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Bitte den Text auf nebenstehender Umschlagseite zu beachten, Heft 2. Die Totenstadt.
Alle Rechte vorbehalten.
Als Richard die Kammerthür öffnete, kam ihm eine schneidende Kälte entgegen, und wie er die Schwelle überschritt, sah er sich auf dem Söller des Kirchturmes seiner Vaterstadt.
Er stand nicht zum ersten Male hier oben und kannte schon das Panorama, das sich tief unter ihm ausbreitete.
Es war ein kalter, klarer Januartag eines schneereichen Winters. Der Schnee lag zu beiden Seiten der Straßen hoch aufgehäuft und hing festgefroren über die Dächer hinab.
Reizend war das lebende Bild, von hier oben aus gesehen. Wie die kleinen Menschlein in den Straßen trippelten, wie sie in den Durchgängen verschwanden und auf der anderen Seite wieder zum Vorschein kamen, wie die Pferdchen vor den winzigen Wagen trabten und die Droschkenkutscher unten am Halteplatze neben der Kirche die Arme um den Leib schlugen! Dort war der Schwanenteich; Schlittschuhläufer tummelten sich darauf, und weiter über die Stadt hinaus sah Richard die Umgegend unter dem weißen Leichentuche des Winters liegen, und nur dunkle Punkte bezeichneten die Lage der eingeschneiten Dörfer.
Plötzlich geschah dort unten etwas Besonderes. Zuerst sah Richard eine Dame hinfallen, die ausgeglitten sein mochte, und die nicht wieder aufstand, da ihr niemand behilflich war – dann stürzten zwei andere Menschen, dann ein Pferd und noch eins, und nun sanken die soeben auf der Promenade mit klingendem Spiel marschierenden Soldaten eines Regimentes in Reihen zu Boden, gerade so, als wenn man aufgestellte Bleisoldaten der Reihe nach umwirft. Und überall, wohin Richard auch blicken mochte, wiederholte sich dieses sonderbare Schauspiel.
Von hier oben beobachtet, wirkte es allerdings nur possierlich, dort unten aber schien eine Panik entstanden zu sein. Die ganze Stadt glich einem aufgestocherten Ameisenhaufen, die Straßenpassanten gingen nicht mehr nur in schnellem Geschäftsschritt, nein, jetzt rannten sie wirklich aufgeregt hin und her – um dann früher oder später ebenfalls nieder zu stürzen und sich nicht wieder zu erheben.
Gleichzeitig merkte Richard noch etwas anderes. Bis vor einem Augenblick hatte er noch die schneidende Kälte verspürt; jetzt plötzlich wurde es ihm siedend heiß. Und das war keine Einbildung. Die Wärme lag wirklich in der Luft, denn plötzlich begann es von den Dächern zu tropfen. Es floß, es goß, und schon polterte der Schnee donnernd auf die Straßen hinab!
Richard verließ den Söller, um sich hinunter zu begeben.
Tag und Nacht entstehen durch die Drehung der Erde um sich selbst, der Wechsel der Jahreszeiten aber wird durch die Drehung der Erde um die Sonne verursacht. Dabei bleibt sich die Erdachse auf der elliptischen Laufbahn um die Sonne immer parallel. Diese Achse der Erde geht durch den Nordpol und durch den Südpol.
Nun hatte Richard gewünscht, daß sich die Achse der Rotation um neunzig Grad verschöbe, daß also die neuen Pole auf den bisherigen Aequator zu liegen kämen.
Die Insel Singapore wird von dem Aequator durchschnitten. Denkt man sich von ihr aus eine Linie durch das Centrum der Erde gezogen, so stößt man gerade auf die Stadt Quito in dem südamerikanischen Staate Ecuador. Diese beiden Punkte hatte Richard als die neuen Pole der Erdachse bestimmt.
Macht man sich dies auf einem Globus klar, so wird man finden, daß der dadurch entstandene neue Aequator durch Deutschland geht, und zwar genau über Leipzig. Dies hatte Richard gewollt. An einem eiskalten Januartage sollte seine Vaterstadt durch einen Rutsch der Erdachse plötzlich direkt auf dem Aequator liegen.
Die plötzliche Wärme und das Schmelzen des Schnees konnte er sich also wohl erklären, nicht aber das Umfallen von allem Lebendigen.
Er hatte den Fuß der Turmtreppe noch nicht erreicht, als er schon auf eine Leiche stieß. Es war diejenige des Türmers, eines alten Mannes, der allein hier oben gehaust hatte.
Als Richard aus der Thür auf die Straße trat, kam ihm vollends die Ueberzeugung, daß alles Lebende vernichtet worden war. Menschen, Pferde, Hunde, Tauben, Sperlinge – alles lag tot da; sie konnten nicht gelitten haben, die Gesichter der Menschen zeigten wohl Angst aber keine Leiden.
Doch nein, nicht alles war tot. Von einem Dache flatterte eine Schar Tauben herab und ließ sich zwischen den Leichen nieder. Wie waren diese dem Tode entronnen?
Daß eine Erdrevolution stattgefunden hatte, wie er es sich früher manchmal in Gedanken gewünscht, daß er sich nun plötzlich auf dem Aequator befand, dessen war Richard sich sofort bewußt gewesen, ohne sich darüber nähere Rechenschaft geben zu können. Jetzt überlegte er nur, wie er selbst und diese Tauben noch zu leben vermochten, während alle anderen Menschen und Tiere doch verendet waren. Endlich fand er eine Erklärung. Die veränderte Erdumdrehung mochte doch nicht so ganz ohne alle Folgen geblieben sein. Vielleicht waren irgendwo anders vulkanische Ausbrüche erfolgt und der Erde giftige Gase entströmt, die, schwerer als die Luft, dicht über den Boden hinstrichen und in einem Augenblick alles darauf Lebende vergifteten, sodaß nur noch die hoch über ihrem Bereiche befindlichen Wesen, wie zum Beispiel einzelne Vögel und er selbst, von dem Untergänge verschont geblieben waren.
Die Aequatorregion machte sich immer mehr bemerkbar. Die mächtigen Schneehaufen schmolzen zusehends zusammen, die Schleusen konnten das Wasser nicht mehr schlucken, Bäche ergossen sich durch die Straßen, den Flüssen und tief gelegenen Teichen zu, deren Eis schon handhoch mit Wasser bedeckt war.
Richard warf Mantel und Jacke weg und hielt weitere Umschau in seiner Vaterstadt. Alles war tot, alles gehörte ihm! In den Geschäften lagen die Verkäufer tot hinter den Ladentischen, in den Restaurationen Wirt und Kellner tot neben den Gästen.
Er gelangte auf den Bahnhof. Auch dort war alles gestorben. Die Uhr ging noch, der Fahrplan sagte ihm, daß gleich ein Zug einlaufen müßte; aber es kam kein Zug, und niemals mehr konnte man aus die Ankunft eines solchen rechnen.
Dann fiel ihm ein, sich einmal in einem Hause umzusehen. Er betrat also das höchste in dieser Stadt gelegene fünfstöckige Gebäude, auf dessen Dache sich außerdem noch eine Mansarde befand. In der zweiten Etage lag ein Dienstmädchen; es hatte die Treppe gekehrt und die Vorsaalthür offen gelassen. Richard sah, daß die ganze Familie und auch die Katze den giftigen Gasen erlegen waren.
Er stieg noch höher, bis in die Mansarde hinauf. Auch hier war die Vorsaalthür geöffnet. In dem Wohnzimmer saßen ein Mann und eine Frau, die den Kopf auf den Tisch gelegt hatten.
Es mußte ein Schuhmacher sein, der hier zu Hause arbeitete; das Ehepaar hatte sich eben zum Frühstück hingesetzt; Brot, Butter, Käse und eine Schnapsflasche standen noch auf dem Tisch, als sie der Tod überraschte.
Schon wollte Richard wieder gehen, als er ein Röcheln vernahm. Die Frau bewegte sich! Er holte Wasser und rieb ihre Schläfe; sie kam zu sich, und dann auch der Mann. Das giftige Gas hatte hier oben nur noch eine schwache Wirkung gehabt.
Verstört vernahmen sie Richards Bericht. Sie vermochten ihm nicht eher zu glauben, als bis sie aus dem Fenster geblickt hatten. Dann gingen sie mit ihm auf die Straße hinab.
Es war ein noch junges Ehepaar ohne Kinder, der Mann war Schuster.
Schließlich begriffen sie, daß sie allein am Leben geblieben.
»Herrjeh, Marie,« rief der Mann, »wenn niemand mehr lebt, dann gehört doch alles uns!«
Vorsichtig nahm er einen schönen Spazierstock auf, dabei ängstlich nach einem toten Schutzmann blickend, dann warf er ihn wieder weg und untersuchte die Taschen eines elegant gekleideten Herrn, ließ auch wieder davon ab und betrat endlich den ersten Laden in seiner Nähe, ein Juweliergeschäft, um bald jubelnd, die Hände gefüllt mit Ringen und Uhren, wieder heraus zu kommen.
Auch die junge Frau fand sich rasch in ihre Lage; sie nahm einer vornehmen Dame Pelz und Hut ab und schmückte sich damit, obgleich die Sonne schon furchtbar heiß vom Himmel herabbrannte.
Vergebens bat Richard die beiden, sich doch mit ihm zu überlegen, was nun zu thun sei; hier in dieser Totenstadt könnten sie doch nicht bleiben, auch müßten sie an ihren Lebensunterhalt denken, da sie schon in kurzer Zeit keine Nahrungsmittel mehr haben würden.
»Was, wir hätten bald nichts mehr zu essen?« lachte der Schuster. »Die Fleischerläden, die Handlungen mit Delikatessen – alles steht uns ja frei. Jetzt gehe ich aber erst in eine Weinstube. Hei, nun soll ein Schlaraffenleben beginnen!«
Damit stürzte er davon, in die nächste Weinhandlung, während die Frau neugierig in ein Modewarengeschäft trat. Als Richard ihr nachging, fand er sie vor einem Spiegel stehen, wie sie eine Reihe von Hüten aufprobierte. Die besten Gesellschafter hatte Richard gerade nicht gefunden, beide waren durch die ungewohnte Situation fast närrisch geworden.
Er sagte der Frau, daß er einen Ausflug in die Umgegend machen wolle, um sich zu überzeugen, wie es draußen aussehe, und da sie sich in der verödeten Stadt nicht leicht wiederfinden könnten, sollte sie nicht vergessen, auf den Altar der Kirche einen Zettel zu legen, wenn sie sich eine andere Wohnung wählten. Er würde es auch so thun, dann wüßten Sie doch immer, wo sie einander zu suchen hätten. Die Frau bejahte zerstreut und sagte, sie wolle daran denken.
Dann ging Richard in ein Fahrradgeschäft, das auch Waffen führte, wählte sich das beste, für ihn passende Rad aus, ebenso das schönste Gewehr und einen Revolver, versorgte sich mit Munition und bestieg das Rad, um in die Umgegend zu fahren.
Dies alles zeigte, daß er selbst der Verlockung erlag, unbeschränkter Herr und Besitzer der Stadt zu sein, auch er griff nach dem, wonach sein Sinn stand. Er fuhr erst lange Zeit auf der aufgeweichten Straße, ehe es ihm einfiel, daß ihm ja niemand mehr verbieten könne, das Trottoir zu benutzen.
Nur eine halbe Stunde war mit seiner Ausrüstung vergangen, aber als er wieder durch jene Gegend kam, wo er die beiden Gefährten verlassen hatte, sah er bereits den Schuster, eine Champagnerflasche in der Hand, so betrunken durch die Straßen taumeln, daß auch er voraussichtlich bald wie eine Leiche am Boden liegen mußte, seine Frau aber stolzierte neben ihm als vornehme Dame einher, von oben bis unten mit blitzendem Schmuck behangen.
Die Landstraße war von der hochstehenden Sonne schon getrocknet. Von den Feldern war der Schnee weggeschmolzen, die frischen, grünen Spitzen der Wintersaat zeigten sich bereits und bildeten mit den unbestellten Aeckern und den blätterlosen Bäumen einen merkwürdigen Gegensatz. Auch ein auf der Landstraße stehender Schlitten nahm sich seltsam aus, der Kutscher war tot vom Bock gefallen, davor lag das Pferd. Ferner sah Richard viele tote Mäuse, Hasen und Vögel, alles hatte die Giftwelle vernichtet, doch wurde die Luft noch immer von Vögeln belebt. Aber ein vierfüßiges Tier schien nicht mehr zu leben.
Während des Fahrens überlegte sich Richard, daß der Schuster schließlich doch recht hatte, wenn auch anders, als er meinte. Eine Hungersnot konnte für sie nicht eintreten. Es mußte ja ungeheure Vorräte an Mehl und Hülsenfrüchten geben, die nicht so leicht verdarben, und bis dies geschah, war das Getreide und das Obst reif, das in dem neuen, heißen Klima herrlich gedeihen würde. An Fleisch konnte es ebenso wenig fehlen, dafür sorgten zunächst die Konserven, und dann gaben die Vögel, schon allein die Tauben, die sich stark vermehren würden, wenn man sie in Ruhe ließ, genug jagdbares Wild ab.
Wie mochte aber später, vielleicht in zehn Jahren, diese Gegend aussehen? Sie würde jedenfalls ein sehr glückliches Land werden. Getreide, Kartoffeln und Obst wuchsen dann gewiß in Ueberfluß und trugen hundertfältige Frucht, der Mensch brauchte ja nur etwas Fleiß auf das Land zu verwenden, das ihn ernähren sollte. An Fleisch mangelte es auch nicht. Die Plagen der südlichen Länder – Schlangen, Skorpione, Mosquitos und so weiter – fehlten ganz. Denn in dieser Gegend war nie eine Kreuzotter gefangen worden, und schließlich konnte man sich dieser kleinen Schlangen leicht erwehren, ihre furchtbare Gefährlichkeit spukte mehr in den Köpfen ängstlicher Menschen, als sie in Wirklichkeit vorhanden war. Ebenso wenig gab es Raubtiere.
Den bunten Charakter einer tropischen Region würde die Landschaft allerdings nicht annehmen. Sie blieb auch unter der Aequatorsonne die deutsche voller Eichen und Buchen, die sich allerdings zu Urwäldern vermehren würden, auch aus den Raupen in den Puppen, wenn diese nicht getötet wurden, konnten sich nur die bekannten deutschen Schmetterlinge entwickeln – kurz, es blieb alles beim alten, die neue Lage auf dem Aequator änderte daran nichts. Nie würde ein Tiger den Wald, eine riesige Giftschlange das Feld, ein Krokodil das Wasser unsicher machen.
Alles das, was der Mensch zu seiner Bequemlichkeit bedarf, war noch für viele Jahre aufgespeichert, und ehe alles vom Witterungseinfluß zerstört worden war, hatte man sicher gelernt, sich zu behelfen. Mußte man sich dann zum Beispiel mit einem aus Pflanzenfasern selbstgewebtem Hemd begnügen, das Feuer mit dem Zündstahl anschlagen, die Tauben mit Pfeil und Bogen erlegen, so schadete dies alles nichts, schließlich würde man auch das wieder erfinden, was man verlernte.
Selbst der Schuster und seine Frau würden sich schon in ihre Lage besser schicken, wenn ihr Rausch erst verraucht war. – –
Das heißt, so dachte Richard. Wir werden bald sehen, daß er sich in allem vollkommen geirrt hatte.
Das Erwägen der Lebensmittelfrage hatte ihm Appetit gemacht. Außerdem brannte jetzt die Sonne mit einer fürchterlichen Glut herab, und die im Winter erkaltete Erde sog ihre Strahlen nicht mehr auf.
Schweißgebadet lenkte Richard einen Nebenweg ein und stieg vor einem alleinstehenden, jedoch von Schuppen umgebenen, massiven Gebäude ab, das ihm als eine am Flusse liegende Mühle bekannt war.
Kein Hund begrüßte ihn, er sah auch keine Leiche. Die Hausthür war verschlossen. Er rückte einen Holzbock an die Mauer, kletterte hinauf, zerschlug ein Fenster und stieg ein.
Wie ein schneller Gang durch alle Räume ergab, hatte sich zur Zeit, als der Tod seine Sichel geschwungen, niemand im Hause befunden. Desto besser, so brauchte Richard keine Leichen zu beseitigen. Es war ein wohlhabendes Haus, in der schönen, großen Küche fand er alles, was er bedurfte, er machte also ein Feuer an, und da eine angeschnittene Rehkeule noch ganz frisch roch, und man, um ein Stück Fleisch zu braten und Kartoffeln zu kochen, keine hohe Küchenschule durchgemacht zu haben braucht, so konnte Richard bald seinen Hunger an einem delikaten Mittagsessen stillen, zu dem sich auch eine von der Hitze erwachte Winterfliege einstellte.
Die Hitze war wirklich außerordentlich. Richard öffnete daher die Fenster des Schlafzimmers in der ersten Etage, wobei er bemerkte, daß sich der Horizont verdunkelte; dann legte er sich auf ein Bett und war bald sanft entschlummert.
Ein Donnern und Rauschen weckte ihn. Es war ein heftiger Gewitterregen. Zuerst dachte er an sein draußen gebliebenes Fahrrad. Aber er konnte die Hausthür nicht öffnen, er hätte erst wieder durch das Fenster steigen müssen, und nun war es doch schon einmal naß, nun mochte es noch so lange draußen bleiben, bis es aufgehört hatte zu regnen.
Aber dies sollte nicht so bald der Fall sein. Die Nacht brach schon an, und es goß noch immer in Strömen. Als Richard in die Küche ging, um sich ein Abendbrot zu bereiten, prallte er entsetzt vor der heißen, pestilenzialisch riechenden Luft zurück, die ihm hier entgegenschlug. Er wußte, woher das kam, bezwang sich aber, stürzte hinein, riß ein Fenster auf und warf die Rehkeule hinaus. Aber auch noch manches andere mußte er nachfolgen lassen: den Inhalt der ganzen Speisekammer, Würste, Schinken und alles, was mit Fleisch zusammenhing. Mochten die geräucherten Sachen auch noch gut sein, er hätte jetzt doch keinen Bissen Fleisch mehr über die Lippen bringen können.
So blieb für heute sein Abendbrot auf Kaffee und trockenes, sehr trockenes Brot beschränkt, nachdem er vergebens nach Butter gesucht hatte – er fand nur ein flüssiges, auch sehr ranzig riechendes Fett.
Der Regen milderte die Hitze nicht; Richard konnte die ganze Nacht ihretwegen kaum schlafen, und dazu belästigten ihn noch einige Mücken – im Januar. Doch nein, durch die Drehung der Erdachse befand er sich jetzt ja schon im August.
Am nächsten Tage regnete es auch noch, am dritten ebenfalls, und so schien es fortgehen zu wollen. Der Fluß war ausgetreten, die ganze Umgegend bildete einen See, und schon hatte das Wasser einen Weg ins Haus gefunden.
Bald wußte Richard nicht mehr, was er essen solle, obgleich das einsame Mühlenhaus überreichlich mit Vorräten aller Art versehen war. Die Fleischsachen waren verdorben, das Mehl schmeckte bereits modrig, Kartoffeln, Zwiebeln, Linsen, Erbsen und alle andere Pflanzenkost blühte und keimte lustig.
Wie kam das? In jenen Zonen des Aequatorialregens kann man doch Erbsen und Bohnen lange Zeit aufbewahren! Ja, aber diese Hülsenfrüchte sind auch dort gewachsen, sie haben einen ganz anderen, durch keinen Winter zurückgehaltenen Lebenskeim in sich, sie widerstehen der feuchten Wärme.
Zum Glück fand Richard einige Büchsen mit Konserven, doch – er mußte sie roh essen, wollte er nicht Hungers sterben. Kein Streichholz zündete mehr, und obgleich er einen Feuerbohrer konstruierte, fand sich doch kein trockenes Holz, alles war feucht, schimmelte und moderte, es war also unmöglich, ein Feuer zu entzünden, das zum Kochen der Speisen hätte dienen können.
Richard wußte nicht, wie lange er so gefangen gewesen – vielleicht war es eine Woche – als endlich die Sonne wieder von einem wolkenlosen Himmel herabstrahlte. Nach einem Tage schon hatte sich das Wasser verlaufen, schnell trocknete der Boden, und Richard dachte nun an seine Rückkehr nach der Stadt. Da aber sein Rad ebenso wie seine Waffen zu einer verrosteten Eisenmasse geworden waren, mußte er zu Fuß wandern. Doch wo war denn der Weg geblieben? Alles, wohin das Auge auch blickte, bildete nur eine einzige grüne Wiese mit meterhohem Grase. Von einer Landstraße war gar nichts mehr zu sehen. Schließlich unterschied er sie doch an dem kürzeren Grün, das ebenso wie auf den unbestellt gewesenen Feldern mehr aus Unkraut bestand, während die Wintersaat schon meterhoch geschossen war. Das mußte eine herrliche Ernte geben! Und alles das hatte der Regen einer einzigen Woche bewirkt! Daß immer alles unter Wasser gestanden, hatte nichts geschadet. Ebenso zeigten alle Bäume schon frische Blätter und sogar Blüten. Die Knospenzeit war bereits vorüber.
Richard schritt der Stadt zu. Was ihm sonst noch auffiel, waren die vielen kleinen und großen Raubvögel, die im Aether schwebten. Auch dicht vor ihm stieg, einen Anlauf nehmend, ein Raubvogel von solcher Größe auf, daß er erschrocken stehen blieb. Das konnte nur ein Adler oder Geier gewesen sein. Wie kam ein solcher nach Deutschland? Nun, einem Segler der Lüfte konnte eine Reise von der Schweiz nach hier nur eine Kleinigkeit gewesen sein.
Schon aus der Ferne sah Richard den Schlitten auf der Landstraße stehen. Er machte jedoch einen großen Bogen über die Felder um ihn herum, ein solch übler Geruch ging von dem verwesenden Pferde aus, das vor dem Schlitten verendet war, und als er noch nicht die ersten Häuser der Stadt erreicht hatte, gab er seinen Vorsatz auf, dieselbe zu betreten, denn ein pestartiger Gestank wehte ihm schon hier entgegen. Dieser war es jedenfalls gewesen, der die zahlreichen Raubvögel angelockt hatte.
So kehrte Richard denn nach der Mühle zurück, nicht wissend, was aus dem jungen Ehepaar geworden sei.
Für Richard begann jetzt kein anderes Leben, als wie es Robinson auf seiner weltverlassenen Insel geführt hatte, obgleich er sich noch immer in dem Glauben befand, von allen Erzeugnissen der Kultur in Hülle und Fülle umgeben zu sein. Er mußte in allem fast gänzlich von vorn anfangen, als wenn er nackt auf die Welt gekommen sei, und er arbeitete denn auch eifrig.
Zunächst mußte er sich Feuer verschaffen, denn die Streichhölzer waren zwar getrocknet, aber blieben unbrauchbar. Es gelang ihm, die Patronen des Revolvers, so verrostet dieselben auch waren, zur Entzündung zu bringen. Er öffnete eine Patrone, rieb einen trockenen Lappen mit Pulver ein und schoß ihn in Brand.
Auch an Fleisch und Brot mangelte es ihm nicht. Das Mehl trocknete zwar ein, lieferte aber trotzdem ein schmackhaftes Gebäck, und da sich Tauben einstellten, die er fütterte, was natürlich dieselben noch mehr anzog, so brauchte er einen vortrefflichen Braten nicht zu entbehren.
Dann fand er in dem Hause außer einigen Jagdgewehren mit Munition auch Angelgerätschaften, sodaß der Fluß ihm. öfters Fische bieten konnte, und die Zeit verging ihm schnell, denn er hatte immer Beschäftigung. Bald putzte er Gewehre, bald konstruierte er schon für später, wenn er einmal keine Patronen mehr besaß, einen Feuerbohrer oder fertigte Bogen und Pfeile, indem er als Spitzen für dieselben Nägel benutzte. Dann wieder sorgte er für die Zukunft, indem er Kartoffeln pflanzte, und endlich fertigte er einen Holzrahmen an, den er mit Gardinen überzog, um so, wenn er die heißen Stunden im Schatten verträumte, einen Schutz gegen die Mücken zu haben, die hier am Flusse in zahllosen Schwärmen auftraten. Inzwischen beobachtete er die Vegetation und die Tierwelt. Da bemerkte er gar Sonderbares. Die Wintersaat war schon zwei Meter hoch und begann zu verdorren. Neues Grün sproßte zwischen den gelben Halmen hervor, und es zeigten sich doch keine Aehren. Das heißt, Aehren mit Samen waren wohl da, aber das waren keine Getreidekörner.
Das Getreide wuchs eben auf Kosten des Samens so rasch in die Höhe. Es verwilderte, es vergraste. Denn unser Roggen, Weizen, Gerste sind schließlich auch nichts weiter als eine Grasart, die aber in gemäßigtem Klima auf Kosten ihrer Halmhöhe soweit veredelt worden ist, daß sie mehligen Samen, Körner, hervorbringt. Es gedeiht in südlichen Gegenden solches Getreide überhaupt nicht, d. h., es wächst dort nur als hohes Gras und giebt keine Aehren.
Dieselbe Erfahrung machte Richard bei den einheimischen Obstbäumen, wie Kirschen, Aepfeln, Birnen und so weiter. Die Bäume trieben ungeheuere Blüten und Blätter, aber alles auf Kosten der späteren Früchte. Diese wurden nur ganz klein und holzig, und nach wenigen Jahren mußte sich der schönste, aromatischste Tyrolerapfel in eine ungenießbare Holzkugel verwandelt haben. Nicht einmal die Pfirsiche wollten recht gedeihen, auch sie wurden holzig oder verfaulten am Stamm.
Hast Du, lieber Leser, nicht schon von den köstlichen Früchten gehört und gelesen, die auf dem heißen Gürtel der Erde dem Bewohner jener glücklichen Gegenden zum Munde hineinwachsen? Von der saftigen, herrlichen Ananas zum Beispiel, die wild im Freien gedeiht?
Glaube es nicht, es ist nicht wahr! Die Ananas, die dort unten wächst, ist ganz holzig und ungenießbar. Diejenige, die wir essen, ziehen wir bei uns in Gewächshäusern, und will der Westinder eine gute Ananas haben, so muß er sie auch erst im Hause ziehen. Aber er thut das nicht, er bezieht sie aus – England, und daher sind die Ananas in ihrer Heimat viel, viel teurer als in Deutschland, Frankreich und England. Fast ähnlich ist es mit allen anderen Früchten, um welche wir manchmal die glücklichen Südländer so beneiden. Was ist denn an den mehligen, widerlich süßen Bananen, an den wässerigen Orangen, an dem groben Fleische der Kokosnuß daran? Mit einem Apfel, einer Birne und dem feinen Kern einer Haselnuß läßt sich dies doch nicht vergleichen. Der Nordbrasilianer lobt seine Früchte über alles, er hat prächtige Namen für sie, aber wenn man hinkommt, so legt er sie erst in Essig oder Spiritus und Zucker ein, ehe er sie ißt, und mit solchen Ingredienzien kann man schließlich auch Nußschalen wohlschmeckend machen.
Nein, mit allen diesen vielgepriesenen Früchten des heißesten Südens ist es nichts; nur die gemäßigte Zone bringt an Geschmack das Beste und Edelste hervor, wie schon der Rheinwein beweist.
Mit den Blumen ist es etwas anderes, da kommt nicht die Frucht in Betracht, und so sah auch hier Richard sich herrliche Blüten entwickeln, die er wegen ihrer Größe und ihres Duftes kaum als die einstigen, ihm wohlbekannten Blumen wiedererkannte. Dagegen verholzte auch das Gemüse im Garten.
Aber nicht alles verdarb. Das veränderte Klima, es brachte auch Neues, Nützliches hervor. Auf dem Mühlenhof entstand von selbst ein Feld, als die Halme wuchsen und einige sehr breite Blätter trieben, entwickelten sich Aehren, und nun erkannte Richard mit Erstaunen, daß es ein mit Reis vermischtes Maisfeld war.
Er konnte sich das Wunder bald erklären. Er hatte die Tauben mit vorgefundenem Reis und Mais gefüttert. Der Mais wurde rasch groß und lieferte Kolben, der Reis allerdings wollte nicht recht gedeihen, der verlangte eine besondere Pflege und hauptsächlich viel Feuchtigkeit. Richard hatte gelesen, wie die Chinesen ihre Reisfelder anlegen, die bald unter Wasser gesetzt, bald wieder trocken gelegt werden müssen, und er wollte die Reiskultur schon ausprobieren.
Die Tierwelt veränderte sich zunächst viel weniger, und Richard wußte auch gar nicht, wie sie sich hätte verändern sollen. Neue Tiere konnten doch nicht entstehen! Wohl sah er Adler und große Geier. Diese verschwanden aber gar bald wieder. Dagegen fanden sich an dem Flußufer Reiher ein, die den Fischen auflauerten, dann auch Pelikane, Flamingos und andere südländische Vögel.
Unangenehm machten sich auch die Mücken bemerkbar, die den Wassertümpeln entstiegen. Sie stachen ganz anders wie früher, der Stich juckte nicht mehr, sondern schmerzte und verursachte oft bösartige Beulen und Geschwüre, gerade, als wenn die Mücken schon Mosquitos geworden wären.
Aber sind denn Mosquitos etwas anderes als unsere Mücken? Wir stellen sie uns nur immer größer vor, oft so groß wie Bremsen. In Wirklichkeit sind sie aber nicht größer als unsere Mücken. Es sind überhaupt nur unsere Mücken in allen ihren Abarten. Der Nordamerikaner nennt sie nur Mosquitos, in Südamerika, wo sie besonders eine Plage sind, kennt man diesen Namen schon nicht mehr. Dort heißen sie Jegenes oder Tempraneros oder Zecundos, jede Gegend hat ihren anderen Namen für diese Insekten. Dort wirkt ihr Stich gefährlicher, weil das Blut, das beim ersten Stich an ihrem Rüssel hängen bleibt, schnell in Verwesung übergeht, oder weil sie sich auch direkt auf faulendes Fleisch gesetzt haben, sodaß ein jeder neuer Stich eine Blutvergiftung erzeugt, die sich als Eiterbeule und auch durch Fieber äußert.
Es waren also schon echte Mosquitos, die Richard stachen.
Die Tauben vermehrten sich ungeheuerlich. Eines Tages ließ sich ein großer Schwarm auf sein Reis- und Kornfeld nieder, fraß im Handumdrehen das letzte Korn auf, vereinigte sich mit einem anderen, noch größeren Schwarm, der aus der Richtung der Stadt kam, dann flogen beide auf Nimmerwiedersehen davon, und es schien gar keine Tauben mehr zu geben.
Die Tauben sind Körnerfresser, und da sie hier keine Körner mehr fanden, so wurden sie Wandervögel, die nach besseren Weideplätzen ausspähten. Dafür stellten sich aber andere Vögel ein, die mit Grassamen und Insekten vorlieb nahmen. Doch diesen mußte Richard schon mehr als Jäger nachstellen, und da nach einigen Regenperioden auch die Patronen zu versagen begannen, war er auf den Ertrag von Pfeil und Bogen angewiesen.
Die Angelhaken verloren sich nach und nach, Nägel, soweit sie nicht verrostet waren, ließen sich doch schlecht dazu verwenden, und so begann Richard auch die Fische mit Pfeilen zu schießen. Der Fluß wimmelte von ihnen, und zwar befanden sich darunter recht große. Auch etwas anderes fiel ihm auf. Früher, wenn er mit dem Schmetterlingsnetz botanisieren ging, war es immer für ihn ein Triumph gewesen, einen Salamander mit nach Hause zu bringen. Jetzt waren Salamander keine Seltenheit mehr, und sie erreichten eine außergewöhnliche Größe, ebenso wie die Frösche, die des Nachts ein mächtiges Gebrüll anstimmten. Das heiße Klima schien ihnen gut zu bekommen.
Dann erschrak Richard einmal vor einer ungeheueren Schlange. Wenigstens im ersten Augenblick kam sie ihm ungeheuerlich vor. Doch als er sie durch einen glücklichen Steinwurf tötete, erkannte er in ihr nur eine harmlose Ringelnatter, die allerdings die ansehnliche Länge von mehr als einem Meter erreicht hatte. Leider war er bald darauf gezwungen, auch eine Kreuzotter zu töten, die ihm ebenfalls recht groß vorkam.
Richard führte einen Kalender, und dieser sagte ihm, daß er nun schon ein Jahr in der Mühle gehaust hatte. Er dachte jetzt daran, doch einmal nach der Stadt zu gehen. Erstens wollte er seine Gefährten wieder aufsuchen, und dann fehlte ihm auch Verschiedenes, was er sich aus der Stadt zu holen beabsichtigte, so zum Beispiel war ihm die Seife ausgegangen. Bisher hatte ihn immer die Erinnerung an die verwesenden Leichen von einem Stadtbesuche abgehalten.
Kleiderschränke und Kommoden enthielten noch brauchbare Sachen genug. Er machte also Toilette, wenn auch nicht gerade für eine Gesellschaft, schnitt sich vor dem Spiegel, der ihm ein schwarzbraunes Gesicht mit Mosquitobeulen das lange Haar ab, bewaffnete sich mit Axt, Messer, Bogen und Pfeilen, nahm zur Fürsorge auch den Feuerbohrer mit und war reisefertig.
Bis zur Stadt hatte er, seiner Meinung nach, nur eine Stunde zu marschieren. Erinnerte er sich doch, obwohl er wußte, daß die nähere Umgebung des Mühlenhofes, aus der er sich bei seinen Jagden niemals entfernt, sehr verwildert war, noch deutlich der allerdings bereits mit hohem Grase bedeckten Landstraße, die er ja bei seinem Marsche benutzen konnte.
Allein jetzt war auch nicht mehr eine Spur von der ehemaligen Landstraße zu entdecken. Die ganze Gegend war eine Savanne von über mannshohem Grase geworden, durch welches Richard sich förmlich durchbrechen mußte; dazwischen wuchs undurchdringbares Gestrüpp, das hier früher auf dem freien Felde noch nicht vorhanden gewesen sein konnte
Hätte sich Richard nicht nach der Sonne zu orientieren verstanden, er würde die Stadt überhaupt nicht wiedergefunden haben. Später tauchte die Spitze des Kirchturmes auf und diente ihm zur Richtschnur.
Endlich kam er zwischen die Häuser. Das Pflaster der Straße war natürlich ein schlechter Boden für Vegetation, aber grün überzogen war alles, und zwischen den Fugen der Steine schaffen schon schlanke Halme empor. Ebenso hatten sich die Häusermauern mit Grün bedeckt, wo sich nur die kleinste Fuge befand, da trieb und knospete es, und wie diese kleinen Wurzelchen das feste Steinpflaster dereinst in Humuserde verwandeln mußten, so würden sie auch bald die Häuser auseinandertreiben und die ganze Stadt in Ruinen legen. Es war eine vergessene, unter Pflanzen begrabene Stadt, wie sie die Reisenden ähnlich in Südamerika als Andenken an die alten Azteken finden.
Richard hatte in seiner Vaterstadt doch jeden Winkel gekannt, jetzt fand er sich kaum noch zurecht. Er verirrte sich und gelangte auf einen Platz, auf den er sich nicht entsinnen konnte.
Was aber war das? An den Häusern kletterten ja schon tropische Schlingpflanzen mit prachtvollen, tellergroßen Blüten empor. Wo kamen die her? Die Scenerie wurde immer exotischer, dieses kleine aus dem Boden sprossende Blatt konnte nur das einer Palme sein, hier wuchs eine ganze Palme, dort ein Kaktus, und noch einige Schritte weiter, so befand sich Richard in einem Orangenhain mit großen, goldgelben Früchten; auch sah er tragende Dattelpalmen, mehrere Feigenbäume, und diese schmalen, langen Früchte an jenem Strauche, sie konnten nur Bananen sein.
Richard war vor Staunen außer sich. Schon wollte er die Erklärung darin suchen, daß Vögel den unverdauten Samen dieser exotischen Pflanzen hierhergetragen hätten, wobei freilich immer noch rätselhaft blieb, wie sich die Samenkörner innerhalb eines Jahres zu fruchttragenden Bäumen entwickelt haben konnten, denn so schnell geht die Sache doch nicht, auch nicht unter dem Aequator, als er die richtige Lösung des Geheimnisses fand.
Hier war, wie er aus den zersprungenen am Boden und auf Kisten liegenden Glasfenstern schloß, eine Kunstgärtnerei gewesen, deren Besitzer zum Privatvergnügen einen botanischen Garten mit exotischen Pflanzen angelegt hatte. Diese hatten die Umhüllung des Gewächshauses gesprengt und sich in Freiheit entwickelt. Ihr Samen würde sich nun verbreiten und die Eichen, Buchen und Birken verdrängen, und wichen diese nicht schnell genug, so würden sie die Schlingpflanzen in ihrer Umarmung ersticken.
Ueberall lagen noch die Skelette von Menschen und Tieren, schneeweiß gebleicht, neben ihnen Goldstücke, Gold- und Silberuhren oder echter Schmuck, soweit sie solchen getragen hatten, alles andere war den Raubvögeln und dem Zahne der Zeit zum Opfer gefallen und spurlos verschwunden. Sachen aus anderem Metall, wie zum Beispiel Taschenmesser, waren vor Rost ganz unkenntlich geworden. Die Raubvögel hatten die Gegend verlassen, weil es nichts mehr für sie zu fressen gab.
Richard erreichte den Marktplatz, mit der Kirche. Dieser war cementiert gewesen, deshalb hatte er sich nur mit einer Moosart überziehen können. Aber auch diese würde den harten Boden sprengen. An den Schleusen aber hatten sich schon Gebüsche gebildet.
Plötzlich erfüllte ein durchdringendes Pfeifen die Luft, und Richard sah, nicht weit von sich entfernt, eine Schar Mäuse aus einer Hausthür kommen. Doch nein, das, war er sah, war nur der Anfang eines unerschöpflichen Stromes, der sich quer über den Marktplatz ergoß und in einem anderen Hause verschwand, während aus dem ersten immer neue hervordrangen.
Erschrocken war Richard auf einen hohen Prellstein gesprungen. Es war ein scheußliches Gewimmel; es mußten Millionen sein. Wie war das möglich? Nun, es brauchten nur ein Dutzend Mäusepaare am Leben geblieben sein, nur die auf dem Turm gewesenen, so war das Rätsel gelöst. Ein einziges Mäusepaar kann ja in einem Sommer eine Nachkommenschaft von 25 000 Jungen haben, und das ist noch eine ganz mäßige Berechnung. Hier hatten die Mäuse außerdem auch keinen nachstellenden Feind gehabt, denn Mausefallenhändler, giftstreuende Kammerjäger und Katzen waren ja tot, und Raubvögel allein konnten die Vermehrung wenig beeinträchtigen.
Aber sie hatten doch Feinde, Richard bemerkte es erst, als er sich an das Gewimmel gewöhnte. In dem lebendes Strome befanden sich nämlich auch Ratten, sie würgten die Mäuse ab. Solch eine Ratte trug soeben eine besonders große Maus seitwärts davon, um sie in Ruhe zu verzehren. Da aber schoß ihr bereits eine andere nach, und Richard meinte zuerst nicht anders, als daß es ein ihm unbekanntes Raubtier gewesen sei, so groß war diese Ratte, so abnorm hatte sie sich entwickelt. Jetzt fiel sie wieder eine kleinere Ratte an, und ein Kampf entspann sich, in dem natürlich der Stärkere siegte. Das Ungetüm von einer Ratte fraß erst schnell die Maus, dann machte sie sich an den eigenen Kollegen.
Lächelnd über seine Furcht war Richard von dem Steine herabgesprungen und schlich sich mit gespanntem Bogen auf das reißende Ungetier zu. Aber er hatte gar nicht nötig, so zu schleichen, die Ratte floh nicht, sie hob den Kopf, zischte und fletschte die langen Zähne nach ihm. Ja, vielleicht war es gut, daß sein Pfeil sie durchbohrte, sonst hätte er sich noch mit dem Messer wehren müssen.
Richard ging in ein Haus. Daß hier die Mäuse schon gewesen waren, konnte er aus ihren hinterlassenen Spuren sehen, sonst aber gähnten ihm nur die nackten Wände des einst möblierten Hauses entgegen, und auf dem Estrich des abgedielten Bodens lagen Eisenteile, Glas, Porzellan und eine Lampe. Alles andere hatten die Mäuse aufgefressen, das Bett so gut wie das Klavier bis auf die eisernen Schrauben.
So würden nunmehr die Mäuse, nachdem sie keine wirkliche Nahrung mehr hatten, mit fürchterlichem Hunger weiter hausen und sich dabei in die Billionen vermehren. Gab es dann gar nichts mehr zu nagen, so mußten sie sich entweder zu grüner Pflanzennahrung wenden oder den gefräßigen Zahn gegen das eigene Geschlecht kehren. Allerdings würden die Ratten endlich doch die Vermehrung der Mäuse beschränken, und dann auch über sich selber herfallen. Denn die Ratte frißt die Ratte, und da das Starke siegt, das Schwache aber verschwindet, so würde jedes neue Geschlecht von Ratten immer größer werden, bis die Natur eine Grenze setzte und ihnen ein anderes Raubtier zur Vernichtung schickte.
So dachte Richard, als er das Haus wieder verließ. Er hatte von dieser Entwicklungstheorie gelesen und schon ein Beispiel mit eigenen Augen gesehen.
Er begab sich in die Kirche, durch dieselbe Thüre, die er vor einem Jahre nicht hinter sich geschlossen hatte. Die Mäuse waren auch hier eingedrungen, wenn sie nicht schon von oben aus dem Turm gekommen waren, und hatten die Kirche leer gefressen. Deshalb konnte auch auf dem Altar kein Zettel liegen. Wo mochten nur der Schuster und seine Frau sein?
Natürlich war nicht schon der Inhalt der ganzen Stadt den Mäusezähnen zum Opfer gefallen, das wäre zu schnell gegangen. Sie drangen nur in die Häuser ein, wo sie keinen Widerstand fanden, deren Thüren dem Strome direkt offen standen. Später allerdings würden sie sich auch den Eintritt mit Gewalt erzwingen. So fand Richard noch die meisten Häuser und Läden unversehrt, er mußte nur die Thür erbrechen. Statt der Mäuse aber waren durch die meistenteils zertrümmerten Fensterscheiben Myriaden von Insekten eingedrungen und hatten, im Verein mit der warmen Feuchtigkeit, auch schon arge Verwüstungen angerichtet. Ein Schlag auf ein Sofa ließ eine Wolke von Motten aufwirbeln über den Holzteilen fiel alles in Staub, Gardinen und Decken gab es gar nicht mehr. Dennoch fand Richard dasjenige, was er brauchte, er mußte nur suchen, Seife sowohl als noch brauchbare Streichhölzer und Petroleum gelangten in seinen Besitz, und schließlich entdeckte er in einem trockenen Hause auch gut erhaltene Sämereien und nützliche Bücher in wohlverschlossenen Schränken. Er beschloß, sich dieses alles anzueignen, was er für später wohl gebrauchen konnte.
Zunächst aber mußte er sich eine neue Wohnung suchen. In der am Waldflusse gelegenen Mühle war es zu feucht, er hatte dort auch schon einmal einen Fieberanfall gehabt, und hier schien es wiederum viel zu trocken zu sein.
Er verbrachte jetzt einige Tage damit, durch die Stadt zu streifen und Häuser zu besichtigen. Auch las er in geeigneten Büchern der gut erhaltenen Stadtbibliothek, wie er sich unter dem Aequator einzurichten habe, wie man dort sät und erntet und so weiter. Hier begegnete er immer wieder neuen Mäuseschwärmen, niemals aber seinen der Katastrophe entgangenen Gefährten.
Endlich hatte er einen festen Entschluß gefaßt. Eine halbe Stunde von der Stadt entfernt lag auf einer Anhöhe der Pulverturm, ein zweistöckiges, massives Gebäude, das oben einen Söller hatte. Die einzige Thür des Turmes bestand aus verzinktem Eisen, auch die Fenster konnten durch Eisenplatten verschlossen werden, und das Ganze wurde noch von einer Mauer umgeben. Unten an dem Hügel aber floß ein Bach vorbei, während drinnen im Hofe sich ein Brunnen befand. Die Gegend war frei, nur an der einen Seite des Turmes grenzte der Wald. Richard hatte sich, da die Thür zufällig offen gewesen, von dem soeben Angeführten selbst überzeugt und war entschlossen, den Pulverturm zu seinem neuen Heim zu machen. Hierher würden sich die Hausmäuse wohl schwerlich verirren, hier wollte er die zukünftigen Felder anlegen, alles war dazu wie geschaffen.
Er beseitigte die Skelette und das, was er sonst nicht brauchte, auch das Pulver, bis auf einige Säcke, die ihm vielleicht später noch einmal Dienste leisten konnten, und schaffte im Laufe der Zeit alles aus der Stadt hierher, was ihm für sein neues Einsiedlerleben verwendbar schien, besonders Handwerkszeug, Sämereien und Bücher. Zwischen den starken Mauern war ihre Erhaltung ebenso sicher wie in der alten Aequatorialgegend, wo man doch auch alles aufheben konnte, wenn man nur einige Sorgfalt auf die Gegenstände verwandte. Ein Spaten freilich, den man nie benutzt, ist in der beißen Zone innerhalb eines Jahres in Rost gefallen, und das Buch, das man nie aus dem Schranke nimmt, lassen die Ameisen bis auf die Deckelschalen verschwinden.
Die Phantasie ist frei, mit ihr lassen wir die Jahre vergehen.
Richards kindlicher Wunsch, einmal Robinson zu sein, war in Erfüllung gegangen, wenn er auch nicht daran gedacht hatte, daß dies möglich sein würde, als er seine Vaterstadt unter den Aequator versetzte. Es war vieles ja ganz anders gekommen, als er erwartet hatte, aber er hatte doch bewiesen, daß er sich in jeder Lage zu helfen wußte.
Wenn er auf dem Söller seiner Festung saß, überblickte er ewige Morgen Landes, die seiner Hände Arbeit mit Reis, Mais und Hirse bestellt hatte, er konnte die Felder vom Bache aus überrieseln und sie bei zu viel Feuchtigkeit durch eine andere Schleuse wieder trocken legen. Mancher Spatenstich mit krummem Rücken, viel Zimmermannsarbeit und noch mehr Erfindungsgeist war dazu nötig gewesen.
Auf dem Söller selbst klapperte dann und wann eine kleine Mühle. Auch sie war aus seiner Hand hervorgegangen, sie entschälte den Reis und mahlte den türkischen Weizen.
Neben den Feldern waren Orangen- und Citronenhaine entstanden, und Anlagen von Feigen- und Bananenkulturen. Schon trugen Dattel- und Kokosnußpalmen Früchte, und innerhalb der Umfassungsmauern gediehen die herrlichsten Blumen.
Das war eigentlich alles, was Richard durch sich selbst geschaffen hatte, aber es war sehr viel.
Eine Steinaxt und ein Lederkostüm brauchte er sich nicht zu fertigen. Zeit seines Lebens war er mit Werkzeugen versorgt, in Truhen lag ein unerschöpflicher Vorrat an Kleidern und Wäsche, welche er nur trocken und von Insekten frei zu halten hatte; er besaß auch sonst alles, was zu des Leibes und Lebens Notdurft gehört; auch Seife brauchte er nicht selbst zu fabrizieren und konnte daher seine Zeit ganz dem widmen, was ihm die Vergangenheit nicht mehr lieferte, sondern wozu eigener Fleiß nötig war, also zum Beispiel dem Bebauen seiner Felder und seines Gemüsegartens.
Die Zeit verstrich ihm wie im Fluge. Neben der Arbeit sorgten Lesen, das Einsammeln von Holz und die Jagd für Abwechslung. Dabei bediente er sich der Bogen und Pfeile, hielt aber auch Feuerwaffen für alle Fälle in Stand.
Die Pflanzenwelt hatte jetzt ganz einen tropischen Charakter angenommen, dafür hatten der botanische Garten und dann Wandervögel gesorgt, die den Samen aus allen Weltteilen mitbrachten. Es hatten sich auch neue Vögelarten als ständige Bewohner eingestellt, aber die andere Tierwelt blieb dieselbe, nur daß die vorhandenen Tiere an Größe zunahmen. Er hatte schon eine Ringelnatter von zwei Meter Länge gefunden und eine fast nicht minder große Kreuzotter, er hatte gesehen, wie die erstere eine Ratte von der Größe einer echten Bulldogge – etwa einen viertel Meter hoch – angriff und in ihrer Umschlingung erdrückte.
Dieses Wachsen der Tiere war Richard teils ein Rätsel, teils hatte er sich durch Lesen und eigenes Nachdenken einiges Verständnis dafür verschafft.
Es ist hier in dem kurzen Rahmen dieser Erzählung die Erklärung nicht möglich, dazu gehört das Studium der Werke solcher Gelehrten, die sich mit ähnlichen Fallen beschäftigt haben, wie zum Beispiel Darwin. Es war ein Walten der Natur, die sich selbst zu helfen weiß, indem sie Tierarten, die sie nicht mehr braucht, aussterben läßt, und anderen forthilft, um vom Geschick vernachlässigten beizustehen und neue zu erzeugen – wenn sie solche braucht.
Als Beispiel dafür, daß die Natur die Welt regiert und sich nichts vorschreiben läßt, sondern selbstständig denkt und arbeitet, daß alles das notwendig ist, was sie erschafft, mag nur eine verbürgte Geschichte erzählt werden.
Doch zuerst eine Frage: Wer kann sagen, wozu die Krokodile da sind? Etwa dazu, daß sie die Fische wegfressen und einmal einen Menschen wegschnappen? Wo bleibt da deren Nützlichkeit?
Und doch müssen die Krokodile im Haushalte der Natur wohl nützlich sein, sie müssen es – sonst würde sie die Natur aus der Liste der Kreaturen streichen.
Die Frage ist beantwortet worden vor gar nicht langer Zeit.
Ein ackerbautreibender Indianerstamm in Brasilien wurde von den Alligatoren sehr belästigt, die in dem neben dem Dorfe vorbeifließenden Flusse hausten. Sie richteten unter dem zur Tränke geführten Vieh vielen Schaden an, zogen badende Menschen unter Wasser, schlugen sogar einen über den Fluß setzenden Mann mit dem Schwanze aus dem Boote.
Eine vornehme Jagdgesellschaft kam in das Dorf, hörte die Klagen und machte sich den Spaß, den Alligatoren den Vernichtungskrieg zu erklären. Die Jäger gingen nicht eher, als bis der Fluß keinen Krokodilschwanz mehr enthielt und die Sonne kein Ei mehr ausbrütete. Die Eingeborenen bedankten sich bei ihnen, nun hatten sie ja Ruhe vor den Unholden.
Im nächsten Jahre aber machten sich äußerst viele Wasserratten bemerkbar, und im übernächsten konnten die Eingeborenen kein Korn von den Feldern ernten, der Fluß spie immer neue hungrige Ratten aus. Sie fraßen das Korn auf den Feldern und in der Scheuer, und keine Katze und kein Gift konnte helfen. Die Plage wurde schließlich so groß, daß die Eingeborenen ihr Dorf und die ganze Gegend zu verlassen beschlossen.
Da erfuhr die Regierung von der Rattenseuche. Sachverständige Praktiker und Gelehrte wurden befragt. Und das einstimmige Resultat der Beratung war: Hier giebt es kein anderes Mittel, als daß wieder Alligatoren importiert und in den Fluß gesetzt werden.
So geschah es auch, die neuen Alligatoren räumten nun schnell unter den Wasserratten bis zur erlaubten Anzahl auf, die faulen Eingeborenen wurden angehalten, Viehtränken und Badeplätze einzuräumen und eine Brücke zu bauen, und seitdem leben sie friedlich neben den Alligatoren.
Als Richard eines Tages von dem Söller Umschau hielt, sah er am Saume des Waldes eine dunkle Figur sich bewegen. Die Entfernung war zu groß, als daß er etwas Näheres unterscheiden konnte; doch groß mußte das Geschöpf sein, es schien auf zwei Beinen zu gehen, also war es wahrscheinlich ein Mensch.
Zitternd vor Aufregung holte Richard ein Fernrohr und richtete es auf die Gestalt – es war in der That ein Mensch! Ohne erst durch das Fernrohr nähere Beobachtungen anzustellen, griff er gewohnheitsmäßig nach den Waffen und eilte der Richtung zu, wo er den Menschen zuletzt gesehen hatte. Er mußte dabei durch Wald, dann verbarg ihn hohes Gras, und plötzlich stand er vor dem Betreffenden.
Es war ein vielleicht zehnjähriger Knabe. Splitternackt mit schwarzbrauner Haut, das hellblonde Haar lang auf den Rücken fallen lassend, hielt er in den Händen einen Bogen und Pfeile und trug außerdem noch vielen Goldschmuck um die Hand- und Fußgelenke und um den Hals. Auf der Brust hing ihm eine goldene Uhr, an den Fingern blitzten Ringe, auch in den Ohren – es war alles solches Geschmeide, wie es Richard noch jetzt auf den Straßen und in Läden der Stadt liegen sah.
Die Begegnung war keine andere, als wenn ein Australneger zum ersten Male mit einem Europäer zusammenstößt. Der kleine mit scharfen Sinnen begabte Wilde hatte die Annäherung Richards offenbar schon gehört und sich zur Flucht gewandt, war aber überrascht worden. Jetzt stand er hilflos da, zitternd und die Pfeile hinter dem Rücken versteckend, in dem stupiden Gesicht halb grenzenloses Staunen, halb entsetzliche Angst, und nicht wissend, ob er jetzt noch eine Flucht wagen dürfe.
»Fürchte Dich nicht, ich thue Dir nichts,« sagte Richard. »Wer bist Du, Kleiner?«
Schon dachte er, daß der Wilde sein Deutsch ja nicht verstehen könne, als jener den Mund öffnete und antwortete:
»Ich heiße Anton.«
Jetzt war es Richard, der furchtbar erschrak. Denn vermutlich war der Junge kein anderer, als der Sohn des Schusterehepaares. Er starrte vor Schmutz und Ungeziefer, wie Richard jetzt bemerkte, er war ein vollkommener Wilder geworden, zu welchen Befürchtungen bezüglich seiner Eltern berechtigten nicht die Erziehung und das Aussehen dieses Kindes!
»Bist Du der Sohn des Schusters?« fragte Richard.
»Mein Vater heißt Karl und meine Mutter ist die Marie. Anton hat Hunger,« entgegnete der Knabe, einen fürchterlichen Fluch hinzufügend.
Richard lockte ihn mit sich. Er wurde immer von neuem Entsetzen befallen, noch mehr aber von Mitleid; der Menschheit ganzer Jammer faßte ihn an – konnte man auch von ihm sagen.
Dieses Wesen, das neben ihm einherschritt und an Gestalt einem Menschen glich, war fast schon weniger als ein auf der tiefsten Stufe stehender Wilder. Auch ein Wilder ist das Produkt der Entwicklung seines Geschlechtes und hat eine gewisse Erziehung genossen – dieses Geschöpf aber besaß gar keine, es war ein verwilderter Mensch oder vielmehr ein Raubtier. Das drückte sich schon in des Jungen Augen aus, als er jetzt, zutraulicher geworden, mit gieriger Hand und doch angstvoll Richards Kleider und sein Gewehr betastete. Sein ganzes Gebaren war ein widerwärtiges Gemisch von menschlichem Verstand und tierischer Gier.
Wenig, sehr wenig konnte Richard von dem Jungen erfahren. Er sprach deutsch, aber unzählige Worte fehlten ihm. Seine Eltern lebten. Sie wohnten im ›Schweizerhaus‹. Das war ein Vergnügungsetablissement in der Nähe der Stadt gewesen. Es waren noch sechs andere Kinder da, zusammen drei Jungen und vier Mädchen. Eine Kleidung kannten sie nicht mehr. Wozu auch Kleidung bei der Wärme? Ihre Pfeilspitzen bestanden aus verrosteten Nägeln, doch wurden auch schon spitze Steine verwendet. Die Mutter hatte einen schweren, scharfen Stein, wenn sie Holz hackte. Sie schossen Vögel, Ratten, Mäuse, Fische, Eidechsen und Frösche und brieten sie am Feuer. Wenn es aber sehr feucht war, daß sie durch Reiben oder Schlagen kein Feuer entzünden konnten, aßen sie jene Tiere roh. Als Zukost dienten Früchte.
Das war so ziemlich alles, was Richard aus dem Jungen herausbringen konnte. Er sah ein, daß, wenn die letzten Nägel in Rost zerfielen, die Nachkommen des Ehepaares wieder ganz zu Steinmenschen und noch tiefer herabsinken mußten. Schon dieser Knabe war das schreckliche Zerrbild eines Menschen. Er fluchte beständig, wie er es vom Vater gehört hatte, und mißbrauchte dabei den Namen Gottes, aber von einem Gott selbst wußte er nichts. Der Name ›Mensch‹ war ihm völlig unbekannt. Ja, seine Eltern, Geschwister und er selbst hatten nicht einmal neue Namen erfunden; die Bananen nannte Anton zum Beispiel ›lange Dinger‹, und dieses Wort würde nun feststehend in ihre neue, eigene Sprache übergehen.
Richard nahm den Jungen mit auf seine Festung, aber nicht in das Innere derselben. Die Unreinlichkeit Antons verbot das. Gierig verschlang dieser zunächst die dargereichten Speisen, dann schaute er mit verwunderten Blicken um sich und staunte die einfachsten Dinge an, während andere ihm wieder geläufig waren. Vor der klappernden Windmühle fürchtete er sich, daß sich aber der Zeiger seiner Uhr früher mit einem tickenden Geräusch bewegt hatte, gerade wie auch Richards große Wanduhr, das wußte er noch. Ueber dieses Geheimnis hatte er aber nie nachgegrübelt, war auch nicht darüber belehrt worden. Zum Spaß schoß Richard ein Gewehr ab, und der kleine Wilde fiel vor Schreck nieder. Ebenso fürchtete er sich, als er durch das Fernrohr blickte. Hinwiederum dachte er nicht an ›Zauberei‹. Er dachte überhaupt nichts, er war ja nur ein beschränktes Tier.
»Hast Du auch Schnaps?« fragte Anton schließlich zu Richards Staunen.
In der Stadt gab es schon längst weder Wein noch Spirituosen, der ganze Vorrat war von selbst verschwunden, denn auch das beste Faß mußte bei dem Wechsel von Feuchtigkeit und Hitze Sprünge bekommen und auslecken, und Wein verdunstet auch durch den Kork der Flasche, wie jeder Weinhändler weiß, weshalb die Flaschen mit den alten Weinen immer nachgefüllt werden müssen, sonst wäre auch im kühlsten Keller nach zwanzig Jahren nichts mehr darin. Es vergeht eben alles, was von Menschenhand erzeugt ist, wenn es nicht von Menschenhand gepflegt wird.
Der Junge aber mußte den Branntwein noch kennen.
»Mein Vater sucht immer noch nach Schnaps, wenn er nicht verrückt ist,« setzte er hinzu.
Richard ging in das Haus, um noch mehr Brot zu holen. Als er zurückkam, war Anton verschwunden samt dem auf dem Hofe gebliebenen Fernrohr und dem Gewehr.
Das war sehr betrübend. Umsomehr aber hatte Richard Grund, seinen Schicksalsgefährten, die sich gerade nach der anderen Richtung hin entwickelt hatten, einen Besuch abzustatten. Schon am anderen Tage machte er sich auf den Weg, ein gebackenes Brot und eine der Flaschen Branntwein mitnehmend, die er sich als Medizin aufbewahrt hatte. Auf den Brotlaib war er stolz, er galt ihm als ein Beweis seines Fleißes und seiner Intelligenz, und darin hatte er recht; mit der Flasche Branntwein gedachte er dem Schuster eine Freude zu machen.
Mit vieler Mühe fand er sich nach dem Schweizerhause zurecht. Einst in einem schönen Parke gelegen, umgab es jetzt ein völliger Urwald. Die deutschen Bäume waren unter dem neuen Klima mächtig emporgeschossen, dabei aber hatten sie ihre Lebenskraft verbraucht, die Eiche hatte sich in zehn Jahren wie in hundert Jahren entwickelt. Deshalb starb sie auch jetzt schon ab. Die älteren Bäume lagen bereits verwesend am Boden, als Humuserde für die künftige, neue Generation der tropischen Flora arbeitend, die sich bereits durch Schlingpflanzen ankündigte. Kein Singvogel zwitscherte in dem undurchdringlichen Laubgewirr, unter dem eine schwüle, feuchte Luft herrschte; Schlangen, Eidechsen und Frösche fühlten sich auf dem sumpfigen Boden wohl. Ein drückendes Schweigen herrschte überall, das auch Richard mit trauriger Niedergeschlagenheit erfüllte, die noch zunahm, als er das Schweizerhaus betrat.
In dem zu ebener Erde gelegenen einst prächtigen Saale des Vergnügungsetablissements hauste die dem Tode entgangene Familie. Aus dem düsteren Raume wehte ihm ein Pesthauch entgegen: Hier starrte natürlich erst recht alles vor Schmutz. Trotz ihres Elendes aber wollten die Leute leben, und die nackten, mit Gold behangenen Kinder fühlten sich schließlich auch glücklich, wenn sie nur im Kote patschen konnten.
In einem dunklen Winkel lag auf moderigem Laube wimmernd ein Weib, es hatte das Sumpffieber. Daneben war ein ganzer Haufen von Gold- und Edelsteinschmuck aufgehäuft; das Sammeln dieser Schätze mußte den bedauernswerten Menschen noch heute Spaß machen.
Auf der anderen Seite des Goldstapels kauerte ein ebenfalls völlig nackter, alter Mann und stierte mit blöden Augen den vor ihm Stehenden an. Er erkannte ihn nicht, staunte aber auch nicht und fürchtete sich nicht.
»Kennst Du mich nicht mehr?« fragte Richard ihn endlich, indem er die Worte kaum herausbrachte.
Der Mann lachte nur blöde vor sich hin und schüttelte den Kopf.
»Das ist doch der Junge, der damals am Leben geblieben war,« erklang es da stöhnend aus dem Winkel.
Richard wollte dem Gedächtnis des Schusters zu Hilfe kommen, aber der verwilderte Mensch, der heute wahrscheinlich seinen verrückten Tag hatte, antwortete nur immer mit »ja ja.«
Plötzlich kam mehr Leben in sein Auge, sein Blick war auf die Flasche gefallen, die halb aus Richards Jagdtasche heraussah.
»Was hast Du da?« fragte er gierig.
Richard nahm die Flasche und gab sie ihm.
Mit zitternden Händen griff der Mann nach derselben, zog den durch die Hitze schon emporgetriebenen Kork völlig heraus und trank in gierigen Zügen.
»Siehst Du, Karl,« erklang es jetzt wieder in der Ecke, »ich sagte es Dir doch gleich, dort, in dem Hause, wo Anton den da gefunden hat, giebt es noch Branntwein. Gieb her die Flasche. Dann wollen wir mit ihm, er muß uns das Haus zeigen.«
Zu spät erkannte Richard, welches unglückliche Geschenk er mitgebracht, ja, welche Gefahr er sich bereitet hatte.
»Es ist ein rundes Haus, das auf einem Hügel steht,« erzählte Anton,« fuhr die Frau dann fort, »es liegt etwas von der Stadt ab, ich glaube, das kann nur der Pulverturm gewesen sein. Nicht wahr, Du wohnst im Pulverturm?«
Richard schleuderte das Brot hin, und hastig, ohne Antwort, ohne Abschied, ohne an sein gestohlenes Gewehr und Fernrohr zu denken, entfernte er sich. Er floh förmlich.
Als er durch den Wald eilte, hörte er ein Rascheln hinter sich. Sich umdrehend, erblickte er den ehemaligen Schuster, der ihm, einen keulenähnlichen Stock in der Hand, vorsichtig nachschlich.
»Was willst Du von mir?« fragte Richard drohend, nach dem geladenen Revolver greifend.
»Nun, ich gehe eben auch so im Walde wie Du,« entgegnete der Mann mit dreistem Lächeln. Der genossene Branntwein hatte ihn völlig verändert; jetzt war Leben in ihm, und seine Augen glühten.
»Entferne Dich, und wenn Du mir folgst oder Dich nur ein einziges Mal am Pulverturm blicken läßt, schieße ich Dich wie eine Ratte nieder,« rief Richard, den Revolver erhebend.
Der Mann mochte sich der Wirkung solch einer Feuerwaffe noch erinnern, mit einem Sprunge verschwand er hinter einem Baumstamme.
Mit vermehrter Schnelligkeit, sich manchmal umblickend, setzte Richard nun seinen Weg fort. Es war ihm plötzlich so unsäglich elend zu Mute, und dieses Gefühl des Unglücks steigerte sich noch, als er die Stadt wieder betrat.
Wohl grünte blühte und duftete alles, aber es erfreute nicht mehr sein Herz. Die Schlingpflanzen wucherten ja an Häusern empor, in denen einst ein fröhliches Familienleben geherrscht hatte, in den Straßen tummelten sich Mäuse und Ratten, die altehrwürdige Kirche war eine Brutstätte von Schlangen und Fröschen – und aus dem Manne, der einst ein fleißiger Handwerker, ein Bürger dieser Stadt gewesen, war jetzt ein barbarischer Wilder geworden, der es auf sein Leben abgesehen hatte.
Plötzlich entstürzten den Augen des sonst so unverzagten Richard Thränen des bittersten Jammers. Er fühlte sich so unendlich verlassen und unglücklich.
»Ich möchte, dies alles wäre nur ein böser Traum,« schluchzte er, »und ich könnte daraus erwachen!« – – –
Erstaunt blickte er um sich.
Das war ja sein altes Schlafzimmer! Er lag im Bett! Er hatte nur geträumt.
Aber noch einmal fühlte er dieselbe Empfindung nach, die er eben im Traume gehabt, und schauerte zusammen.
»Ueber kurz oder lang hätte mich der Schuster doch ermordet,« flüsterte er. »Es ist schrecklich, wie schnell ein Mensch verwildern kann, wenn er nicht stark genug ist, sich allein fortzuhelfen.«
Richard verließ das Bett und schleppte sich zum Fenster.
Es war ein schöner Sommermorgen, die Straßen schon belebt, Handwerker und Geschäftsleute eilten der Arbeit zu, die Nachbarn wünschten sich einen guten Morgen.
Dem Knaben floß plötzlich das Herz vor dankbarer Freude über.
»Gott sei gelobt, daß es nur ein Traum war,« flüsterte er noch einmal.