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Starke Empfindungen, namentlich fröhliche, setzen sich bei mir in Musik um. Wenn der Schullehrer nach dem Abendgebet unverhofft zu uns sagte: »Kinder, morgen ist keine Schule« – dann hörte ich eine Melodie, die ich später als »Wolln wir noch einmal« erkannt habe. Und wenn ich zu Hause von unserer Spielstube aus meinen in Dithmarschen wohnenden Hans-Ohm den Fußsteig durch den Apfelgarten daher kommen sah, den Rock lose über die Schultern geschlagen, den Hülsenstock in der Hand, dann hörte ich auch Musik. Und was nachher, sobald er bei uns in der Stube saß, durchs Dorf hallte, war jubelnder Trompetenstoß. »Hurra! de Snider is dor!« Bald wimmelte es bei uns von Nachbarn, die dem Schneider die Hand drücken wollten. Denn mein Ohm, der Schneider, stand in dem Ruf eines ausgezeichneten Menschen und eines vortrefflichen Erzählers. »Ja, ja, de Hans Snider«, so sagten die Leute, »de kann 't, de hett dat in sik, de brukt blot to seggn, un 't is en Geschicht.«
Da war ein alter Verlehntsmann, namens Jasper Thun, ein Sonderling (die Wollmütze immer auf dem Kopf), ursprünglich eine Art epischer Künstler, nun aber vereinsamt und stumpf. Zu ihm kommt mein Ohm als Schneider ins Haus, fängt an zu erzählen, gräbt die vertrockneten Geistesadern des alten Jasper wieder auf, namentlich durch eine Geschichte von dem Dienstknecht Michel Brandt aus Schirnhude am Schirnhudersee, worin ein Heringsgericht vorkommt und ein Gottestraum, und in dem Gottestraum sind alle Dinge nichts als Figuren der schaffenden Phantasie unseres großen Herrgotts. Dem alten Jasper gefällt mein Ohm so gut, daß er ihn zu seinem Hausminister macht. Wie sichs zugetragen hat, wie schließlich der Alte mitten in der Erzählung vom Gottestraum hinübergegangen ist, ersieht man aus der dieser Geschichte vorangehenden Erzählung.
Für Jasper wars zu Ende, nicht aber für Hans. Seine Geschichte begann erst nach Jaspers Heimgang, und diese neue Geschichte will ich jetzt erzählen.
Mit Jaspers Ableben trat bei Hans eine durchgreifende Veränderung ein. Er erbte die alte Uhr, die braunen Lederstühle, eine rotgestrichene Setzbettstelle und bare tausend Taler. Die Schneiderei gab er auf und kaufte sich auf der hohen Geest von Dithmarschen ein kleines Anwesen. Einen Augenblick dachte er daran, eine Frau zu nehmen, tat es aber nicht, sondern vertraute seiner verwitweten Schwester das Portefeuille des Hauswesens an und stand sich gut dabei, denn auch sie hatte Moses und die Propheten und eine tüchtige Hilfe in ihrer frisch aufblühenden Tochter.
Alles das mußte Hans ohne mich erleben, da ich noch nicht geboren war. Mir ist es erst viel später zum Bewußtsein gekommen, daß mein Ohm ein Schneider gewesen sei und weit hinten in Dithmarschen wohne. Von meinem Bruder Jürn, der ihn besucht hatte, ließ ich mir die kleine Heidkate, ihre einsame Lage, ihre Lindenbäume und ihren Apfelgarten beschreiben, namentlich aber auch den wunderlichen Pfahl, der einen ordentlichen Kopf habe und mitten auf der Heide stehe. Jürn zeigte die Richtung. Es war dort, wo im Sommer, wenn alles nach Heu roch die Sonne unterging und das Abendrot aufglühte. Dort wohnte Hans-Ohm. Einmal sah ich ihn selbst auf einem rotglühenden Feuerwolkenwagen. Den Rock hatte er lose um die Schultern geschlagen, den Hülsenstock fest aufgesetzt.
Später habe auch ich meinen Ohm besucht. Er war nicht mehr jung, eher schon alt, aber noch rüstig und frisch. Seine Schwester hatte er verloren, die Nichte, die sich mit einem gewissen Klaus verheiratet hatte, führte ihm den Hausstand. Klaus zeichnete sich durch große Gutmütigkeit und große Arbeitshände aus. Für Geschichten hatte er so wenig was übrig wie seine Frau. Die Abnehmer dafür mußte der Alte auswärts suchen, was aber auf der einsamen Heide nicht so einfach war. Am meisten verkehrte er mit Friech Jessen. Der war lang, blond, sommersprossig, etwas laut und derb, auch wohl mal heftig, aber im grunde gutmütiger, als er scheinen wollte. Nach seiner Besitzung führte ein Fußsteig über die Heide.
Das Bild würde nicht vollständig sein, wollte ich den Doktor der Gegend unerwähnt lassen. Ein junger, frischer Mensch, kutschierte er eigenhändig in einem Anzug, der auch für einen Roßtäuscher gepaßt hätte, die Gegend ab. Wenn es irgendwie ging, fuhr er bei meinem Ohm nicht vorbei. Die Hausfrau gab dem Doktor Grog, wenn es Winter war, und Tee zur Sommerzeit. Dafür tauschte sie gute Ratschläge gegen ihr Seitenstechen ein. Saßen sie bei Grog oder Tee, dann veranlaßte der Doktor (scheinbar ganz unabsichtlich) meinen Ohm, seine Geschichten zu erzählen, neue, wenn er welche wußte, alte, wenn Neues nicht auf Lager war. Der Doktor kräuselte schon die Lippen (er hatte weiche, schalkhafte Lippen), wenn der Alte auf den Köder anbiß, dabei sorgsam den Anschein wahrend, als sei es ein Augenblickseinfall, der ihn darauf bringe.
Daß Schneider-Ohm geradezu darauf brannte, zu erzählen, das wußten wir ja alle. Ein leises Räuspern ging voran, an dem Rohr wurde kräftig gesogen. Und dann die immer wiederkehrende, eine Entschuldigung für seine Anmaßung darstellen sollende Einleitung: »A, dat is so 'n ol Geschich. A, man kann 't jo ok mal vertelln.« Und dann! »Baben bi Hohenasp liggt 'n Hof, de heet Bökerhof. Dor hett mal 'n Mann wahnt, de hett Früchtenicht heeten. Un hett 'n bös Wifstück hatt ...«
Wenn man über die Heide blickt, etwa in der Richtung nach Friech Jessen, sieht man etwas, das ein gemächlich gehender Mann, aber auch ein Pfahl sein kann und, wie wir wissen, von Jürn auch dafür gehalten worden ist. Es ist aber weder ein Mann noch ein Pfahl, wenn es auch Pfahl genannt wird, sondern ein abgesägter Weidenstamm mit einem merkwürdig verfilzten Kopf. In Wirklichkeit sind es halb abgestorbene Schößlinge: bei phantasievollen Menschen nimmts aber, wenn die Beleuchtung erlogene Helle über die Heide wirft, alle möglichen Formen an. Der Fußsteig, der nach Friech Jessen führt, verläuft ganz in der Nähe.
Eines Abends, es war noch nicht dunkel, es war nicht mehr hell, kamen wir, der Alte und ich, von Friech her, am Pfahl vorbei. »Sieh dir mal das Ding an!« sagte Ohm. »Es erinnert mich an Jasper und seine Zipfelmütze. Sie hatte einen Klunker, der sie niederbog. Und nun guck dir den Kopf des alten Kerls an. Trägt er nicht eine Kappe und hat das Ding nicht ordentlich einen Knick? – Von hier aus mußt du sehen«, fuhr Hans-Ohm fort und zog mich weiter ins Heidekraut hinein. »So ... nun die Hand über die Augen ... Dann ist er doch wie ein alter Mann, nicht wahr? Die Hände hat er auf dem Rücken ... So ging Jasper-Ohm durch den Garten nach dem Bienenstand, just so.« Ich sah und sah. Ich stellte mich hierhin und dorthin, genau wie mein Ohm es wünschte. Aber ich konnte mit dem besten Willen nichts sehen als einen abgesägten Weidenstamm.
So ging die Zeit hin, und Hans-Ohm wurde sehr alt. Friech war zehn Jahre jünger. Sie erzählten sich Tag für Tag Geschichten, Hans-Ohm die von Michel Brandt aus Schirnhude und was er sonst noch wußte, Friech eine berühmte Scherenschleifergeschichte, und beide bekamen die Geschichten des anderen satt. Über die Heringsgeschichte war Friech zuletzt schier unglücklich. Denn Hans wurde vergeßlich und konnte sie zwei mal bei derselben Gelegenheit zum besten geben. Es war komisch, wie die beiden Alten sich bekrittelten, Hans-Ohm die absprechende Weise seines Freundes, Friech die Altersschwächen von Hans. Friech beklagte sich bei seiner Tochter Stine (sie hatte ihren Mann verloren und führte ihm den Hausstand): »Denk dir«, sagte er, »die Rasiergeschichte zwei mal und die Michelgeschichte jedes mal; ich kanns nicht mehr aushalten.«
Und Hans-Ohm ging wieder über den Fußsteig am Pfahl vorbei. Es war noch nicht Winter, aber auch nicht mehr Sommer, es war nasses trübes Herbstwetter, wo man die Kühe nachts in den Stall nimmt und die letzten Rüben aus der feuchten, schwarzen Erde zieht. Hans ging, wie ein Mann geht, der mitten in den Achtzigern steht, nach vorn geneigt, klein, in sich zusammengesunken und mager, mit gespreizten Beinen. So tun Leute, die eine breite Basis für ihr Gleichgewicht brauchen, die ihrer Glieder nicht mehr völlig Herr sind. In der Rechten hatte er den bekannten Hülsenstock, auf den er sich jetzt wirklich stützte, und hielt den Arm weit vom Leibe. Der Ellenbogen trat scharf und spitz hervor.
Er wollte zu Friech. An ihm war die Reihe, zu kommen; es gab eben keinen anderen Menschen, der auch nur ein bißchen Sinn für Geschichten hatte. Zu Hause war es auch nicht schön. Anna war herzensgut und Klaus war eine Seele, aber sie bereiteten einem doch manchen Verdruß, ohne daß sie es wollten. So hatte Klaus heut abend gemeint, er solle nur zu Hause bleiben, das Wetter sei zu rauh. Und mit Friech habe er sich doch wohl auserzählt, es seien ja immer die alten Geschichten.
»Ümmer de olen Geschichten«, hatte Klaus gesagt. Was war der Klas doch für ein Taps! Er hatte ihn auch tüchtig zurechtgewiesen. »Klas«, hatte er gesagt, »meine alten Geschichten werden noch neu sein, wenn kein Hund oder Hahn mehr nach dir kräht.« »Immer die alten Geschichten!« Das ihm? Zweimal, dreimal, höchstens viermal in all den Jahren konnte er eine und dieselbe Geschichte wieder erzählt haben – mehr jedenfalls nicht. Und das tat gar nichts. Den Hörern war sie doch immer wieder neu. In dem Augenblick, wenn mans ihnen erzählt, dämmert ihnen so was, wo die Kunst steckt. Aber nachher ist alles wieder weggewischt. Den groben, gemeinen Stoff mögen sie halbwegs im Kopfe haben, aber die Kunst des Vortrags, wie man so was herausbringt, das ist ihnen immer neu. –
Er war beim Pfahl angekommen. Der alte Bursche hatte, heute zumal, Ähnlichkeit mit Jasper, die Hände ordentlich auf dem Rücken ineinander gelegt.
Wie ...? Hans-Ohm stutzte. Es war ihm vorgekommen, als wenn Jasper gewinkt hätte. Ein Weidenstamm und – winken. Na, das soll er wohl bleiben lassen.
Ja, wenn der alte Jasper noch lebte! Der war ... der verstand es, das war einer! Hans sah sich noch mal um, da nickte der Weidenkrüppel.
»Sonderbar«, murmelte Hans-Ohm und suchte vorsichtig seinen Weg. Er hielt es für Sinnestäuschung, vergaß es auch bald, dachte aber an seinen verstorbenen Freund. Hätte er seine Ahnung richtig verstanden, so wäre er zurückgekehrt.
An diesem Abend kam es nämlich zum offenen Bruch mit Friech. Stine ist dabei gewesen; wie oft hat sie den Hergang erzählt!
Ihr Sohn Fritz ist nach Delwe gefahren gewesen. Die beiden Alten haben hinter dem Ofen gepafft, Stine hat auf der Lade gesessen und Strümpfe gestopft. Das Gespräch hat sich, so lange Stine dabei war, um die verschiedenen Viehrassen des Landes gedreht. Friech ist mehr für die große blaue Tondernsche Art, Hans für die feine braune Angler Kuh gewesen. Etwa um neun Uhr hat Stine die Stube verlassen, Wäsche einzuweichen, ist aber nach einigen Minuten zurückgekehrt, ein vergessenes Betttuch nachzuholen. Da hat Hans-Ohm die Geschichte von der Rasierkrankheit erzählen wollen, Stines Vater aber ist verdrießlich geworden und hat gesagt: »Hans, du hast wohl vergessen, die hast du mir erst gestern erzählt.« Das hat Hans-Ohm gewurmt. »Nun«, hat er gesagt, »wenn du sie nicht hören willst, denn nicht.« Die Stine hat begütigen wollen und eingeworfen: »Das macht ja nichts, Vater. Man hört doch gerne zu, und du hast ja auch schon Geschichten zwei mal erzählt.« Aber da ist sie ganz verkehrt gekommen. Ihr Vater ist ganz laut und heftig geworden: »Wer das von mir sagt, spricht die Unwahrheit. Ich erzähle Geschichten nicht zwei mal.« Und Stine hat gedacht: ich will ihn in Ruhe lassen; er wird leicht laut, wird auch leicht wieder still. Und hat ihr Betttuch genommen und hat gemacht, daß sie hinausgekommen ist.
Sie hat noch immer kein Arg gehabt und das Kommende nicht geahnt. Ihre Wäsche hat sie fertig gemacht, hat dann im Hause und in den Stallräumen, überall hat sie abgeleuchtet: bei den im beißenden Laternenlicht kakelnden Hühnern und den warm im sauberen Stroh vergrabenen Ferkeln. Aber wie sie aus dem Anbau auf die große Diele zurückgekehrt ist, da ist Schelten und Lärmen in der Stube gewesen, da ist es klar geworden: die Alten haben sich erzürnt. Da hat sie es mit der Angst gekriegt. In ihrer Hast hat sie die brennende Stalleuchte auf die Bodentreppe gestellt, hat alles beiseite gesetzt, die Stubentür hat sie aufgerissen ... da – ein Anblick! – sie denkt, es muß sie der Schlag rühren.
Die beiden Alten stehen zornentbrannt wie ›Kreithähne‹ gegeneinander, namentlich Friech ist ganz außer sich und schimpft und schilt und überschreit sich: »Deine alte Michelgeschichte hab ich all hunderttausend mal gehört, die hab ich satt, die wird einem ja zum Ekel, die wächst einem ja zum Halse heraus. Da mag ich nicht mehr nach hören!«
Und Hans-Ohm ist auch aufgebracht, will was sagen, kann aber nicht zu Wort kommen, bringt schließlich aber doch heraus: »Und auf deine Scherenschleifergeschichte rechne ich gar nichts.«
Nun schlägt Friech auf den Tisch, eine Teetasse fällt zur Erde und klascht in Scherben: »Und wenn du auf meine Scherenschleifergeschichte nichts rechnest, dann rechne ich auf dich auch nichts.«
Hans wird ganz blaß, bleibt aber äußerlich ruhig: »Muß ich mir gefallen lassen«, sagt er und fängt an, seine Pfeife zu ziehen, wo doch kein Tabak mehr in ist; sie knastert auch ganz schrecklich. »Muß ich mir gefallen lassen«, wiederholt er. »Ein Mann, auf den du nichts rechnest, kann natürlich nicht mehr in dein Haus kommen. Dann wären wir also fertig.« Er klopfte seine Pfeife aus und steckt sie in die Tasche.
»Friech«, fügt er hinzu, »eigentlich kann es mir um jede Geschichte leid tun, die ich dir erzählt habe. Denn nun sehe ich erst, du hast sie gar nicht verstanden. Aber das sind Gaben des Himmels, und darum kann man keinen Menschen schelten. Gute Nacht, Friech!«
Seine Mütze lag auf dem Tisch, er langte danach. Aber Friech, er war wohl um so mehr in Zorn gekommen, weil Hans so ruhig war, riß sie weg.
»Ich nicht deine Geschichten verstehen? Das lohnte auch noch, die zu verstehen! Sind ja alle so viel wert wie der Wind, der im Schornstein heult. Ich will dir zeigen, wie viel ich auf deine Geschichten rechne und wie viel ich auf dich rechne!«
Er wußte nicht mehr, was er tat. Er warf die Mütze auf den Fußboden und trampelte mit seinen Holzpantinen darauf. »So viel«, schäumte er, »so viel rechne ich auf dich!«
»O, nein ...« pflegte Stine hier einzuschalten. »Ich kann nicht sagen, wie fürchterlich das war. Mir war, als sei es ein Stück von mir, was da am Boden lag, als ob ich selbst von Vater mit Füßen getreten würde. Hans-Ohm hatte kein Blut mehr im Gesicht.«
»Gut, Friech«, erwiderte er, »dann weiß ich ja Bescheid, wie viel ich bei dir gelte. Ich bedanke mich auch vielmals.«
Stine konnte nicht Hand noch Fuß rühren. Sie wollte erst sagen: ›Vertragt euch doch, erzürnt euch doch nicht!‹ Dann wollte sie schreien: ›Vater, komm doch zur Besinnung, es ist ja Hans-Ohm, dein bester Freund!‹ Aber, die arme Frau ... sie konnte nicht, ihr war, als wäre sie gebannt, als träume sie und habe die Nachtmahr ... Wie ein Steinbild stand sie an der Tür, sie fühlte, wie das Blut nach dem Herzen floß und wie sich das Herz zusammenkrampfte. Aber wie ihr Vater schließlich mit den schrecklichen Fußtritten aufhörte, da (sprechen konnte sie noch nicht) da vermochte sie so viel, daß sie die Mütze aufhob und an Hans-Ohm gab.
»Dank vielmals, Stine«, sagte der Alte, »Dank!« Die Mütze war von den Pantoffeln und von dem Streusand sandig geworden. Hans-Ohm schlug sie am Tischbein ab. »Stine«, sagte er dabei »den Schmutz der Beleidigung will ich nicht wegtragen, der bleibe in eurem Hause. Möge dein Vater«, setzte er hinzu, »niemals diese Stunde bereuen. Ich bin alt, er ist jünger. Was ist an mir gelegen?«
So ging er hinaus. Als er die Türklinke in die Hand nahm, sah Friech ihm verzerrt und mit stieren Augen nach. Wird er in sich gehen? Wird er ihn zurückrufen? Aber Stine sah, daß daran nicht zu denken war. Die Wut war zu groß. Sie sah auch: er wollte dem alten Mann noch ein häßliches Schimpfwort nachrufen. Da löste sich bei ihr der Bann. »Vater!« rief sie. Da sah Friech sie an, wurde ruhig und setzte sich hin.
So lautete die Erzählung. Das war das Ende der Plauderstunden von Hans-Ohm und Friech. Stine leuchtete meinem Ohm, als er davon ging, über die dunkle Diele die Lampe zitterte in ihrer Hand. Auch Hans-Ohm war nicht so ruhig, wie es Stine vorgekommen war, er konnte den Drücker zur Haustür nicht finden, er bebte am ganzen Körper. Stine hatte schon damals die Ahnung, es könnte dem alten Mann ein Unglück passieren, und ging ihm nach, ohne daß er es bemerkte. Denn unter Augen wagte sie ihm nicht zu kommen.
Einen Augenblick lehnte Hans-Ohm am Heuschober und schluchzte und weinte wie ein Kind. Es war Zorn über die seiner Ehre widerfahrene Beleidigung, es war noch mehr die Herabsetzung seines Künstlertums, worin er wie alle Priester der Kunst sehr empfindlich war. Seine Geschichten waren verschmäht und geschmäht worden – Geschichten, die Berühmtheit erlangt hatten; es war ein Erzählertalent, das seinen Freund Jasper vom geistigen Scheintod erweckt hatte, für nichts gerechnet, es war mit Füßen getreten worden.
Er weinte – aber nicht allein vor Zorn, er weinte auch über sich und seine Vereinsamung. Wer sollte sich noch mit ihm unterhalten, wenn es mit Friech aus war, wer sollte seine Geschichten anhören, wenn nicht Friech? Friech war doch noch immer der Einzige, der ihn wenigstens halbwegs verstanden hatte. Nun fühlte er sich so grenzenlos verlassen, er hatte nur noch eine Hoffnung – den Tod.
Mit einer Brust voll Schmerz ging er seinen Weg, noch immer von Stine beobachtet. Aber der Himmel war hell geworden, es war Vollmond, Stine konnte sich nicht gut auf der kahlen Heide verbergen. Auch dachte sie an ihren alten Vater und seine schreckliche Aufregung, und ob sie ihn wohl länger allein lassen dürfe. Sie sah noch, wie mein Ohm beim Pfahl stand und laut mit sich sprach, dachte sich aber nichts Schlimmes dabei. Denn das war auch sonst vorgekommen, daß er Selbstgespräche führte, wenn er in Gedanken war und ihm etwas auf dem Herzen lag. So ging sie nach Haus.
Hans-Ohm stand noch immer am Pfahl. Ein kalter Wind hatte den Wolkennebel zerrissen. Das weiße Licht des Vollmonds lag auf der Heide.
Es kam ihm so traumhaft, so überirdisch vor, so, als gehöre er nicht mehr der Welt der Lebendigen an, als wandle er im Reiche der Schatten. Schwarz und dunkel hoben sich die kleinen runden Gruppen der Ginstergebüsche von der hellen Heide ab – es schienen ihm schwarze Grabhügel auf beschneitem Friedhof. Und hinter ihm ... weit hinter ihm ... in einer anderen Welt lag alles, was ihm in dem ungastlichen Hause widerfahren war ...
Da steht die Weide, da steht der Pfahl.
»'n Abend, Jasper, sagte er, »Guten Abend!«
So natürlich ist noch niemals die Zipfelmütze eines Baumstammes gewesen, noch niemals so natürlich niedergebogen. Man sieht ordentlich den Klunker. Und, was ist das? Hände nicht auf dem Rücken verschränkt ... in der Hand den Krückstock? Wunder über Wunder! Vor den sehenden Augen meines Ohms verwandelt sich der Pfahl in den leibhaftigen Jasper.
Meines Ohms Füße standen wie angewurzelt.
»Jasper Ohm!« rief er.
Jasper wurde wieder zum Pfahl, Mütze und Klunker zu Weidenschößlingen. Hans wollte weitergehen.
Aber er hatte noch nicht den ersten Schritt gemacht, da war der Pfahl wieder Jasper. Und Jasper bewegte den Handstock, er fing an zu gehen. Er war ein wirklicher Mensch.
»Jasper-Ohm«, wiederholte Hans.
Eine Stimme antwortete, aber Hans verstand nicht, was sie sagte. Ein Windstoß verwehte es.
»Jasper-Ohm!«
Wieder antwortete die Stimme. Sie war hoch, fein, ohne Klang, wie mans wohl bei alten Leuten hört. Hans erkannte sie. Es war Jaspers Stimme.
»Wer ruft mich?« Nun war es ganz deutlich.
»Ich bins«, antwortete Hans.
»Wer ist Ich?«
»Jasper-Ohm, kennst du mich nicht mehr? Bin freilich alt geworden, bin reichlich so alt, wie du einstmals warst.«
»Aha«, kam es, immer scharf und hoch, immer fein und klanglos zurück. »Ah, du bist es, Schneider. Das ist aber nett. Ich sah dich vor ein paar Stunden und winkte. Aber du kümmertest dich nicht darum. Ja, bist alt geworden.«
»Der Welt Lauf«, erwiderte Hans. »Aber was ist mit dir, Ohm? Jahrelang hast hier als Pfahl gestanden, und nun fängst an und gehst über die Heide?«
»Ja, mein Lieber. Bei Vollmond in der Wendelinnacht tu ichs immer. Da vertrete ich mir die Beine.«
»Ja, aber Ohm?«
»Was, lieber Hans?«
»Sag mal, bist du denn nicht tot?«
»Tot? Wieso tot?«
»Nun, ich meine, du hast es doch durchgemacht. Das Atmen hört auf, und das Denken, und alles wird still. Der Körper ist nur noch ein Klotz – etwas, das weggeschafft werden muß und auf dem Kirchhof begraben wird. Dann ist man tot, und ich meine, du müßtest es kennen.«
»Ja, das meinst du! Ja, das kenne ich. Das hat nichts zu bedeuten.« Einen Augenblick sann er nach: »Ich will dir mal was sagen, Hans.«
»Sags!«
»Nein, ich wills lieber nicht sagen, du verstündest mich doch nicht. Glaubst du«, fuhr er fort, »daß du mich verstündest?«
»Das ist wohl nicht sicher«, entgegnete Hans.
»Ihr habt nur Einfälle. Und mehr schlechte als gute.«
»Es wird wohl so sein«, wiederholte mein Ohm.
»Ich muß noch immer ... Unsinn wars natürlich, aber als Geschichte war sie gut ... ich meine die Geschichte, die uns beiden so gefiel, daran muß ich noch immer denken. Wie wars doch? Es gibt nichts Totes und nichts Lebendiges, kein Wachen und kein Träumen, keine guten Menschen und keine bösen Menschen – alles und alle sind nichts als Figuren im Traum des Alleinseienden, unseres großen Herrgotts.«
Hans-Ohm lachte. »Ja, das war die Geschichte von Michel Brandt in Schirnhude am Schirnhudersee.«
»Das stimmt«, antwortete Jasper. »Ich machte dich wegen dieser Geschichte zu meinem Minister.«
Die beiden Greise wackelten Arm in Arm über die Heide. »Das war eine Geschichte«, lobte Jasper. »Das war eine.«
»Die Geschichte ist gut«, bestätigte Hans. »Und doch gibt es Leute, die sie nicht hören mögen.«
»Nicht hören mögen? Nicht die Geschichte von Michel?« Jasper erstaunte.
»Wie ich dir sage, Ohm«, versicherte Hans. »Komm just von Friech Jessen. Der Mann kann es nicht mehr aushalten. Er hat mich beschimpft – ja hinausgeworfen, und nur wegen der Michelgeschichte.«
»Den laß laufen, Hans. Der versteht nichts von Geschichten.«
»Bester Ohm, das ist leicht gesagt. Er ist aber der Einzige, der mich anhört und noch ein bißchen Sinn dafür hat.«
»Armer Kerl«, bedauerte Jasper. »Das ist schlimm.–Der Einzige?« fragte er wieder. »Und der will deine Geschichten nun auch nicht mehr hören?«
»So sagt er.«
»Sehr schlimm«, wiederholte Jasper Thun. Er sah meinen Hans-Ohm mit seinen graugrünen, blutunterlaufenen Augen lange an. »Ja, Schneider, dann weiß ich nur einen Rat.«
»Welchen, Jasper?«
»Dann müßtest du schon ...«
»Was müßte ich?«
»Dann müßtest du schon ... zu mir kommen.«
»Ja, das geht doch nicht.«
»Weshalb geht es nicht?«
»Es geht nicht«, wiederholte Hans-Ohm.
»Hast du noch was zu tun?«
»Ja, aber Ohm!«
»Was ist zu abern?« Jasper war ganz erwartungsvoll.
»Ja, Jasper, du bist doch tot!«
»Tot?«
Erst lächelte Jaspers Gesicht, dann erstarrte es. Jasper wurde wieder ein Pfahl. Und sie standen noch immer auf dem alten Fleck, wo der hölzerne Jasper immer gestanden hatte.
Der Mond verkroch sich hinter Wolken, der Himmel verfinsterte sich, ein schwarzes Wetter war heraufgezogen, nun warf es meinem Ohm schweren Regen ins Gesicht. Es durchzog ihn ein schauerndes, schüttelndes Gefühl ... das war Grausen; seine Zähne schlugen zusammen ... das war Fieber; das Licht seiner Augen erlosch ... Brausen eines Ozeans vor den Ohren ... das war Ohnmacht. Hans-Ohm lag der Länge nach auf der Heide.
Damals, als diese Geschichte passierte, schlief unser Bauer im altsächsischen, der Wand als Schrank eingetäfelten Wandbett. Die freistehende Setzbettstelle kam nur in schweren Krankheitsfällen in Gebrauch, war daher ein unheimlicher Apparat. Die allgemeine Ansicht war die: wer in der Setzbettstelle liegt, ist geliefert; aus ihr kommt selten jemand wieder lebendig heraus.
Als mein Ohm aus seiner Ohnmacht erwachte und fühlte, daß er im Bett ruhte, fing er an, nach den Wänden, nach den Schiebtüren zu tasten. Er griff in die Luft. Dann fuhren seine Hände an den Seiten seines Lagers herab, es waren glatte Bretter. Eine böse Ahnung stieg in ihm auf, er öffnete die Augen: er war in der rotgestrichenen Setzbettstelle, die noch von Jasper herrührte und immer auf dem Heuboden gestanden hatte.
Es ging also zum Sterben. Er hätte es auch ohnehin gewußt. Denn so hatte ihm noch niemals der Kopf gebrannt, so elend hatte er sich noch niemals gefühlt.
Aber wieder hatte ihn der Traum:
Er lag auf der Heide, die Beine lang gestreckt. Und sie reichten bis zum Niedergang des Himmels. Zu seinen Häupten saßen zwei Engel, die sahen aus wie Klaus und Anna und waren es auch wohl. Neben ihnen eine Art Bahre, die man sonst zum Heutragen benutzte. Er ahnte auch, daß er auf diesem Ding von Klaus und Anna hereingetragen worden war.
»Ohm!« rief es. Hans-Ohm erwachte. Anna stand an seinem Bett; sie wollte ihm Medizin geben und gab ihm Medizin, die der Doktor verschrieben habe und ihm gut tun werde. Hans wollte nicht zugeben, daß er krank sei; er betrachtete sich bereits als etwas außer ihm Seiendes. Daß der Mann in der Setzbettstelle schwer krank sei, das sah er ein, aber der ging ihn kaum noch was an. Ihm war, wie es der Libellenlarve sein mag, wenn sie aus dem Sumpf am Wasserrohr hinaufkriecht, das Platzen der alten schadhaften Hülle und die Auferstehung zu erwarten.
Er trieb sich im Traum auf der Heide umher und machte mit Jasper zusammen Flugversuche. Er hatte Flügel, nicht so große und schöne wie sein Freund, nur kleine – Flügelansätze. Aber mit diesem Notbehelf mußte es wohl ganz gut gehen, denn er sah sich plötzlich mit Jasper im Sonnennebel weißer phantastischer Wolken umhersteigen. Staunend sah er zur Heide hinab.
»Was siehst du?« fragte Jasper.
»Ich sehe durch Wolken und Luft und Dach in ein Krankenzimmer. Der Kranke ist schwach und wird den Tag nicht überleben.«
»Was macht man mit ihm?«
»Ein Mann mit großen Händen hält ihn aufrecht, und eine Frau gibt ihm Medizin.«
»Und wer ist das?«
»Das bin ich.«
»Holla!« schrie Jasper. Hans-Ohm sah auf, konnte aber nichts wahrnehmen als Wallen und Ziehen im Wolkennebel.
»Holla«, wiederholte sein Freund, »aufgepaßt! Unsere Wolke teilt sich.«
So war es. Sie riß mitten entzwei. Die eine Hälfte blieb eine geballte Masse mit wunderbar klaren Hörnern, die andere nahm die Gestalt eines Hechtes an. Jasper und Hans waren auf dem Hecht geblieben, aber die Formenkühnheit der Hörner lockte.
»Wir fliegen hinüber!« rief Jasper. Schon schwebte er ... zwei Flügelschläge, Landung im weichen, wirbelnden Lichtnebel, dann saß er drüben und lachte. »Wags nur«, ermunterte er. »Und drück die Finger an die Ohren«, fügte er hinzu. »Im Fliegen darfst du nicht hören, wenn man dich unten ruft. Es würde dich hinabziehen.«
Es war zu spät. Hans hörte nichts mehr ... er flog schon.
»Hans-Ohm!« kam es von unten herauf. Da zog es ihn hinab. Er flog und flatterte und ... fiel... und ... fiel. Er fiel – fiel himmelhoch aus blauem Äther zur Erde hinab. Ein sonniges, kleines Wölkchen, das wie ein Lämmlein aussah und unschuldig und nichtsahnend am Himmel schwamm und nichts weiter wollte, als ein bißchen Sonnenschein und, wenn es Glück hatte, ein wenig Abendrot genießen, wurde im Wirbel geradezu zerquetscht und ist nicht wieder zu sich gekommen. Noch immer fiel Hans-Ohm ... fiel und fiel. Er brach durch First und Dach seines Hauses und fuhr fallend in sein eigenes Bett. Ein Ruck – da war er wach.
Anna hatte ihn gerufen. Ein Mann sei da, meldete sie, ein trauriger Mann, der ihn sprechen müsse. Er habe Hans-Ohm großes Unrecht zugefügt, er sei schuld an seiner Krankheit, der Mann werde fürder keine Ruhe haben wenn Hans ihm nicht vergebe.
Der Kranke saß steil auf. »Es ist ...«
»Jawohl, es ist Friech. Tu es, Hans-Ohm!« bat Anna. »Gottes Wege sind wunderbar.« Sie weinte.
»Friech ... der? Lieb Tochter, mach mirs nicht zu schwer...Ich möchte ... aber ich weiß nicht, ob ichs kann ...ob ichs darf ...«
»Dürfen, Hans-Ohm? Und wie sagt unser Erlöser? Siebenzigmal siebenmal, sagt er.«
»Das sagt er«, raunte der Kranke. Er fiel in Halbschlummer.
Friech wartete in der Wohnstube. »Geduld!« berichtete Anna. »Er schläft und spricht für sich im Schlaf. Es wird werden – Geduld!« In dem Augenblick rollte ein Wagen durch die Hofpforte. Es war der Doktor. »Da kommt Hilfe«, frohlockte die Hausfrau.
Hans wollte schlafen, nahm aber zu seinem Verdrusse wahr, daß er wachte. Er hörte ganz deutlich die alte, die von Jasper Tun ererbte Hausuhr. Ticktack, sagte die Uhr. Ticktack, machte Hans ihr in Gedanken nach. Mit dem Uhrenticktack war ihm nicht geholfen, er sehnte sich nach seinem Freund. Der erschien nun freilich nicht; wohl aber hörte der fiebernde Hans aus dem lauten Gang der Uhr einen Ausweg aus seinem letzten Seelenkampf. Und als sie schließlich eintraten, der geknickte Friech und Stine und Anna und Klaus und der Doktor, da war er mit sich im Reinen.
»Guten Tag, Friech«, sagte Hans und versuchte, die todesblasse Hand zu geben. »Komm her, wir wollen in Frieden scheiden.«
»Hans, mein Freund«, schluchzte und weinte der Angeredete. Er war hin, erging sich in Jammern. Die Backen des Kranken streichelte er, dessen Hand küßte er.
»Friech«, fing Hans wieder an, »guter, hitziger Kerl, laß sein! Wir wollen Frieden machen, ja Frieden, aber« (und da verzog er die Lippen zum Schalkslächeln) »eine kleine Bedingung ist dabei.«
»Wir nehmen jede Bedingung an«, fiel der Doktor ein.
Der große, sommersprossige Friech Jessen heulte wie ein Kind. »Ja mein Hans, ich tu alles ... Ich bin ...« Das Bekenntnis verging in Weinkrämpfen; erst durch die Verdolmetschung von Anne erfuhren die Anwesenden, daß Friech sich für einen großen Sünder erkläre.
»Und die Bedingung?« fragte der Doktor.
»Er hat meine Geschichte nicht mehr hören wollen, zur Strafe soll er sie jetzt hören.«
»Das finde ich recht und billig«, entschied der Doktor.
»O ja«, weinte Friech, »die schöne Geschichte von Michel und wo so fette Heringe in vorkommen.« Er wußte nicht mehr, was er sagte. – »Fett oder nicht«, entschied der Doktor. »Die Geschichte sollen Sie hören.«
In der kleinen Versammlung war es totenstill. Der Doktor saß auf einem hohen Koffer und hatte den Vorsitz. Die Uhr tickte, sie tat es so feierlich, als sei sie vom Todesengel beauftragt, Ruhe zu heischen, und schwinge den Taktstock des Schweigens. Dann und wann fielen schwere Tropfen in den hinter dem Bett stehenden Eimer, wenn Stine kalte Umschläge auflegte. Das erinnerte an Todesschweiß und Lebenswasser.
Zum letzten mal erzählte mein Ohm eine Geschichte. Er ging dahin, wie er gelebt hatte. Ganz leise schüttelte er die Schellenglöckchen seines Humors. Der Friedensgott stand zu Häupten und breitete Palmenzweige über die rote Setzbettstelle. Wenn Hans Schneider an lustige Stellen kam, wischte er ihm den kalten Schweiß von der Stirn. Dann lächelten die fröhlichen, bleichen Lippen meines armen, alten Ohms.
»Ihr lacht ja nicht«, unterbrach sich der Kranke und ließ seine sterbensmüden Äugen im Kreise wandern. »Erzähl ich so schlecht?« Er war um sein Künstlertum besorgt.
Dem Doktor auf seinem Koffer wurde ganz eigen zumut, er rückte sich seine Weichheit vor. »Wir lachen nur nicht laut, Hans-Ohm Aber in uns hinein, da lachen wir. Innerlich habe ich mich noch niemals so gefreut, wie in diesem Augenblick. Und ich lache noch mehr über den Erzähler als über die köstliche Geschichte.«
»Schön, ganz gut ... Aber Friech ... Friech, der soll lachen, daß ichs höre, wie er in der ersten Zeit gelacht hat, wenn ich von Michel erzählte ... Der muß lachen ... es gehört zu unserm Abkommen.«
»Ich lach! ich lach! ... o wie lach ich!« Lachend und weinend hing Friech an seinem Halse.
In der zweiten Hälfte wollte es nicht vom Fleck, und als Ohm zu dem großen Gottestraum kam, verklang seine Stimme ganz. Man hörte nur noch kurze Atemzüge.
»Still!« gebot der Doktor und verließ seinen Sitz. »Hans-Ohm schläft; aber sein Wille soll uns heilig sein. Friech soll die Geschichte zu Ende hören. Ich übernehme die Fortsetzung.«
Sie waren nicht mehr allein, es war jemand unbemerkt durch die nur angelehnte Tür gekommen und hatte sich in der Dämmerecke des Sterbezimmers still niedergesetzt. Und dieser Jemand war der Erzähler dieser Geschichte.
Ja, ich war dabei, hatte aber ein Gesicht.
Über der Heidelandschaft flogen zwei Engel im Strahlenkleid himmelan.
»Sieh hin«, rief der verklärte Jasper und schwang seine verklärte Wollmütze. »Sieh, der Dunst der Erde liegt unter uns. Und um deine Setzbettstelle hat der Doktor die Heringsgeschichte zu Ende gebracht, Klaus rüttelt dich und ruft: ›Hans-Ohm!‹ Anna will dir Medizin geben. Aber der Doktor prüft dein Totengesicht und winkt Ruhe. ›Still, Kinder!‹ sagt er, ›ich glaube, unser Hans-Ohm ist nicht mehr hier.‹ Und in der Tat: wir haben schon einige Meilen.«
Hans-Ohm schwang ein paar prächtige Flügel. »Ich fliege!« In aufschauerndem Entzücken jubelte er es.
»Ja«, entgegnete Jasper. »Das kann ich bestätigen. Das ist kein hilfloses Flattern wie vorher. Das macht: du hast keine Erdenschwere mehr zu tragen.«
»Ich bin frei«, jauchzte Hans, »mit jedem Flügelschlag, mit jedem Atemzug werde ich es mehr.«
Er mußte es wohl fühlen, mein auferstandener Ohm. Fühlte ich doch selbst auf meinem Brettstuhl so was wie freien Seelenflug. Und war doch nur ein Träumer und saß in dämmernder Stubenecke einer einsamen Heidekate.