mein Fräulein, gab er zur Antwort, indem er sie dem Fenster näher führte, um den Schlummernden nicht zu stören. Ich erwarte noch eine zweite Erschütterung und Ergießung der fieberhaft entzündeten Phantasie, um die Symptome noch einmal zu beobachten. Er sprach in dem Paroxismus viel von dem Höllenfeuer, das ihn verzehren müßte, und ein solches brennt in der That in seinen Adern; aber er nannte sich einen Verstoßnen, einen Verdammten, den das Urtheil des Engels Gabriel in die heiße, finstere Hölle gestürzt. Dann strebte er mit der größten Anstrengung vom Bette auf und schrie, er wolle noch zur rechten Zeit beim Leichenbegängniß zugegen sein. Noch nie hört' ich einen exaltirten Fieberkranken in solchem Zusammenhange reden und bei ein' und derselben fixen Idee verweilen; auf den Engel Gabriel kam er immer wieder zurück. Der für ihn unerwartete Tod des Vaters kann nicht die alleinige Ursach zu dieser krankhaften Zerrüttung der Einbildungskraft sein, von der beinah zu fürchten steht, daß sie in den wachen, ruhigen Zustand des Patienten mit hinübergeht. Vielleicht können Sie mir, wenn ich auf Vertrauen Anspruch machen darf, über sein Verhältniß zum Vater Näheres mittheilen, um daraus sicherer auf seinen Gemüthszustand vorher zu schließen? –
Emilie kämpfte vergebens, dem Arzte ihre Verwirrung zu verbergen. Zum Glücke bewegte sich der Kranke und der Doktor trat dem Bette näher.
Morgen erfahren Sie alles! flüsterte ihm Emilie zu und schlüpfte sacht durch die Thür hinaus.
Die Fremden, denen Cäsar das Geleit gab, ließen sich oben auf der Treppe vernehmen, die herrschaftlichen Wagen fuhren vor; Emilie eilte durch den Schloßhof zum linken Flügel des Gebäudes und gelangte unbemerkt nach ihrem Zimmer.
Die Edelleute aus der Nachbarschaft waren eingestiegen, die Wagen rollten zum Schloßthor hinaus. Cäsar wollte sich nach dem Befinden des Bruders erkundigen, zuvor jedoch Emilien besuchen, als ein Posthorn schmetternd erscholl und ein Kourier in den Hofraum sprengte. Er kam aus der Residenz und verlangte sogleich, dem Grafen einen Brief überreichen zu dürfen. Cäsar öffnete das fürstliche Siegel: es war ein eigenhändiges Schreiben vom Großherzog, das des Grafen Ernennung zum Rath enthielt, zugleich jedoch auch den schmeichelhaften Wunsch, so schnell als möglich an den Hof zu kommen, um sein Gutachten über eine dringende Angelegenheit entscheiden zu lassen.
Cäsar eilte sofort zu Emilien.
Ich komme, sagte er, halb vor Freude über die Gunst meines Fürsten, halb aber voll Trauer, daß ich Sie morgen schon verlassen muß. –
Wie? Sie verlassen uns? fragte Emilie hastig.
Cäsar setzte ihr die Gründe auseinander, indem er das Schreiben vorlas.
Merkwürdig, sehr merkwürdig! sagte Emilie in gedehntem Tone und wie in tiefes Nachsinnen versunken.
Was ist Ihnen, theure Emilie? fragte Cäsar besorgt; fühlen Sie sich unwohl und vom heutigen Tage angegriffen? Hätten Sie doch meinem Wunsche nachgegeben und Ihre Gegenwart der Bestattung entzogen. –
Wir ist sehr wohl, war Emiliens Antwort, aber Sie sehen, ich bin bestürzt, daß Sie uns verlassen, mitten in der Krisis uns verlassen wollen, da die Gemüther gespannt, gereizt und in Verwirrung sind, und da wir der Nähe eines festen, starken Geistes, wie Sie, bedürfen. Wir sind nicht so standhaft, als wir uns dünken, ehe der Sturm sich naht; deßhalb wären Sie uns sehr nöthig, Graf Cäsar. Schrecken und Trauer stürmten auf uns ein und der schrecklichste der Schrecken hat Ihren Bruder ergriffen: er ist wahnsinnig. Sein sie ruhig, Cäsar, um Gott keinen Laut! Ich weiß davon zu reden, aber ich will nichts gesagt haben. Ich will stille sein, aber der Arzt wittert auch so etwas und er ist doch ein verständiger Mann. –
O der Unglückliche! rief Cäsar schmerzlich aus, Schwärmerei, so mußt du enden? zu solchem Abgrunde führst du? –
O pfui! sagte Emilie, wie beleidigt, ist denn Wahnsinn ein Laster? Er ist ja krank, der Arme; haben Sie doch Mitleiden, es ist ja ein Krankheitszustand. –
Bei diesen Aussichten, erwiderte Cäsar, werden wir das Testament noch nicht eröffnen dürfen. Es wird auch Ihr Wunsch sein, theure Emilie, sobald als möglich den letzten Willen des Seeligen zu erfahren, damit wir ganz im Klaren darüber sind und uns über die Vollziehung desselben verständigen. Wir können das Siegel nur gemeinschaftlich lösen. –
Die Zeit wird sich finden lassen, sagte Emilie gleichgültig. Sie freilich, als Erstgeborner haben darüber zu verfügen; die Rolle, die ich dabei zu spielen habe, ist unbedeutend genug; ich werde nur schweigend die übergroße Liebe und Güte des Entschlafenen zu bewundern haben. –
O nicht doch, entgegnete Cäsar, erinnern Sie sich der Worte meines Vaters: Emilie wird über meine Söhne entscheiden. Nicht über unsern äußern Vortheil, über unser Seelenglück haben Sie zu bestimmen. –
Lassen wir das bei Seite, Graf Cäsar, unterbrach ihn Emilie, reisen Sie nur glücklich und kehren Sie bald, recht bald zurück. Es ahndet mir, daß wir Ihrer recht sehr bedürfen. –
Cäsar drückte einen heißen Kuß auf Ihre Hand und verließ sie, in dem beglückenden Gedanken, daß er in dem Gegendrucke die sichere Gewährung seines liebsten Wunsches gefühlt hätte.
Es war noch früh am Morgen des andern Tages, als Cäsar in den Reisewagen stieg und noch einmal aus dem Schlage sich zurücklehnend, Emilien, die am Fenster stand, seinen Gruß zuwinkte. Kaum hatte der Wagen den Schloßhof verlassen, als Emilie sich in Bereitschaft setzte, um den Arzt zu suchen. Sie wollte eben aus ihrem Zimmer treten, als dieser selbst sich melden ließ.
Sie haben den freiesten Zutritt, lieber Doktor, sagte Emilie, den Eintretenden begrüßend. Ihnen steht die größte Gewalt über uns zu, also bedienen Sie sich aller Mittel, um den Schlüssel zu uns und unserer Seele, die sich oft verstecken und verschließen möchte, zu finden.
Mit dem jungen Grafen steht es übel, antwortete der Arzt auf Emiliens Frage. Er hat die unruhigste Nacht gehabt. Den erschöpften Körper verlangte nach der Ruhe des Schlafes, aber die quälenden Vorstellungen der schwärmenden Phantasie gestatteten ihm nicht diese Wohlthat. Schreckbare Träume schüttelten fieberhaft seinen Geist, er fuhr oftmals mit einem Angstgeschrei auf, wenn zu einem leisen Schlummer seine Augenlieder sich schlossen und fand bei seiner Erschöpfung doch eben so wenig im Wachsein Beruhigung. Erst gegen Morgen schlief er sanft ein. Möchte er im Schlafe völlige Vergessenheit seiner verworrenen Vorstellungen finden. –
Emilie setzte ihm Otto's ganzes Verhältniß zur Familie, das dem Arzte nur halb bekannt war, auseinander; sie deutete auf den Zwiespalt zwischen Vater und Sohn, auf dessen Theilnahme an der Wartburgsfeier und den revolutionären Umtrieben der akademischen Jugend; sie verschwieg ihm endlich nichts und gab als Vermuthung an, was ihr längst zur sichersten Wahrheit geworden war, daß er in ihrem Tagebuche sich das verdammende Unheil gelesen, das, wie er sagte, ihn in die Nacht der ewig Verworfenen gestürzt habe.
Der Arzt bat dringend, das Blatt aus dem Tagebuche ihm zu erlauben; erröthend überreichte es Emilie. –
Nun so ist es klar, sagte der Doktor, nachdem er es mit prüfendem Blick gelesen, hier waltet ein großer Wahnsinn; keine Tiefen sind gefährlicher, als die Verirrungen religiöser Gefühle. Aus seinem Dichten und Trachten nach politischer Wichtigkeit, um ein Reformator unseres Zeitalters zu werden, ergiebt sich der Hochmuth seiner Seele. Diesen hat Ihr Urtheil plötzlich in sein Gegentheil, in eine ausschweifende Zerknirschung, in ein unmäßiges Bewußtsein des eignen Verderbens, verwandelt. Das ist die Art des religiösen Wahnwitzes, von der schwindelnden Höhe der Selbstverherrlichung in die eben so falsche Tiefe der Selbstverdammung hinabzustürzen; auf Uebermuth folgt Verzweiflung. – Er kennt Sie doch? fragte der Arzt nach einem Augenblicke des Nachsinnens. Er weiß doch, daß von Ihnen das Urtheil ausging? –
Emilie hatte mit zitternder Seele den Worten des verständigen Mannes zugehört, sie wußte in der That nicht, ob sie jetzt seine Frage bejahen oder verneinen sollte, sie nickte nur zweideutig mit dem Kopfe. –
Daß nur dieser erste Ausbruch nicht unbenutzt von unserer Seite vorübergeht! fuhr der Doktor fort, ohne Emiliens Antwort abzuwarten. Nur diese Krisis benutzt, ehe der Zustand des Kranken in eine feste, bleibende Melancholie übergeht; in der Krisis liegt noch die Möglichkeit zur Rückkehr.
Mit diesen Worten ergriff er Emiliens Hand, sie mit sich führend, und sie folgte ihm, still in seinen Willen ergeben und ohne seine Absicht zu errathen. Schweigend gingen sie durch den Corridor, die Treppe hinunter nach dem Zimmer des Kranken. Das Gemach war dämmernd erleuchtet, das Tageslicht schimmerte getrübt durch die Vorhänge der Fenster; Otto schlummerte noch.
Was soll ich hier? fragte Emilie mit ängstlichem Zittern.
Sie sind Gabriel, sagte der Arzt mit ernstem, bedeutungsvollem Ausdruck, indem er ihr dem Bette gegenüber ihre Stellung anwies, so daß der erste Blick des Erwachenden sie erreichen mußte. Sie sind der Engel Gabriel, und wenn der Kranke die Augen aufschlägt, so reden Sie zu ihm mit den Worten der Gnade und nehmen das scharfe Urtheil der Verdammung zurück. –
Emilie faltete ihre Hände vor dem klopfenden Busen; sie betrachtete den Schlummernden mit unverwandtem Blick, während einige Augenblicke hindurch eine tiefe Stille im Zimmer herrschte.
Da regte sich Otto. Ein tiefer Seufzer ging seinem Erwachen voran.
O ich Elender, murmelte er unverständlich, während er die Augen mit den Händen rieb, ich Verstoß'ner, Verworfner, – o! und die Hölle währt ewig?
Er blickte auf, er sah Emilien, die bleich, einer Leiche oder einem verklärten Geiste ähnlich, ihn anstarrte.
Ha! wer bist du? rief er staunend; kömmst du, den himmlischen Gefilden entronnen, um mich zu retten aus der Nacht des Todes? wer bist du, seeliger Geist? –
Ich bin Gabriel, sagte Emilie bebend. –
Gabriel bist du? rief Otto, ach wehe! Gabriel, du hast mich verdammt und in die Qualen der Hölle gestürzt. Siehe! dein Gewand ist weiß, auf deinem Antlitz wohnt Milde, Liebe und Frieden, und doch hast du mich verstoßen? O wie elend und verloren muß meine Seele sein, da du, ein Engel des Friedens, der den Zorn bis jetzt nicht kannte, mich in den Abgrund der Hölle, zu den ewig Vernichteten stoßen mußtest! Ja, ja, ich fiel ab vom Jehovah und baute mir ein goldnes Kalb und tanzte herum wie um einen Götzen. Ach wehe! ich opferte dem Baal und vergaß, dem sterbenden Vater die Hand zu reichen. O Gabriel, Gabriel, kannst du nichts für mich thun? –
Ruhig, du armer Sterblicher, sagte Emilie, deine Sünden sollen dir vergeben sein, sind wir doch allzumal Sünder und ermangeln des Ruhmes, den wir vor Gott haben sollen. Die Zahl unserer Sünden ist größer als der Sand am Meere, aber die Gnade des Vaters versammelt doch die Seinen um sich, sie ist größer als die Erde, als das Meer, sie ist weiter als die Unendlichkeit der Welt. –
Wär' es möglich, rief Otto entzückt, während ein Thränenstrom seinen Augen entfloß, du hättest mir die Gnade ausgewirkt? O sieh! ich will auch fromm und gut sein, ich will still und ruhig leben, nicht nach großen Dingen trachten, will die Asche meines Vaters täglich küssen, will an seinem Grabe knien, bis er mir vergeben wird, wie du mir vergiebst. O du seeliger Luftgeist, rief er endlich, indem er die Arme ausstreckte, könnt' ich dich umarmen; komm zu mir, gieb die volle Gewährung deiner Versöhnung. –
Emilie stürzte weinend an seinen Busen; sie hielten sich umschlungen in unendlicher Seeligkeit und Otto vergaß in der Entzückung, daß er einen Geist zu umarmen gewähnt und doch ein lebendiges Wesen an seiner Brust fühlte.
Was ist das? rief er nach der ersten Betäubung, du athmest wie ich, du weinst, wie ich, und warmes Blut klopft in deinen Adern, wie in den meinigen! –
Ja, sagte Emilie, ich lebe, wie du, ich hatte einen Vater, wie du; er starb und ich war so elend, wie du, und ich sehnte mich längst nach einem Herzen, das wie das deinige fühlt! –
Sie umarmten sich von neuem; ihre Seelen hatten sich gefunden, ihre Pulse klopften in vereinten Schlägen; es war ein Bund, geschlossen für die Ewigkeit.
Der Arzt war unruhig geworden, er befand sich in der ängstlichsten Verlegenheit.
Der Wahnsinn hat sich in Liebe aufgelöst, aber es ist noch Raserei darin, sagte der verständige Mann; er fürchtete für Emilien eben so sehr, als für Otto. Er näherte sich zu wiederholten Malen den Liebenden, er suchte sie zu trennen; vergeblich, sie hielten sich fest umschlungen, versunken in den Traum der Liebe, bis er Emilien bei ihrem Namen rief.
Wie der Nachtwandler, wenn er seinen Namen vernimmt, plötzlich ans dem Labyrinth seiner Träume aufschreckt, so entriß sich Emilie Otto's Armen, sie erhob sich langsam und sah den Arzt mit einem fragenden Blick durchdringend an.
Vergessen wir nicht, daß er noch krank ist! erinnerte der bedächtige Mann.
Ist er etwa noch nicht gesund? fragte Emilie; wir haben ihn ja geheilt, also müssen wir auch vergessen, daß er krank war. –
Wahnsinn ist oft witzig, dachte der Arzt für sich. Sie hat ihn davon geheilt, aber entweder einen Theil ihm abgenommen oder der Rest ihres alten eignen Unwesens ist wieder lebendig geworden. Der gute Mann hatte vielleicht zu wenig in Ueberlegung gezogen, daß beim Anblick eines fremden Wahnsinns ein alter, längst geheilter, aus den Wellen der Vergessenheit wieder herauftaucht, wie eine unberührte Saite plötzlich zu tönen beginnt, wenn ein äußerer, verwandter Laut in demselben Raume erklingt. –
Er bedarf der Ruhe, der Erholung, erinnerte der Doktor ernstlich und zog Emilien von seinem Lager fort. Sie folgte ihm, ohne zu widerstreben und, während er Otto dem Wärter anbefahl, führte er Emilien nach ihrem Zimmer zurück, mit dem Bedeuten, daß sie den Kranken in den ersten Tagen nicht besuchen dürfe.
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Otto's Geisteskrankheit war für geheilt anzusehen; seine schwärmende, phantastisch überreizte Seele war aus dem Gebiete verworrener Träume in die schönste Wirklichkeit hinübergezogen; die Liebe zu Emilien war die sanfte, aber magnetisch bindende Kette, welche ihn an das Leben und die gesunde, natürliche Wirklichkeit wieder fesselte. Den Tod des Vaters, sein eignes Vergehen, alles brachte er mit den Zufälligkeiten, die sich bei seiner Ankunft im Schlosse ereigneten, in den besten, naturgemäßesten Zusammenhang. Ueber die Vergangenheit, über sein bisheriges Thun und Treiben, hatte er das verständigste Bewußtsein und wenn er an die Zukunft dachte: welche heitere, beseeligende Aussicht eröffnete sich ihm dann, im Gefühl seiner innigen Neigung zu Emilien!
Mit dem wiederhergestellten Gleichgewicht seiner Geisteskräfte fühlte er sich zugleich im völligen Besitz seiner körperlichen Gesundheit und nur die ängstliche Sorgfalt des Arztes war Ursach, daß er in den ersten Tagen das Zimmer noch hüten mußte. Die Entsagung, zu welcher er sich genöthigt sah, indem der Arzt unter keiner Bedingung schon jetzt eine Zusammenkunft mit der Geliebten ihm erlaubte, verwandelte seine brennende Neigung zu Emilien in eine milde Sehnsucht, welche wohlthätig auf den Genesenen wirkte. Er beschäftigte sich mit den Memoiren seines Vaters, und auch diese Lektüre mußte dazu beitragen, ihn zu einer verständigen und gleichwohl gemüthvollen Ansicht des Lebens zurückzubringen.
Emilie war, als der Arzt sie in ihrem Zimmer verschlossen hatte, aus ihrer Betäubung erwacht. Otto's Paroxismus hatte in ihr eine ähnliche Exaltation erregt, die aber, als sie an seinem Herzen in seeliger, befriedigter Gemeinschaft lag, in eine Leidenschaft der Liebe ausströmte. Mit der Entfernung von dem Geliebten war ihr das Bewußtsein zurückgekehrt und das Geschehene, welches doch lediglich ihre That gewesen, erschien ihr wie ein schöner Traum, aus welchem nur die segensvolle Genesung Otto's als Wirklichkeit und Wahrheit übrig blieb.
Der verständige Mann that wohl, uns zu trennen, sagte Emilie zu sich selbst in der vollsten Ueberzeugung; denn zu welchem Ziele sollte das Weitere noch führen? –
Die mädchenhafte Scheu gesellte sich zu diesen Betrachtungen und sie überließ sich einem ruhigen, sanften Schlummer, um das Andenken an das Ereigniß in die Wellen der Vergessenheit zu tauchen.
Ganz früh am andern Morgen besuchte sie der Arzt. Emilie war schon munter; sie saß in ihrem grünen Zimmer mit einer weiblichen Arbeit beschäftigt. Eine brennende Röthe überflog ihre Wangen, als er in's Zimmer trat und sein forschender Blick auf ihr eine gute Weile haften blieb. Er war hoch erfreut, die vermeintliche Patientin so frisch und munter und in vortrefflichstem Wohlsein zu finden. Sie erzählte von ihrem süßen, erquickenden Schlafe und er dagegen von Otto's vollkommenem Gesundheitszustande, dem ebenfalls die freundlichsten Bilder des Traumes, als Vorboten einer fröhlichen Zukunft, den Schlummer versüßt hätten.
Nur dürfen sich die Liebenden in den ersten Tagen noch nicht sehen und sprechen! setzte er lächelnd hinzu.
Die Liebenden? wiederholte Emilie und schlug, von neuem erröthend, ihr Auge zu Boden. Ich bitte Sie, Herr Doktor, nehmen Sie doch nur die Wiedergenesung des Kranken als die wirkliche, bedeutungsvolle Thatsache von dem Geschehenen an; das Uebrige lassen wir auf sich beruhen, weil es zur Sache gar nicht gehört. Hab' ich denn gestern mehr gesagt und gethan, als für die Rolle paßte, die Sie mir selbst zu spielen geboten? Und sind Sie denn gegen mich so undankbar, daß ich Ihnen den wesentlichen Dienst geleistet, da ich doch, als Engel Gabriel, und nicht Sie mit Ihrer Kunst, den Kranken geheilt und gerettet habe! –
Wenn ich nun aber entgegnen müßte, versetzte der Arzt mit freundlichem Ernste, daß es mit dem ersten Moment der Wiederherstellung des krankhaft zerrütteten Gemüthes nicht sein Bewenden haben könnte, sondern daß ein dauerndes Band nöthig wäre, um das Gleichgewicht der früher verworrenen Geisteskräfte des Patienten für immer zu befestigen, und daß Sie ihn von der Qual des Wahnsinns für ewig erretten und befreien würden, wenn Sie ihn mit Ihrer Liebe beglückten? Was sagen Sie dann, Emilie, wenn ich Ihnen die Versicherung gebe, daß der junge Graf ein glücklicher Mensch werden könnte, wenn Sie ihn liebten? –
Ja, wenn Sie meinen – sagte Emilie und blickte mit vertrauender Gutmüthigkeit dem Doktor in sein ehrliches Gesicht.
Der gute Mann konnte sich nicht enthalten, bei ihren Worten in ein herzliches, freudetrunkenes Lachen auszubrechen. Er küßte Emilien die Hand und rief ihr ein jauchzendes Bravo nach dem andern zu, während sie den väterlichen Freund stürmisch umarmte und an seinem Busen Thränen der Freude und des Schmerzes weinte. –
Nur ruhig, nur mäßig, mein theures Fräulein, erinnerte endlich der Arzt, indem er ihr die Wangen klopfte. Es wird sich alles gut machen. Heut' noch schreib' ich nach der Residenz und melde dem Grafen Cäsar die Genesung des Bruders und –
Und nichts weiter! unterbrach ihn Emilie. Erwähnen Sie bloß, wie ich bei der Heilung thätig war und wie ich noch ferner alles zu leisten entschlossen bin, um den Gesundheitszustand des Genesenen zu befestigen. Aber was Sie Liebe zu Otto nennen, das ist doch nur die Theilnahme an dem Nebenmenschen, und die wir dem Unglücklichen am meisten bethätigen sollen. Wie ich Otto liebe, wenn sie einmal so wollen, werther Mann, so lieb' ich Sie auch und jeden guten Menschen. Weil er unglücklich war, mußt' ich ihm Mitleid, Mitgefühl und Liebe im hohen Grade schenken; ist er glücklich, so hab' ich keinen Theil mehr an ihm. –
Gutes, liebes, inniges Wesen! sagte der gerührte Mann, während sich eine Thräne unter seinen Wimpern hervordrängte. Er küßte Emilien noch einmal zärtlich die Hand und verließ das Zimmer.
Bei solchem Zustande der Gemüther konnte es der Arzt nicht mehr für gefährlich erachten, Otto's Sehnsucht nach einer Zusammenkunft mit der Geliebten zu erfüllen. Sie hatte den Wunsch geäußert, nur im Beisein des Doktors seinen Besuch anzunehmen; als jener jedoch die Liebenden im verständigsten Gespräch begriffen sah, indem Emilie von der Krankheit und dem Tode des Vaters erzählte, so entzog er ihnen seine Gegenwart, die er für lästig und unnöthig hielt. Emilie suchte einen gemessenen Ton in dem Gespräche zu erhalten, während Otto ganz Liebe, ganz Ergebung war. Er sagte alles, was an seiner Stelle jedes liebende Herz zu reden vermochte, er nannte Emilien seinen Schutzengel, die Retterin seines geistigen Lebens. Er war bescheiden in dem Ausbruche seiner leidenschaftlichen Liebe, sowie in den Ansprüchen, die er machte, und gewann Emiliens volle Gewogenheit; nur wenn sie näher auf sein vormaliges Thun und Treiben, auf seinen Antheil an der Wartburgsfeier, dringen wollte, um hierüber im Klaren zu sein und ihn selber frei sprechen zu können, so suchte er auszuweichen und das Gespräch auf einen andern Gegenstand hinzulenken.
Inzwischen hatte der Arzt den Grafen Cäsar von den Ereignissen im Schlosse vollkommen in Kenntniß gesetzt und ihm schuldiger Maßen ebenfalls nicht verschwiegen, wie sich ein wärmeres Verhältniß zwischen dem Fräulein und dem wiederhergestellten Kranken angesponnen habe.
Cäsar hatte eine außerordentliche Gesandtschaft an den Wiener Hof übernommen; er mußte sofort seine Reise antreten und kaum blieben ihm wenige Tage verstattet, das väterliche Schloß zur Eröffnung des Testamentes vorher zu besuchen. Emilie empfing ihn mit der gewohnten, zärtlichen Freundlichkeit; nach ihrem Sinne war nichts Störendes zwischen ihnen vorgefallen und Cäsars Besorgnis, daß sein Verhältniß zu ihr durch Otto verrückt wäre, verschwand fast gänzlich.
Zwischen den Brüdern herrschte freilich eine Spannung, die Emilie, nach deren Besitz beide strebten, vergeblich zu heben sich bemühte. Es war dem Grafen Cäsar nur kurze Zeit vergönnt, in der Heimath zu verweilen; deßhalb schritt man noch an demselben Abend zur gemeinschaftlichen Mittheilung des Testamentes, bei dessen Eröffnung der Arzt, als der Freund des Hauses, zugegen war. Der Kronleuchter brannte in Emiliens Gesellschaftszimmer; in feierlicher Stille saßen alle erwartungsvoll beisammen und Cäsar, als der Vorsitzer, erbrach das Siegel und theilte den letzten Willen des Vaters mit, der, nach Uebergehung der Nebenbestimmungen, folgende Punkte feststellte:
»Ich sehe Emilien de St. Beaumont,« hieß es nach den Worten des Schreibenden selbst, »vollkommen als meine Tochter und Miterbin meines Vermögens an, um mich einiger Maßen der Verpflichtungen zu entledigen, die ich ihrem verstorbenen Vater, dem Freunde meines Lebens, schuldig war. In gleicher Weise ist Otto vollständiger Teilnehmer an der Erbschaft; ich hoffe somit die Schmach seiner Geburt vollkommen zu decken und die etwanigen Vorwürfe, die mich noch jenseits des Grabes verfolgen könnten, zum Schweigen zu bringen. Dieß geschieht jedoch unwiderruflich nur unter der Bedingung, daß Otto den bürgerlichen Trotz, der ihn von mir trennte, unterdrückt, den politischen Schwärmereien, welche die Ehre meines Hauses verunglimpfen, entsagt und sich nicht länger weigert, ein Glied und ein Stammhalter meiner gräflichen Familie zu sein und zu heißen. Beharrt er auf seinen revolutionären Plänen und nimmt er Theil an irgend einem Verbrechen, das als eine Folge jener staatsumwälzerischen Gesinnungen verübt wird; so ist er enterbt und, als meinem Hause nicht angehörig, verstoßen. Emilie und Cäsar, der rechtmäßige Graf Walter von Hayna, entscheiden darüber und sind Erben seines Antheils. –
Daß Emilie einen meiner Söhne mit ihrer Liebe, mit ihrer Hand beglücken möchte, war der sehnlichste, der innigste Wunsch meiner Seele, dessen Verwirklichung ich nicht erleben sollte. Möchte sie sich bewegen lassen, zwischen beiden zu entscheiden, sei es, daß ihr sanftes, keusches, reines Herz in Liebe sich einen erwählt, oder daß ihr feiner Verstand den Würdigeren zu ihrem Gatten bestimmt. In diesem Sinne theil' ich die Summa meines Vermögens in sieben gleiche Theile. Fünf dieser Theile er hält derjenige, welcher Emiliens Gemahl wird, die zwei übrigen Siebentel verbleiben dem andern. Erklärt sie beide ihrer Hand und ihrer Liebe für unwerth, so beläuft sich ihr alleiniger Antheil auf drei jener Siebentheile; in die übrigen vier theilen sich, unter der oben für Otto aufgestellten Bedingung, meine Söhne gleichmäßig.«
Cäsar hielt ein. Tiefe Stille herrschte in der Versammlung. Emilie hatte während des Lesens scharf ihr Auge auf Otto gerichtet, der mit gesenktem Kopfe vor sich nieder blickte.
Der Arzt betrachtete beide ernst und ruhig. Cäsar sandte einen sehnsüchtigen, aber schwankenden Blick zu Emilien hinüber, die jetzt sinnend die Hand an ihre Stirn drückte. Nach dieser Pause, wo nur Blicke von den innern Bewegungen sprachen, begann er, die weiteren Verfügungen im Testamente mitzutheilen, zunächst die Berechnung des Vermögens, dessen Summa sich auf eine halbe Million belief, und sodann die Vertheilung kleiner Portionen unter die Diener des Hauses.
Nach beendigter Vorlesung nahm der Doktor sogleich das Wort, indem er bemerklich machte, daß in der Willensäußerung des Entschlafenen durchaus kein Zeitraum bestimmt sei, innerhalb dessen Fräulein Emilie, deren Entscheidung den verschlungnen Knoten entwirren sollte, sich in ihrer Wahl bestimmen müsse. Da nun eine solche Entscheidung über Leben und Glück nicht das Ergebniß augenblicklicher Gefühle, sondern einer anhaltenden Prüfung sein könne, so käme eine Reise des Grafen Cäsar sehr erwünscht, wenn derselbe den Grafen Otto daran Theil nehmen ließe, auf dessen Gesundheits- wie Gemüthszustand eine Zerstreuung dieser Art den heilsamsten Einfluß haben müßte. –
Emilie bezeigte dem Arzte durch einen freundschaftlichen Handdruck ihre Beistimmung zu diesem Vorschlage; Cäsar konnte seine Einwilligung nicht versagen und Otto fügte sich stillschweigend, aber mit trauernder Seele.
Der Doktor gab Cäsar durch einen Wink zu verstehen, daß er ihn allein zu sprechen wünsche; beide traten in eine Fensternische und schienen bald, hinter der Gardine halb verborgen, in ein wichtiges Gespräch vertieft.
Graf Otto, flüsterte Emilie mit zagender Stimme, warum versinken Sie in dieses Schweigen? Haben Sie nichts zu sagen über die Verfügungen im Testamente, und vornehmlich über die Bedingungen, unter welchen Sie Miterbe sein dürfen? Warum reden Sie nicht? Wollen Sie sich nicht vor Ihrem Bruder von dem Verdachte reinigen, an den revolutionären Umtrieben der deutschen Jugend Theil genommen zu haben? –
Wie kann man sich reinigen von einer reinen Sache? entgegnete Otto? Ja, ich bin ein Glied jenes Bundes, welcher deutschen Sinn und deutsche Jugend festzuhalten und mit dem Blute zu besiegeln, entschlossen ist. Der Geist der Zeit ist fortgeschritten und für Deutschland kann es nur ein Fortschritt sein, zu den Formen und den Tugenden früherer glücklicherer Jahrhunderte zurückzukehren. –
Otto, sagte Emilie, und ergriff schmeichelnd seine Hand. Täuschet ihr euch auch nicht, ihr Deutschgesinnten? Ist es jetzt an der Zeit, Märtyrer der Tugend zu werden? Erscheint alles, was ihr nach eueren Grundsätzen Tugend nennet, als ein solches vor dem Richterstuhle Gottes und aller edlen Menschen? Lagen in jenen Zeiten der französischen Revolution hinter diesem Namen nicht so viele frevelvolle Leidenschaften versteckt, die unter dem Deckmantel dieser Bürgertugend in das Leben traten und die Welt verwüsteten! Ach, Otto, wenn Sie meinen Abscheu gegen blutige Thaten wüßten!
In meiner Kindheit war ich einer alten französischen Wärterin anvertraut, welche die Schreckensscenen in Paris selbst erlebt hatte. Statt Ammenmährchen von verzauberten Prinzen und Damen, hörte ich die Alte täglich mit ihrer krächzenden Rabenstimme von der Erstürmung der Bastille, von der Ermordung des sanften Ludwig erzählen und die blutigen Gräuel stehen wie ewige Gemälde vor meiner Seele, weil sie der Phantasie des Kindes zur Nahrung und Beschäftigung übergeben wurden.
Mein allzuempfängliches Gemüth war tief ergriffen von den Unthaten jener Menschen, die aus Verbrechen Tugend machten, und meine Träume mahlten mir das Elend der vergangenen Zeiten noch wilder und blutiger aus, weil sie es mir und meinem Vater näher rückten, der den Verfolgungen der Jacobiner in Paris kaum entgangen war. Für mich waren jene Schreckenszeiten nicht zu Ende, sie wurden mir zur Gegenwart in meinen Träumen, ich kämpfte allnächtlich mit den Höllengeistern des Danton, Marat, Robespierre, denn es schien mir immer, als lebten sie noch, als verfolgten sie meinen Vater und ach! wie schrecklich mußten meine bangen Fieberträume für uns in Erfüllung gehen! –
Otto, wenn es möglich wäre, daß solche Zeiten wiederkehrten, wenn es wahr sein würde, daß du an einem blutigen Vergehen Theil nähmest, welches aus der Mitte jenes Bundes, dem du angehören willst, hervorginge: – kennst du den Fluch des Vaters wohl, der über dich alsdann ergehen wird; weißt du wohl, daß du die Ruhe seines Schlummers im Grabe stören wirst, und daß ich und wir alle dich deinem Elende überlassen müssen, in welches du dich eigenwillig stürzest?
Ihre Stimme war laut und kräftig geworden; der Arzt und Cäsar standen im Hintergrunde und betrachteten bewundernd den edlen Eifer der Rednerin, deren Antlitz eine dunkle Röthe überstrahlte. Otto stand, wie ein Büßender, vor ihr, vernichtet und beschämt.
Ich bin mir keiner frevelhaften Willkür bewußt, stammelte er, die je zu einer blutigen Unthat schreiten würde, ja, ich wüßte nicht, welches Verbrechen von einem meiner Brüder verübt werden könnte.–
Ihr wollt den politischen Zustand der deutschen Staaten umstürzen, nahm Cäsar das Wort, indem er näher trat, ihr träumt von einem deutschen Gesammtreiche, nach der Vernichtung der kleinen! Ich halte dieses Streben, diesen Wunsch für zu ohnmächtig, um die Frevel, zu zählen, die aus ihm hervorgehen müßten, sollte er verwirklicht werden, aber als Wunsch als Gedanke ist es schon ein Frevel. Außerdem daß niemand, ohne Verbrecher zu sein, die historische Entwickelung der deutschen Kleinstaaten antasten und vernichten kann, so ist diese politische Verfassung Deutschlands nur heilsam zur innern Gestaltung und Bildung des deutschen Geistes gewesen. Einer Republik gleicht der Zustand der deutschen Wissenschaft und Kunst, der sich mannigfaltiger bei uns erzeugen konnte, als in einem Gesammtreiche möglich wäre. Und die vollendete, abgeschlossene Höhe der deutschen Kultur sehen wir am Ende des vorigen Jahrhunderts durch eine Reihe Männer hervorgerufen, die unbekümmert um den politischen Stand der Dinge, ganz dem ideellen Reiche angehörten. Unser Jahrhundert ist arm gegen jene Zeit und das Drängen nach außen, was rege wird, zeigt die innere Ohnmacht, die in äußern Formen gewinnen will, was ihr an Gehalt abgeht. –
Wer will die bescheidne Sehnsucht richten, wenn sie nicht zur That schreitet! erwiderte Otto. Daß der Wunsch nach Gesammtheit und Vereinigung des vielfach zersplitterten Vaterlandes Tausende bewegt, ich will es nicht läugnen; denn aus dem Gefühl der Einheit des deutschen Volkes ging seine Befreiung von den Fesseln des Tyrannen hervor, mit diesem Gefühl erwachte das Bewußtsein der Nation, in ihm liegt der tiefe Keim zu einer neu sich gestaltenden Welt in Kunst und Wissenschaft. Ist der Wunsch für politische Verwirklichung – nur ein Traum und ein nichtiges Gespinnst, so hat er dennoch seine volle Wahrheit in sich; denn aus dem Bewußtsein, daß Wir Ein Volk sein müßten, erwuchs die Kraft, die Freiheit zu erkämpfen, und mit dieser Großthat muß ein neues Leben im gesammten Volke erwacht sein; es mag sich nun auf die äußeren Formen und Bedingungen des Daseins wenden, oder, von der politischen Außenwelt zurückgedrängt, in das innere Heiligthum der Gefühle und Gedanken, in Kunst und Wissenschaft, sich flüchten.
Könnte eine Zeit erscheinen, wo beide Richtungen kräftig ins Leben träten, dann feierte die deutsche Nation ihren vollen Triumph, wie in jenem goldnen Säculum, wo das Kaiserthum auf deutschem Boden strahlte und der Imperator, den ehrwürdigen Glanz der versunkenen römischen Welt mit der kraftvollen und doch tief gemüthlichen Lebensfülle des deutschen Genius in sich vereinigend, als Schutzvogt der heiligen Kirche, der Welt gebietend, dastand in vollendeter Herrlichkeit. Da war man thätig im Aeußern, wie im Innern, alles strebte sich zu entfalten und eigenthümlich hervorzuwachsen aus der selbsteigenen Urkraft des deutschen Volkes; da war man ruhmvoll in den Waffenthaten, da ward der Straßburger Münster erbaut und das Nibelungenlied gedichtet.
Nach dem Sturze der Hohenstaufen verwelkt auch die Blüthe des deutschen Genius; aus den Baumeistern wurden Maurer aus den Minnesängern elende Versdrechsler, welche sich mit Recht Meister und Meistersänger nannten, weil sie die Dichtkunst zum Handwerk erniedrigten. Das ganze deutsche Leben versank in ein steifes, sich einzeln abschließendes Philisterthum, das, unsäglich zerstückelt, das Streben nach der Einheit verlor. Den romantischen Adel, aus welchem die Dichter hervorgegangen, verdrängte die Spießbürgerei eines dritten Standes, der, als der Schooß des Volkes, erst seit dem vorigen Jahrhundert seine Bedeutung gewann.
Vor und während der Reformation regte sich der Geist der Poesie; aber seinen Fittich drückte bald der permanente Zwiespalt der Gemüther darnieder und er lag gebunden unter den Fesseln religiöser Parteisucht, in spätern Zeiten unter dem Drucke des französischen Geschmackes, der den Kern des deutschen Wesens vergiftete.
Zu Ende des vorigen Jahrhunderts hat sich endlich der deutsche Genius Bahn gebrochen, ohne zu erwarten, ob das Heil von außen erst erscheinen würde; der innere, productive Drang war zu groß und zu lange bereits aufgehalten, um sich noch hemmen zu lassen, und wir sehen eine Literatur, mit Staunen und Bewunderung, bei deren oberflächlicher Betrachtung man zu denken geneigt sein könnte, es sei in ihr die schaffende Kraft deutscher Poesie erschöpft.
Die Gedanken seiner Dichter bilden den Deutschen, die Tiefe ihrer Gefühle reißt uns mit sich, die hohe Schönheit und die liebliche Grazie ihrer Sprache hat einen neuen, gebildeten Styl in allen Formen des äußern Lebens hervorgerufen; aber sollen uns die unglücklich in Nebel verdämmernden Gestalten bei dem Einen, die riesenmäßige und doch sich selbst vernichtende Anstrengung in dem Suchen nach einer frei sich selbst erzeugenden Plastik bei dem Andern, und das maaßlose Herumtappen nach allen Alten und Manieren ausländischer Kunstformen bei dem Dritten, soll uns das alles nicht zu der Ueberzeugung führen, daß der Zustand des Jahrhunderts, die ganze Konstellation ungünstig war, als der schaffende Dichtergeist in Deutschland sich ein freies Feld gewann?
Zwar ist nicht zu läugnen, bei der vielgestaltigen Productivität Göthe's vergessen wir über seinen großen Urwerken einen Clavigo, einen Cophta, eine Stella; ja wir staunen mit Bewunderung, daß sein kräftiger Geist an all' den Klippen, die ihm der zerspaltene, verworrene Geschmack seiner Zeit entgegensetzte, nicht für immer scheiterte, sondern herrlich, nach eigner Lust und Laune, sich durchbildete: aber dennoch bleibt der Wirrwar in seinen Richtungen befremdend, es bleibt der Mangel an eigenthümlichen, ächt deutschen Kunstformen fühlbar und ist nur dadurch erklärlich, daß dem Hervorbrechen der deutschen Innerlichkeit nicht im Aeußern eine feste naturgemäße Gestaltung der deutschen Nationalität im Glanz der Waffenthaten vorangegangen war.
Bei den Griechen begann die Tragödie erst, nachdem das Volk in der Außenwelt das Hochgefühl seiner Eigenthümlichkeit sich erkämpft und errungen hatte. In Spanien, in Frankreich, überall sehen wir zur Geburt einer volksthümlichen Literatur, dieselbe Naturbedingung, daß das Volk, um zum Bewußtsein seiner selbst zu kommen, sich einen festen Platz in der äußern Welt der Erscheinungen erringt, bevor es sich mit Schöpferkraft in die Tiefe des Gefühls und des Gedankens zurückversenkt.
Selbst die Erscheinung jenes Shakspeare unterliegt dieser Bedingung, denn unter Elisabeths Regierung lebte die englische Nation bereits im vollen Selbstgefühl ihrer Eigenthümlichkeit. Das Wunder seiner Größe wird einigermaßen dadurch erklärlich, daß er jener Zeit angehört, welche die Gräuel und Grauen des Mittelalters überwunden hatte und nun vorwärts schaute in die neue, geordnete Welt der bewußten Freiheit, die der Protestantismus mit sich führte. –
Mit den Befreiungskämpfen beginnt für Deutschland eine neue Zeit, und das ganze geistige Leben der Deutschen, selbst wenn nicht so glänzende Talente wie vormals thätig werden, selbst wenn die Zeit der Heroen vorüber wäre, muß dennoch einen durchaus höheren Grund und Boden gewinnen.
Und wie können wir nur an den Talenten zweifeln! Hat ein allgemeiner Geist die Zeit durchdrungen, so wird nicht an Werkzeugen fehlen, die ihn aus dem Schacht ihres Busens zu Tage fördern, und haben wir nicht in Ludwig Tieck einen Dichter, der schon in früherer Zeit seine ächt deutsche Natur streng bewahrte, der fremde, nicht volksthümliche Formen nur spielend und scherzweise gebrauchte, und der, wenn seine bloß musikalische Lyrik sich erschöpft hat und die mystische Inbrunst seiner religiösen Stimmung nicht mehr zerstörend auf seine Gestaltungen einwirkt, neue Welten im Reich der Poesie hervorzaubern wird, in welchen die Urkraft des deutschen Genius, in der freiesten und doch seinem Volksleben eigenthümlichsten Entwicklung, seine eigne, früher verlorne oder mit fremdem Beigeschmack entartete Formen wiedergewinnt.
Die Unterhaltung, die ganz literarisch geworden war, zog sich noch eine Weile hin, indem Cäsar's Aeußerungen, die den hier aufgestellten widersprachen, Stoff dazu gaben.
Der Arzt war mit der Wendung des Gesprächs zufrieden: wenn alle Deutschthümler, sagte er leise zu Emilien, bloß, im Reiche der Gedanken revolutionirten, so hätte die Polizei wenigstens nichts dabei zu schaffen; aber ich fürchte, Otto verschweigt uns die geheimen Pläne, die auf der Wartburg geschmiedet sind; oder, so Gott will! hat er nicht Theil daran, deßhalb quäle man ihn nicht weiter zu einem Geständniß.
Emilie, sagte Otto nach einer Pause mit dem tiefsten Gefühl seiner Seele, muß sich auch in Ihrem reinen Gemüthe ein Argwohn gegen mich erheben, der sich nur auf Gerüchte stützt? Ich gehörte einem Bunde an, dessen Zweck ist, deutsche Tugend in unserem Volke lebendig zu erhalten, und seit wann wäre die deutsche Nation zu den Freveln einer Revolution geneigt gewesen! Wenn in unserer Mitte ein Verrath gegen die Gesetze der Moral gesponnen wird, wenn ich mit Verbrechern in Gemeinschaft erfunden werde, so sag' ich mich los von Allem, was mir theuer ist, so treffe mich Ihre ganze Verachtung, so ergehe über mich der Fluch meines Vaters.
Wir thaten Ihnen zuviel, entgegnete Emilie, Sie mögen verzeihen.
Sie reichte ihm zur Versöhnung die Hand; alle schienen für den Augenblick beruhigt, man setzte sich fröhlich zu Tisch und sprach selbst mit Heiterkeit und trostreicher Zuversicht von der nahen Trennung.
Am zweiten Tage darauf sah man die Gebrüder reisefertig. Der Wagen hielt; unter den verschiedenartigsten Gefühlen nahm man von Emilien Abschied; Otto mit stiller Hoffnung auf die Zukunft, Cäsar, nicht mehr, wie früher, in so sicherm Bewußtsein und so fester Ueberzeugung seines überwiegenden Werthes. Emilie gab keinem einen Vorzug; sie gewährte beiden mit gleich schwesterlicher Liebe den Kuß zum Abschied. Der Arzt, der nunmehr als alleiniger Beschützer Emiliens zurückblieb, gab ihnen das Geleit nach dem Wagen, beide umarmten den redlichen Freund noch einmal; das Posthorn erschallte und die Grafen Hayna fuhren von dannen.
*
Der Winter verging für Emilien äußerlich ruhig und ohne bedeutende Störung; im Innern ihrer Seele war sie desto mehr mit ihrer Lage und ihrem Verhältniß zu Otto und Cäsar beschäftigt. Die seltsame Bestimmung im Testamente, nach der sie über das Wohl und Glück der eigentlichen Haupterben entscheiden sollte, war eine drückende Last auf ihrem Herzen und die verschiedenartigsten Pläne, den Knoten zu Aller Befriedigung zu entwirren, wurden im Stillen entworfen und wiederum als ungenügend verworfen. Wären die Bedingungen bei ihrem gänzlichen Zurücktreten nicht so vortheilhaft für sie gewesen, sie würde sogleich diesen Ausweg eingeschlagen haben; so aber litt es ihr Ehrgeiz und ihr Zartgefühl nicht, daß die Haupterben, die Grafen von Hayna selbst, im Antheile am Vermögen ihr nachstehen sollten. Deßhalb unterwarf sie sich wieder von neuem der Qual, bei dem Wählen zwischen beiden ein festes Resultat zu finden.
Warum geb' ich nicht, fragte sie sich oftmals, Cäsar meine Hand, nach welcher er lange strebte? Ist es nicht wünschenswerth, an der Seite eines verständigen, klaren, sicheren Mannes zu leben? Er hat sich einen bedeutenden Wirkungskreis eröffnet, er ist umsichtig, klug, gewandt im äußern Dasein, und für das Familienleben die Gemüthlichkeit bei ihm in Thätigkeit zu erhalten, wäre die Aufgabe seines Weibes.
Cäsar verdient mehr meine Liebe; aber wird Liebe denn verdient! Ist sie nicht vielmehr der Einklang zweier gleichgestimmten Seelen! Und worin steht Otto seinem Bruder nach? Zeugten seine Reden und Gedanken nicht von Besonnenheit genug, obwohl sie aus der Fülle eines tiefen Gefühles hervorgingen? Kann Cäsar so innig lieben, wie Otto; ist jenem die Liebe zu mir ein solches Bedürfniß, wie ihm, den sie aus den Fesseln des Wahnsinns erlöste? Wird er nicht unsäglich elend sein, wenn ich ihn verstoße; ja kann er nicht zurückversinken in das verworrene Reich verrückter Träume? –
Das war der Punkt, wo Emilien die klare Besonnenheit des Urtheiles entschwand; das war ein Saitenklang, der in ihrem Innern magnetisch wiedertönte. Gab sie sich aber dieser Ueberzeugung mit voller Seele hin, daß Otto sie wahrhaft liebe und sie ihn lieben müsse, so überfiel sie doch zu gleicher Zeit der quälende Zweifel über Otto's politische Schwärmerei. War er stets so bewußt und besonnen gewesen, wie er sich ihr gezeigt hatte, so konnte er nie etwas mit Menschen gemein haben, die in tollem Uebermuthe die Heiligkeit der Gesetze mit der Veränderung der Staatsformen verletzen wollten, und von denen das Gerücht ging, als sei von ihnen das Leben einzelner Fürsten und Staatsmänner bedroht.
Wenn auf seine Theilnahme an der Wartburgsfeier die Rede kam, sagte Emilie zu sich selbst, so wich er immer aus. Es war mir oft ängstlich in seiner Nähe und es schien mir, als läge noch in seinem Gemüthe ein düsterer Hintergrund, als hielte ihn eine geheime Macht noch in jenem Bunde gefangen, von dem ihn seine bessere Natur entfernen muß.
Eine Gewißheit hierüber konnte Emiliens Urtheil bestimmen; deßhalb mußte sie sich dieselbe, verschaffen. Otto's Bücher und sonstiges bewegliches Eigenthum waren aus Jena ihm nachgesandt; sie standen in den Zimmern, die er in der letzten Zeit bewohnt hatte, unter Verschluß. Mit dem Beistande des Doktors, der Emilien's Plan billigte, wurden Schränke und Pulte eröffnet und besonders suchte man unter seinen Papieren und Briefen nach einem Dokumente, das ihren Argwohn bestätigen konnte, aber vergebens.
Ganz versteckt, im Winkel eines Kastens, fand sich ein Heft, das die Ueberschrift »mein Tagebuch« führte. Begierig nahm es der Arzt zur Hand; es zerfiel in drei Abtheilungen, von denen die erste »meine Jugend, im Kampfe widerstrebender Gefühle,« die zweite »mein Patriotismus« und die dritte »meine Liebe zu Emilien« betitelt war.
Das sind die Perioden seines Lebens, sagte der Doktor, während Emiliens Herz fast in hörbaren Schlagen klopfte.
Der zweite Abschnitt ward sogleich geprüft: es waren Reden an die deutschen Brüder, abgerissene Gedankenstriche; Spuren von einer Verschwörung wurden nicht entdeckt.
Von der dritten Abtheilung sah man bloß die Ueberschrift. Mit der Liebe zu Emilien begann für Otto ein neues Dasein, und die letzten Ereignisse füllten vielleicht noch zu sehr seine volle Gegenwart, um sie mit klarem Bewußtsein als Vergangenheit aufstellen zu können. In dem ersten Abschnitte befanden sich poetische Versuche in lyrischer Form, auch in Prosa skizzirte Lebensbilder, sämmtlich Ergießungen schwermüthiger, beklommner und mit der Welt zerspaltener Gefühle, wie sie in der Entwickelungsperiode bei begabten Jünglingen nicht selten sind, bevor sie eine einzelne Richtung öffentlicher Thätigkeit in Anspruch nimmt und durch diese regelmäßige Verpflichtung ihres äußern Lebens auch ihr Inneres feste Formen gewinnt.
Der Arzt ließ sich an Emiliens Seite nieder und las ihr die ganze Sammlung vor. Es waren meist Produkte, die der Oeffentlichkeit nicht angehören; nur eines theilen wir mit, in welchem sich das Streben offenbarte, aus der tiefsten Innerlichkeit der schmerzbeklommenen Seele wirkliche, lebendige Gestalten auftauchen zu lassen, ohne doch etwas anderes als ein schwankendes, nebelvolles Abbild der eigenen unglücklichen Stimmung zu gewinnen. Das Gedicht begann mit einem Gespräch zweier Liebenden, als deren Namen Fanny und Otto selbst angegeben waren: eine Ueberschrift fand sich weiter nicht, als »Ballade,« womit seine Gattung bestimmt war.
Fanny.
»Schau'st du wieder nach der Ferne?
Wonach suchst du immerfort?
Dient mein Auge nicht zum Sterne,
Nicht mein Busen dir zum Port?
Otto! ach, du schüttest Wermuth
In den süßen Liebestrank;
Voller Gift ist deine Schwermuth,
Macht auch mich so trüb' und bang.
Sehnst du dich nach heißrer Liebe?
Lieb' ich denn nicht glühend warm?
Deine nimmersatten Triebe,
Füllt sie nicht mein Liebesarm?
Süß wird Liebeslust genennet,
Heitre, stille Seelenruh:
Doch das Feu'r, das in dir brennet,
Schließt mir herb die Lippen zu.
Bittersüß sind deine Küsse,
Bitter! – und doch süß genug;
Bittersüß sind deine Küsse,
Und das ist der Liebe Fluch.
Otto, Otto: diese Thränen
Deuten einen bald'gen Tod;
All drin ungestümes Sehnen
Bleichet selbst der Rose Roth.«
Otto.
»Lägst du todt in meinen Armen,
Wie ein frisch zerknicktes Rohr,
Das beim Sturmwind, ohn' Erbarmen
Fortgeschleudert, sich verlor:
Ja, dann hätt' ich Grund für Thränen,
Hätte Grund für meinen Schmerz;
Aber grundlos ist dieß Sehnen,
Grundlos tief mein traurig Herz.
Süß sind deine rothen Lippen,
Deines Auges Himmelblau;
Süß ist's, von der Rose nippen
Ihren ersten Morgenthau;
Aber deinen Blüthengarten
Ueberschwemmt mein finst'rer Gram,
Deine Blumen geh' zu warten,
Mich laß ziehn, woher ich kam.
Spielzeug wird zum Dolch in Händen,
Die zu spielen nicht verstehn;
Laß mich, laß allein mich enden,
Lebe wohl und laß mich gehn.«
»Nimmer, nimmer sollst du weichen,
Nimmer dir ein Lebewohl:
Gott! was wird dann Tröstung reichen,
Wenn die Liebe trennen soll!«
Stumm, bewußtlos sinkt sie nieder;
Otto drückt sie an sein Herz,
Küßt sie noch und nochmals wieder;
Sprachlos macht auch ihn der Schmerz.
Und er wendet sich zum Strande
Und besteigt den engen Kahn –
Ach! nun stößt er schon vom Lande;
Unumwendbar ist sein Wahn.
Da belebt der Schmerz sie wieder
Und sie irrt am Strand' umher,-
»Otto, Otto, kehre wieder!« –
Otto kehret nimmermehr.
»Lebe wohl, du traute Liebe,
Mich vergiß, der undankbar
Nie vergalt so süße Triebe,
Nur dein Friedenstörer war.«
»Otto, mit dem engen Nachen
Wagst du dich in's wilde Meer?
Weh! die Todesgötter wachen
Und die Nacht sinkt ringsumher!«
»Lebe wohl! Auf Frühlingsauen
Schmücke dich mit Blumenpracht,
Wenn ich kämpfe mit den Grauen
Einer wilden Sturmesnacht.«
»Otto! schau den Strudel dorten!
Otto, wo die Klippen stehn,
Dort, das sind die Todespforten –
Weh! es ist, es ist geschehn!«
Und den Kahn mit Blitzesschnelle
Zog der Strudel tief hinab,
Und dem Fährmann beut die Welle
Nun ein kühles, sich'res Grab.
Armes Mädchen, du wirst weinen!
Ruhig! nein, sie weint nicht mehr:
Beide wird die Fluth vereinen!
Denn auch sie sank tief in's Meer.
*
Emilie blieb mit den beiden Grafen fortwährend in lebhaftem Briefwechsel. Cäsars Schreiben gab stets den vollen Beweis, wie sehr seine ganze Natur, seitdem er Emilien kennen gelernt hatte, einen tieferen Schwung genommen, und wie sehr er bemüht war, ihrer würdig zu sein, da seine Seele von ihrem Werthe durchdrungen war.
»Ich bin ein anderer Mensch geworden, seitdem, ich Sie in der Welt weiß,« schrieb er in einem seiner Briefe. »Bei meinem Bruder haben Sie wie durch einen Zauberschlag seine innere und äußere Krankheit gebannt; aber an mir haben Sie nicht weniger Wunder bewirkt. Otto's Naturell ist an sich gefühlvoller Art und das machte ihn trotz seiner Schwärmereien und seiner launenhaften Willkür zum Liebling meines seeligen Vaters; meinem inneren Wesen war es nöthig, Sie erst als den Gegenstand der Sehnsucht, Sie, theuere Emilie, als das Ziel des Strebens zu finden, um aus der angebornen kalten Nüchternheit, die ich sonst für Klarheit hielt, die Ahndung eines tiefern Bewußtseins hervortauchen zu lassen. Der gefühlvolle Mensch kann sich verwirren und einem Abgrunde entgegenwandeln, aber der nüchterne Verstand an sich, ohne Unterstützung gemüthlicher Regung, kann nicht minder freveln. Ein Beispiel aus meinem frühern Leben könnte dieß bestätigen, wenn es noch Noth thäte, Sie zu überzeugen, daß ich ein Anderer bin, seitdem ich Sie mir zum Preise meines Daseins aufstellte.
Mechanisch bewegt sich hier das äußere Leben mit seinem Tumulte um mich herum und in diesem Mechanismus erhält mich allein die Liebe zu Ihnen wach und lebendig. O wäre die Zukunft erst zur Gegenwart, wo ich an Ihrer Seite sitzen und auf Ihre Reden lauschen darf, wenn Sie von Ihren Träumen erzählen, die ich früher nur bewundert, an die ich aber bald zu glauben anfangen werde. Geben Sie mich jetzt nicht auf, theuere Emilie, wenn Sie mich früher nicht für verloren hielten; vielleicht werd' ich noch ganz Ihrer würdig.« –
Otto sprach in seinen Briefen weniger von seinem Verhältniß zu Emilien; dieß war ja die einzige Grundbedingung seines Daseins. Mehr schien es ihm darum zu thun, die Geliebte zu überzeugen, daß sein früheres Streben mit seinem jetzigen innern Zustande nicht im Widerspruch gestanden hätte.
Emilie vermied ihrer Seits alle bestimmten Erörterungen, sie war wohlwollend gegen beide, und richtete nie an einen Einzelnen ihre Briefe, die jedesmal beiden galten.
In dieser Ungewißheit verging den Brüdern der Winter und der Frühling; plötzlich aber änderte Emilie ihre Maßregel. Ein kurzer Brief in abgerissenen Sätzen, an Cäsar allein gerichtet, untersagte diesem jeden Verkehr mit ihr; sie brach das ganze Verhältniß zu ihm, sprach von der Nothwendigkeit ihrer Wahl und verhieß dem Grafen Otto ihre Hand und ihr Herz. An diesen erging ein längeres Schreiben, in welchem die volle Leidenschaft ihrer Liebe zu ihm sich aussprach. Ein plötzliches Ereigniß, eine neue Entdeckung, mußte ihre Entscheidung beschleunigt haben.
Während der Abwesenheit des Grafen Cäsar waren Briefe aus Neapel, an ihn gerichtet, angekommen. Die beiden ersten folgten in kurzer Zeit schnell auf einander und der Doktor, der dringende Angelegenheiten darin vermuthete, sandte sie sogleich mit der nächsten Post nach Wien an den Grafen, der jedoch bald darauf bemerklich machte, daß es nicht nöthig sei, dieselben ihm ferner nachzuschicken, im Fall noch mehrere aus Neapel mit derselben Handschrift in französischer Sprache an ihn gelangen sollten. Seine Vermuthung traf ein; es erfolgte im Frühjahr ein dritter Brief und bald darauf ein vierter, wovon der Arzt bloß den Bericht nach Wien erstattete, ohne die Briefe selbst abzusenden.
Emilien hatte dieß immer schon im Stillen beschäftigt, allein ihre unruhige Wißbegierde stieg zur ängstlichen Pein, als im Sommer ein Fremder unter dem Namen eines Marchese d'Amalfi aus Neapel sich melden ließ und den Grafen Cäsar zu sprechen wünschte, sich jedoch schweigend entfernte, da er vernahm, daß derselbe erst nach einigen Wochen von seiner Reise zurück erwartet würde. Emilie erfuhr durch ihre Kundschafter, daß der Fremde mit einer jungen Dame sich einige Meilen vom Schlosse in einem Dorfe noch aufhielt; sie gedachte an die Worte des sterbenden Grafen, die er an Cäsar richtete: Mein Sohn, dir schwebt ein Geheimniß auf den Lippen; hast du den stillen Frieden einer Seele getrübt, suche sie zu trösten. In ihrem ahnenden Gemüthe drängten sich quälende Vorstellungen sinnverwirrend durch einander, der Schlummer floh von ihrem Lager und sie litt schmerzlich bei der Ungewißheit über dieß Geheimniß, dem sie durchaus auf die Spur kommen mußte. Der Arzt durfte dießmal nicht Vertrauter sein: in seiner Abwesenheit wußte sie sich die Schlüssel zu Cäsars, Zimmern zu erlisten und somit einen jener zurückgelegten Briefe sich zu verschaffen, der über Cäsars Verhältniß zum Marchese und seiner Tochter vollen Aufschluß gab.
»Dieß ist der vierte Brief, den ich mit zagender Hand an Sie richte,« schrieb Amalfi, »und weder Ihre gehoffte Rückkehr nach Neapel, noch eine Antwort ist erfolgt, um uns von der peinlichen Ungewißheit, in der wir schweben, zu befreien. Sind Sie nicht mehr unter den Lebenden, dann wehe meiner unglückseligen Tochter; wollen Sie uns vergessen und ist alles Mitleid, das Sie für die Arme fühlten, alle Liebe, die Sie für sie empfanden, in Ihrem Herzen erloschen: dann dreimal wehe meinem schmerzlich geliebten Kinde!
Sie wissen, Graf, was Sie Bianca waren; wie der Schwindsüchtige in der Nähe der lebensfrischen Gesundheit zu einem neuen Dasein sich erkräftigt, so sind Sie der Erhalter ihres Lebens gewesen; in Ihrer wohl thuenden Gegenwart begann die kranke Blume neue Blüthen zu treiben, Sie sind verschwunden, die Blüthe verwelkt, die Blume stirbt. Soll ich Ihnen die Geschichte von Bianca's Leben und Liebe wiederum und wiederum erzählen, um Ihr Herz zu rühren und ein Mitgefühl in Ihnen zu erwecken, das die Stimme der Menschlichkeit von selbst hervorrufen müßte!
Bianca's Liebe zu Ihnen ist freilich ein Irrthum, denn sie liebt in Ihnen nicht Sie, sondern ihren alten, verunglückten Geliebten, jenen Griechen Alessandro Benari, dessen Familie sich von Milet vor den Verfolgungen der Türken hieher geflüchtet. Bianca hatte in einem kurzen Zeitraum Mutter, Schwester und Freundin verloren, meine häufigen Reisen ließen sie ganz einsam, und in dieser Einsamkeit ward ihr Bedürfniß nach einem mitfühlenden, liebenden Herzen laut in ihrer weichen Seele.
Benari liebte sie. Er nahte sich ihr schüchtern und von fern; um so stärker zog sie ihn an sich, denn des Mannes Bescheidenheit besiegt am schnellsten ein weibliches Gemüth. Sie liebten sich kindlich und zärtlich; ihre Liebe glich nur einer innigen Freundschaft; der leidenschaftlichen Aeußerung ermangelnd, weil sie keine Störung und Hemmung erfuhr, war sie dennoch tief gewurzelt. Kein Mensch war so hart, das schöne Bündniß zu trennen, wohl aber das Schicksal. Benari ward im Sturm des Meeres ein Raub der Wellen. Bianca stand am Ufer. Mit dem Steigen und Sinken des Nachens schwankten Hoffnung und Furcht in ihrem Innern: das Schiff stürzte jählings in die Tiefe, und Verzweiflung endete den Kampf in Bianca's Seele.
Starr und entseelt blickte sie hinaus in den Wirrwar der Elemente, wie eine Säule von Marmor stand sie dort am Ufer, die Hände nach der Ferne hingestreckt, wo mit dem Schiff ihr Dasein zertrümmerte. Ein Sprung in's Meer war genügend, um dort unten in der Tiefe das Verlorne wiederzufinden; sie wagt ihn, sie stürzt sich vorwärts mit einem Schrei des Entsetzens und liegt ohnmächtig in meinen Armen, die ich vor ihr ausgebreitet. Tief und anhaltend war ihr Todesschlaf.
Endlich erwachte sie, sie schlug die Augen auf zum neuen Dasein, sie blickte sich verwundert um, fragte weinend nach Benari und schalt auf ihn, daß er von der weiten Reise noch nicht zurückgekehrt sei.
O Herr und Heiland! sie war zum Leben wieder erwacht, aber ihr Verstand schien aus den Banden der Ohnmacht nicht mit erlöst und zum neuen Dasein mit übergegangen zu sein. Das Gedächtniß und Bewußtsein des Geschehenen war ihr entrückt und Niemand hatte den Muth, ihr die Wahrheit zu enthüllen.
So lebte sie fort im stillen Wahnsinn, einzig mit dem Gedanken beschäftigt, Alessandro sei in die Heimath gereist, er sei ihr untreu geworden, er wolle nicht zu ihr zurückkehren; ihre Seele zerrann in Zähren der Wehmuth, die Quelle ihrer blühenden Schönheit versiegte. Wie oft drängte es mich, wenn sie trauernd an meiner Seite saß, ihr den Irrthum, in dem sie schwebte, aufzuklären; das Bewußtsein der Wahrheit hätte sie entweder für das wirkliche, vernünftige Dasein wiedergewonnen, oder sie unwiderruflich den Armen des Todes überliefert.
Ich that ihr das Geständniß nicht, ich wagte nicht, Leben und Tod so auf die Spitze zu stellen, und ließ sie in ihrer Wehmuth langsam sich selbst verzehren. So vergingen Jahre, während die Hoffnung, den Geliebten wiederzusehen, die einzige Nahrung, womit ich ihre kranke Seele noch lebendig erhielt, immer schwächer wurde und mit ihrem Leben zu erlöschen drohte.
Ich machte am Hofe zu Neapel Ihre Bekanntschaft, Herr Graf; die Geschäfte führten uns zusammen, ein günstiges Geschick waltete über dem Zufall. Ich nahm mir die Ehre, Sie auf meine Villa zu führen, Ihnen die Pracht meiner Zimmer, meiner blühenden Gärten zu zeigen und daneben mein verwelkendes Mädchen. Wir betraten den Olivengang neben der Terrasse; in der Weinlaube oben auf der Höhe saß Bianca, um das Meer zu überschauen, denn von dorther mußte Benari zurückkehren; sie spielte die Laute; mit Sirenengesang glaubte sie den Fernen zurück zurufen.
Von der innigen Wehmuth ihrer klagenden Töne gerührt, standen Sie stille. Ich weiß noch Ihre Worte, Graf: Welche Schmerzen! sprachen Sie, hier mitten in der üppigen Freude der blühenden Natur diese Melancholie? Ich drückte schweigend Ihre Hand und führte Sie die Terrasse hinauf.
Benari, Benari! schrie Bianca plötzlich mit gellender Stimme; sie warf die Laute von sich, sie flog die Stufen herunter und hing weinend in jauchzender Lust an Ihrem Halse, bis der Schreck der Freude in eine süße Ohnmacht überging. Staunend hielten Sie Bianca in Ihren Armen fest. Ich musterte Ihre Züge, es war Benari's blaues Auge, sein blondes Lockenhaar, seine große Gestalt; die Macht der Zeit hatte in Bianca's Gedächtniß die Züge des Geliebten geschwächt, die kenntlichsten Merkmale fand sie in Ihnen wieder: Sie galten ihr für den geliebten, wiedergefundenen Alessandro.
Sie trugen mein krankes Mädchen in die Laube, Sie stießen ihre Arme, die Ihren Nacken krampfhaft umschlangen, nicht von sich, Sie betrachteten das bleiche Kind mit der vollen Rührung eines innigen Gefühles, als ich Ihnen kurz die Geschichte ihres Lebens und ihrer Liebe erzählte. O möchte diese Täuschung beim Erwachen dauernd sein; der Irrthum gilt so oft im Menschenleben für volle Wahrheit: warum nicht hier, wo höchste Seeligkeit und tiefstes Elend sich auf den einen Punkt zusammendrängt! Das war damals mein Gedanke und Sie schienen ihn zu theilen; aus dem Mitleid erwuchs in Ihrem Gemüthe eine Liebe zu Bianca.
Sie erwachte in Ihren Armen und Sie konnten das freudetrunkene Mädchen, das wirklich ihren Irrthum aus der Ohnmacht in den wachen Zustand mit hinüber genommen, nicht von sich stoßen; ja Sie gaben sich ihren Küssen mit der Leidenschaft der Liebe hin und entzündeten die frischeste Lebenskraft in Bianca's Seele, auf deren Wangen ein leises, hoffnungsvolles Roth den Anbruch eines neuen Lebensmorgens verkündete. Ich ließ euch allein in der duftenden Laube, ich wollte euch die Thronen der Freude nicht zeigen, euch nicht hören lassen das brünstige Dankgebet, das ich meinem Schöpfer brachte.
Sie fuhren fort, Herr Graf, mein Haus täglich zu besuchen, das angeknüpfte Verhältniß zu Bianca spann sich weiter. Sie spielten Ihre Rolle als Benari Anfangs mit bewundernswürdiger Klugheit und Vorsicht, Sie erzählten von Deutschland und das liebende Mädchen glaubte Ihnen alles für Griechenland; die übernommene Rolle ward Ihnen zur Natur, Sie führten sie mit der Wahrheit eines liebenden, gefühlvollen Herzens durch. Ich wußte, daß Ihre Geschäfte als Gesandter beendet waren; ich fürchtete die Nachricht von Ihrer Abreise aus Ihrem Munde zu vernehmen: Sie schwiegen, aber Sie waren plötzlich aus Neapel verschwunden, ohne einen Wink über die Veränderung Ihrer Gesinnung, ohne einen Trost uns zu hinterlassen.
In welchen Zustand meine Tochter verfiel: – lassen Sie mich einen Schleier darüber decken. Benari ist wiederum fort, ohne Abschied! so rief sie in dem Jammer der Verzweiflung Tag und Nacht, bis ihr Schmerz endlich in die alte, still verzehrende Melancholie überging, in welcher sie noch verharrt.
Sie lassen meine Briefe unbeantwortet, Graf Hayna: im Namen des dreieinigen Gottes! stehen Sie mir Rede und reißen Sie mich, den Vater, wenigstens aus der Pein der Ungewißheit. Wären Sie arm, ich wollte Sie mit Schätzen überhäufen; so aber kann ich Ihnen nichts weiter bieten als die Liebe meines dahinwelkenden Mädchens.
O ich fühl' es schmerzlich, daß Sie in Bianca's Armen nicht glücklich bleiben konnten, daß die Täuschung, die Sie unterhielten, Ihnen eine drückende Last sein mußte; aber Ihre Liebe ist in diesem Falle, was sie so selten ist, eine Tugend, die reinste, heiligste Tugend, die Sie ausüben könnten, denn es gilt, ein schwankendes Leben vom Untergang zu retten.
Sie wollen sich nicht schriftlich entscheiden, nun so stehen Sie mir mündlich Rede, ich führe meine Tochter zu Ihnen nach dem Rhein. Deutschland ihr als Griechenland unterzuschieben, wäre zu gewagt; der alte Benari, der Vater des gestorbenen, hat ihr versichert, Alessandro halte sich am Rhein auf; wir reisen diesen Strom hinunter und suchen Ihre Heimath auf, Graf Hayna. Verbergen Sie sich uns nicht, bei allem, was heilig ist, und fesselt Sie vielleicht ein andres Band, so gewähren Sie meiner Tochter nur Ihre Nähe, schenken Sie Bianca nur Ihre brüderliche Neigung; zur Leidenschaft der Liebe ist die Seele des armen Kindes ohnedieß zu matt und entkräftet. In Hoffnung Sie zu finden, Sie zu sehen
Ihr
Amalfi.«
*
Im Schlosse zu Hayna erwartete man die Ankunft der beiden Grafen. Cäsars Geschäfte am Hofe zu Darmstadt verzögerten sie noch um einige Tage und da die Brüder bei ihrer Abreise das Gelübde gethan hatten, zu gleicher Zeit und nur in Gemeinschaft die Heimath wieder zu betreten, so mußte auch Otto die stürmische Entzückung seines Herzens, die ihn bei dem Gedanken, Emilien als die Seinige zu umarmen, überfiel, noch auf einige Zeit zu mäßigen und zu unterdrücken suchen, um das gespannte Verhältniß zwischen ihm und dem verschmähten Bruder nicht in vollen Haß und offene Feindseeligkeiten ausbrechen zu lassen.
Der Arzt war den Grafen nach der Residenz entgegengereist, was besonders auf Emiliens Veranlassung geschehen war, die theils dabei die Absicht hegte, daß der gute Doktor den Vermittler zwischen den Brüdern spielen sollte, theils aber auch während seiner Abwesenheit im Geheimen einen Plan auszuführen gedachte, bei welchem seine Gegenwart im Schlosse störend gewirkt hätte. Sie überlistete ihn von neuem, da die verwegene Eröffnung des Briefes aus Neapel ihm ebenfalls ein Geheimniß geblieben war; auch ihre zunehmende Kränklichkeit und oftmals ohnmächtige Erschöpfung, bei dem gänzlichen Mangel an Schlaf, den die Unruhe ihres vielfach bekümmerten Gemüthes verscheuchte, hatte sie ihm sorgfältig zu verhehlen gesucht.
Der Tag der Ankunft war erschienen; gegen Abend fuhren die Reisewagen vor. Graf Cäsar kam in der Gesellschaft eines Freundes aus der Residenz, der sich bei seiner Durchreise bereden ließ, einige Tage bei ihm zuzubringen. Er wollte ihn sogleich in die Fremdenzimmer führen; allein der Kammerdiener trat ihm mit der Bemerkung entgegen, daß dieselben seit einigen Stunden von zwei Fremden eingenommen wären, deren unverhoffter Besuch Fräulein Emilien zu gelten schien. Den Namen der Fremden wußte der Diener nicht anzugeben und Cäsar sah sich ohnedieß genöthigt, dem Gast sein eignes Zimmer vorläufig anzuweisen, wo er ihn der Ruhe überließ. Er selbst warf sich in eine andere Kleidung und eilte in Otto's und des Doktors Gesellschaft nach dem Versammlungssaale, wohin sie Emilie gemeinschaftlich beschieden.
Hatte bei Cäsar das Gefühl seiner verschmähten Würde schon während der Reise eine üble Stimmung erzeugt, so war auch bei den übrigen die Spannung der Gemüther ängstlich genug, und Emilie konnte in der steifen, förmlichen Bewillkommnung, mit der sie die Ankommenden absichtlich empfing, die peinliche Unruhe ihres Innern, die sich sogar in ihren äußeren Bewegungen verrieth, nicht im geringsten verbergen. Cäsar war der einzige, welcher sich in der kalten, trockenen Unterhaltung, die sich nach den ersten Begrüßungen entspann, mit Gewandtheit und ohne sichtliche Verlegenheit zu benehmen wußte; Emilien aber drängte es, den Plan, zu dem alle Vorkehrungen getroffen waren, in Ausführung zu bringen.
Graf Cäsar, begann Emilie und schien, indem sie seine Hand ergriff, den Ton der Unterhaltung gemüthlicher stimmen zu wollen; ich muß um Verzeihung eines Vergehens nachsuchen, das ich gegen Sie verschuldet, zu welchem mich jedoch die verworrene Lage, in der wir alle uns befanden, lediglich vermochte. Auf meine schwachen Schultern war die Last gewälzt, den verschlungenen Knoten unserer gegenseitigen Verhältnisse zu entwirren: und wenn Alexander den Knäul, den er nicht zu lösen wußte, mit dem Schwerte durchhieb, so muß ich mich auf ihn berufen, wenn sie mich verdammen sollten, daß ich zu einem Verrathe gegen Sie meine Zuflucht nahm. –
Wär' es möglich, fiel Cäsar ein, von der Wendung überrascht, Sie hätten Ihr Unheil noch nicht abgeschlossen, Ihre Entscheidung stünde noch nicht fest? –
O wohl, wohl! erwiderte Emilie, die Hinterlist, die ich übte, führte mich zur festen Wahl, aber ich bin Verrätherin an Ihnen geworden. Ich habe Ihr Geheimniß enthüllt, begann sie nach einer Pause, während sie den geöffneten Brief aus ihrem Busentuch hervorzog und dem Grafen überreichte. Sind Sie zu lieben fähig, Graf Cäsar, so verdient Bianca Ihre Liebe. –
Eine Todesblässe überzog des Grafen Antlitz, als er den Brief durchflog. Er wechselte die Farbe, eine zornige Röthe überraschte ihn, er wollte aufbrausen; aber Emilie hielt seine Hand gefangen, ihr scharfer, durchdringender Blick, den sie auf ihm ruhen ließ, vernichtete die Ueberlegenheit, die Cäsar als Beleidigter in sich fühlte: er stand ohnmächtig, verworren und vernichtet vor ihr und verbarg in schmerzlicher Beschämung mit bei den Händen sein Antlitz.
Staunend wechselten Otto und der Arzt ihre Blicke. Emilie trat zur Seite und öffnete leise die Thür, die aus dem Saal in das Fremdenzimmer führte. Da drang eine seltsame Musik aus der Oeffnung. Ein Präludium auf der Guitarre ward hörbar, bald in weichen, schmelzenden Accorden, bald ungestüm und wild, als sollten die Saiten unter der Gewalt der Leidenschaft erliegen und zerspringen. Endlich milderte sich der Sturm: eine Frauenstimme fiel ein, leise wimmernd, fast in Seufzern verhallend, und Bianca sang in ihrer Muttersprache folgendes Lied:
Die Welt ist weit; doch Liebe schmilzt zusammen.
Was Himmel, Meer und Erde trennt.
Nein, es erlöschen nicht der Kerze Flammen,
Die ewig zehrt, doch ewig brennt.
Und kann ihr Strahl nicht mehr der Sonne gleichen:
Er wärmt doch noch die matte Brust;
Schau' an den Mond, den stillen, sehnsuchtsbleichen,
Das Bild erloschner Liebeslust.
Er hatte einst der Sonne Gluthenstrahlen.
O schaut sein weinend Angesicht;
Ja, er verzehrt sich still in Liebesqualen:
Doch sterben – sterben kann er nicht.
Dir folg' ich; werd' ich endlich dich erreichen?
Dich such' ich, bist du noch so fern.
Und find' ich dich, dann möcht' ich still erbleichen,
In deinen Armen stürb' ich gern.
An deinem Aug' will ich mein Aug' entzünden:
So zehrt der Mond am Sonnenlicht;
Ach daß nur – soll ich ewig dann erblinden,
In deinem Aug' mein Auge bricht.
Der Gesang war zu Ende und die Melodie hallte noch in leisen Accorden nach, wie der Athemzug der hinüber in's Reich des Todes verschwimmenden Seele, bis plötzlich die alte Disharmonie im härtesten Staccato wieder begann und dann das wilde Toben der krampfhaften Mißtöne den sanften Eindruck des Gesanges verscheuchte.
Halt ein, halt ein! rief Otto im Uebermaaß seiner Gefühle, komm hervor, du Unglückseelige, und zeige dich uns.
Laßt mich von hinnen, es ist Bianca! schrie Cäsar, vom Schmerz überwältigt, und taumelte im Saale umher, ohne die Thür, die er zur Flucht zu suchen schien, in der Betäubung seiner Sinne zu finden.
Bianca stürzte aus dem Zimmer hervor; Amalfi folgte ihr, die Hände vor der Brust gefaltet. Starr blieb sie auf der Schwelle stehen, ihr Haar fiel aufgelöst auf die Schulter, ihr dunkles, erloschnes Auge blitzte auf, sie rieb mit den Fingern die Stirn, als wollte sie das schlummernde Gedächtniß wecken.
Wer rief, wer kennt mich hier? sagte sie flüsternd, indem sie von dem einen zu dem andern schwankte. Du nicht, du nicht! fuhr sie fort, zu Otto und dem Arzt gewendet: Cäsar stand abseits mit verhülltem Angesicht. Wer ist die Bildsäule, der steinerne Mann dort? – Dein Benari, dein Alessandro! riefen Emilie und Amalfi einstimmig: mit einem Schrei des Entzückens stürzte Bianca auf Cäsar und hing zitternd an ihm, die Arme um seinen Hals geschlungen.
O weh, Benari ist eine Säule von Stein, er rührt sich nicht! Haltet mich, ich sinke. –
Cäsar hielt sie mit seinen Armen aufrecht. Er trug sie auf das Ruhebett und lehnte sie sanft gegen die Kissen; aber ein plötzliches Leben durchzuckte ihre Glieder:
Ich halte dich fest, mein Geliebter, du fliehst nicht wieder! sagte sie sanft und schmeichelnd, indem sie ihn nöthigte neben ihr zu sitzen, und ihr Haupt an seinen Busen schmiegte. –
O Wahnsinn, laß ab, du versuchtest uns alle! schrie Cäsar, tieferschüttert, indem er sich vergebens aus ihren Armen loszureißen bemühte; was klammert sich das Todte noch am Lebendigen fest? Sondert euch, Tod und Leben, und haltet nicht diese wahnsinnige Gemeinschaft. Laß ab von diesem Irrwahn, armes Mädchen, ich verfluche diese Täuschung, die ich unterhielt: ich bin nicht Benari, bin es nie gewesen, Benari ist todt, schon lange ein Raub der Wellen, in denen er unterging. –
Mein Vater, rief Bianca weinend, hörtest Du wohl? Benari sagt, er wäre todt. Nun ich weiß, daß er todt ist, kann ich auch weinen. Benari starb in den Fluthen des Meeres? nun so komm, du Thränenstrom, und ertränke meine Seele. Zieh' mich hinunter, Benari, in Dein kühles Todtenbett, umarme mich, Benari, küsse mich, Du Trauter. –
Ich bin nicht Benari, Benari ist todt, rief Cäsar, von Todesangst gefoltert; stirb oder lebe, Bianca, aber vermische nicht Tod und Leben so schaudervoll, damit die Verwesung nicht auch den Lebenden ergreift und vergiftet. Ich bin nicht Benari, Dein Geliebter ist todt. –
Nun wohl, sagte Bianca mit ächzender Stimme, Du bist nicht mehr Benari, aber Du warst Benari und Benari ist nun todt. Noch einmal denn, umarme mich; so stirbt es sich süß. –
So stirb denn mit diesem Kusse, sagte Cäsar weinend und Bianca verhauchte an seinen Lippen ihre Seele.
Sie ist nicht mehr, sprach Cäsar, die dumpfe Stille unterbrechend. Reicht mir Eure Hand, Marchese, und nehmt Euer todtes Mädchen hin. Besser todt, als Tod und Leben so vermischt in elendem Wahnsinn. Einmal mußte diese Täuschung tödtlich enden, und da Ihr selber zu mir kamt, so habt Ihr es beschleunigt. Es ergehe über mich das strengste Gericht; aber ich konnte ihr verwelkendes Leben nicht mehr an mein gesundes Dasein fesseln.
Amalfi's Schmerz gewann jetzt Sprache; aber dennoch hatte er nicht den Muth, den Grafen mit Vorwürfen zu belästigen.
Emilie verbarg ihr weinendes Antlitz an Otto's Brust, der sie schweigend umarmt hielt.
Cäsar betrachtete beide eine Zeit lang mit bitterem Ernste; ein tiefer Seufzer stahl sich aus seinem Busen, mit dem er die Liebe zu Emilien von sich stieß. Sie blickte ihn an, sie wollte ihm die Hand zur Versöhnung reichen; aber er hatte sich schon fortgewandt und verließ schweigend das Zimmer.
*
Cäsars Neigung, die Heimath so schnell als möglich und auf längere Zeit zu verlassen, stand einigermaßen mit dem Besuche des Freundes im Widerspruch. Er mußte sich deßhalb bekämpfen, noch einige Tage zu verweilen, um gegen diesen die Pflichten des freundschaftlichen Wirthes zu erfüllen, vermied es aber stets, in den Stunden, wo sich die Glieder der Familie, sei es zur Tafel oder zu geselligen Unterhaltungen, zu versammeln pflegten, im Schlosse gegenwärtig zu sein, in dem er jedesmal einen Vorwand zu finden wußte, um den Freund die Merkwürdigkeiten der Umgegend in Augenschein nehmen zu lassen. Vergeblich war des guten Doktors Bemühen, ein besseres Verhältniß zwischen ihm und Emilien wieder hervorzurufen: Cäsar verließ Hayna ohne Abschied zu nehmen und mit dem Vorsatze, die Residenz und seinen Geschäftskreis für die nunmehrige Heimath anzusehen; Beleidigung konnte er verschmerzen, aber er fühlte sich verstoßen, und Zurücksetzung ertrug gar schwer seine stolze, sich selbst genügende Eitelkeit.
Somit war der unglückliche Amalfi Otto's und Emiliens trostreicher Gemeinschaft allein überlassen. Die Begräbnißfeier war vollzogen; Bianca ruhte zu Friedheim an einem stillen Kirchhofsplätzchen, das eine Wehmuthskiefer beschattete. Nach einigen Tagen verließ der Marchese die Gegend, herzlich dankend für die innige Theilnahme, die man seinem Schicksale erwiesen, und kehrte nach Italien zurück. Sein Brief aus Neapel, worin er dem Grafen Otto seine glückliche Ankunft meldete, traf weder diesen noch Emilien unter den Lebenden mehr an, an deren Liebeshimmel sich ein düsteres Gewölk zusammenzog.
Emiliens Kränklichkeit begann immer bedenklicher zu werden. Ein unruhiger Nachtschlaf versagte ihrem Körper die wohlthuende Erquickung, ängstliche Träume verwandelten ihren Schlummer in eine krampfhafte Lähmung und während sie am Tage sich geistig und körperlich ermattet fühlte, ließ ihr stets bekümmertes Gemüth auch im Wachsein nicht ab, sich mit quälenden Vorstellungen zu martern. Wär' es ihr vergönnt gewesen, die Familienverhältnisse, ohne gegen des alten Grafen Testament zu verstoßen, in bessere Harmonie zu bringen, sie hätte ein neues hoffnungsreiches Dasein begonnen; so aber schien ihre Lebenskraft mit dem Plane gebrochen und gescheitert zu sein, auf den die ganze Spannung ihres Geistes gerichtet war. Das Testament hatte mit der Entscheidung eine gefährliche Rolle ihr auferlegt, und nach der nunmehr abgeschlossenen Bestimmung war der ältere, rechtmäßigere Stamm und Haupterbe der Familie Hayna, der in seinem Lebenskreise, in seiner Stellung am Hofe, des größten Antheils am Vermögen bedurfte, verstoßen und zurückgesetzt.
Im drückenden Gefühl der ungenügenden Lösung der Aufgabe, die ihr gestellt war, schrieb sie einen schmerzlichen Brief an Cäsar. Sie bat ihn dringend um Verzeihung ihres Vergehens und wollte ihn mit der Hoffnung trösten, daß ja nach ihrem Tode, der bald erfolgen müßte, ein größeres Erbtheil ihm zufallen würde.
So war denn dieß ihr neuer Plan, der sie Tag und Nacht beschäftigte: durch ihren Tod hoffte sie eine bessere Ordnung der Dinge in der Hayna'schen Familie und eine Harmonie zwischen den Brüdern zu stiften.
Cäsars Antwort war kurz und kalt. Er sei äußerlich, hieß es, befriedigt, innerlich desto tiefer verwundet; dennoch wolle er seinen Schmerz bekämpfen und unterdrücken, wenn Emilie in Otto's Armen sich glücklich fühle.
Otto's Liebe ging, bei Emiliens zunehmender Kränklichkeit, in die zärtlichste Sorgfalt über. Er lebte ganz ihren Wünschen, er ging und kam, wie es die kränkliche Laune der Geliebten erheischte, er suchte sie zu erheitern, er las ihr vor, er sang und spielte den Flügel, ganz wie es die Stimmung ihres Gemüthes zuließ, und Emilie fühlte nach und nach in seiner treuen Liebe, in seiner geduldigen Sorgsamkeit, ein stilles, freundliches Behagen und es gab glückliche Augenblicke genug, wo sie in seiner Gegenwart von einer zukünftigen häuslichen Seeligkeit träumte, die sie an Otto's Seite, als seine Gattin genießen würde.
Es war an einem schönen Herbsttage, als sie, an Otto's Arm sich schmiegend, mit ihm die Gänge des Parkes durchwandelte; sie, fühlte sich heut' stärker als sonst, deßhalb hatte sie seinem Wunsche zu einem Spatziergange nachgegeben. In ihrer glücklichen Stimmung störte sie nicht das welkende Laub, das unter ihren Füßen rauschte, sie ließen sich nicht an den tödtlichen Winter gemahnen, der den Schmuck der blühenden Natur zu verzehren begann. Man verließ den Garten und besuchte die Gassen des freundlichen Dorfes.
Mein künftiges Leben soll nicht thatenlos verstreichen, sagte Otto, in deiner Gemeinschaft, Emilie, will ich diese Menschen hier beglücken, ihre Lasten erleichtern und ihrem ganzen Dasein nach und nach einen edlern Gehalt, eine gefälligere Form geben. In jenen armseligen Hütten dort hinter dem Berge leben noch einige, welche dem Grafen von Hayna Frohndienste leisten; wir heben ihre Leibeigenschaft auf und wollen uns an dem Genusse ergötzen, aus innerlich und äußerlich beschränkten Knechten in kurzer Zeit selbstthätige, zufriedene und des Zweckes ihres Daseins sich bewußte, freie Menschen werden zu sehen. Wir unterstützen die Betriebsamkeit, wir legen Schulen an und befördern die Tugenden des deutschen Bauers, seine Arbeitsamkeit, seine treue Biederkeit, seine starkmüthige Frömmigkeit.
Die Bäuerinnen traten in die Hausthüren und freuten sich, ehrerbietig grüßend, des lang entbehrten Anblicks der theueren Herrin. Emilie dankte freundlich und rief aus dem Haufen der Kinder ihre zahlreichen Pathen heraus, unter die sie Geschenke vertheilte.
Während sie mit den Kleinen beschäftigt war, näherte sich dem Grafen ein Fremder, der, sich bald zurückziehend, bald dreuster hervortretend, ungewiß schien, ob er ihn anreden solle. Endlich stand er dicht hinter ihm und ergriff vertraulich seinen Arm, Otto wandte sich um: Ludwig, du bist's? sagte er verwundert, und erkannte in dem Fremden im altdeutschen Gewande den jenaischen Bundesbruder, mit dem er zwar nie in engerer Freundschaft gestanden, der aber die seinige stets eifrig gesucht und ihm an jenem Abend die Geschichte seines Lebens vertraut hatte.
Es kostete Zeit, Walter, eh' ich dich wiedererkannte, sagte Ludwig, Otto's Gestalt und Kleidung musternd, an welcher er den schwarzen Rock, den jener längst abgelegt, vermißte. Du bist Herr und König hier in deinem Gebiete, die Züge deines Gesichtes sind nicht mehr dieselben, deine Kleidung hat sich verändert, ich suchte noch das alte Wams. –
Suche lieber die alte Gesinnung und du wirst sie finden, sagte Otto mit nachdrücklicher Kürze. –
Auch die Jungfrau an deiner Seite führte mich irre, begann Ludwig wieder. –
Diese Dame ist meine Braut, erwiderte der Graf lächelnd und turbirte mit diesem Fremdworte den Deutschthümler nicht wenig. –
Walter, Walter! sagte Ludwig mit bitterem Nachdruck, erinnerst du dich nicht mehr jenes Abends auf der Felsenbank am Ufer der Saale, wo ich dir die Geschichte meiner Liebe erzählte, die ich von mir stieß, um dem Vaterlande allein meine Thatkraft zu weihen? »Die Liebe zum Weibe macht weichlich und weibisch, die Liebe unter Männern ist allein die starke, leuchtende Flamme, die, am Heerde des Vaterlandes entzündet, nie schwächer wird und nie erlischt.« Wer sprach damals diese Worte und wer tröstete mich damals in meiner schwankenden Gesinnung? Haben sich die Verhältnisse so verändert, haben wir die Rollen so vertauscht? –
Das war der hohle Stoicismus unserer damaligen Stimmung, sagte Otto, aus Unmuth über Ludwigs Zudringlichkeit erröthend; ich verwerfe diesen Rigorismus, zu dem kein wahrhaft deutsches Gemüth sich zu bekennen vermag, es sei denn in der hohlen Innerlichkeit der ersten Jugendbegeisterung, bis sie sich füllt mit irgend einem Lebensstoffe, welcher der Wirklichkeit angehört. Ich erachte für die höchste, für die glücklichste Bestimmung des Menschen, in dem Kreiße der Familie sein Dasein zu begränzen, wo es der Träume nicht bedarf, um wahrhaft im Kleinen zu wirken und durchzuführen, was uns im großen Allgemeinen versagt ist. –
Und was wird aus dem deutschen Gesammtwesen, rief Ludwig erzürnt, wenn wir diesen letzten Schlupfwinkel aufsuchen? –
Alles, mein Freund, was aus ihm werden kann. Jeder im Kleinen wahrhaft deutsch, das große Ganze gestaltet sich dann von selber.–
Walter! sagte Ludwig, so schwächlich, so kleinmüthig in der großen Zeit, in der du lebst, bei der bedeutungsvollen Krisis, in welcher die Welt schwebt? Betrachte Europa's Zustand und du wirst erkennen, wie alles, aufgeregt und in bewegter Spannung, nur des Augenblickes harrt, wo ein einziger Stoß, wie ein Blitz, die gährende Masse entzündet. Blicke nach Frankreich! die Bourbonen haben durch den Umsturz der Welt, den Buonaparte freventlich zu seinem Nutzen verkehrte, nichts Neues gelernt und vom Alten nichts vergessen. In Spanien Mißmuth, Aufruhr und Beschwörung. In England stürmische Bewegung im Volk, um zeitgemäße Fortbildung der Staatsformen hervorzurufen. In Italien geheimes Treiben der Carbonari, um die tief gefühlte Sehnsucht nach Einheit des zersplitterten Vaterlandes zur wirklichen Erscheinung zu bringen. In Deutschland –
Nun, in Deutschland, unterbrach ihn Otto stürmisch, in Deutschland ruhige, geschichtliche Entwickelung einer besseren Zeit, in der Wissenschaft, in der Familie, im ganzen geselligen Leben und nicht minder in den Formen des Staates. Haben nicht Baiern, Würtemberg, Baden, Nassau und Weimar, an der Spitze der Sachsen und unter allen zuerst, den Anfang gemacht, dem Volke eine Verfassung zu geben, wie sie die Starkmüthigen hofften und die Schwächeren nicht einmal träumten? –
So fängt man euch! sagte Ludwig schmerzlich; das Kleine giebt man euch preis, um das Große für sich zu behalten, Schwarz, schwarz ist der Abgrund, der sich unter unseren Füßen öffnet und wir merken den Sturz nicht, weil wir allmählig sinken. O Walter! muß ichs auch an dir erfahren, daß die edelste, die heiligste Begeisterung sich schwächen und erlöschen kann, weil sie nur wortreich ist und thatenarm bleibt? Wohlan denn, wiederum Beweis genug, daß es einer That bedürfe, die euch Schwankende, ermuntere und vereinige. Sei die That auch klein, groß und bedeutend ist sie, weil sie der Anfang größerer Thaten sein wird. Staunen werdet ihr, aber es verbleibe nicht beim Staunen; sammelt euch und erwachet aus dem trägen Schlummer. Lebe wohl, mein Bruder, und gedenke meiner. Die Freiheit will es! Freiheit ist der Athem Gottes in der Welt, also will es Gott! –
Was hast du vor, was beginnst du? rief Otto dem Scheidenden nach und hielt ihn am Arme. –
Nichts, sagte Ludwig, sich besinnend, nichts was unsere Sache verunziert. –
Nun wohl, rief Otto, Tugend ist unsere Zierde, was gegen die Grundsätze derselben streitet, sei verflucht. –
Ludwig kehrte sich langsam um: Willst du auch die Thaten Alexanders, Cäsar's, Friedrichs, nach der Schneiderelle der Moral messen? Das Kleine unterliegt dem Maße, das Große, das Weltgeschichtliche, einem höheren Richterspruche. –
Unseeliger, sagte Otto, dein Blut ist erhitzt, dein Auge starrt: wo eilst du hin? –
Nach Mannheim, antwortete Ludwig und wies gleichgültig nach Süden. –
Willst du nicht bei mir bleiben? harre noch einige Tage. –
Die Zeit drängt! sprach jener und wandelte langsam weiter.
Emilie hatte in kleiner Entfernung das Gespräch der Freunde theilweis vernommen. Scheu und verlegen nahte sich Otto und bot ihr den Arm, um nach dem Schlosse zurückzukehren.
Wer war der Fremde? fragte sie mit zagender Stimme.
Ein unbedeutender Mensch, sagte Otto, Ludwig Sand. –
Emilie wagte nicht, weiter zu forschen; sie warf nur von Zeit zu Zeit einen unsicheren Blick auf den Grafen, der still und verschlossen die Augen zu Boden schlug. Schweigend langten sie im Schlosse an; jeder suchte sein Zimmer und die Einsamkeit. Emilie fühlte sich unwohl, sie war in der That krank und konnte am andern Morgen, außer dem Arzte, Niemand vor sich lassen.
Einige Tage darauf war die verbrecherische That geschehen: Kotzebue war von Sand in Mannheim ermordet. Unter der Maske eines Landsmannes hatte er sich den Zutritt verschafft, ihm einen Brief aus der Heimath überreicht und während des Lesens ihm den tödtlichen Dolchstich versetzt. Auf der Straße wieder angelangt, fiel der Mörder auf seine Knie, pries in verrückter Schwärmerei mit lautem Dankgebete Gottes Wunderkraft und stieß sich selber, obwohl mit schwankender Hand, das blutige Messer in die Brust. Er lag im Gefängniß an seinen Wunden schwer darnieder. Wie der Blitz die Lüfte, so durchlief die Nachricht von dem tragischen Ende jenes untragischen Dichters und schlechten Politikers Deutschland von Ort zu Ort. Der Bürger erbebte, daß mitten im Schooße des Friedens Blut zu fließen begann, die Staatsmänner zitterten, die Herrscher fürchteten die gesammte deutsche Jugend unter den Waffen und im ersten Schrecken war der Argwohn verzeihlich, diese Mordthat als das Resultat reiflich erwogener Pläne einer, ganz Deutschland umschlingenden Verschwörung zu betrachten.
Otto hatte zu Emilien wieder Zutritt erhalten. Dem Arzte, der die Ursachen ihrer Gemüthsunruhe nicht kannte, blieb ihre Krankheit ein Räthsel. Einige Tage waren verflossen, während welcher sie in größter Erschöpfung das Bett hüten mußte; jetzt war sie im Stande, in ihrem Zimmer auf und ab zu gehen. Ueber die Begebenheit im Dorfe schwieg sie durchaus gegen Otto, sie zwang sich, ihre schmerzlichen Ahndungen, die den eigentlichen Grund zu ihrer Kränklichkeit gaben, zu unterdrücken und suchte jenen in dem Glauben zu erhalten, als hätte sie von seiner Unterredung mit dem Freunde nichts vernommen. Ihre Ermattung äußerte sich am Tage in einem leisen Schlummer, der sie mitunter sogar in Otto's Gegenwart überfiel.
Es war an einem trüben Nachmittage; der bedeckte Himmel verbreitete eine frühe Dämmerung. Emilie saß in dem einen Winkel des Ruhebettes und schien halb zu schlummern, halb zu träumen; es war der Zustand ihrer erschöpften Kraft. Otto stand am Fenster und vertiefte sich in das Spiel seiner Gedanken, die ihn seit Ludwigs Erscheinen seltsam beängstigten. Die Thür öffnete sich und der Doktor trat mit dem leisen Schritte in's Zimmer, den Jedermann sich angewöhnt hatte, wenn er zu Emilien ging, weil es immer zu fürchten stand, man störe sie in dem wohlthätigen Schlafe, der ihr Nachts versagt blieb.
Otto schlich dem Doktor entgegen: Sie schläft, sagte er, und beide betrachteten aus der Ferne mit bekümmertem Herzen die Schlummernde. –
Hörten Sie schon von der Ermordung des Herrn von Kotzebue? flüsterte der Arzt nach einer Pause dem Grafen ins Ohr.–
Kotzebue's? war die Gegenfrage, wo? –
In Mannheim, war die Antwort, ein Mitglied des deutschen Tugendbundes in Jena hat die That verübt. Ludwig Sand ist der Name des Mörders. –
Halten Sie ein, tödten Sie Emilien nicht! stammelte Otto und eine Leichenblässe überzog sein Antlitz. Woher die Nachricht, wo ist die Zeitung? vermochte er noch zu lallen.
Unten im Zimmer des Bedienten, erwiderte der Arzt, und Otto wankte kraftlos zur Thür hinaus.
Der Doktor blieb bei Emilien zurück. Sie lag noch in derselben Stellung, in die Kissen zurückgelehnt; ihr Auge war geöffnet und doch schien sie zu schlummern.
So ist es dennoch möglich, Ludwig, du hast die blutige That verübt? sagte sie plötzlich wie im Traum, mit eintöniger Stimme und ohne sich zu regen; hast du mich so täuschen können, o Verräther? nie hält' ich dich umarmen sollen! –
Um Gottes willen! rief der Arzt, ihren Arm ergreifend, kennen Sie diesen Ludwig Sand? was haben Sie mit diesem Menschen gemein? –
Emilie erwachte aus ihrem dämmernden Schlummer; sie hatte wirklich geschlafen und geträumt, aber dennoch die Unterredung Otto's mit dem Doktor vernommen und sie befand sich in einem seltsamen Wirrwar zwischen Traum und Wirklichkeit. Sie war von ihrem Sitze aufgesprungen:
Wer sprach hier? rief sie und starrte den Doktor an. Was reden Sie von Ludwig Sand? Ob ich ihn kenne! Wohl! vor einigen Tagen war er hier; er ist Otto's Freund und Vertrauter. Der schwärzeste Verrath ist entdeckt. Otto, Otto! im Einverständniß mit Mördern! Wo ist er? Doktor, gehen Sie, holen Sie den Grafen, ich will ihn fragen, ich will ihn martern und an seiner Seele reißen, bis er das Geständniß von sich giebt. O blutige Unthat, Otto und Ludwig! –
Sie tobte im Zimmer umher, rang die Hände in schmerzlicher Verzweiflung und weinte laut, bis sie dem Arzte matt und ohnmächtig in die Arme fiel. Der erschrockene Mann trug sie auf das Sopha, rief die weibliche Dienerschaft herbei und entfernte sich eiligst, um den Grafen aufzusuchen, der ihm das Räthsel der Begebenheit lösen sollte. Im Bedientenzimmer war Niemand, aber das Zeitungsblatt fehlte; also war Otto hier gewesen. Nirgends war er jedoch zu erblicken. Endlich fand ihn der Doktor, nach vielem vergeblichen Suchen und Rufen, in einer Seitenallee des Gartens; gegen einen Baum gelehnt, starrte er unbeweglich vor sich hin, das unheilvolle Blatt mit den Händen zerdrückend.
Um aller Heiligen willen! rief der Arzt ihm entgegen, so ist es denn wahr –
Daß die That verübt ist, unterbrach ihn Otto, wird wohl keine Lüge sein. –
Daß Sie ihn kennen, den Thäter? fuhr jener fort.
Ich werde nicht der Einzige sein, der ihn kannte, eh' er ein Mörder war, antwortete der Graf mit kalter Gleichgültigkeit. –
Daß er hier war, bei Ihnen? fragte jener weiter mit steigender Angst. –
Auch das ist wahr, aber wenn Sie auf Weiteres daraus schließen wollen, so wird das falsch sein, guter Freund. Woher wissen Sie das so plötzlich? –
O Himmel! sagte der Doktor, Fräulein Emilie, die wir schlafend glaubten, hat alles aus unserm Munde vernommen, sie hat es mir vertraut. Eilen Sie zu ihr, Graf, Emilie erwartet Sie schmerzlich.
Die beiden Männer kehrten nach dem Zimmer zurück. Emilie befand sich in dem Zustande der tiefsten Verzweiflung. Der Gedanke, Otto habe an dem verbrecherischen Plane Sand's im Geheimen Theil genommen, hatte ihr Bewußtsein zerrüttet; ja in dem traurigen Irrwahn hielt sie Ludwig und Otto für ein' und dieselbe Person. Wirklichkeit und Traum, Wahrheit und Wahnsinn lagen in ihrem Geiste regellos durch einander. Die Dienerinnen standen vor dem Ruhebett an ihrer Seite, stets bereit, sie fest zu halten, wenn sie ihren Sitz verlassen wollte. Vom Aufspringen abgehalten, stieß sie, beim Eintritt des Grafen, einen lauten Schrei aus und taumelte kraftlos zurück.
Ludwig, sagte sie nach einer Pause, kannst Du noch frei in mein Auge schauen, Verräther? Klebt nicht Blut an Deinen Händen? Kannst Du das rothe Mahl von Deiner Stirne wischen? Weh, Ludwig, der Fluch des Vaters wird Dir folgen, sein Geist Dir zürnend erscheinen, weil Du seinen Schlummer störtest. –
Heiland der Welt! rief Otto, ich bin nicht Ludwig, ich bin ja Otto, Dein treuer Geliebter. –
Sollt' ich Dich nicht kennen? sagte Emilie lächelnd, Ludwig Otto, der Du mir einst so theuer warst! –
Der Graf wandte sich seitwärts, er verhüllte sein Antlitz und schlug verzweifelnd Stirn und Brust. Sein zweiter Taufname war Ludwig: das mußte für die wahnsinnige Verwechslung eine scheinbare Bestätigung sein. –
Komm zu mir, mein Geliebter, laß mich in Frieden von hinnen, begann Emilie und streckte nach ihm die Arme aus.
Otto folgte willenlos; er kniete vor ihr nieder, er verbarg sein Haupt in ihrem Schooß und weinte. Sie wollte ihn umarmen,ihn noch einmal an ihren Busen drücken: eine plötzliche Erstarrung hemmte ihre Bewegung, ihr Auge war erloschen, ihre Seele nicht mehr in der körperlichen Hülle gefangen.
Eine Todtenstille herrschte im Zimmer; auch die Lebenden standen unbeweglich, wie starre Bilder, über die Verwegenheit des Todes staunend, der ihnen das Theuerste, ohne daß sie es zu halten vermochten, aus den Händen entriß.
Schlummre ruhig, seeliger Geist, sagte der Doktor mit unterdrücktem Schmerze, Du hast die Friedensstätte gefunden, die Du hier vergeblich suchtest.
Er umarmte den Grafen, er fragte nach seinem Befinden, er ermahnte ihn, den Schmerz männlich zu tragen. Otto erwiderte weder die Umarmung, noch auf die gut gemeinte Rede; seine Thränen, seine Worte, sein Gefühl, alles schien in ihm erstorben zu sein. Man brachte Licht. Er verließ den Ort des Todes, er konnte den Anblick Emiliens nicht ertragen und begab sich schweigend, mit langsamem Tritte auf sein Zimmer. Hier saß er still im Dunkeln, nichts fühlend, als das tödtende Bewußtsein des zerfallenen, verödeten Daseins, zu dem er nun verdammet war.
Der Doktor gab noch die nöthigen Verordnungen, er schickte die wehklagenden Dienerinnen fort und ließ ein altes Mütterchen als Wache bei der Verstorbenen zurück. Gegen Mitternacht schlich er nach Otto's Wohnung; er horchte an der Thür, er rief dem Grafen zu: sein Ruf blieb ohne Erwiderung; er hoffte, Otto sei endlich schlafen gegangen und that desgleichen.
Noch eh' der Morgen graute, erhob sich Otto aus seiner Ruhe, in die er versunken war. Er weckte den Reitknecht und hieß ihn, sein Pferd satteln, steckte einige Papiere zu sich und bestieg dasselbe Roß, das ihn nach der Heimath getragen hatte. Der Diener wollte folgen, der Graf winkte unwillig zurück und ritt einsam durch das Dorf der Landstraße zu.
Gegen Morgen eilte der Arzt nach Otto's Zimmer; es stand offen, das Bett unberührt. Der Reitknecht endlich gab Auskunft. Man warf sich zu Pferde, man eilte der Richtung nach, die jener bezeichnete; da brachten die Bauern auf einer Bahre Otto's Leiche. Er hatte in der Dunkelheit der Nacht den Weg verfehlt, war vielfach umhergeirrt und endlich in den tiefen Sumpf gerathen, der sich zwischen dem Dorfe und der Landstraße hinzog. Das Pferd sank, der Reiter nach; er spornte es immer tiefer in den Moorgrund, der sie umschlang, und Roß und Reiter fand man am Morgen zwischen Schilf und Wasser, kalt und erstarrt. In den Kleidern des Grafen fand man einen Wechsel auf tausend Thaler, der seinen Entschluß zu einer Reise verrieth.
Im Schlosse lief alles stürmisch durch einander; nur der mäßige Doktor behauptete die nöthige Ordnung. Am Abend desselben Tages fuhr ein Wagen vor; Graf Cäsar stieg aus. Mit bekümmertem Herzen empfing ihn der Arzt; er führte ihn schweigend in den Saal, wo die Todten, mit Blumen geschmückt, in den reich verzierten Särgen nebeneinander schlummerten.
In Darmstadt war die Nachricht von Kotzebue's Ermordung um einen Tag früher eingetroffen. Unter den Oertern, die Sand auf seiner Reise von Jena nach Mannheim berührt haben sollte, stand in den Zeitungen auch Schloß Hayna bezeichnet und Cäsar eilte, in dem drängenden Argwohn von Otto's geheimer Theilnahme an der geschehenen Unthat, sofort nach der Heimath. Er fand den Bruder todt neben Emiliens Leiche; aber den Entschlafenen traf keine Schuld, der Argwohn gegen ihn blieb unbegründet, das in Mannheim vollzogene Verbrechen war die vereinzelte, von Niemand unterstützte That eines verrückten Schwärmers und die Bundesbehörde, welche die Fürsten zu Mainz beriefen, vermochte aus ihren Nachforschungen kein anderes Resultat zu gewinnen.
Berlin, gedruckt bei A. Petsch.
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