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Der zweite Tag war angebrochen, und Ellen und Jessy irrten noch immer ratlos im Walde umher, ohne auch nur eine Ahnung zu haben, wo sie sich befanden, geschweige denn, wo die Ruine, ihr Ziel, lag.
Sie hatten sich verirrt und keine Hoffnung, die verlorene Spur rechtzeitig wiederzufinden, um ihren Freundinnen zu Hilfe kommen zu können.
Am letzten Abend waren sie auf einen kleinen Fluß gestoßen, wo die Spur der Schar aufhörte und sie dieselbe auch nicht wiederfinden konnten, weder an diesem, noch am jenseitigen Ufer. Entweder hatte der Zug seine Reise in Booten fortgesetzt oder man war im Wasser gewatet und so verschwunden.
Die Nacht hatten die Mädchen am Flusse gelagert, um am nächsten Morgen abermals nach der Spur zu suchen. Vorher ereignete sich aber noch etwas, was beiden Mädchen fast das Leben hätte kosten können. Durch ein Wunder waren sie gerettet worden.
Ellen wollte mit der dem Fischer abgenommenen Pistole einen Vogel zum Abendessen schießen. Sie mochte der alten Waffe aber eine zu große Pulverladung anvertraut haben, kurzum, als der Schuß krachte, flogen den Mädchen die Eisensplitter um die Köpfe.
Er war wirklich ein Wunder, daß ihre Haut nicht geritzt worden war. Nun besaßen sie aber außer einem Messer keine Waffe mehr, Juno mußte in dieser wilden Gegend ihr einziger Schutz sein, ja, sie wahrscheinlich sogar ernähren.
Die Mädchen gingen hungrig schlafen. Der knurrende Magen und ein Angstgefühl ließen sie noch vor Morgengrauen erwachen. Das Suchen wurde wieder begonnen. Ein Mädchen ging über den Fluß und forschte auf der anderen Seite, fand aber keine Spur und kehrte daher an das andere Ufer zurück. Als beide gegen Mittag noch immer kein Anzeichen dafür entdeckt hatten, daß sie sich auf dem richtigen Wege befanden, gaben sie die Versuche auf. Der Fluß hatte eine ganz andere Richtung angenommen als die, wo die Ruine liegen sollte, und außerdem hatten sie oft harte und steinige, graslose Bodenstellen am Ufer passiert, wo die Fischer mit den Gefangenen das Wasser leicht hätten verlassen können, ohne eine Spur zu hinterlassen.
Die Mädchen hatten diese eben verloren und durften nicht erwarten, in diesem pfadlosen, menschenleeren Walde sie wiederzufinden, es sei denn durch Zufall. Kam dieser über heute nicht, und erreichten sie die Ruine nicht noch vor dem Abend, so war das Leben der Freundinnen verwirkt.
Eine namenlose Traurigkeit bemächtigte sich der Herzen der beiden Mädchen. Was hätten sie dafür gegeben, daß sie den Freundinnen hätten beistehen können!
Ein Unglück kommt selten allein, das sollten die Mädchen zu ihrem Schaden heute noch erfahren. Das Unglück aber, das sie traf, hätte nicht schlimmer sein können.
Sie schlichen, Juno dicht an ihrer Seite, so vorsichtig als möglich durch den Wald, denn sie hatten die Absicht, ein Wild zu erspähen und zu versuchen, ob Juno ihre angeborene Kunstfertigkeit im Jagen zugunsten der Herrin verwenden würde. Doch der Weg war sehr beschwerlich, oft war es nötig, auf Händen und Füßen durch die Büsche zu kriechen, um das Brechen der Zweige zu vermeiden, und noch unangenehmer waren die großen Wurzeln, über welche sie klettern mußten.
Der Fuß trat oft in Löcher. Die Hacken der Schuhe klammerten sich darin fest, man mußte sich mit Gewalt losreißen und trat dann wieder in ein anderes, aus Wurzeln gebildetes Loch oder in eine Spalte.
Eben stieg Jessy über eine Wurzel, der Fuß kam auf der abschüssigen Seite auf der glatten Rinde zum Gleiten, Jessy rutschte hinab, blieb mit einem Fuße hängen und stürzte mit einem leisen Wehruf ins Gras.
Sofort war Ellen bei ihr, um sie aufzuheben. Eine furchtbare Angst schnürte plötzlich ihr Herz zusammen, denn sie sah, wie die Freundin glatt auf dem Boden lag, der Fuß aber in einer ganz unnatürlichen Lage in einer Spalte klemmte.
»Um Gottes willen, Jessy, stehen Sie auf! Hier, fassen Sie meine Hände!«
Mit zusammengekniffenen Lippen richtete Jessy sich langsam auf; als jedoch Ellen versuchte, den Fuß aus der Spalte zu ziehen, sank Jessy mit einem neuen Klagetone wieder zurück.
Ellens Vermutung hatte sich bestätigt. Jessys Fuß war, wenn nicht gebrochen, so doch verrenkt, und an ein Weitergehen war nicht zu denken.
Nach langen Bemühungen gelang es, den Fuß unter Zurücklassung des Stiefels zu befreien. Jessy bot alle Energie auf, den Schmerz zu verbeißen, dennoch entschlüpfte manchmal ein leises Jammern ihrem Munde, und was sie auszustehen hatte, das sah Ellen jetzt, als sie den Fuß ihrer Freundin im Schoße hielt. Er war sehr stark geschwollen und der Knochen gebrochen.
Ellen konnte das neue Unglück gar nicht fassen, als sie bald in das bleiche Gesicht Jessys, bald auf den gebrochenen Fuß in ihrem Schoße sah. In der Wildnis, verlassen, ohne Nahrung, ohne Hilfsmittel, einen Bruch zu schienen, und auch ohne Kenntnis, wie man eine solche Verletzung zu behandeln hat.
»Holen Sie Wasser,« flüsterte Jessy. »Machen Sie mir einen Umschlag, und dann überlassen Sie mich meinem Schicksal. Versuchen Sie, die Freundinnen zu finden und zu retten. Neun Menschenleben sind mehr wert als eins.«
Fast entrüstet wies Ellen diesen Vorschlag zurück. Sie bettete Jessy so sanft als möglich und entfernte sich dann, um Wasser zu holen. Glücklicherweise war ein Bach nicht fern, so daß sie bald mit Wasser zurückkehrte; sie trug es in der Mütze.
Erst machte sie einige kühlende Umschläge, um die Geschwulst zu mildern, was ihr einigermaßen gelang. Dann schnitzte sie mit dem Messer aus Zweigen Schienen zurecht, wie sie ihrer Erinnerung nach auf der ›Vesta‹ für einen gebrochenen Fuß vorhanden waren, und nach längeren Versuchen hatte sie die entsprechende Form gefunden.
Auf Jessys Wunsch half Ellen dem Mädchen auf, um einen Gehversuch mit der Schiene zu machen, aber schon beim ersten Schritt drohte ihr vor Schmerz die Besinnung zu schwinden.
Als Jessy nochmals bat, sie allein zu lassen und zur Rettung der anderen zu eilen, wurde Ellen ernstlich böse. Sie machte unter einem Busche, der sich wie eine Laube verzweigt hatte, aus Rasen und Moos ein weiches Lager, trug Jessy dorthin und gab ihr mit entschiedenen Worten zu verstehen, daß sie bei ihr bleiben würde, solange sie das Lager nicht verlassen könne. Für ihren Unterhalt könne sie, Ellen, und Juno sorgen.
»Ich will nicht den Versuch machen, Sie durch Tragen weiterzubringen,« sagte sie. »Einen solchen Marsch durch den Wald kann ich nicht aushalten. Wem Sie sich erst wohler fühlen als jetzt, will ich aber die Umgegend ausspähen, und finde ich einen besseren Aufenthaltsort als diesen, so bringe ich Sie dahin. Wir wollen uns jetzt nicht die Zukunft ausmalen, sondern mit dem rechnen, was wir besitzen und was uns möglich ist.«
Jessy kam sich mit einem Male unsagbar hilflos vor, und das tiefste Weh durchschnitt ihr Herz. Wenn keine andere Hilfe erschien, so mußte sie so lange liegen bleiben, bis der Fuß geheilt war, denn Ellen konnte sie nicht tragen, wenn sie auch gewollt hätte.
Ja, wenn er dagewesen wäre, was hätte da ihr Unglück bedeutet. Er hätte sie auf die Arme genommen und wäre über Wurzeln gesprungen, als hätte er eine Feder zu tragen. Der Arm, der zentnerschwere Steine durch die Luft schleudern konnte, als wären Sie Spielbälle, der hätte wohl auch ihre leichte Gestalt unermüdlich gehalten. An seiner Brust drohte ihr keine Gefahr, und wenn der Weg auch durch Feuer und Wasser gegangen wäre, sie hätte keine Angst gekannt, sie hätte gejubelt. Ach, wo war er jetzt? Wie weit waren sie voneinander getrennt? Warum konnte er jetzt nicht hier sein und ihr mit seiner tiefen Stimme, die aber doch so sanft klang, wenn er mit ihr sprach, Koseworte zuflüstern? Weit, weit war vom grausamen Schicksal das Ziel ihrer Träume gerückt worden.
Mit einem schmerzlichen Seufzer ließ Jessy das Haupt zurückfallen und schloß die von Wehmutstränen feuchten Augen.
Ellen war unterdes mit Juno etwas abseits gegangen. Sie orientierte sich genau über die Gegend, um sich wieder zurückfinden zu können, rief ihrer Freundin noch zu, daß sie bald wiederkäme, hoffentlich mit Jagdbeute, und ging dann tiefer in den Wald hinein.
Es war Nachmittag und der Sonnenschein drückend heiß, aber das dichte Laubgeflecht hielt die sengenden Strahlen ab. Es herrschte eine Ruhe im Walde, wie man sie an schwülen Sommernachmittagen findet, und die bei jedem lebenden Wesen eine einschläfernde Wirkung hervorbringt.
Lautlos kletterte Ellen über Baumwurzeln, huschte durch Büsche und bewegte sich auf den Zehenspitzen vorwärts. Juno merkte sofort, daß ihre Herrin kein Geräusch machen wollte, und nach Art der Hunde ahmte sie die vorsichtigen Bewegungen ihrer Herrin nach. Sie kroch auf dem Bauche, schmiegte sich dicht an die Stämme, und benutzte jedes Versteck, wahrscheinlich, ohne zu wissen, wozu dies nötig war.
Doch die Raubtiernatur war erwacht. Juno benahm sich wie eine Löwin, die nach Beute schleicht, und schon darin erkannte Ellen ihre Tauglichkeit zu dem bevorstehenden Versuche.
Plötzlich blieb letztere stehen, duckte sich hinter einen Busch, und im Nu war Juno an ihrer Seite, wie eine Schlange sich an den Boden schmiegend. Die Löwin hatte, dem funkelnden Blick der Augen nach, schon gesehen, was Ellens Aufmerksamkeit erregte.
Nur wenige Meter entfernt graste ein reizendes Rehkälbchen, die Mutter konnte man nicht sehen.
Ellen überwand das Mitleid, welches sie einen Augenblick beherrscht hatte. Sie, Jessy und Juno brauchten Nahrung, und sie hatte nicht erst nötig, Juno zu verstehen zu geben, was sie tun sollte – die Löwin zitterte schon vor Jagdbegierde.
Juno warf einen Blick auf die Herrin, diese streckte die Hand nach dem Reh aus, und sofort kroch das Tier auf seine Beute zu. Kein Blatt raschelte, kein Ast knackte unter den Füßen des nach Blut dürstendes Tieres.
Aber was war das? Hatte das Rehkalb einen Schutzengel, der über ihm wachte?
Erstaunt sah Ellen, wie plötzlich ein großer, schwarzer Vogel, ein Rabe, von einem Baumast auf das Kälbchen zuflog, ihm um den Kopf flatterte und krächzende Laute ausstieß.
Das Reh blickte auf, sah das anschleichende Raubtier und machte einige Sätze seitwärts, ohne weiter Furcht zu zeigen.
Nun erst bemerkte Ellen, daß sie nicht das einzige menschliche Wesen hier war. Im Jagdeifer hatten sie wie Juno gar nicht die Person gesehen, die dort im Schatten eines Baumes saß.
Ellen glaubte plötzlich die Gestalt eines alten Kindermärchens auftauchen zu sehen, sie wußte nicht gleich welche, aber es mutete sie an, als wäre sie in einem Feenland.
Dort saß ein braunhäutiges Mädchen, eine Indianierin von vielleicht sechzehn Jahren, aber vollkommen entwickelt und schon eine junonische Schönheit – die indianischen Mädchen reifen schnell – sie war sonderbar phantastisch angezogen.
Ein aus schneeweiß gegerbtem Hirschleder bestehendes Kleid, das mit roten Sehnen genäht war und ein zierliches Aussehen hatte, umhüllte die schlanke Gestalt. Es reichte nur bis an die Kniee und war unten mit Franzen besetzt und mit Perlenstickerei geschmückt.
Die Füße waren mit Sandalen bekleidet, deren Riemen bis hinauf an die Kniee so dicht gewickelt waren, daß man die goldbraune Haut nur durchschimmern sah.
Das Kleid war ärmellos, die runden, wunderbar schön geformten Arme waren bloß, und der volle Busen wurde von einer Art von Mieder gehalten, welches den oberen Teil der Brust sehen ließ. Neben ihr lag ein Jäckchen, ebenfalls aus weißgegerbtem Hirschleder, welches sie der Hitze wegen abgetan hatte.
Das lange, schwarze Haar fiel über den entblößten, herrlichen Nacken auf den Rücken herab und wurde nur oben auf dem Kopfe von einem seltsamen, bunten Federbusch zusammengehalten. Der Ring, in dem die Federn saßen, schimmerte wie Gold, vielleicht war er auch wirklich aus diesem edlen Metall gefertigt.
Sah man aber das Gesicht dieses Mädchens, so vergaß man darüber alles Fremdartige ihrer Erscheinung.
Es waren stolze, schöne Züge, und doch lag etwas so unendlich Kindliches in ihnen, daß man den Blick nicht wieder wegwenden konnte. Die edle, gerade Nase, mit der Stirn gleichlaufend, das dunkle, glühende Auge, die geschwungenen Augenbrauen vermochten diesen Eindruck nicht zu schwächen, ebenso wie die volle, entwickelte Figur, welche einer erwachsenen Jungfrau anzugehören schien.
Das Gesicht blieb das eines Kindes, unendlich lieblich und unschuldig, und so mußte auch die Seele dieses Wesens sein. Wie hätten solche Züge trügen können?
Die Indianerin hatte eine Menge gepflückter Blumen neben sich liegen, aus denen sie Kränze wand. Einen hatte sie schon über den rechten Arm gestreift und ihn sich an der Schulter befestigt, und nun schien sie an einem zweiten zu arbeiten.
Sie mußte dabei an etwas Heiteres denken. Ein reizendes, glückliches Lächeln schwebte auf den lieblichen Zügen, der kleine Mund mit den schwellenden Lippen war halb geöffnet und ließ die Perlenzähnchen durchschimmern.
Jetzt betrachtete sie den angefangenen Kranz, neigte dabei den Kopf etwas zur Seite, so daß er die volle Schulter fast berührte.
Das alles hatte Ellen schnell übersehen, und nun wurde sie Zeuge einer sonderbaren Szene.
Das Rehkalb war zu der Indianerin gesprungen und berührte mit dem Vorderfuß das Knie derselben. Diese blickte auf, streichelte das Tierchen, sagte in einer fremden Sprache einige liebkosende Worte zu ihm, als aber das Reh zu scharren fortfuhr und den Kopf nach der Löwin wandte, die ohne Rücksicht auf das Mädchen wieder ihr Opfer anschlich, bemerkte auch die Indianerin die drohende Gefahr.
Seltsam, sie sprang nicht auf und floh nicht. Sie schien auch nicht zu erschrecken, sondern streckte ruhig die Hand nach dem sich zum Sprunge duckenden Raubtier aus, schnalzte mit den Fingerchen und rief ihm etwas zu.
Ellen war außer sich vor Staunen. Die hungrige Löwin hatte das Tier vergessen, mit wedelndem Schwanze lief sie wie ein Lamm zu der Indianerin und leckte die Hand, welche sie streichelte. Mit einem wunderbaren Glanze ruhte das Auge des Mädchens auf der Löwin, sie schien sich über das Tier zu freuen, nicht aber sich zu wundern oder zu fürchten.
Juno schmiegte sich dicht neben ihr ins Gras. Auf der anderen Seite tat das Rehkalb dasselbe, und der Rabe setzte sich auf die Schulter des Mädchens, seinen Schnabel an ihr Ohr legend, als flüstere er ihr leise etwas zu. Es war ein Bild aus dem Garten Eden.
Ellen konnte sich nicht mehr halten. Sie mußte dieses Idyll durch ihre Dazwischenkunft stören, denn vor allen Dingen galt es, das Mädchen für sich zu gewinnen.
Diese Indianerin konnte nicht allein hier sein. Ihr Dorf mußte sich in der Nähe befinden, und zu fürchten war sie keinesfalls
Als Ellen das Versteck hinter dem Baume verließ und auf die Indianerin zuschritt, sprang diese erschrocken auf, ebenso das Rehkalb, und beide wollten sich zur Flucht wenden. Sie fürchtete sich nicht vor dem Raubtier, wohl aber vor dem Menschen. Vielleicht hatte sie Grund dazu.
»Fürchte dich nicht,« rief Ellen schnell, »ich tue dir nichts. Ich bitte dich, fliehe nicht.«
Scheu wandte das Mädchen den Kopf zurück.
»Bist du allein?«
Wieder mußte Ellen staunen.
Diese, mit einer leisen, melodischen, halb singenden Stimme vorgebrachte Frage war im reinsten Englisch gesprochen worden.
»Ich bin allein.«
Die ängstlich gewordenen Züge des Mädchens hellten sich wieder auf, das alte Lächeln strahlte wieder auf ihnen, und sofort setzte sich die Indianerin in das Gras zurück und hob den Kranz auf.
»Setze dich hierher zu mir!« sagte sie einfach.
Ellen wußte nicht, was sie tun sollte. Ihr ahnte, daß sie das seltsamste, reinste Naturkind vor sich hatte, welchem sie je begegnet. Immer mehr kam ihr das Gefühl, als befände sie sich im Paradies, und dies Gefühl wurde stärker, je länger sie mit dem kindlichen Mädchen zusammen war.
Ellen setzte sich neben dasselbe ins Gras.
»Kannst du Kränze flechten?«
Seltsame Frage, wenn sich zwei Menschen zum ersten Male in der Wildnis treffen.
»Ja, aber nicht so schön wie du.«
Ellen ging auf das Gespräch ein und fügte sich in die sonderbare Weise der Indianerin.
»Ist dies dein Spielgefährte?«
Die Indianerin deutete auf Juno.
»Es ist eine Löwin,« entgegnete Ellen, weil sie meinte, die Indianerin kenne solch ein Raubtier doch nicht, aber sie hatte sich getäuscht.
»Ich weiß, Löwen sind in Afrika,« sagte das Mädchen und strich träumerisch das gelbe, prachtvolle Fell der Katze.
Woher in aller Welt wußte diese Indianerin etwas von Löwen und Afrika? War sie in einer Schule gewesen?
»Afrika ist ein großes, großes Land, fast so groß wie Amerika, und dort gibt es Löwen,« fuhr die Indianerin in ihrer leisen, singenden Weise fort. »Ich habe Bilder von Löwen gesehen, und der alte Vater hat mir davon erzählt.«
Einen Augenblick dachte Ellen, sie habe es mit einer Wahnsinnigen zu tun, aber gleich verwarf sie diesen Gedanken wieder.
»Wie heißt du?« fragte nach einer kleinen Pause das Mädchen.
»Ich heiße Ellen.«
»Und ich werde Waldblüte genannt. Mein Bruder hat mir diesen Namen gegeben,« sagte die Indianerin, während ihre Fingerchen in den Blumen wühlten.
»Wer ist dein Bruder?«
Waldblüte schaute die Fragerin mit den großen, dunklen Augen verwundert an, lächelte dann verlegen, so daß die schneeigen Zähne wieder zum Vorschein kamen, und sagte einfach:
»Er ist mein Bruder.«
»Wie heißt dein Bruder?«
»Er hat keinen Namen, aber ich nenne ihn Sonnenstrahl, ich wüßte keinen anderen Namen für ihn, und so wird er von den anderen auch genannt. Er ist meine Sonne, wäre er nicht bei mir, so wäre es dunkel um mich.«
Die Augen des Mädchens strahlten in warmem Glanze, es vergaß ganz, den Kranz zu flechten.
Ellen wußte, daß der Indianer, wenn er zum Krieger erklärt wird, sich erst einen Namen verdienen muß. Daher fielen ihr die Worte der Indianerin nicht auf.
Sie hatte von anderen gesprochen, da mußte Ellen erfassen und ausforschen.
»Wo wohnst du, Waldblüte?«
»Hier.«
»Hier? Wo denn?« rief Ellen verwundert.
Das Mädchen lächelte.
»Du wunderst dich, weil du nicht das siehst, von dem ich spreche. Aber das soll man nicht, sagt der alte Vater.«
Die Indianerin suchte auszuweichen.
»Ist der, von dem du sprichst, dein Vater?«
Waldblüte schüttelte den Kopf.
»Ich habe keinen Vater,« sagte sie fast fröhlich.
»So ist er tot?«
»Nein, ich bin ein Sonnenkind.«
Verstohlen blickte Ellen die Indianerin von der Seite an. Wieder begann sie an deren Verstande zu zweifeln. Waldblüte hatte die Arme hinter dem Kopfe verschränkt, lehnte sich zurück an den Baum und blickte mit ihren großen Augen in die strahlende Sonne, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
So schien sie wirklich ein Kind der Sonne zu sein; ihre Augen durften die Mutter schauen, ohne daß sie sich schmerzhaft schlossen.
»Ich verstehe dich nicht,« sagte Ellen.
Das Mädchen streckte die Arme nach der Sonne aus und sagte lächelnd:
»Ich bin eine Prophetin.«
»Arahuaskar, Arahuaskar,« kreischte plötzlich eine heisere Stimme über dem Haupte Ellens, und erschrocken fuhr diese auf. In den Zweigen des Baumes saß der Rabe, der diesen Namen gerufen hatte.
Da schoß durch Ellens Kopf ein Blitzstrahl des Verständnisses. Jetzt konnte sie sich erklären, wer dieses seltsame Mädchen war. Sie glaubte es wenigstens, und war es zutreffend, dann war diese Begegnung ein sonderbarer Zufall.
Hatte Miß Thomson nicht schon den Namen Arahuaskar ausgesprochen? Ja, so hieß der Knabe, auf den die Indianer wie auf einen Messias hoffen, der sie zur einstigen Größe, zur alten Herrlichkeit der Azteken, der Ureinwohner Mexikos und Texas', zurückführen sollte.
Ellen wollte weiterforschen, aber auch Waldblüte war bei Nennung dieses Namens erschrocken aufgesprungen und hatte eine bestürzte Miene angenommen.
»Ich darf nicht hierbleiben und mit fremden Menschen sprechen,« stammelte sie, »und mit Weißen gar nicht. Lebe wohl!«
Doch schon stand Ellen neben ihr und hielt sie zurück.
»Bleibe bei mir!« bat sie, den Zusammenhang erfassend. »Ich verrate dich nicht, wenn du mir auch nicht helfen willst. Ich bin ein unglückliches Mädchen, ich habe mich in diesem Walde verlaufen; schon zwei Tage irre ich ohne Nahrung umher.«
»Zwei Tage?« fragte die Indianerin bestürzt. »Das ist lange, dann mußt du hungrig sei».«
»Ich bin sehr hungrig.«
»Ich werde dir zu essen bringen.«
Und wieder wollte Waldblüte davonlaufen, wurde jedoch abermals zurückgehalten.
»Ich habe dir vorhin nicht die Wahrheit gesagt,« rief Ellen, sich plötzlich Jessys und ihrer anderen Freundinnen erinnernd – sie wurde von einer bangen Angst um deren Schicksal erfaßt, »nicht weit von hier liegt eine Freundin von mir, sie hat den Fuß gebrochen und kann nicht gehen. Wir müssen beide verhungern, wenn sie nicht untergebracht wird. Weißt du keinen Ort, wo sie bleiben kann, während ich weitergehe? Ich muß fort, ich habe keine Minute zu verlieren.«
Gespannt hingen Ellens Augen an den Lippen der Indianerin.
»Den Fuß hat deine Freundin gebrochen?« sagte die Indianerin mit tiefem Bedauern. »Komm, zeige sie mir; wenn sie nicht gehen kann, so muß der alte Vater sie heilen!«
Wer war froher als Ellen? Ihr Herz jubelte in neuer Hoffnung auf. –
Jessy hatte angstvoll auf die Freundin gewartet. Wie elend kam sie sich in ihrer hilflosen Lage vor, und wie groß waren ihre Freude und ihr Staunen, als sie Ellen in Begleitung einer jungen Indianerin ankommen sah, hinter welchen Juno und ein Rehkalb wie Hunde troddelten.
Waldblüte ging sofort auf das Mädchen zu, reichte ihm lächelnd die Hand und fragte in ihrer kindlichen Weise:
»Wie heißt du?«
Jessy warf einen Blick auf Ellen und antwortete:
»Jessy.«
»Ich will deinen Fuß besehen.«
Sie kniete nieder, löste den Verband mit zarter Hand und schüttelte unwillig das Köpfchen, als sie die Schienen sah.
»Das ist nicht gut, Waldblüte wird es besser machen. Du, Ellen, kannst Wasser holen.«
Das Wasser war bald zur Stelle, und mit der Geschicklichkeit eines Arztes schiente Waldblüte den gebrochenen Fuß von neuem, so zart, daß Jessy fast gar keinen Schmerz verspürte.
Ellen wollte bei dieser Gelegenheit noch einmal das Mädchen möglichst unverfänglich auszufragen suchen, um zu erfahren, ob es wirklich die Schwester von Arahuaskar war, von denen ihr Betty erzählt hatte.
»Fürchtest du dich nicht vor der Löwin?« begann sie das Gespräch, während Waldblüte schiente.
»Ich fürchte kein Tier,« lächelte die Indianerin, »ich brauche nur zu rufen, so kommen sie alle, Rehe, Hirsche, Vögel und nehmen Futter von mir. Sogar Bären und Leoparden lassen sich von mir anfassen, wenn ich sie ansehe.«
»Warum, wenn du sie ansiehst?«
»Arahuaskar sagt, meinem Blicke müßte jedes Tier gehorchen, wenn ich es nur richtig ansehe, und er hat mich gelehrt, wie ich das machen muß. Sonnenstrahl hat noch viel mehr Macht über Tiere, als ich.«
Ellen wurde nicht klug aus dieser Rede. Wer war Arahuaskar, wer war Sonnenstrahl?
»Ist Arahuaskar dein Bruder?«
Die Indianerin schlug die großen Augen mit den langen, seidenen Wimpern erstaunt auf, ließ einen Augenblick die Hände ruhen und brach dann in ein silbernes Lachen aus.
»Arahuaskar, mein Bruder? Der ist ja alt, o, so alt und häßlich, und Sonnenstrahl ist schön wie die Sonne.«
Und das Mädchen schüttelte lachend die schwarzen Haare um den Kopf. So hatte sich also entweder Miß Thomson oder der Häuptling, der ihr dies erzählt hatte, getäuscht. Arahuaskar war alt, Sonnenstrahl ihr junger Bruder. Vielleicht war Arahuaskar, der Mann mit dem alten, mexikanischen Namen, Sonnenstrahls Vater.
»Wer ist der alte Vater, von dem du vorhin sprachst? Ist das Arahuaskar?«
»Nein, der alte Vater ist ein Weißer, er ist sehr, sehr klug, er kennt und weiß alles, was in der Welt ist, und wie es entsteht. Er kennt jeden Stern, wie weit er von uns entfernt ist und noch viel mehr. Arahuaskar aber ist ein Mexikaner, er ist der letzte der Azteken.«
Waldblüte hatte diese Worte stolz gesprochen, plötzlich aber schrak sie zusammen und blickte ängstlich um sich.
»Ich darf darüber nicht sprechen, man hat es mir verboten. Ihr werdet es aber niemandem wiedererzählen?« fügte sie bittend hinzu.
»Sei unbesorgt, wir plaudern nicht! Aber wir hoffen, daß du die Kranke bei dir behältst, bis sie gesund ist. Willst du?«
Waldblüte sah sinnend auf den geschwollenen Fuß, sie strich sanft über die gerötete Haut desselben, richtete sich dann auf und sagte:
»Ich will. Arahuaskar wird zwar schelten, wenn ich aber meinen Bruder bitte, daß er mir beisteht, so muß er nachgeben. Er fürchtet sich nämlich vor Sonnenstrahl,« sagte sie wichtig. »Sonnenstrahl ist alt genug, daß er ein Krieger wird, und er sehnt sich hinaus, um die Kunst zu verwerten die er erlernt hat, aber Arahuaskar hält ihn noch immer zurück. Er sagt, die Zeit wäre noch nicht da.«
»Welche Zeit?« fragte Ellen, obgleich sie ahnte, was Waldblüte meinte.
Die Indianerin ließ den verbundenen Fuß sinken, richtete sich hoch auf und sagte:
»Die Zeit, da Sonnenstrahl die roten Krieger um sich versammelt, und ich ihnen verkünde, daß Sonnenstrahl der Häuptling ist, vor dem sich alle anderen Häuptlinge beugen müssen. Dann ist die Zeit gekommen, da Sonnenstrahl die weißen Fremden wieder aus dem Gebiete der Indianer treibt, da kein schwimmendes Haus mehr landen darf, und da die Indianer wieder reich und mächtig werden. Sonnenstrahl wird die Krieger in den Kampf führen, und ich werde Mexitli und Huitzilopochtli Zwei Kriegsgötter der Azteken, der untergegangenen Ureinwohner von Mexiko. opfern, damit sie die Feinde mit Blindheit schlagen, und man wird mich hören.«
Die beiden Freundinnen hatten verstanden, und sie fühlten plötzlich tiefes Mitleid mit der Indianerin.
Sie, wie ihr Bruder waren wahrscheinlich Werkzeuge irgend eines alten, schlauen Indianers, der sich für einen Azteken hielt und glaubte, er könnte die alte Herrlichkeit seiner Väter wieder aufrichten. Sonnenstrahl sollte als Häuptling auftreten, und da die Indianer, ehe sie in den Kampf ziehen, den Prophezeihungen einer weisen Frau lauschen, so wurde von ihm gleich eine Prophetin – Waldblüte – erzogen, welcher er günstige Prophezeihungen in den Mund legte.
»Wo steht dein Wigwam?« fragte wieder Ellen.
»Ich habe keinen.«
»Wo wohnst du?«
»Wir leben im Tempel des Huitzilopochtli,« war die Antwort. »Jetzt sind die Mauern und Säulen zerstört; kein Stein steht mehr auf dem anderen, aber mein Bruder wird sie wieder aufbauen und, wie Arahuaskar sagt, mit dem Blute der Fremdlinge zusammenkitten. Aber mein Bruder ist gut, er wird nicht grausam sein,« fügte Waldblüte wie entschuldigend hinzu.
Es lag in der Indianerin ein seltsames Gemisch von Kindlichkeit und Erfahrung. Jedenfalls war sie sich der Rolle gar nicht bewußt, welche sie einst spielen sollte, ebensowenig des Unternehmens, welches Arahuaskar im Sinne hatte.
Doch Ellen und Jessy dachten gleichzeitig an etwas anderes. Waldblüte hatte von einer Ruine gesprochen.
»Du sagst, ihr wohnt in einer Ruine?« fragte Ellen mit angehaltenem Atem.
»Ja, so nennt auch der alte Vater manchmal den zerfallenen Tempel, aber wir wohnen unter der Erde.«
»Gibt es noch eine andere Ruine in der Nähe?«
Die Spannung der Fragerinnen wurde immer größer.
»Nein, für einen Vogel mit schnellem Flug ist eine andere Ruine wohl nahe, aber selbst der durstige Hirsch läuft zwei Tage und eine Nacht, ehe er sie erreicht.«
»Euer Tempel ist die einzige Ruine hier in dieser Gegend?«
»Die einzige.«
Ellen sprang auf die Indianerin zu und faßte sie heftig am Arm, aber Waldblüte lächelte nur verwundert.
»Sprich!« stieß Ellen hervor. »Weißt du, ob in dieser Ruine heute weiße Männer eingetroffen sind? Männer und Frauen, Mädchen wie wir? Schnell, sprich!«
Lächelnd schüttelte Waldblüte den Kopf.
»Nein, wenn sie kämen, so würden sie beobachtet, und Sonnenstrahl würde mich rufen.«
»Gott sei Dank!« stöhnte Ellen. »Sie sind noch nicht da. Wir sind ihnen zuvorgekommen, weil sie wahrscheinlich durch irgend etwas aufgehalten worden sind.«
»Oder sie haben ihr Ziel geändert,« warf Jessy ein.
»Wir wollen dies nicht hoffen. Waldblüte, wo ist die Ruine, von welcher du sprachst?«
Die Indianerin deutete nach der Seite.
»Gleich hier, ganz in der Nähe. Der Wald verdeckt sie nur, sonst könntet ihr sie sehen. Sie ist sehr groß, es ist eine ganze zusammengefallene Stadt.«
»Willst du uns aufnehmen bei dir, Waldblüte?« fragte Ellen bittend.
Die Indianerin überlegte.
»Ja, ich will,« sagte sie dann fest. »Ihr seid beide hungrig und müde, ich will euch pflegen. Wenn Arahuaskar mich schilt, so entschuldigt mich deine kranke Freundin. Sie kann ja nicht gehen. Wo soll sie bleiben, wenn ich mich ihrer nicht annehme? Ueberdies brauche ich es nur Sonnenstrahl zu sagen und ihn zu bitten, der wird sofort durchsetzen, daß ihr bei mir bleibt, bis Jessy gesund ist. Es dauert nicht lange, der alte Vater kann sehr schnell heilen.«
»Wohin gehst du?« fragte Ellen, als Waldblüte sich entfernen wollte.
»Ich hole meinen Bruder. Er wird deine Freundin tragen, denn wir sind doch zu schwach dazu. Er wird sich freuen, wenn er meinen Freundinnen dienen kann.«
»Wie weit ist es bis nach der Ruine?«
Wieder zeigte Waldblüte lachend die Zähne.
»Ihr waret sehr nahe an einem Eingange zu unserer Wohnung, ohne daß ihr es wußtet,« lachte sie. »wir leben nämlich wie die Füchse; überall haben wir Ein- und Ausgänge. In drei Minuten bin ich wieder bei euch.«
Waldblüte eilte zwischen die Baume und war plötzlich verschwunden. Jedenfalls hatte sie ein hohler Baumstamm aufgenommen, in dem sich ein Zugang zu den unterirdischen Gewölben befand, mit denen die Tempel der Azteken versehen sind. In ihnen wurden die Leichen der Könige und Vornehmen einbalsamiert aufbewahrt.
»Dieses Mädchen hat uns Gott gesandt,« rief Ellen freudig, als Waldblüte mit dem Rehkalb und dem Raben verschwunden war, »ich fühle eine wunderbare Zuversicht in mir. Ich weiß es plötzlich bestimmt, daß wir unsere Freundinnen alle retten können.«
»Wir wollen hoffen, daß die Räuber unterwegs aufgehalten worden sind. Uebrigens sprach Frankos, der Anführer, von zwei Tagemärschen, so wäre es also möglich, daß er wohl den Weg zur Ruine weiß, aber längere Zeit braucht als wir.«
»Die Hauptsache ist vorderhand, daß Sie eine Unterkunft finden, wo Sie in Ruhe den Fuß heilen lassen können. Doch still,« unterbrach sich Ellen, »dort kommt Waldblüte schon wieder. Wahrhaftig, ein Mann begleitet sie, und, den glänzenden Augen nach, muß es Sonnenstrahl, ihr Bruder, sein.«