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Obgleich neu erbaut, gleicht das mitten im Urwald auf einem Hügel liegende Fort Tjibodas, auf deutsch ›Weißenbach‹, nach dem vorüberfließenden Flusse so benannt, einer mittelalterlichen Raubritterburg mit doppelter Ringmauer und Zugbrücke, mit Türmen und Zinnen und Schießscharten. Ein paar Schüsse aus einem modernen Feldgeschütz würden die ganze Spielerei über den Haufen werfen; aber hier in Java würde das Fort seinen Zweck erfüllen, wenn die Eingeborenen einmal meutern sollten. Denn da kam es hauptsächlich darauf an, die schießenden Soldaten vor den vergifteten Pfeilen zu schützen, welche die Malaien wohl nicht mit Unrecht für wirksamer halten als die modernste Spitzkugel; sind doch deshalb in den Rüstkammern sogar noch leichte Panzerhemden vorgesehen.
Im Frieden bewacht das Fort die über den Weißenbach führende Eisenbahnbrücke, einen Tunnel, der eben durch den Hügel geht, auf dem das Fort liegt, von hier aus werden die Wegearbeiten geleitet, und im übrigen erinnert die romantisch aussehende Burg die in den umliegenden Dörfern wohnenden Eingeborenen, daß hier Holland mit bewaffneter Hand herrscht. Außerdem ist das Fort auch noch der Sitz eines Gerichtes und anderer Aemter.
Die Strahlen der Morgensonne fielen schräg durch das Blätterdach der riesigen Bäume, als auf dem recht guten Wege nach dem Fort zwei Reiter ihre Pferde im Schritt gehen ließen. In dem einen, der eine nagelneue Dragoneruniform trägt und den Karabiner auf das Knie stemmt, erkennen wir den Wachtmeister Keller, der andere ist Nobody, immer noch als alter Professor mit Brille und Klemmer, hat aber eine recht stattliche Haltung im Sattel. Ein gutes Stück zurück, außer Hörweite, reiten zwei malaiische Diener mit Gepäckpferden.
Am Abend hatten die beiden Batavia verlassen, bis nach Buitenzorg, auf deutsch ›Ohnesorge‹, das holländische Sanssouci, die Eisenbahn benutzend, zum größten Teil Zahnradbahn, eine Fahrt von anderthalb Stunde. Auch in diesem hochgelegenen Fieberkurort der vornehmen Europäer liegt eine starke Garnison. Hier übernachteten die beiden, um am frühen Morgen die Reise zu Pferd fortzusetzen. Der Wachtmeister mußte in der Garnison sowieso ein Pferd geliefert bekommen; der im Auftrage der Regierung reisende Gelehrte erhielt gleich fünf: für sich, für zwei gleichfalls auf Regierungsunkosten ihm zur Verfügung gestellte Diener und für sein Gepäck.
Am Vormittag ging es durch Reis-, Mais- und Baumwollfelder, am heißen Mittag ritten sie in den kühlen Schatten des Urwaldes von Tjibodas ein, welcher ungefähr fünfzig deutsche Quadratmeilen bedeckt.
Es ist doch eigentlich merkwürdig, daß es auf dem sonst unter hoher Kultur stehenden Java noch solch einen gewaltigen Wald gibt, dem man die Silbe ›Ur‹ wirklich vorsetzen darf, noch dazu so nahe an der Küste, an der Hauptstadt des Landes! Das ist Absicht. Nach bösen Erfahrungen, welche die Holländer in anderen Kolonien gesammelt hatten, wurde beschlossen, diesen Urwald stehen zu lassen, wie er ist. Sein Abholzen könnte Wasserstürze verursachen, die tiefliegende Hauptstadt und alles Küstenland mit Verderben bedrohend, andererseits könnten in trockener Zeit die Brunnen versagen. Aus diesem Grunde dürfen die Dörfler nur noch auf Landblößen das Land bebauen, welches sie von alters her kultiviert hatten; neues dürfen sie nicht urbar machen.
Man wolle also immer an einen richtigen Urwald denken. Elefanten und Rhinozerosse gibt es freilich nicht mehr drin, auf ganz Java nicht. Wohl aber taucht ab und zu noch ein Panther, sogar ein Königstiger auf, der sein undurchdringliches Dschungelversteck verlassen hat, um dem Urwald einen Besuch abzustatten. Die Jagd auf dieses seltene Wild ist ein Monopol der indischen Fürsten. Aber es gibt auch noch genug anderes Wild dort zu jagen, und zwar kein ungefährliches.
Die kultivierten Waldblößen wären ja übervölkert, könnten ihre Bewohner nicht mehr ernähren, wenn nicht alle überflüssigen Männer professionelle Jäger würden, und das ist um so nötiger, weil die zahllosen Affen oftmals die ganze Ernte vernichten, und selten kommt es einmal vor, daß solch ein Jäger an Altersschwäche stirbt. Der Karbaus, der javanische Büffel, ist ein furchtbarer Gegner; selbst der Königstiger geht ihm aus dem Wege, und auch der Pellagong, ein riesiges Wildschwein, ist nicht zu verachten.
Die Reiter hätten das Fort noch an demselben Abend erreichen können; aber Nobody wollte das Leben in solch einem malaiischen Walddorfe kennen lernen, sie hatten in einem übernachtet und bei Tagesanbruch ihre Reise fortgesetzt.
Mit vollen Lungen sog Nobody die köstliche Luft des taufrischen Waldes ein. Wie so ganz anders war es hier doch als im afrikanischen und im brasilianischen Urwalde! In diesen herrscht eine ewige Dämmerung. In den indischen Urwald dagegen finden die Sonnenstrahlen zu allen Zeiten ihren Weg. Das kommt durch die andere Art von Bäumen mit anderer Belaubung, so wie man im australischen Gummiwald mit seinen aufrechtstehenden Blättern überhaupt keine Stelle findet, wo man den ganzen Körper in den Schatten legen kann.
In jener ewigen Dämmerung der tropischen Wälder Afrikas und Amerikas ist alles tot, der Boden, dem ein schwüler Dunst entsteigt, ist sumpfig und schwarz; erst hoch oben im Sonnenlicht entfalten die Schlingpflanzen ihre prachtvollen Blüten, dort oben beginnt auch erst das Tierreich. Hier dagegen bedeckte den Boden ein bunter Blütenteppich, die Papageien nisteten schon im Unterholz, zahllose schnatternde Affen turnten an den Lianen auf und nieder.
»Kommt hier noch der langarmige Gibbon vor?« fragte Nobody.
»O nein, Herr! Der ist in Java ganz ausgestorben, ebenso wie der Oa. Diese beiden Arten Menschenaffen sind auch auf Sumatra und Borneo noch seltener als der Orang-Utan. Ich denke mir immer, und der Proviantmeister sagt es auch: diesen menschenähnlichen Affen geht es gerade so wie allen wilden Völkern, die sich nicht der Kultur fügen wollen, bei der Annäherung zivilisierter Menschen sterben sie an ... an ... an einer geheimnisvollen Krankheit.«
»Ja, es mag sein,« versetzte Nobody gedankenvoll. »Nicht allein, daß diese Menschenaffen in unserem nordischen Klima an der Lungenschwindsucht regelmäßig zugrunde gehen, auch hier verschwinden sie immer mehr, sie sterben an der Kultur. Ich habe noch gar keinen Gibbon gesehen.«
»Nicht? O, da haben Sie ja gleich im Fort Gelegenheit dazu. Unser Kommandeur, Major de Haas, hat einen von einem Freunde aus Sumatra geschenkt bekommen. Ein possierliches Vieh! Nein, da darf man von keinem Tiere mehr sprechen, das ist schon mehr ein Mensch. Was unser Proviantmeister dem alles beigebracht hat! Ueberhaupt ein origineller Kauz, unser Proviantmeister. Er singt auch recht hübsch und spielt dazu Klavier.«
»So? Ist der Proviantmeister so musikalisch?«
»Toddy meine ich, unseren Gibbon.«
Nobody hielt gleich sein Pferd an.
»Was?! Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß der Affe singt und sich dazu auf dem Klavier begleitet?«
»Freilich! Sie glauben's nicht? Sie werden es ja sehen. Ist Ihnen denn überhaupt nicht bekannt, daß die Gibbons singen? Jeder kann's mehr oder weniger. Das ist es ja eben; bei uns zu Hause kennt man von den Menschenaffen nur den Schimpansen und den Orang-Utan. Aber der Oa und der Gibbon, das ist ja noch etwas ganz, ganz anderes! Die kommen nur nicht lebend nach Europa. Als wir Toddy erhielten, sang er die Tonleiter auf und ab, das hatte ihm schon sein früherer Herr beigebracht, durch Vorspielen auf der Violine. Wir haben ein Klavier im Fort, der Tochter des Kommandeurs gehörig – der Proviantmeister nahm ihn vor, und es dauerte gar nicht lange, so konnte Toddy die holländische Nationalhymne singen, natürlich nur so – au au au au – und dazu spielt er auch mit einem Finger. Freilich hat bei einem Affen, und wenn er auch noch so menschenähnlich ist, alles seine Grenzen. Seit er das Lied kann, hat er die Tonleiter wieder verlernt.«
Trotzdem, Nobody hielt es kaum für möglich. Unbewußt trieb er sein Pferd zum schnelleren Gang an; dieses Wundertier mußte er kennen lernen.
»Aber,« fuhr der Wachtmeister fort, »auch Toddy hat schon einen Knacks weg. Sprünge von sechs Metern sind bei ihm schon eine Seltenheit, und nun müssen Sie einmal einen Gibbon im Urwald von Sumatra sehen, wenn der ...«
Das Pferd des Sprechers wurde unruhig, machte einen Satz, daß der Dragoner fast aus dem Sattel geschleudert worden wäre, und auch Nobody hatte mit dem seinen zu tun.
Schnell hatten die Reiter sie durch Faust und Schenkel wieder in ihrer Gewalt, aber die Pferde wollten nicht weiter, sie waren nur froh, daß man sie stehen ließ, und so standen sie, mit den Vorderfüßen sich einstemmend, zitternd und schnaubend da. Der Weg machte eine Krümmung, und diese wollten sie nicht passieren.
»Achtung!«
Der Dragoner hielt seinen Karabiner schußfertig, Nobody zog einen Revolver.
»Was ist das?«
»Vielleicht ein Raubtier – oder ein Büffel.«
»Ich glaube nicht, die Pferde wollen nicht fliehen, sie scheuen nur. Vorwärts, wir dürfen ihnen nicht nachgeben.«
Nobody zwang sein Tier weiter, Keller folgte ihm und kam ihm wieder zur Seite, sie bogen um die Ecke – und da sahen sie den Grund, weshalb die klugen Tiere gescheut hatten – eine menschliche Leiche.
»Der Postläufer!!« riefen beide wie aus einem Munde.
Wie in Vorderindien, so wird auch auf dem malaiischen Archipel, wo es an Eisenbahnen fehlt, die Post durch eingeborene Läufer befördert. Der nackte Kuli trägt auf der einen Schulter eine lange Bambusstange, an der die wasserdichten Postbeutel befestigt sind, und so rennt der Mann mit einer erstaunlichen Ausdauer tagelang im Hundetrab durch Prärien, Urwälder und Sandwüsten, keine Dschungel und kein Strom können ihn aufhalten. Schweres Gepäck muß natürlich mit einem Wagen befördert werden, der gewöhnlich mit Ochsen bespannt ist. Aber die Erfahrung hat gelehrt, daß man Geldsendungen lieber solch einem nackten und nicht einmal bewaffneten Kuli, der sich durch fromme Amulette genug geschützt glaubt, vor allen Dingen vor Raubtieren, anvertraut, als einem durch Militär bewachten Postwagen. Arbeitsloses Gesindel gibt es überall, auch in Indien existieren aus Europäern bestehende Räuberbanden; sie lauern hauptsächlich der Post auf, von der sie wissen, daß sie bares Geld bei sich hat. Der Postwagen fällt ihnen immer zur Beute. Diese Eingeborenen aber wählt man aus Dschungel- und Waldjägern, und das sind so gewitzigte und mit solchem Instinkt begabte Burschen, daß selten einmal einer in den gelegten Hinterhalt hineinrennt. Ein geknicktes Grashälmchen erzählt dem Postläufer eine ganze Geschichte, er macht einen weiten Umweg um die verdächtige Stelle, und kein anderer Mensch, kein Reiter kann ihn einholen.
Abends zuvor, kurz nach Sonnenuntergang, war in jenem Dorfe, in dem Nobody übernachtet hatte, ein Postläufer eingetroffen. Es war der, welcher regelmäßig aller vierzehn Tage hier vorbeikam, er brachte die Post auch nach Tjibodas, drang noch tiefer in den Urwald hinein. Nobody hatte seine Freude an dem intelligenten, wackeren Burschen gehabt. Viel hatte ihm dieser freilich nicht erzählen können. Nein, während der zwei Jahre hatte er auf den gefährlichen Renntouren durch Urwald und Dschungel kein besonderes Abenteuer erlebt. Einmal ein wütender Büffel, der ihm nachsetzte, nichts weiter. Der gläubige Mohammedaner trug ja einen geheimnisvollen Talisman bei sich, ein Zettelchen mit einer Sure aus dem Koran, von einem heiligen Derwisch geschrieben, wie konnte ihm denn da etwas passieren!
Der Wachtmeister hatte ihn gefragt, ob er das Geld mitbringe, das einer der Kameraden im Fort schon lange so sehnlich erwarte. Ja, 500 Gulden in Gold. Der vereidigte Postläufer konnte auch noch mehr bei sich haben. Doch darüber sprach er nicht.
»Er ist überfallen und beraubt worden!« rief der Wachtmeister.
Es konnte nicht anders sein. Rings um den still daliegenden Mann war der Inhalt der Postsäcke ausgeschüttet worden; Zeitungen, Briefe, kleine Pakete – alles lag bunt durcheinander.
»Vielleicht lebt er noch!«
Eine warnende Bewegung Nobodys hielt den Wachtmeister ab, vom Pferde zu springen und auf den Mann zuzueilen.
»Keine Spur verwischen! Laßt mich die erste Untersuchung anstellen, ich verstehe mich auf so etwas. Und da – betrachtet Euch den Hals – könnt Ihr da nicht die roten Flecke sehen, aus denen das Blut noch sickert?«
Der Wachtmeister beugte sich im Sattel weit vor, ja, jetzt sah er es, und sein gesundes Antlitz verfärbte sich.
»Die Teufelskralle – der Chatto!« hauchte er, und scheu sah er sich um.
Doch schnell hatte er sich wieder aufgerafft. Ein Gedanke besiegte alle Gespensterfurcht, es war doch auch heller Tag.
»Die malaiischen Diener dürfen ihn nicht sehen,« flüsterte er. »Die fliehen zurück, die Gepäckpferde im Stiche lassend.«
»Das ist es eben, was ich Euch sagen wollte. Reitet schnell zurück, haltet sie auf, daß sie nicht um die Ecke biegen, sagt ihnen irgend etwas, etwa, ein Karbaus stehe uns im Wege, ich will ihn erlegen.«
Der Wachtmeister jagte zurück, und nachdem Nobody noch einmal vom Pferde herab die Umgegend gemustert hatte, stieg er aus dem Sattel, band das Tier an einen Baum und näherte sich langsam, Schritt für Schritt, die Augen am Boden, dem Postläufer.
Obgleich auch der gebahnte Weg mit Gras und Blattpflanzen bedeckt war, konnte der erprobte Fährtensucher, der seine Schule in Amerika durchgemacht hatte, doch deutlich die Fußspuren des rennenden Kulis erkennen. Heute früh war derselbe hier gelaufen, die Halme hatten sich noch nicht wieder aufgerichtet – aber auch absolut nichts weiter war zu sehen, kein Fußabdruck eines anderen Menschen, eines Tieres.
Mit dieser Untersuchung war Nobody schnell fertig. Dem Boden brauchte er keine weitere Beachtung zu schenken. Und der Malaie war tot, mit gebrochenem Auge lag er da, etwas auf der Seite, das Gesicht geschwollen und blau angelaufen, erwürgt; er zeigte keine andere Verletzung als die Krallwunden am Halse.
Diese sind schon mehrmals beschrieben worden, soweit sich so etwas beschreiben läßt. Es mußte wirklich eine Riesenfaust sein. Nobody konnte die Spitzen seiner Finger, so schlank diese auch waren, und so weit dieser unvergleichliche Taschenspieler sie auch zu spreizen vermochte, nicht in die einzelnen Spuren legen. Die Spannweite von Nobodys rechter Hand von der Spitze des Daumens bis zu der des kleinen Fingers betrug 218 Millimeter, diese hier war wenigstens einhalbmal größer, sie umspannte fast ganz den muskulösen Hals des Malaien, und solch eine Spannweite hat keine menschliche Hand. Die Nägelabdrücke waren sehr breit.
Der Wachtmeister kam zurück.
»Ich habe ihnen der Wahrheit gemäß gesagt, daß wir den Postläufer ermordet und beraubt gefunden haben. Wir suchen nach Spuren des Täters, die sie verwischen könnten. Es war das beste so. Auch vor einem Büffel hätten sie die Flucht ergreifen können. Vor einem Menschen haben die beiden weniger Furcht, und der eine ist auch ein ganz tüchtiger Kerl. Nur daß der Täter der Chatto gewesen ist, dürfen sie nicht erfahren.«
»Recht so! Nun wollen wir erst konstatieren, was dem Briefträger abgenommen worden ist, worauf dieser Geist irdische Gelüste gehabt hat.«
Da zeigte sich etwas Seltsames. Man sah schon einiges holländisches Papiergeld umherliegen. Aus einem Postbuche ergab sich, was der Läufer alles bei sich gehabt und schon abgeliefert hatte. An Geld mußte er noch 4600 Gulden in Papier, und 1236 Gulden und einige Cents in Gold, Silber und Kupfer bei sich haben.
Das Papiergeld wurde vollständig gefunden, aber kein Gold, kein Silber und auch keine Kupfermünze.
»Gibt es auf Java Eingeborene, welche den Wert des Papiergeldes nicht kennen?« fragte Nobody.
»O ja. Das heißt, tief drin im Innern, die noch halbwilden Völkerschaften, die Baduvis. Sonst nehmen sie hierherum alle Papiergeld, jeder Dschungeljäger, wenn ihm auch Münzen lieber sind.«
»Dann wäre daraus zu schließen, daß der Täter solch ein Baduvi gewesen ist, oder aber ein ...«
Nobody musterte noch einmal die Umgebung und blickte über sich.
Der Tote lag unter einem Baume. Freilich hätte er sonst irgendwohin fallen können, er hätte immer unter einem Baume gelegen.
Aufmerksam blickte Nobody über sich in die Zweige des mächtigen Baumes, dessen unterster Ast etwa acht Meter vom Erdboden entfernt war.
»Haltet einmal mein Pferd, führt es hierher, so ...«
Und der Professor nahm Klemmer und Brille ab, zog seine Jacke aus, trat zurück, ließ das Pferd noch etwas anders führen, dann ein Anlauf, Nobody stand mit den Füßen auf dem Sattel, ein Abstoß, daß das starke Tier unter ihm zusammenknickte – und der ehrwürdige Professor hing hoch oben in der Luft wie ein weißbärtiger Affe an dem Aste, machte einen Bauchaufschwung und saß rittlings darauf.
Er blieb nicht sitzen, turnte noch längere Zeit dort oben zwischen den Aesten herum, einem Affen wirklich nichts an Gewandtheit nachgebend. Der Wachtmeister sah, wie Nobody manchmal auch innehielt, jetzt aufmerksam die Rinde eines Astes untersuchend, dann einen Zweig, schließlich zog er seine Brieftasche, schien etwas aufzuheben und es in diese zu legen, das geschah noch einmal, dann kletterte er wieder auf den letzten Ast, hing sich mit den Händen daran – »Vorsicht!« – und der alte Herr Professor mußte aus Kautschuk bestehen, sonst hätte er sich aus der beträchtlichen Höhe nicht ohne Schaden zu nehmen herabfallen lassen können.
»Haben Sie etwas gefunden?«
»Hm. Ja und nein. Ich spreche nicht gern über etwas, solange ich meiner Sache nicht sicher bin, und das ist hier noch der Fall.«
»Wollen Herr Professor dabei bedenken, daß dieser Ueberfall auf den Postläufer am hellen Tage oder doch bei Morgengrauen passiert sein muß, und so etwas ist noch gar nicht vorgekommen.«
»Das ist es eben, der Chatto scheint einmal aus der Rolle gefallen zu sein. Hat er denn sonst die erwürgten Wachtposten ausgeplündert?«
»Niemals! Nicht das geringste wurde bei den Toten vermißt.«
»Dann muß das wohl ein anderer Würgengel gewesen sein, der hier weiß schon den Wert des Geldes zu schätzen, zumal des baren oder aber ...«
Wiederum vollendete Nobody den Satz nicht. Er kniete neben dem Toten nieder, der jetzt auf dem Rücken lag, betrachtete, sich tief herabbeugend, aufmerksam die Brust des Ermordeten, drehte ihn herum und besichtigte ebenso aufmerksam den Rücken. Dann schien besonders die eine Schulter seine Augen zu fesseln, und auch der Wachtmeister konnte dort eine kleine, frische Rißwunde wahrnehmen. Nobody zog aus der Westentasche ein Vergrößerungsglas und besichtigte sie mit diesem, ging mit dem Vergrößerungsglase den ganzen Rücken entlang, verweilte sehr lange an einer Stelle, an welcher der Wachtmeister freilich absolut nichts wahrnehmen konnte, und schließlich schien Nobody von dem Schurz, den der Malaie trug, etwas Unsichtbares aufzunehmen, was er wiederum zwischen zwei weißen Blättern seiner Brieftasche barg.
Dann erhob er sich und blickte mit ernsten Augen seinen Begleiter an.
»Ich glaube, Ihr könnt schweigen, Wachtmeister.«
»Gewiß doch, Herr Professor.«
»Ich will einen Versuch machen – Ihr werdet jetzt etwas zu sehen bekommen, und ich möchte nicht gern, daß andere etwas davon wissen.«
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, zog Nobody seine Jacke an, setzte wieder Brille und Klemmer auf und ging so als kurzsichtiger Professor zurück zu den Dienern, welche ängstlich bei den Packpferden hinter der Waldecke warteten, bis man sie wieder rief.
»Ich brauche meinen Medizinkasten,« sagte der Gelehrte, holte ein Schlüsselbund aus der Tasche, schloß einen Reisekorb auf und entnahm diesem ein obenaufliegendes, durchlöchertes Kistchen, schloß wieder zu, hieß die Diener noch warten, nahm noch eine Decke mit und ging zurück.
Die Malaien wußten, daß der Fremde so ein berühmter Gelehrter war, der durch eine besondere Brille in jedem Wassertropfen große Drachen sah, also mehr ein Zauberer, sie kannten das Wort ›Medizin‹, und sie rührten sich nicht von der Stelle.
Der Wachtmeister staunte nicht schlecht, als er in dem durchlöcherten Kästchen ein javanisches Eichhörnchen sitzen sah, das sofort wie ein schwarzer Schatten in Nobodys Aermel verschwand. Wir kennen das Tierchen schon: es war das Ayka, mit dessen Hilfe Nobody seine spiritistischen Experimente ausführte.
Auf ein unmerkliches Zeichen seines Herrn kam es wieder zum Vorschein, ließ sich in die Hand nehmen und auf den Rücken des Toten setzen. Hier drückte Nobody es mit der Nase gegen dessen Rücken, sprach zu ihm für den Wachtmeister unverständliche Worte, und das Tierchen schien auch zu verstehen, eifrig schnupperte es mit dem feinen Näschen überall herum, besonders jene kleine Wunde an der Schulter schien es zu interessieren.
Hierauf nahm Nobody das Eichhörnchen und ließ es am Baume emporklettern, ihm wieder fremde Worte zurufend, die wohl nur ›Such, such!‹ bedeuten konnten. Das Ayka sprang denn auch von Ast zu Ast, aber suchen tat es jedenfalls nicht, es freute sich nur nach der langen Gefangenschaft in der engen Schachtel über die goldene Freiheit, war es doch auch in seiner Heimat, und dann setzte es sich hin, putzte das Näschen und äugelte vergnügt herab.
»Es ist nichts. Ich dachte es mir. Auf so etwas ist es nicht dressiert; aber ich werde es noch so weit bringen.«
Ein Pfiff, das Tierchen sprang von der großen Höhe auf die Schulter seines Herrn, wollte in dessen Aermel verschwinden, wurde aber wieder im Kasten verpackt.
Der Leichnam wurde in die Decke gewickelt, so daß auch nichts von Kopf und Hals sichtbar war, jetzt durften die Diener kommen, denen man keine Erklärung schuldig war, der Tote wurde auf einem Packpferd befestigt, die Postsachen zusammengelesen, und die kleine Karawane setzte ihre Reise durch den Urwald fort. Schon nach wenigen Minuten bekam man das Fort in Sicht, vor dem Wachtmeister senkte sich die Zugbrücke.
Wir wollen uns nicht auf Einzelheiten einlassen. Major de Haas war ein gemütlicher Holländer und ein gebildeter Mensch, mit dem Nobody fertig wurde. Der Kommandeur nahm den berühmten Gelehrten, der solch einen Paß besaß, mit der gebührenden Hochachtung auf, ließ sich erzählen, zollte ihm Beifall, daß er die Todesursache des Postläufers geheimgehalten habe – aber zunächst, ehe darüber weiter gesprochen wurde, mußte sich der Gast nach dem langen Ritte doch erst einmal restaurieren, der Herr Professor ward in ein höchst komfortables Schlafzimmer geführt.
»Sie werden in diesem Fort, wenn es auch im Urwald liegt, nicht viel vermissen, was man zum behaglichen Leben braucht, denn ich hatte bis vor kurzem meine Frau und Tochter hier. Tun Sie ganz, als wenn Sie zu Hause wären, und sagen Sie Ihre Wünsche dem Diener. Auf Wiedersehen zum Frühstück, Herr Professor!«
So hatte Major de Haas beim vorläufigen Abschied gesprochen, und der Mann hatte, da ihm der tote Postläufer mit den durcheinandergeworfenen Briefen ins Haus gebracht worden war, ja auch alle Hände voll zu tun.
»Ist das frisches Wasser?« war Nobodys erste Frage, die Hand an die auf dem Tische stehende Wasserflasche legend. Sie fühlte sich warm an.
»Nix frisches Wasser – Wasser nix gut – Weißbachwasser – muß heißen Schwarzbachwasser,« kauderwelschte der Malaie, der das Gepäck mit ins Zimmer getragen hatte und jetzt noch an der Tür stand. »Aber Bier gut – holländisch Bier – viel Bier im Keller – und Keller frisch – ganz kalt.«
»Gut, also Bier!« lachte Nobody, und als er sich gewaschen hatte, standen zwei Flaschen Bier auf dem Tisch.
Sein Durst schien nicht allzu groß gewesen zu sein, er trank zunächst nur ein Glas, dann setzte er sich, zog sein Notizbuch und begann zu schreiben.
Eben schenkte er sich ein zweites Glas ein, wobei aber immer noch eins in der Flasche verblieb, als sich die Tür leise öffnete und die seltsamste Gestalt hereinspaziert kam, die Nobody jemals in seinem Leben erblickt hatte.
Es war ein Affe, etwas über einen Meter hoch, mit kolossal langen Armen – also ein Gibbon – Toddy, der dem fremden Gast seine Aufwartung machen wollte.
Es war sicher nicht die rote Hose und die blaue Jacke mit den goldenen Knöpfen, was Nobody so überaus ergötzlich fand, daß er hätte gleich hell auflachen mögen, es war auch nicht dieses schwarze, finstere, nachdenkliche Gesicht, umrahmt von einem weißen Barte, genau wie bei einem alten grübelnden Gelehrten, wie er im Buche steht – nein, der Gang des Tieres war es, der ihn so zum Lachen reizte.
Die mächtigen Arme, mit denen er mit Leichtigkeit den Boden berühren konnte, weit ausgestreckt, die kurzen Beinchen so breit wie möglich, so balancierte er herein. Aber die Balance gelang ihm doch nicht, er torkelte immer von einer Seite nach der anderen, die Beine kamen zusammen, und er stolperte über die große Zehe, um dann die Beine noch weiter auseinanderzusetzen ... es ist gar nicht zu beschreiben.
Wo hatte Nobody nur schon einmal ein ähnliches Bild gesehen? Richtig, in Sydney, einen alten Seemann, der mächtig schief geladen hatte und der auf der Straße breitbeinig die Balance zu behalten suchte! Aber bei diesem Menschenaffen sah das noch viel possierlicher aus.
Jetzt balancierte er auf einem Fuße und quirlte mit dem andern in der Luft herum, und dann endlich hatte er den Tisch erreicht, hielt sich mit der einen Hand daran fest und streckte die andere dem Fremden hin, eine ungeheure Hand.
»Au, au!«
Das war so menschlich gesprochen, dieses Hinhalten der Hand zur Begrüßung so menschlich, daß Nobody ganz vergaß, daß er ein Tier vor sich hatte. Aber warum wackelte es nur auch jetzt, da es sich doch festhielt, noch mit dem Oberkörper so hin und her, oder vielmehr nach vorn und hinten, gerade wie ein fast sinnlos betrunkener Mensch, der sich eben noch aufrecht ...
Himmel, was roch der Affe nach Arrak!
Natürlich, jetzt wußte es Nobody – der Kerl war fürchterlich betrunken!
Obgleich Nobody die Hand des Tieres gern näher betrachtet hätte, wurde sie ihm entzogen; mit unerschütterlich ernstem Gesichte wandte sich der Affe um, torkelte nach dem Waschtisch, nahm das dortstehende Wasserglas, kehrte mit viel Schwierigkeiten zurück, griff nach der noch halbvollen Bierflasche, schenkte sich das Glas voll, freilich viel danebengießend, denn die riesenhafte Affenhand litt kolossal am Tatterich; jetzt hob er zitternd das gefüllte Glas, um mit dem Gaste anzustoßen, ein melodisches ›Au‹ ... da aber verlor Toddy die Balance, schlug rückwärts zu Boden, sich das ganze Bier ins Gesicht gießend, und reckte die kurzen Beinchen in die Luft.
»Schweinehund, bist du schon wieder besoffen?!« erklang da eine dröhnende Stimme, und im Türrahmen stand die Gestalt eines Mannes mit gewaltigem Schmerbauch, das feiste Gesicht so glänzend wie die Glatze, und zwar hatte er sich der deutschen Sprache bedient.
Diese Stimme mußte den Affen urplötzlich ernüchtert haben. Im Nu war er auf und saß mit einem Satze hoch oben auf dem in einer Ecke des Zimmers stehenden Kleiderschranke.
Der dicke Mann wollte ihn jedenfalls fangen, er hatte auch die Tür hinter sich geschlossen, aber Toddy wollte sich nicht fangen lassen, und nun bekam Nobody etwas zu sehen, was er nicht für möglich gehalten, hätte er es nicht mit eigenen Augen geschaut. Freilich gehörten dieses Detektivs Augen dazu, um alle Einzelheiten dabei zu erkennen.
Es war ein sehr langgestrecktes Zimmer. Auf der einen Seite befand sich die Tür, gegenüber der Schrank, in der Mitte hing an langer Kette eine Hängelampe. Nach dieser sprang der Affe mit mächtigem Satze, und während er so durch die Luft sauste, mitten im Fluge, ergriff er mit der linken Hinterpfote die auf dem Tische stehende volle Bierflasche – dann hing er an der Lampe, benutzte deren Schwung zur Weiterbeförderung nach der Tür, und wieder während dieses Sprunges, mitten in der Luft, wechselte er die Flasche aus der Hinterpfote in die linke Vorderhand, mitten im Sprunge klinkte er mit der andern Hand auch noch die Tür auf – und hinaus war er mit seiner Bierflasche wie ein Donnerwetter.
Wirklich, so etwas von Schnelligkeit, Gewandtheit und dabei Besonnenheit hatte Nobody noch nicht gesehen, auch bei keinem Affen.
»Entschuldigen Sie, Herr Professor,« sagte der Dicke in der aufgeknöpften Tropenuniform, die Lampe anhaltend, »ich wußte, daß Toddy zu Ihnen hereingekommen war, und er hat wieder ein halbe Flasche Arrak erwischt. Hat er Sie umarmt?«
»Nur die Hand gegeben.«
»Dann hat er Ihnen auch nichts aus der Tasche gemaust?«
»Er hatte gar keine Gelegenheit dazu.«
»Hat er Ihnen auch kein brennendes Streichholz in die Tasche gesteckt?«
»Auch das nicht,« lachte Nobody. »Macht er denn solche Streiche?«
»Ach Gott, ach Gott!« klagte der Dicke mit der sorgenschweren Miene eines von seinem Sohne totgequälten Vaters. »Nichts als solche Dummheiten hat er im Kopfe. Am besten ist er, wenn er besoffen ist, da zeigt sich sein wahrer Charakter – ganz wie beim Menschen. Ueberhaupt – nichts weiter als lügen, mausen, schlafen, fressen und saufen – ganz genau wie unsereiner, wie jeder andere vernünftige Mensch.«
»Liebt er denn geistige Getränke so sehr?«
»Ganz wie ein vernünftiger Mensch.«
»Bekommt ihm denn das?«
»Jetzt trinkt er noch die Flasche Bier aus, denn die gibt er nun nicht wieder her, und dann legt er sich schlafen – ganz wie ein vernünftiger Mensch. Morgen freilich hat er einen fürchterlichen Katzenjammer – ganz wie ein vernünftiger Mensch.«
Und der Dicke, der sich als der Proviantmeister entpuppte, erzählte weiter von den tollen Streichen, die sein Liebling machte – ›ganz wie ein vernünftiger Mensch‹.
»Er stiehlt also auch Geld?«
»Ganz wie ein vernünftiger Mensch. Hinter Geld ist er her wie der Teufel hinter einer sündhaften Seele.«
»Was macht er denn mit dem Gelde?«
»Früher kaufte er sich dafür immer in der Kantine etwas, natürlich immer Schnaps – ganz wie ein vernünftiger Mensch. Seitdem er aber in der Kantine nichts mehr bekommen kann, versteckt er das Geld, und wir haben immer unsere liebe Not, es wiederzufinden.«
Eben wollte sich der Proviantmeister über den würgenden Chatto und über die Ermordung des Postläufers verbreiten, als er von einem Soldaten geholt wurde.
Nobody war wieder allein. Vorsichtig untersuchte er den Fußboden in der Nähe des Tisches, auch die Decke desselben, und bald hatte er gefunden, was er suchte: ein rotbraunes Haar, welches Toddy zurückgelassen hatte, mehrere solcher Haare.
Er legte sie auf ein weißes Blatt Papier und entnahm seiner Brieftasche dasjenige, was er vorhin hineingetan hatte, ebensolche rotbraune Haare, und die Untersuchung mit dem Vergrößerungsglas genügte ihm noch nicht, er holte aus einem Koffer ein kleines, aber jedenfalls ausgezeichnetes Mikroskop hervor, unter diesem wurden die Haare miteinander verglichen, und dann war sich Nobody seiner Sache sicher.
»Es sind die Haare eines Gibbons,« murmelte er, und ein furchtbarer Verdacht stieg in ihm auf, den er aber bald wieder fallen lassen sollte. –
Vier Tage verweilte Nobody als Professor Berneveld im Fort Tjibodas, ohne daß sich während dieser Zeit der Chatto wieder bemerkbar machte. Wachtposten wurden ja nicht mehr ausgestellt, von Batavia selbst war der Befehl gekommen, dies bis auf weiteres zu unterlassen, auch kein anderer Mensch wurde von der würgenden Riesenfaust erdrosselt, und ebensowenig schien Nobody sein ursprünglich geplantes Vorhaben ausführen zu wollen, nämlich den Wachtmeister einen einsamen Posten beziehen zu lassen, um ihn heimlich zu beobachten, wozu sich Keller doch bereiterklärt hatte.
Es wurde im Fort gar viel über den neuen Fall gesprochen, über die Ermordung und Beraubung des Postläufers durch die Teufelskralle am hellichten Tage, was also noch niemals vorgekommen war; die verschiedensten Hypothesen wurden aufgestellt, da aber keine zu einer Erklärung führte, so wollen wir uns gar nicht bei ihnen aufhalten.
Während dieser vierzehn Tage beschäftigte sich Nobody ausschließlich mit dem Gibbon, und er konnte die stereotype Redensart des Proviantmeisters nur bestätigen: ›ganz wie ein vernünftiger Mensch‹. Der Gibbon ist dem bekanntesten Menschenaffen, dem Orang-Utan, an menschenähnlicher Intelligenz tatsächlich bei weitem überlegen. Er ist nur noch niemals nach Europa gekommen, er kann eben ein anderes Klima als sein heimatliches durchaus nicht vertragen, und auch in seiner Heimat ist er sehr selten, und so kommt es, daß in ›Brehms Tierleben‹, welches für Deutschland doch die klassischste Tierkunde ist, dieses Menschenaffen nur mit wenigen Worten Erwähnung getan worden ist. Einer der letzten Forscher, der einen Gibbon beobachtet hat, ist Ernst Häckel, der berühmte Professor in Jena, der Verfechter der Darwinschen Theorie, der Verfasser der ›Welträtsel‹, welcher am Anfange dieses Jahrhunderts den malaiischen Archipel bereiste und seine Erfahrungen in dem Werke ›Insulinde‹ niederlegte.
Da beschreibt er also auch einen gefangenen Gibbon. Wir wollen uns nicht dabei aufhalten, wie possierlich sich das Tier benahm, wie es aß und trank und schlief, wie es mit den Kindern spielte u.s.w. u.s.w., sondern es sei nur hervorgehoben, daß dieses ›Tier‹ nicht nur tadellos sang, sondern auch richtig sprechen konnte. Das heißt, Laute und Worte wie ein Papagei vermochte der Gibbon nicht zu bilden, er hatte nur ein ›au‹ und ein ›hui‹, aber mittels seiner biegsamen Stimme, die sich zwischen zwei Oktaven bewegte, vermochte er mit diesen zwei Lauten, unterstützt von lebhaftem Mienenspiel und Gestikulationen, alles zu sagen, was er nur wollte; die Menschen, die längere Zeit mit ihm verkehrten, verstanden ihn vollkommen, konnten sich mit ihm richtig unterhalten, wobei natürlich wiederum zu bedenken ist, daß es ein Affe war, schließlich doch ein Tier, und nicht etwa, daß der Gibbon ihnen Geschichten aus seinem früheren Leben in der Wildnis erzählt hätte.
Ferner berichtet Professor Häckel, wie solch ein Gibbon springen kann. Er hat Sprungweiten von fünfzehn Metern gemessen, und nicht etwa von Baumstamm zu Baumstamm, sondern von dem kleinen Zweig an, von dem sich der Gibbon abschleuderte, bis zum ersten Zweig des nächsten Baumes. Nun messe man diese Weite aus, und man wird so etwas kaum glaubhaft finden – wenn es eben nicht solch ein Mann berichtete. ›Der Gibbon ist ein fliegendes Säugetier ohne Flügel.‹
Nobody hatte von alledem noch nichts gelesen, nichts gehört; er fand es jetzt durch eigene Beobachtung. Er nahm Toddy mit in den Wald hinaus, und während er im Hause, wie auch schon der Wachtmeister gesagt hatte, höchstens Sprünge von sechs Metern Weite machte, maß Nobody zwischen den Bäumen manchmal solche von acht Metern.
Der Detektiv besichtigte die Orte, wo die überfallenen Wachtposten gestanden hatten. Bäume sind in dem waldreichen Java überall vorhanden. Der Posten an der Brücke hatte in der Nähe eines großen Baumes gelegen, der von dem nächsten elf Meter weit entfernt war, das heißt, ein Affe hätte elf Meter weit zu springen gehabt, und so hätte er seinen Weg von Baum zu Baum bis in den Urwald gefunden, ohne den Boden berühren zu brauchen.
Wenn Nobody den Verdacht, Toddy könnte den würgenden Chatto spielen, so schnell wieder hatte fallen lassen, so lag das nicht daran, daß Toddy nicht mehr so weit springen konnte. Lockte Nobody ihn, einen Sprung zwischen jenen beiden Bäumen zu riskieren, so zog Toddy es vor, am Boden hinzulaufen, immer aufrecht. Das hätte ja Verstellung sein können, freilich schon etwas ›überäffisch‹.
Nein. Schon in der ersten Stunde, in der Nobody Toddy näher kennen lernte, mußte sein Verdacht verschwinden. Es war das gutmütigste, harmloseste, sogar ängstlichste Tier, und da war keine Verstellung dabei. Es ist ja auch von den Menschenaffen bekannt, wie sie sich vor einer Schlange, vor einem ihnen unbekannten Insekt entsetzen, und vor allen Dingen respektieren sie den Menschen. Alles, was man hört, wie sie Kinder und Frauen geraubt haben, ist ja nur Fabel. Etwas anderes ist es z. B. bei den afrikanischen Pavianen. Diese greifen wirklich Menschen an. Das ist aber auch eine ganz andere Art, das sind Hundskopfaffen. Und von den harmlosen Menschenaffen ist der menschenähnlichste und daher auch der allerharmloseste der Gibbon.
Konnte der Chatto denn aber nicht ein anderer Gibbon sein, welcher dazu abgerichtet war, die Wachtposten zu überfallen und zu erwürgen, dem Postläufer das Geld abzunehmen? Man hatte ihm beigebracht, niemals mit den Füßen den Boden zu berühren, auch wenn er auf sein Opfer sprang.
Es wäre merkwürdig gewesen, wenn nicht auch andere auf diese Vermutung gekommen wären. Aber alle im Fort wollten so etwas nicht gelten lassen, vom Kommandeur an bis zum geringsten Malaien, und in der Affenfrage hatten die doch eine große Erfahrung, und am deutlichsten bekam Nobody den Gegengrund von dem Proviantmeister zu hören.
»Richten Sie ein Schaf ab, daß es das Haus bewacht und auf den Mann geht, dann will ich glauben, daß man auch einen Gibbon dazu bringen kann, einen Menschen zu überfallen und zu töten.«
Trotzdem, Nobody blieb bei seiner Ansicht. Er hatte die Haare der verschiedensten Affenarten unter dem Mikroskop miteinander verglichen, jede Art zeigte eine andere Struktur, das hatte der Detektiv überhaupt schon gewußt, das gehörte mit zu seinem Berufe – aber die wenigen Haare, welche er auf jenem Baume aufgelesen und von dem toten Postläufer aufgenommen hatte, stimmten genau mit denen Toddys überein. Der Mörder war ein Gibbon!
Höchstens ein Umstand konnte Nobody noch irremachen. Toddys Riesenfinger waren lang genug, um den Hals eines Menschen zu umspannen. Die Fingerabdrücke stimmten sogar ganz genau. Aber die der Nägel nicht! Die Nägel des Gibbons sind äußerst lang und spitz, und selbst wenn man sie soweit wie möglich verschnitten hätte, konnten sie doch nicht solche breite Male erzeugen, wie die erwürgten Opfer sie aufwiesen. Diese Male waren wenigstens viermal breiter, als ein Gibbon sie mit stumpfgeschnittenen Nägeln hervorbringen konnte.
Das war der Widerspruch, der nicht in Nobodys Kombinationen hineinpaßte. Nun, er wollte dieses Rätsel schon noch lösen.
Aber auch die im Fort Befindlichen glaubten, sich einmal in ihrem Liebling geirrt zu haben, vor allen staunte der Proviantmeister, wie sich Toddy dem alten Professor gegenüber benahm. Der gezähmte Affe fühlte sich nun einmal zwischen den Mauern des Forts zu Hause und war dadurch seiner eigentlichen Heimat, dem Urwalde, entfremdet worden, wollte von diesem gar nichts mehr wissen, fürchtete sich förmlich vor dem Walde. Höchstens wenn sich einmal sein spezieller Freund, ein kleiner Malaienknabe, den er als seinen Schützling betrachtete, in den Wald begab, begleitete er ihn ein Stück, den Weg immer durch die Zweige der Bäume nehmend, den Jungen durch ängstliches Geschnatter vor den Gefahren des Waldes warnend, doch es brauchte sich nur irgend ein fremder Mensch zu zeigen, so floh Toddy mit großen Sprüngen nach dem Fort zurück – auch ein Grund, daß Toddy unmöglich der geheimnisvolle Würgengel des Urwaldes hätte sein können.
Und diesem fremden Professor folgte der ängstliche Affe gleich am ersten Tage, dann sogar bei gießendem Regen, ja, einmal verbrachte er mit ihm die ganze Nacht im Freien, obwohl sich doch jeder Affe in der Nacht so fürchtet wie – instinktiv – jedes Kind – und überhaupt, es war ganz rätselhaft, für die meisten geradezu unheimlich, wie Toddy dem alten Manne aufs Wort gehorchte, was er nämlich sonst durchaus nicht tat.
Und was beabsichtigte der alte Professor denn nur mit dem Affen? Weshalb hatte er ihn immer bei sich auf seinem Zimmer? Weshalb nahm er ihn so oft mit in den Urwald und verbrachte dort sogar die ganze Nacht mit ihm, nachdem er im Fort die Weisung hinterlassen hatte, ihn nicht zu suchen? Was für unheimliche Dinge trieb der alte Professor mit dem Affen?
So flüsterten die Malaien und auch genug weiße Soldaten. Dem Kommandeur sagte der alte Herr, er wolle eben das Seelenleben solch eines Menschenaffen studieren. Dabei aber sah Major de Haas ihn so scheu von der Seite an, daß man ihm deutlich anmerkte, wie auch er an so etwas nicht glaube – und so war im Fort nur ein einziger Mensch, der Wachtmeister Keller, welcher wußte, was der hinter der Maske des alten Gelehrten steckende Detektiv beabsichtigte und worauf er sich vorbereitete. –
»Ich bin so weit, um die Spur des Chattos in den Baumwipfeln zu verfolgen!« sagte Nobody am Morgen des fünften Tages zu dem Wachtmeister.
»Und ich bin bereit, einen Wachtposten zu übernehmen!« entgegnete dieser ohne Zögern. »Ich mache den Herrn Professor nur darauf aufmerksam, daß der Kommandeur es nicht zugeben wird, weil er von Batavia ...«
»Bah, meine Vollmacht stellt mich über den Kommandeur. Die Sache ist für mich nur die, ob der Chatto, der schon seit fünf Tagen nichts mehr von sich hat hören lassen, von einem Wachtposten noch angezogen wird.«
»Das käme auf einen Versuch an, und wie gesagt, Herr Professor, ich bin bereit dazu, die Rolle eines Köders zu übernehmen!«
Der Wachtmeister war dienstfrei. Beide begaben sich nach der ziemlich entfernten Stelle, von wo aus die Bahnbrücke bewacht wurde, um die Vorkehrungen für die Nacht zu besprechen. Noch ehe sie den betreffenden Baum erreicht hatten, sahen sie einen Malaien, der in vollem Laufe nach der Richtung des Forts rannte.
»Ich kenne ihn, es ist Helomar, ein Dschungeljäger aus der Umgegend!« sagte Keller. »Was treibt den zu solcher Eile? Hallo, Helomar, komm hierher!«
Der Gerufene erkannte den Wachtmeister; er veränderte die Richtung seines Laufes. Scheu rollten seine Augen im Kreise umher.
»Der Chatto!« stieß er zuerst nur hervor, und es dauerte einige Zeit, ehe der Malaie eine Erklärung abgeben konnte.
Wieder hatte sich die ›Teufelskralle‹ ein Opfer geholt. Heute früh hatten Eingeborene auf dem Wege zwischen Klaasen und Beringjas den Mynheer Vanbom, den reichen Pflanzer von Klaasen, gefunden. Er war beritten gewesen, sein Pferd hatte man schon eingefangen. Jetzt mußte erst der Fortkommandeur von der neuen Schreckenstat benachrichtigt werden.
Nachdem der Malaie den Ort genau beschrieben hatte, wo man den Toten gefunden und wo er jetzt noch lag, durfte er seinen Weg nach der Festung fortsetzen. Die beiden aber begaben sich unverzüglich an die betreffende Stelle; sie hatten nur etwa zwanzig Minuten zu gehen.
Schon unterwegs trafen sie auf Gruppen von Malaien, welche, so eng wie möglich zusammenstehend, das neue Erscheinen des Chattos eifrigst besprachen. Wichtig für Nobody war es, daß sich darunter auch ein Eingeborener von jener Plantage befand, welcher bestimmt aussagen konnte, daß Mynheer Vanbom die Plantage heute früh um sechs zu Pferde verlassen hatte, und schon gegen sieben Uhr hatten ihn Jäger dort auf der Waldstraße tot aufgefunden, die Teufelskrallen am Halse. Auch wieder beraubt war er worden. Wieviel Geld er bei sich gehabt hatte, konnte der Diener nicht sagen. Dieser hatte den Herrn aber nicht begleitet, sondern war erst später nach dem nächsten Dorfe geschickt worden.
Nobody und Keller fanden den Toten, wie die zur Jagd ausrückenden Malaien ihn zuerst gefunden hatten. Der Anblick der blutigen Teufelskrallen am Halse genügte, um sie in die Flucht zu treiben. Noch kein anderer hatte ihn berührt; erst mußte nach dem Fort geschickt werden, was auch ganz in der Ordnung war, und für Nobody war es von Vorteil, daß sich die zusammengelaufenen Eingeborenen auch außer Gesichtsweite hielten, sie wollten das Opfer des Chattos gar nicht erblicken. So konnte Nobody unbemerkt hantieren.
Der gespornte Mann, ein ältlicher Holländer, lag auf dem Rücken. Der erste Eindruck war wiederum der eines Raubmordes, denn neben dem Toten lag seine Brieftasche, ihr Inhalt verstreut, darunter freilich auch eine Hundertguldennote und kleineres Papiergeld, die ein menschlicher Räuber und auch ein Eingeborener aus dieser Gegend sicher zu schätzen gewußt hätte. Jedenfalls hatte der Holländer auch Münzen bei sich gehabt; ehe aber Nobody an diese Untersuchung ging, prüfte er erst wieder vorsichtig den Boden nach Spuren, fand jedoch nichts weiter als die Eindrücke von Pferdehufen. Bis hierher war das Pferd in mäßigem Trabe gegangen; unter diesem Baume hatte es plötzlich einen mächtigen Satz gemacht, jedenfalls vor Schreck, und war reiterlos davongejagt. Der Reiter hatte mit seinen Füßen nicht einmal den Boden berührt. Sofort mußte er platt am Boden gelegen haben, noch einmal griff er in Todeszuckungen mit beiden Händen ins Gras, dann hatte er stillgelegen. Jede andere Spur fehlte.
Dann konstatierte Nobody, daß der Mann, dem die Taschen sogar umgekehrt waren, wirklich kein bares Geld bei sich hatte; hierauf untersuchte er aufs sorgfältigste die Wunde am Halse, maß die Spurweite der breiten Nägel und suchte den Anzug des Mannes ab, fand auch einige rotbraune Haare, welche er unter das Vergrößerungsglas brachte.
»Es ist ein Affe, und zwar derselbe!«
Nobody richtete sich auf und strich die Haare aus der Stirn zurück.
»Ans Werk! Ich nehme die Verfolgung der Spur sofort auf!«
Er blickte erst über sich in die Zweige des hohen Baumes, dann vorsichtig um sich, und als er keinen Beobachter gewahrte, holte er aus seiner Rocktasche das Ayka hervor.
Wieder mußte es den Toten beriechen, dann schleuderte Nobody das Tierchen in die Zweige der Bäume, und jetzt benahm es sich ganz anders als bei jenem Postläufer, denn nicht umsonst hatte sein Herr vier Tage lang mit dem Ayka und mit dem Gibbon im Urwalde bei Tag und Nacht, bei Sonnenschein und Regen experimentiert. Das Tierchen wußte genau, was von ihm verlangt wurde. Sofort begann es hoch in den Zweigen einen südlichen Weg zu nehmen, von Baum zu Baum, und als einmal der nächste Baum für das kleine Tierchen zu weit entfernt war, huschte es am Stamme herab, lief die Strecke am Boden hin und erklomm jenen Baum, und weil es auf diesem die Spur nicht wiederfand, begab es sich auf den benachbarten, und so ruhte es nicht eher, als bis es wieder auf der richtigen Spur war, alles ohne Aufforderung, und von dem wunderbar feinen Geruchsinn des javanischen Ayka ist schon früher gesprochen worden.
Nobody war ihm, die Augen nach oben gerichtet, am Boden gefolgt! Er brauchte keine Sorge zu haben, seinen über ihm wandelnden Spürhund aus den Augen zu verlieren. Ein leiser Pfiff genügte, und wo das Ayka sich auch befand, sofort wußte es sich bemerkbar zu machen, oder es sprang wohl auch einmal von hoch oben auf die Schulter seines Herrn und war wie der Blitz wieder in den Zweigen verschwunden.
Aber so konnte Nobody die Verfolgung nicht fortsetzen. Mit dem alten Professor Berneveld war es bereits vorbei. Er befand sich in einem Urwald, abseits des gebahnten Weges, und der javanische Wald hat böse Dornenbüsche aufzuweisen. Um besser sehen zu können, hatte der kurzsichtige Professor die Brillen abgenommen, ein zurückschnellender Dornenzweig riß ihm den weißen Bart ab, ein anderer schnitt ihm den einen Rockschoß wie mit einer Schere ab, im Nu war ihm das eine Hosenbein von unten bis oben aufgeschlitzt.
Ein Pfiff, das Ayka ließ sich auf die Schulter seines Herrn fallen und verschwand im Aermel; Nobody kehrte zurück und fand den Wachtmeister noch neben dem Toten stehen. Er war ja nur fünf Minuten fortgewesen, und Keller hatte es selbstverständlich gefunden, daß jener ihn nicht so ohne weiteres verlassen würde.
»Sie sehen gut aus, Herr Professor!« lachte Keller.
Nobody erklärte seinem Vertrauten, was er beabsichtige; jener könne ihn auf der Verfolgung leider nicht begleiten, machte ihm noch einige andere Mitteilungen, dann klebte er notdürftig den zerfetzten Bart wieder zurecht und begab sich nach dem Fort zurück, zum letzten Male als Professor Berneveld. Unterwegs sah er die Offiziere des Forts mit Begleitung kommen und vermied eine Begegnung mit ihnen.
Auf seinem Zimmer schrieb er schnell einen Brief, den er an den Wachtmeister Joseph Keller adressierte. Es war sein Testament, der Wachtmeister sollte gewissermaßen der Vollstrecker desselben werden oder es doch an eine andere Adresse befördern.
Hierauf entnahm er einem Koffer einen ledernen Jagdanzug, der schon manche Strapaze durchgemacht hatte und dem auch alle javanischen Dornen nichts anhaben konnten, zog lange Schaftstiefel an, setzte einen ledernen Schlapphut auf, steckte noch einen zweiten Revolver zu sich, schnallte einen mit Patronen gespickten Gürtel um, an dem auch ein Jagdmesser von solchem Kaliber hing, daß man es schon eher als Axt verwenden konnte, und so ausgerüstet verließ Nobody sein Zimmer.
Der an der niedergelassenen Zugbrücke postierte Soldat hatte vor den Gästen des Kommandeurs zu präsentieren. Er vergaß es vor Staunen. Wie überhaupt war dieser Jäger, ein noch ganz junger Mann, hierhereingekommen?
Nobody kümmerte sich nicht darum, was hinter ihm gedacht wurde. Mit dem alten Professor Berneveld war es eben vorbei, die Brille war ihm schon längst lästig geworden, jetzt war er wieder Nobody, und falls er das mit diesem ›Chatto‹ zusammenhängende Rätsel nicht lösen sollte, dann kehrte er auch niemals wieder hierher zurück.
Es war nicht nötig, daß er nochmals die Verfolgung der Spur von dem Toten aus begann, und so brauchte er auch nicht mehr mit den Offizieren zusammenzutreffen. Er drang direkt in den Wald, fand sofort den letzten Baum, bis zu dem er gekommen war, das Ayka kam wieder aus dem Aermel geschlüpft, einige ermunternde Worte, es flog hinauf in die Zweige, und sofort nahm es die unterbrochene Verfolgung der Spur mit altem Eifer wieder auf.
Weiter und immer weiter ging es. Die Mittagshitze machte sich hier nicht fühlbar, aber der irdische Mensch braucht Nahrung. Schon wiederholt hatte Nobody Hirsche und anderes jagdbares Wild aufgescheucht, dicht vor seinen Füßen war es aufgesprungen, er hätte es mit einem Revolverschuß erlegen können, aber er vermied doch nicht umsonst schon beim Gehen jedes Geräusch. Mit dem Wurfe eines kurzen Astes holte er aus einem Schwarme von Papageien, welche bekanntlich einen ausgezeichneten Braten abgeben, zwei Stück herab; an einem Feuerchen, das er vorsichtig nur mit den trockensten Aesten nährte, wurden sie gebraten.
Auch an Wasser war kein Mangel, obgleich solches nicht zu sehen war. Es muß ein sehr unerfahrener Neuling sein, der in den Wäldern des Malaiischen Archipels verschmachtet, abgesehen davon, daß regelmäßig am Nachmittag der Regen in Strömen fällt.
Und dieses Regenwasser geht tagsüber nicht spurlos verloren. Ueberall hängt von den Bäumen die Matave herab, eine armstarke Schlingpflanze, die ›Quelle des Reisenden‹. Schneidet man sie durch, so ist noch nichts zu bemerken, kein Tropfen Saft sickert aus der Wunde. Schneidet man aber den Stengel nochmals durch, also ein Stück heraus, dann ist der Luftdruck aufgehoben, wie aus einer Röhre strömt das beste, kühlste Trinkwasser hervor. Bei einem meterlangen Stücke von acht Zentimeter Durchmesser rechnet man ein Liter Wasser, und mit Zauberschnelle wächst die Liane nach, oder treibt aus der Wunde Seitenläufer, eine unerschöpfliche Quelle bleibend.
Und wieder ging es weiter. Es begann zu regnen, es regnete ›Stricke und Bindfaden‹, wie der Engländer sagt, das Laubdach, welches auch die Sonnenstrahlen durchläßt, konnte zuletzt keinen Schutz mehr bieten, wie Gießbäche strömte es an den Riesenstämmen herab – aber das Wasser verwischte keine Spur, wenigstens nicht für die wunderbar feine Nase des Ayka, und eben hierauf hatte Nobody es ja schon mit Toddy im strömendsten Regen geprüft.
Schon längst hatte dieser aufgehört, als sich der bisher feste Boden des Urwaldes in einen Sumpf zu verwandeln begann. Und Nobody verwandelte sich in einen Affen. Es gab kein anderes Durchkommen, er mußte einen Baum erklimmen und seinen Weg in den Zweigen fortsetzen. So balancierte er über die Aeste, ein beschwerlicher Weg, denn schließlich war Nobody doch kein Affe und vor allen Dingen kein Gibbon, dessen eigentliche Heimat das Laubrevier ist. Auch hier oben mußte er noch oft genug das Kappmesser zu Hilfe nehmen, um zwischen den Lianen, die förmliche Wälle bildeten, sich einen Durchgang zu erzwingen, oft genug mußte er sich an schwankenden Zweigen von Baum zu Baum schwingen, und ein Glück war es nur, daß in diesem sumpfigen Boden die Bäume so dicht zusammen standen, denn zu Sprüngen von zehn Meter Weite ist auch der gewandteste Mensch nicht fähig, und hätte er sich von Jugend auf in nichts weiter geübt, und das war auch der Grund, weshalb es für Nobody ganz ausgeschlossen war, hinter dem ›Chatto‹ könne sich etwa ein Mensch verstecken.
Die Sonne näherte sich dem Horizont. Neun Stunden war Nobody nun schon unterwegs, wovon eine Stunde Mittagspause abgerechnet werden mußte. Welche Strecke hatte er in dieser Zeit zurückgelegt? Er konnte es nicht taxieren. Jedenfalls war das Wesen, welches er verfolgte, weit schneller als er. Angenommen, der Gibbon, oder was es sonst war ...
Ein leiser, aber schriller Pfiff unterbrach Nobodys Erwägungen. Das Ayka kam angesprungen und ließ sich nicht abhalten, in seines Herrn Aermel zu schlüpfen, wollte durchaus nicht wieder zum Vorschein kommen. Und Nobody hatte es schon aus dem besonderen Pfiff herausgehört – das war ein Zeichen der Angst gewesen.
Kurz vor ihm brach der Wald jäh ab, das Gebiet einer Rohrdschungel eröffnete sich. In diesem hielt sich die Gefahr versteckt, die das Tierchen gewittert hatte. Ein Tiger? Irgend ein anderes Raubtier?
Nobody kannte seinen seltsamen Apportierhund zur Genüge. Wenn das Ayka bei seinem Herrn war, hatte es weder vor Tieren noch vor Menschen Furcht. Nur in einem gewissen Falle. Dieser ist auch schon früher erwähnt worden. Wenn der spiritistische Experimentator mit seinem Zauberstock den magnetischen Strich zog, den das Ayka in der Finsternis mit seiner Spürnase verfolgen mußte, und es wurde plötzlich hell, so verschwand es blitzschnell in dem ersten besten Versteck. Aus dieser Dressur war zuletzt eine Gewohnheit geworden, wie Nobody schon gemerkt hatte, als er das Ayka darauf abrichtete, die Spur eines Affen zu verfolgen. Willig war das Tierchen Toddys Geruch nachgegangen, aber sobald es den Gibbon selbst erblickte, hatte es regelmäßig erschrocken die Flucht ergriffen, seine Rettung in Nobodys Rockärmel suchend.
Kurz, Nobody hatte sich überzeugt, daß sich der ›Chatto‹ in der Nähe befand, dort in dem Rohre der Dschungel versteckt war.
Das war eine böse Erkenntnis! Die Nacht brach an, er hatte keinen festen Boden unter den Füßen, und dort das geheimnisvolle Wesen, das in der luftigen Höhe der Zweige zu Hause war und das erspähte Opfer mit der furchtbaren Teufelskralle am sichersten in finsterer Nacht griff!
Doch jetzt gab es kein Zögern, keine Rückkehr mehr. In wenigen Minuten würde völlige Dunkelheit herrschen, in der die kleine Taschenlaterne nichts nutzte. Der Baum, auf dem Nobody sich gerade befand, hatte sehr hohe Wurzelansätze, die sich weit verzweigten, Nobody sprang vom untersten Aste hinab, und wenn er auf den Wurzeln auch noch immer wie ein Seiltänzer balancieren mußte, so konnte er doch keinen tiefen, halsbrecherischen Sturz mehr tun.
Da senkte sich plötzlich wie ein Schleier die finsterste Nacht herab. Noch rechtzeitig hatte sich Nobody einen festen Sitzplatz gewählt und sich in seiner Umgebung orientiert. Ohne die Taschenlaterne brauchen zu müssen, wußte er genau, wie er bei einer Veränderung seiner Stellung die Füße zu setzen hatte, wo seine Hände Halt fanden.
Dann fing er, um über die Zeit orientiert zu bleiben, zu zählen an, die Sekunden, und wir dürfen wohl seiner Versicherung glauben, daß ihm selten die Zeit so lang geworden ist, wie damals zwischen den Baumwurzeln im Urwalde von Tjibodas. Dabei mußte er sich mit aller Macht gegen die Einbildung wehren, schon die Teufelskralle an seinem Halse zu fühlen.
Bis 11217 hatte er so in Gedanken gezählt – ein anderer Mensch hätte bei dieser Beschäftigung wahrscheinlich in seinem Gehirn Pilze bekommen – also etwas nach elf Uhr war es, als das Ayka plötzlich in seinem Aermel unruhig wurde. Laute gab es in diesem seinen Versteck niemals von sich, sonst hätte Nobody das vorher zu verhindern gewußt.
Und seine Nase schien der des javanischen Eichhörnchens an Feinheit wenig nachzugeben, er roch es, er fühlte es durch jenen schon einmal erwähnten, eigentümlichen Instinkt, daß sich ihm etwas nähere, und das war keine Einbildung, jetzt nahm er ganz deutlich denselben Geruch wahr, den auch der Gibbon im Fort an sich gehabt hatte – es ertönte auch über ihm in den Zweigen ein leises Rascheln, freilich nur für die Ohren dieses Detektivs vernehmbar – in diesem Augenblick der furchtbarsten Spannung, was der nächste Moment bringen würde, wurde Nobody in seinem Vorsatz wankend – sollte er nicht lieber das Messer mit der Laterne vertauschen? Sie warf einen intensiven Blendstrahl, und das war ganz sicher, daß dieses unheimliche Wesen, ob nun Geist oder Mensch oder Affe, diesem plötzlichen Blendstrahl in finsterer Nacht nicht standgehalten hätte ...
Es wäre zu spät gewesen. Plötzlich schlugen sich in Nobodys Nacken die scharfen Krallen einer Riesenfaust ein, Nobody wurde in die Höhe gehoben, doch nur einen Augenblick, dann ein Schlag, ein Klappen, dann ein entsetzliches Geheul, ein Brechen der Zweige, das sich mit dem schrecklichen Heulen blitzschnell entfernte, bis es sich in der Ferne verlor, und wieder herrschte das Schweigen des Urwaldes.
Und dann flammte zwischen den Wurzeln des Baumes ein kleiner Blendstrahl auf. Er beleuchtete eine braune, behaarte Riesenhand, die etwas oberhalb des Gelenkes in einem blutigen Stummel endigte. Nobodys haarscharfes Kappmesser hatte selbst den gewaltigen Knochen glatt durchgehauen!
Es darf getrost behauptet werden, daß kein anderer Mensch sich von dieser würgenden und schneidenden Riesenfaust hätte befreien können. Nobody hatte hinter sich greifen und mit dem Messer hinter sich hauen müssen, als die Krallen sich schon in seinen Hals eingeschlagen hatten, der aus fünf Wunden blutete. Freilich war er darauf gefaßt gewesen, daß sich die Krallen von hinten in den Nacken einschlagen würden, er hatte doch nicht umsonst die beiden Toten, welche er mit den Malen der Teufelskralle gesehen, so eingehend besichtigt. Immerhin, es hatte dieses Mannes Geistesgegenwart und blitzschnelle Ausführung des Entschlusses dazu gehört, um die Tat fertig zu bringen. Denn nur noch ein einziger Augenblick, und auch Nobody hätte als ein Opfer des Würgengels dagelegen. Es war ein furchtbarer Griff gewesen, würgend und schneidend zugleich, den Halswirbel brechend.
Nobody achtete nicht seiner blutenden, schmerzhaften Wunden. Noch immer betrachtete er im Scheine der Laterne die abgehauene Riesenhand.
Gewiß, es war die eines ausgewachsenen Gibbons. Das Rätsel des Chattos war definitiv gelöst, aber ein neues Rätsel war entstanden. Jeder der haarigen Finger trug vorn eine Art von Fingerhut, nur plumper, aus Schmiedeeisen gefertigt, an dem ersten Gelenke noch durch ein besonderes Eisenband befestigt, daß es unmöglich war, ihn abzustreifen, und jeder Fingerhut lief vorn in eine breite, messerartige Schneide aus.
Wer hatte dem Gibbon diese künstlichen Eisenkrallen angeschmiedet, so daß niemand auf den Verdacht kommen konnte, daß die Wunden von irgend einem Affen herrührten?
»Morgen werde ich es erfahren,« murmelte Nobody.
Er wickelte die abgeschlagene Hand in ein Tuch, ein anderes netzte er mit dem Safte einer Matave, legte es sich um den Hals, die Blendlaterne verlöschte, kein Laut störte mehr das Schweigen des Urwaldes.
»Mein Liebling, du Weide meiner Augen, du Glück und Reichtum meines Alters – wer hat dir das getan, daß du dich hier verbluten mußtest?! Verflucht soll er sein, und Singkara wird ihn zu fassen wissen und ihn in Ghullawai zu ewigen Folterqualen verdammen, täglich hundertmal soll ihm die ruchlose Hand langsam abgeschnitten werden und hundertmal soll sie ihm nachwachsen, während feurige Ratten sich ihm durch den Leib fressen. Du aber, herrlichster der Chattos, sollst eingehen zur ewigen Seligkeit in Kawiwai, aus deinem irdischen Leichnam wird unsere Religion in alter Herrlichkeit wieder auferstehen – ach, Chattoman, mein Liebling, mein Augapfel, du Kind meines Herzens, wer hat dich mir geraubt ...«
So und anders jammerte und prophezeite und fluchte der alte Malaie, weinte und raufte sich das weiße Haar, und immer wieder warf er sich über den großen Affen, der unter einem Baume in einer Blutlache lag, küßte die Lippen des im letzten Todeskampfe weitaufgerissenen Rachens und küßte den blutigen Handstummel – ein scheußliches Bild – und der Malaie ahnte nicht, daß schon ein anderer ›Chatto‹ oder doch ein anderer ›Geist‹ über ihm war, bereit, ihm die Finger seiner Faust ins Genick zu schlagen.
Nobody war es, welcher, jetzt an lautloser Behendigkeit einem Affen wirklich nichts nachgebend, auf allen vieren über einen wagerechten Ast hinwegkroch; eben hatte er den günstigen Ort erreicht, nun ein Sprung, während dessen er in der Luft wohl darauf achtete, daß er dem nackten Manne beim Aufschlagen aus solcher Höhe nicht die Wirbelsäule brach, und auf dem Gibbon lag der Malaie, und auf dessen Rücken kniete Nobody.
Nur ein leichter Schlag mit dem Knöchel des Mittelfingers gegen die Schläfe, der Mann wurde herumgedreht, ein Blick, und der Malaie war so weit wie Nobody ihn haben wollte.
Wir brauchen nicht zugegen zu sein, wenn er den Hypnotisierten ausfragt. Wir werden das Resultat erfahren. Jedenfalls konnte ihm dieser Mann, der Herr des würgenden Gibbons, viel mehr erzählen als jener Malaie, der Nobody mit dem vergifteten Dolche bedroht hatte, jedenfalls erfuhr er von diesem hier, der sich Makeijo nannte, auch noch mehr, als ihm die Begumin von Pandang hätte gestehen können und ihm wenige Tage später auch gestehen sollte.
Erwähnt sei nur noch, daß das Befragen des Hypnotisierten in einer versteckt angelegten Erdhütte stattfand, in welcher der alte Malaie schon seit langer Zeit gehaust hatte, von hier aus seinen abgerichteten Gibbon zur Henkerarbeit abschickend.
Der Generalgouverneur gab in seiner Villa seinen intimen Bekannten ein Abendfest. Während der Tafel hatte sich das Gespräch der Herren und Damen fast ausschließlich mit der Frage beschäftigt, wie und wohin Professor Berneveld wohl verschwunden sein könnte.
Am kommenden Tage wurden es nun zwei Wochen, daß in der Nähe des Forts Tjibodas der Chatto sein letztes Opfer erwürgt hatte, und an demselben Tage war auch der alte Professor spurlos verschwunden.
Er hatte sich in Begleitung des Wachtmeisters Keller nach dem Orte der Tat begeben. Die beiden waren die ersten gewesen, welche dort eintrafen. Nach einer kurzen Untersuchung hatte der Professor erklärt, nach dem Fort zurückkehren zu wollen, er wollte wohl irgend etwas holen, wahrscheinlich seinen photographischen Apparat, während es sowieso die Pflicht des Wachtmeisters war, bei dem Toten Posten zu stehen, bis wenigstens ein Vorgesetzter kam.
Professor Berneveld hatte das Fort nicht erreicht, war überhaupt nicht wieder gesehen worden. Hatte er sich im Walde verirrt? Kaum glaublich! Er hatte sich auf einem Wege befunden, hatte diesem nur zu folgen brauchen, er führte direkt ins Fort.
Dem kurzsichtigen Herrn, der schon einmal bewiesen hatte, daß er den gelben Kiesweg nicht vom grünen Rasen unterscheiden konnte, war freilich alles zuzutrauen. Er mußte doch wohl zwischen die Bäume geraten sein und sich verirrt haben.
Es gab allerdings eingeborene Jäger genug, welche jede Spur zu verfolgen verstanden. Aber das hatte doch auch seine Grenzen. Man hatte den Professor nämlich erst am Nachmittag vermißt, gegen vier Uhr, als die Hauptmahlzeit im Fort eingenommen werden sollte, wobei ferner die Aufregung zu bedenken ist, welche das neue Auftauchen der Teufelskralle hervorgerufen, und inzwischen war ein alles verwischender Regenguß niedergegangen, wie immer so ein kleiner Wolkenbruch – kurz, hier gab es keine Spur mehr, man mußte sich auf planloses Suchen beschränken.
Die Eingeborenen, von einer immer höher werdenden Prämie gereizt, suchten heute noch im Urwalde von Tjibodas nach dem alten Professor, nach seiner Leiche. Freilich war auch ein solches Suchen beschränkt. In dem Urwalde gab es Sümpfe, durch die kein menschlicher Fuß kam, und wenn der Professor dahineingeraten, dann war er eben von der Oberfläche der Erde verschwunden. Die Malaien, welche jetzt noch suchten, natürlich immer in großen, enggeschlossenen Trupps, wegen des Chattos, waren Tagediebe, Glücksjäger, die auf die Gunst des Zufalls hofften. –
Hierüber also wurde lebhaft in der Gesellschaft gesprochen.
Dazwischen aber wurde manche neugierige Frage über einen Herrn gestellt, dem überhaupt die allgemeinste Aufmerksamkeit gewidmet war.
Unter den geladenen Gästen befand sich auch der Konsul der Vereinigten Staaten. Er hatte sich erlaubt, und er durfte es, ohne besondere Einladung einen jungen Mann mitzubringen, seinen eigenen Gast, Mr. Hektor Cyrill aus Cincinnati, den Sohn eines Jugendfreundes.
Mehr hatte man bei der summarischen Vorstellung nicht zu hören bekommen, und den Konsul konnte man vorläufig nicht weiter ausforschen, da sich Mr. Cyrill immer neben ihm gehalten hatte und auch bei Tafel neben ihm saß.
Desto mehr beschäftigte man sich im stillen mit ihm, desto öfter richtete man bei jeder Gelegenheit die Augen auf ihn, bewundernde und begehrende, und man hatte auch Grund dazu.
Es war das Bild eines jungen Mannes, das Ideal eines Künstlers, welcher das Modell für einen griechischen Jüngling sucht, d. h. für einen aus der besten Hellenenzeit. Ja, das war ein blondlockiger Hellene, sowohl dem geschmeidigen Körper nach, gestählt in der Athletenschule, als dem stolz getragenen Kopfe nach mit den klassischen Zügen.
Nur schade, daß er so zurückhaltend war! Doch nein, das ist nicht das rechte Wort. Es war etwas ganz Besonderes an ihm.
Zur Tischnachbarin hatte er eine pikante Französin bekommen, die sich bei Gelegenheit, im Wetteifer mit Freundinnen, rühmte, daß ihr noch kein Mann widerstanden habe. Selbst Cecil Rhodes, dieser eiskalte Weiberfeind, war ihr zweimal unterlegen.
Diese Französin marterte sich seit einer halben Stunde mit dem jungen Manne ab.
»Kennen Sie den Professor Berneveld?«
Mr. Cyrill wandte der Fragerin sein schönes Antlitz zu und erklärte ihr höflich, daß er schon von dem berühmten holländischen Gelehrten gehört habe, und wie sehr er bedauern würde, wenn diesem Koryphäen der Wissenschaft ein Unglück zugestoßen sein sollte.
Das alles hätte der gewandteste Salonmensch nicht höflicher sagen können. Aber nun diese Augen, dieser Blick dabei!
»Laß mich doch mit deiner dummen Fragerei in Ruhe!« sagten diese Augen ganz deutlich, und dabei ging von ihnen eine Kälte aus, welche die Französin sich bis ins Herz dringen fühlte.
»Werden Sie länger hier verweilen?«
Wieder die höflichste Erklärung – sie interessiert uns nicht weiter – die sonst so siegessichere Französin aber wagte ihren Nachbar gar nicht mehr anzusprechen, damit sie ihn nicht mehr anzusehen brauche; sie fürchtete, ihr Herz könne sich noch in einen Eisklumpen verwandeln.
»Das ist ein Frosch!« dachte sie.
Ganz anders dachte die Hausfrau, die Begumin von Pandang.
Ihr hatte der uneingeladene Fremdling näher vorgestellt werden müssen. Eine tadellose, tiefe Verbeugung, und als er sich wieder aufrichtete, da hatte die schöne Malaiin unter den noch gesenkten Lidern hervor ein Blick getroffen – ein Blick, so berückend, so faszinierend, so voll heißer Glut – der bezaubernde Feuerstrahl war der braunen Prinzeß durch die Augen gleich bis ins Herz gedrungen und hatte dort alles in Brand gesetzt. Die in Paris erzogene Weltdame hatte gar nichts mehr sagen können.
Bei Tisch war die ganze Tafel zwischen der Prinzeß und dem jungen Amerikaner, und die sonst so gewandte Gastgeberin vergaß ganz ihre gesellschaftlichen Pflichten, sie vernachlässigte alles um sich herum, sie träumte.
Jener Blick, jener Blick!! Er hatte es ihr mit dämonischem Zauber angetan.
Aber sie hatte nicht nötig, an diesem einzigen Blicke den ganzen Abend zu zehren. Ueber den Tisch traf sie ein zweiter, gleich faszinierender Blick – jetzt wieder einer – und so wurde sie weiter von Mr. Cyrill mit glühenden Blicken bombardiert, und jeder brachte die Lavaglut im Herzen der malaiischen Prinzessin zu feurigerem Entflammen.
Das seltsamste hierbei war, daß die anderen gar nichts von diesem feurigen Spiele merkten! Nach links und rechts sandte der junge Mann nur seine vernichtend kalten Blicke, der hatte ja überhaupt gar keine anderen – und niemand merkte, niemand ahnte, was für Feuerpfeile er über den Tisch hinweg der Hausfrau zuschleuderte, wozu er nicht etwa nötig hatte, das Weinglas zu erheben und dahinter hervorzuschielen.
Es war wie ein geheimer Befehl. Nur für die Prinzessin waren diese Glutblicke bestimmt, für keine andere, und deshalb konnte auch nur diese sie auffangen, für alle anderen existierten sie gar nicht.
Ja, in so etwas hatte Hektor Cyrill aus Cincinnati etwas los! –
Die Tafel wurde aufgehoben, man begab sich in den nächtlichen Garten hinaus, der von zahllosen bunten Lampions erhellt wurde.
Dem jungen Amerikaner wollte sich ein Herr anschließen, bekam aber solch eine Masse Eiskälte ins Gesicht geschleudert, daß er gleich wie ein begossener Pudel davonschlich.
Trotz der vielen Lampions gab es im Park noch genug dunkle, lauschige Lauben, und in einer solchen stand Mr. Cyrill und beobachtete das Treiben der befrackten Herren und der glänzend kostümierten Damen, in Toiletten, die oben nicht anfingen und unten nicht aufhörten, aus der Ferne.
»Wenn mir die Begumin nicht schon morgen ein Rendezvous unter vier Augen gibt, was die schon zustande bringen wird,« murmelte der edle, eiskalte Jüngling aus Cincinnati, »dann – dann – dann will ich mir von morgen an einen richtigen, ehrlichen Namen zulegen – August Mops will ich dann heißen.«
Zwei Damen promenierten vorüber; sie sahen den im Dunkeln Stehenden nicht, glaubten sich unbelauscht.
»... nur einen habe ich gesehen, den ich mit ihm vergleichen kann.«
»Wer wäre das?«
»Nobody.«
»Sie meinen doch nicht etwa jenen amerikanischen Detektiv?«
»Den meine ich. Nur dieser ...«
»Was? Sie haben diesen Nobody gesehen?«
»Ja, in New-York. Nur dieser könnte es mit Mr. Cyrill aufnehmen. Nobody ist etwas kleiner und hat auch hagerere Züge, dabei ist sein Kinn runder, aber sonst ...«
»Aber, meine Liebe,« fiel ihr die andere abermals spöttisch ins Wort, »dieser Nobody existiert doch gar nicht!«
»Existiert gar nicht?«
»Nein, das ist doch bloß die stereotype Romanfigur einer amerikanischen Zeitung.«
»Und ich sage Ihnen, er wurde mir in der besten Gesellschaft als der berühmte Detektiv Nobody vorgestellt!«
»Dann war das ganz einfach ein Schwindler, der sich für Nobody ausgegeben hat!«
»Aber, meine Beste, ich versichere Sie ...«
Das sich entfernende Gespräch wurde für den Lauscher unverständlich, auch schon deshalb, weil jetzt die in Eifer geratenden Damen gleichzeitig zu sprechen begannen.
In der finsteren Laube machte Mr. Hektor Cyrill aus Cincinnati ein unbeschreibliches Gesicht.
»Sakra! Erst fragt sie mich, ob ich den verschwundenen Professor Berneveld kenne, dann will sie mich durchaus wie einen Fisch in dem Netze ihrer sehnsüchtigen Liebe fangen, dann hält sie mich für einen Frosch, und jetzt behauptet sie ganz keck, daß ich überhaupt gar nicht existiere ...«
Nobody, wie wir ihn nun gleich nennen wollen, wurde in seinem Selbstgespräch unterbrochen. Er zuckte leicht zusammen, und er hatte Grund dazu, auch einen äußerlichen.
Er hatte die Hand erhoben, wohl um sein Kinn zu prüfen, das früher runder gewesen sein sollte. Da, mitten in der Bewegung, war ihm in diese Hand mit ziemlich heftigem Aufschlag etwas geflogen gekommen.
Ein Ghulla hatte sich bemerkbar gemacht. Es war ein Stein, keiner jener flachen, sondern ein gewöhnlicher Kieselstein, in weißes Papier gewickelt.
Es konnte nur eine schriftliche Mitteilung enthalten und auf diesem seltsamen Wege durch die Luft nur von der Begumin kommen, direkt von ihr selbst, oder sie hatte sich dabei eines wurfkundigen Dieners bedient. Dem hier ganz fremden Amerikaner gegenüber glaubte sie keine Vorsicht beobachten zu müssen, oder aber, die Leidenschaft ließ sie eben alles vergessen, während Nobody aus diesem Steinwurf von unsichtbarer Hand erkannte, wie sehr vorsichtig er selbst sein mußte.
Aufmerksam spähte er um sich und lauschte mit angehaltenem Atem. Nein, einen Beobachter in seiner Nähe brauchte er nicht zu fürchten. Er hatte die Hand noch genau so, als der Stein mit ziemlicher Wucht hineinfiel. Er war von ziemlich weit hergekommen, und zwar nur von dort, wo die vielen Herren und Damen in der Allee vor dem Hause lustwandelten.
Was für ein unübertrefflicher Jongleur war das, der ihm, dem im Finstern Stehenden, von dort aus den Stein in die offene Hand warf, gerade in dem Augenblicke, da er diese hob?
Nobody konnte nur staunen.
Doch gleichgültig! Er entfaltete das Papier und brauchte sich nur etwas gegen den Eingang der Laube vorzuneigen, um die zierlichen, aber jedenfalls mit verstellter Hand geschriebenen Schriftzüge entziffern zu können.
»Eine Dame bittet Sie innigst um eine Unterredung. Gehen Sie um das Haus herum, die zweite Hintertür von rechts, dort werden Sie erwartet.«
Nachdem er gelesen war, verschwand der Zettel wie durch Zauberei zwischen Nobodys Fingern, schien in Luft zu zerrinnen. Die Taschenspielerei ward dem Detektiven nach und nach zur Gewohnheit.
»Die hat's ja verdammt eilig!« brummte er. »Hätte nicht geglaubt, daß sie schon heute abend huppen würde. Well, dann brauche ich mich auch von morgen an nicht August Mops zu nennen.«
Er ging, schlenderte auf Seitenwegen um das sehr weitläufig gebaute Haus herum, kam auf einen Hof, der nur trübe von einer Laterne erleuchtet wurde und mit seinen Pfützen und Pferdestallgeruch keinen einzigen Gast zum Promenieren eingeladen hatte, auch sonst war kein Mensch zu sehen, dort war die zweite Tür von rechts – da wurde diese schon geöffnet, von dem hellen Hintergrunde hob sich die Gestalt einer jungen Malaiin ab.
Sie winkte, Mr. Hektor Cyrill aus Cincinnati folgte. Es war ein Hinterhaus, wohl für die Dienerschaft bestimmt, stand aber durch Korridore und Treppen mit dem Vorderhaus in Verbindung, und wenn Nobody auch auf diesem Gange keinem Menschen begegnete, so schien die Prinzeß sonst doch nicht ängstlich darauf bedacht gewesen zu sein, den jungen Mann ganz heimlich zu sich hereinzubugsieren. Daß sie ihn durch das Hinterhaus hatte eintreten lassen, das war das einzige, um unliebsames Aufsehen zu vermeiden.
Beim Passieren einer Treppe verlor die hübsche, braune Kammerzofe einmal eines ihrer Pantöffelchen, und dem Scharfblick des Detektivs entging es nicht, so schnell sie auch wieder hineinschlüpfte, daß sie Strümpfe mit geteilten Zehen trug, und das ist bei den Malaien nicht etwa Sitte.
»Aha, das ist auch so eine, die mit de Beene schmeißt!« dachte der unverbesserliche Spötter.
Das Kammerkätzchen öffnete eine Tür; das rosafarbene Licht einer Ampel und betäubender Parfümduft flutete ihm entgegen, aber Nobodys Sinne wurden nicht verwirrt, er erkannte sofort, daß dieses kleine, mit Polstern vollgepfropfte Gemach das Boudoir der Hausherrin war, ihr Allerheiligstes, zu dem ohne ihre besondere Erlaubnis nicht einmal ihr Gatte Zutritt hatte, und außerdem wußte Nobody auch noch, daß die Zofe hinter ihm die Türe wieder zugemacht hatte und draußen geblieben war.
Aus einer Wolke von weißen Spitzen tauchte die zierliche und doch so üppige Gestalt der malaiischen Prinzessin auf. Doch die Spitzen waren nur in der Mitte und noch mehr unten, oben hatte sie gar nichts, nicht einmal die Andeutung von einem Achselbändchen, und wunderbar war es, wie die kaffeebraune Samthaut von dem weißen Atlas abstach.
»Wie das nur da oben festsitzen kann?« dachte der Mann, der sonst so ziemlich alle menschlichen Geheimnisse kannte, dem niemand mehr etwas vormachen konnte. »Himmel, wenn das jetzt runterrutschte!«
Eigentlich hätte er denken sollen:
»Himmel, wenn das jetzt platzte!« Denn der wenige Stoff, der den vollen Busen überhaupt noch in Fesseln hielt, konnte jeden Augenblick gesprengt werden, in solcher Aufregung arbeitete er, und ebenso drohte der klappernde Straußenfächer in den Händen der Dame zu zerbrechen.
»Mein Herr!«
Das nach Atem ringende Weib vermochte kaum diese beiden Worte hervorzubringen. Desto mehr sprachen ihre glühenden Augen, die den schönen Jüngling aus Amerika verschlingen wollten.
Mr. Hektor Cyrill hatte eine Verbeugung gemacht.
»Ich habe Sie zu mir bitten lassen ...«
Wieder eine tiefe Verbeugung.
»Ich habe eine Frage an Sie ...«
Mr. Hektor Cyrill aus Cincinnati komplimentierte weiter, ohne sie dabei anzusehen.
»Es handelt sich um eine ganz geheime Angelegenheit ...«
»In keinem Busen ist ein Geheimnis sicherer bewahrt als in dem meinen,« ließ sich da Mr. Cyrill zum ersten Male vernehmen; sie hörte wirklich zum ersten Male seine Stimme, bei der Vorstellung hatte er kein Wort verloren, und es war Nobodys tiefe und doch so weiche Bruststimme, und er wußte noch einen ganz besonderen Schmelz hineinzulegen. Darin hatte Nobody nun auch wieder etwas los.
»Wenn ich den Mann sprechen höre, so geht's mir wie Feuer durch alle Glieder, gerade als wenn ich eine halbe Gallone heißen Irish-Whisky mit Zucker trinke,« hatte einmal ein Londoner Heidiedeldeideimädchen ihrer Freundin zugeflüstert, und die beiden Ratten aus der Whitechapeler Straßengosse waren dem alten Manne nachgelaufen wie dem Rattenfänger von Hameln – bis dieser sie so weit hatte, wie er sie haben wollte. Dann machte er die Falle zu.
Ob die malaische Prinzessin diese Stimme ebenfalls mit heißem Whisky und Zucker verglich, ist die Frage. Aber einen besonderen Erfolg hatten diese ersten Worte doch.
Knacks, der erste Stab des Fächers war kaputt.
»Die Angelegenheit ist so geheim, daß ...«
... daß sie die Tür verschließen mußte. Ungeniert ging sie hin und riegelte zu.
»Bitte, wollen Sie nicht Platz nehmen?«
Eine dankende Verbeugung, und Nobody versank in schwellenden Polstern, ihm gegenüber Prinzeß Lotija nicht minder tief.
»Ich habe in Cincinnati eine Freundin, von der ich gern etwas erfahren möchte ...«
Die Einleitung war gefunden. Nun entstand aber auch gleich eine längere Pause. Daß die Prinzeß für diese Zusammenkunft ihre Gesellschaftsschuhe mit Pantöffelchen vertauscht hatte, das mußte doch offenbar einen bestimmten Zweck haben, und daß sie vergaß, jetzt mit ihren winzigen Füßchen zu kokettieren, kam nur daher, weil ihre Blicke genug damit zu tun hatten, den vor ihr sitzenden Mann zu verschlingen.
Endlich hob auch ›Er‹ das Auge, und nun sahen die beiden Menschenkinder längere Zeit einander stumm an. Ja, das waren dieselben glutvollen Blicke, die ihr vorhin bei der Tafel gegolten, das waren dieselben ...
Plötzlich stutzte sie und zuckte zusammen. Es ging ihr eiskalt den Rücken hinab. Weshalb wurden seine Augen plötzlich so ...
Zu spät, um einen Gedanken selbständig ausdenken zu können. Mit nach oben verdrehten Augen sank sie in die Polster zurück.
Schnell stand Nobody auf und griff ihr fest in den warmen, weichen Nacken. Er konnte es gar nicht sehen, daß dies sonst so bezaubernd schöne Weib die gläsernen Augen so häßlich nach oben verdrehte.
»Blicke mich an, Lotija!« flüsterte er, gar nicht so herrisch wie sonst, wenn er dieses Experiment ausführte.
Die Augäpfel kehrten in ihre natürliche Lage zurück, und nicht nur das, sondern auch das warme Leben, sogar ein Teil der alten Liebesglut. Trotzdem hatte sie jetzt keinen eigenen Willen mehr.
Nobody kreuzte die Arme über der Brust und schaute auf das berückende, braune Weib herab, auf die Tochter des Landes, auf das Mutter Natur ihre ganze Liebe ausgegossen hat, wo daher auch die ganze Natur zur heißen Liebe drängt.
Und dieses schöne Weib war jetzt in seiner Hand ein willenloses Spielzeug. Jetzt erst? O nein!
Nobody brauchte die Hypnotisierte nicht erst aufzufordern, daß sie ihm alle Fragen der Wahrheit gemäß beantwortete. Denn es ist ein kolossaler Unterschied, er wußte es aus Erfahrung, ob die zu hypnotisierende Person freiwillig sich niemals in solch einen Zustand versetzen ließe, oder ob sie dem Hypnotiseur schon so halb und halb entgegenkommt, ob sie überhaupt Neigung zu ihm hat.
Ja, Nobody hätte die Prinzeß gar nicht zu hypnotisieren brauchen. Er hätte auch so alles von ihr erfahren, was er wissen wollte. Aber es war besser so. Sie sollte dann erinnerungslos erwachen.
»Lotija,« begann er sanft, wie in der Unterhaltung mit einem Kinde, »kennst du einen Mann namens Makeijo? Sprich leise, aber fließend!«
»Ich kenne drei – vier – fünf Malaien, die so heißen, es ist ein ganz gewöhnlicher malaiischer Name,« erklang es ruhig, ganz wie bei einer Unterhaltung, und dabei blieb es; niemals gab die Befragte auch nur ein Zeichen der Ueberraschung, auch wenn eine solche angebracht gewesen wäre.
»Ich meine den alten Malaien, welcher im Urwalde von Tjibodas den Gibbon wartet, der zum würgenden Chatto abgerichtet worden ist.«
»Heißt dieser Mann Makeijo? Ach ja, ich entsinne mich!«
»Also du kennst ihn?«
»Ja, ich habe genug von ihm gehört.«
»Gibt es auf Java noch mehr solche abgerichtete Affen?«
»Nein, nur den einen. Das ist nur einmal ein Versuch.«
»Es spukte doch schon vor einigen Jahren solch ein Chatto, welcher die Wachtposten erwürgte.«
»Jawohl, das war damals der allererste Versuch gewesen. Mein Vater war mit dem Gibbon nicht ganz zufrieden, es konnte doch einmal herauskommen, und so wurde jener Chatto wieder zurückgezogen.«
»Und dieser zweite Chatto verrichtet seine Sache besser?«
»Ja – oder auch nicht so ganz. Diese Affenart nimmt zu schnell die Gewohnheiten der Menschen an. So hat jener Gibbon im Urwalde von Tjibodas auch schon gemerkt, wie hoch der Mensch das Geld schätzt, gleich ist er selbst hinter den runden, glänzenden Stücken her, und da ist es denn nun schon zweimal vorgekommen, daß er Menschen nur deshalb überfallen und erwürgt hat, um ihnen das bare Geld abzunehmen, einen Postläufer und einen holländischen Pflanzer, noch dazu bei Tage, und so etwas darf natürlich nicht vorkommen. Auch dieser Chatto muß wieder abgeschafft werden.«
Das hatte nun freilich Nobody schon besorgt.
»So werden also neue Gibbons als würgende Chattos angestellt?«
»Ich glaube, ja, und wohl gleich in größerer Menge. Es soll jetzt gelungen sein, sie viel besser abzurichten.«
Schon aus ihrer Ausdrucksweise hörte Nobody, daß die Begumin nicht eigentlich zu den Eingeweihten der ganzen Verschwörung gehörte. Als die Tochter des Maharadschas von Pandang, des Leiters des Ganzen, hatte sie nur von vielem gehört, man verheimlichte ihr nichts. Auch das gespenstische Steinwerfen schien sie mehr zu ihrem Privatvergnügen zu betreiben. Oder aber: ihr fiel die Aufgabe zu, die höchste Gesellschaft Batavias zu beeinflussen, in Schrecken zu halten, vor allen Dingen ihren Gatten, den Generalgouverneur von Holländisch-Indien.
Daß dem so war, dessen versicherte sich Nobody auch durch direkte Fragen.
Ueber die würgenden Chattos aber hatte ihm jener alte Malaie weit genauere Aufschlüsse geben können. Dagegen hatte der in völliger Einsamkeit lebende Mann gar nicht gewußt, daß sein Affe schon zweimal Menschen getötet hatte, nur um sie auszuplündern, und nicht einmal Wachtposten. Diese Unkenntnis war begreiflich. Aus den blutigen Eisenkrallen des zurückkehrenden Affen und aus anderen Anzeichen ersah Makeijo, daß der Gibbon wieder einen Menschen erwürgt hatte, und der Wärter wußte es nicht anders, als daß das Opfer nur ein Wachtposten gewesen sein könnte; auf etwas anderes war der Gibbon doch nicht abgerichtet – ja, das erzählte ihm sogar der Affe selbst, d. h., er log ihm das vor!
Der schon zu sehr von der Kultur beleckte Menschenaffe hatte es in letzter Zeit nur noch auf die kleinen, runden, glänzenden Dingerchen abgesehen gehabt, nur deshalb mordete er noch bei jeder Gelegenheit, ohne Ansehen der Person, aber das verheimlichte er wohlweislich seinem Herrn, und das erbeutete Geld versteckte er nach Raben- und Affenart.
»Wer richtet die Gibbons dazu ab?«
»Der sogenannte Dahuradscha.«
Daß die Prinzessin das Wort ›sogenannte‹ vorsetzte, war für Nobody von großer Wichtigkeit, und nun kam für ihn eine Hauptfrage:
»Ist dieser Geisterkönig identisch mit dem Radscha von Banca?«
»Jawohl, das ist derselbe.«
»Das ist der Radscha, welcher vor acht Jahren seiner Herrschaft enthoben wurde und die ihm angebotene Apanage nicht annahm, welcher spurlos verschwand. Nicht wahr?«
»Jawohl, derselbe. Er schwur, Rache an den Holländern zu nehmen, sie wieder von unseren Inseln zu vertreiben, und er zog sich mit einigen seiner Getreuen in die Fiebersümpfe von Bekul zurück, wohin ihm kein anderer Mensch folgen kann, und dort richtet er Menschenaffen zu würgenden Chattos ab, zum Schrecken der Holländer.«
Nobody hatte nichts Neues erfahren. Die versumpfte Landschaft Bekul auf Sumatra, wo kein Mensch existieren kann, wo eine einzige Nacht jedem unfehlbar das tödliche Fieber bringt – das war das sagenhafte Ghullaton, das Geisterland. Schon Makeijo hatte es ihm gesagt.
»Wie kann der Radscha von Banca dort so lange aushalten?«
»Dem Radscha von Banca kann kein Sumpffieber etwas anhaben.«
»Er besitzt ein Mittel dagegen?«
»Ja.«
»Kennst du es?«
»Nein. Es ist das Geheimnis des Radschas, und er gibt es nicht preis, auch meinem Vater nicht.«
Nobody hatte ganz recht, wenn er sich im Augenblick mehr für dieses Fiebermittel interessierte als für alles andere. Wer solch ein Mittel entdeckt, der leistet der Menschheit einen größeren Dienst als der Erfinder des Dynamits, der schenkt der Menschheit eine neue Erde.
»Kennst du die Bereitung des Torakli, welches im Augenblicke tötet?«
»Nein. Das ist ebenfalls ein Geheimnis des Radschas von Banca, und er gibt es nicht preis, nicht einmal meinem Vater.«
Nobody hatte schon genug von diesem indischen Fürsten gehört, einem ganz außergewöhnlichen Menschen, der schon bei Lebzeiten, oder doch als er sich noch unter Lebenden aufhielt, eine fast göttliche Verehrung genoß.
»So sollen jetzt noch mehr solcher abgerichteter Gibbons nach Java kommen?«
»Ich habe davon gehört.«
»Wieviel?«
»Das weiß ich nicht.«
»Wer verteilt die Chattos?«
»Das bestimmt mein Vater.«
»Wann geht der Transport von Ghullaton ab?«
»Ich glaube, dieser Tage. Genau weiß ich es nicht.«
»Wer begleitet ihn?«
»Ich weiß es nicht.«
Der alte Malaie in seiner Erdhöhle hatte Nobody darüber mehr sagen können. Er hatte keine Fragen mehr zu stellen.
»Nun bloß noch nach Bekul und diesem geheimnisvollen Radscha zu Leibe gerückt,« murmelte er sinnend, »dann ist meine Mission hier beendet, wieder werde ich ein Rätsel nach dem anderen gelöst haben und ... wieder wird mir es niemand glauben, wieder wird man alles nur für eitel Phantasie halten.«
Bitter hatten die leise geflüsterten Worte geklungen, die Hypnotisierte hatte sie vernommen, und da plötzlich zuckte sie zusammen, streckte sogar wie stehend beide Hände aus.
»Du willst nach Bekul?« erklang es in erschrockenem, klagendem Tone.
Daß eine hypnotisierte Person so von allein sprach, dazu solch eine lebhafte Geste machte, das war ein ganz außergewöhnlicher Fall, das war dem Hypnotiseur in seiner reichen Praxis bisher nur ein einziges Mal passiert, bei einem hysterischen, schon mehr wahnsinnigen Weibe mit kolossaler Einbildungskraft.
Nobody mußte sich erst überzeugen, daß sich die Prinzeß wirklich noch in hypnotischem Zustande befände, ehe er es glauben konnte.
»Du willst nach Bekul?« wiederholte die Hypnotisierte nochmals.
»Ja.«
»Geh nicht in die Fiebersümpfe!« erklang es da im jammervollsten Tone.
»Weshalb nicht?«
»Es ist dein unvermeidlicher Tod, denn noch schrecklicher als der Fiebersumpf ist der furchtbare Radscha Bancali.«
»Was kümmert es dich, ob ich meinen Tod finde oder nicht?«
Jetzt verwandelte sich auch das Gesicht des schönen, jungen Weibes, die beweglichen Züge nahmen den leidenschaftlichsten Ausdruck an, dessen es fähig war.
»Ob es mich kümmert?« rief sie. »Das kannst du noch fragen? Weil du es mir angetan hast! Weil ich dich liebe, weil ich dich liebe!!«
Nobody mußte vor allen Dingen auf seiner Hut sein, und sie sprach zu laut. Er brauchte kein befehlendes Wort zu sprechen, sein fester Wille, auf einen bestimmten Gedanken konzentriert, genügte, und die Hypnotisierte sank teilnahmlos in die Polster zurück.
Nobody schaute herab auf sie, lange Zeit. Es war das schönste braune Weib, das er je gesehen, und sie war sein, sie war sein! Und sie brauchte nicht einmal sein willenloses, ohnmächtiges Spielzeug zu sein. Pfui! Er weckte sie, sie fing wieder von ihrer Freundin in Cincinnati an, sie brauchte doch einen Vorwand, weshalb sie den Amerikaner in ihr Boudoir bestellt hatte, und dann – nahm alles seinen natürlichen Lauf.
Wieder schaute Nobody herab auf das schöne, braune Weib, dessen Gewand nur ein Mittel war, um ihre Reize zu zeigen. Und da begann in dem eisernen Mann ein Kampf, ein furchtbarer Kampf, er rang mit der Kraft der Verzweiflung mit sich selbst, er konnte dabei nicht stillstehen, er mußte einige Male in dem Zimmer auf und ab wandern, und seine Brust keuchte dabei, sein Gesicht verzerrte sich – und dann war es wieder eisern.
Jetzt war er fertig mit sich. Er wußte, was er tun wollte, etwas, was er nie, niemals wieder hatte tun wollen. Er war bereit, seinen heiligsten Schwur zu brechen.
»Lotija!«
»Ich höre!« murmelte sie.
»Lotija, liebst du deinen Mann, den Grafen Axel Bjoger?«
»Ich – liebe – Axel,« flüsterte sie, und ihr schönes Antlitz ward von einem Lächeln verklärt.
Natürlich! Da war auch gar kein Widerspruch dabei. Deshalb konnte sie ihrem Gatten jeden Tag untreu werden. Trotzdem liebte sie ihn und war wahrscheinlich eifersüchtig auf ihn. Das ist nichts Neues. Man sondiere nur einmal das Herz einer Dirne, es kann die verworfenste sein, was man da Wunderbares erforscht! Und das hier war noch dazu ein Kind des heißen Südens, eine Malaiin mit wildem Blute, noch jenseits der Begriffe von böse und gut!
»Lotija, bist du deinem Gatten schon einmal un ...«
Weg damit! Wozu brauchte er es zu wissen? Und dem eisernen Manne ward es plötzlich so weh ums Herz, es packte ihn etwas, was man ›der Menschheit ganzen Jammer‹ nennt.
Dann raffte er sich zusammen. Jetzt gebrauchte er all seine Energie.
»Lotija, du wirst mir gehorchen!!«
»Ich gehorche,« murmelte sie.
»Bedingungslos!«
»Bedingungslos.«
Mit wuchtiger Betonung fuhr Nobody fort:
»Du – wirst – von – jetzt – ab – deinen Gatten lieben über alles in der Welt!!«
»Ueber alles in der Welt,« wiederholte sie gehorsam.
»Und in deinem Herzen kein anderes Bild dulden neben ihm!!«
»Kein anderes Bild dulden neben ihm.«
»Und du wirst ...«
So ging es weiter. Es war ein sogenannter posthypnotischer Befehl, den Nobody ihr gab, den sie noch nachträglich und unbewußt ausführen mußte, er suggerierte ihr eine neue Empfindung, ja, einen neuen Charakter!
Das war es, wodurch Nobody seinen heiligsten Schwur gebrochen: er hatte niemals wieder einem Menschen, der ein freies Ebenbild Gottes sein soll, einen posthypnotischen Befehl geben wollen.
»Erwache!!«
Eine Veränderung war an ihr gar nicht zu beobachten.
»Ja, ich habe in Cincinnati eine Freundin, von der ich gern etwas erfahren möchte,« wiederholte sie zu dem ihr gegenübersitzenden Manne gewendet, die letzten Worte, die sie bei Bewußtsein gesprochen hatte, und spielte dabei mit dem Fächer. Aber die Umwandlung kam noch, als Folge des posthypnotischen Befehls.
Plötzlich färbte sich ihr braunes Antlitz viel dunkler, und sie schaute Nobody mit Augen an, welche ganz deutlich sagten:
»Wie in aller Welt bin ich denn nur auf den wahnsinnigen Einfall gekommen, diesen mir ganz fremden Mann hier in meinem intimsten Boudoir zu empfangen?«
Hastig streckte sie die Hand nach einem Klingelzuge aus.
»Ich will doch meinen Gatten rufen, er kennt sie auch ...«
Sie hatte noch nicht geklingelt, und noch hastiger erhob sie sich, um nach der Tür zu gehen. Denn diese hatte sie doch zugeriegelt; dessen konnte sie sich noch ganz deutlich erinnern; nur der Grund dazu war durch die Macht des hypnotischen Befehls ihrer Erinnerung entrückt worden.
Nobody sah, wie der Frau die dunkle Röte der Scham oder der Verlegenheit bis hinab in den Nacken floß, und sie versuchte, den Riegel zugleich beim Aufklinken zurückzuschieben, als wäre die Tür also gar nicht verschlossen gewesen, was ihr auch ziemlich gut gelang.
»Saladina,« rief sie hinaus, »suche den Assis-Radscha, ich lasse ihn zu mir bitten, in mein Boudoir.«
Sie kehrte zurück, heftig mit dem Fächer arbeitend.
»Ich bitte um einen Augenblick, mein Herr.«
»Bitte sehr!«
Der Gouverneur konnte nicht weit entfernt gewesen sein, er war sehr bald zur Stelle.
»Ach, Axel, kannst du dich noch auf Miß Kati Blomer besinnen?« rief die Prinzessin ihm lebhaft entgegen.
Graf Axel zeigte durchaus keine Verwunderung, den jungen Amerikaner im Heiligtume seiner Frau zu finden. Er hatte eben nicht das geringste Mißtrauen gegen sie, und sie war die Herrin im Hause. Außerdem hatte die vollendete Weltdame schnell ihre Verlegenheit und Aufregung niedergezwungen, sie beherrschte sich vollkommen.
»Gewiß doch. Sie befindet sich jetzt in London.«
»In Cincinnati.«
»In Amerika? Das ist mir ganz neu!«
»Ja, und weil Mr. Cyrill aus Cincinnati ist, wollte ich ihn um Auskunft bitten, ob ...«
Und so weiter. Auf diese Weise wurde die Sache erledigt. Miß Kati Blomer war ja nie in Cincinnati gewesen – schadete nichts, die Prinzessin wußte sich geschickt aus der Klemme zu ziehen, und bald wurde der junge Amerikaner mit verbindlichstem Danke für freundliche Auskunft entlassen. –
Unten stand er auf dem einsamen Hofe lange Zeit im Schatten eines Pferdestalls, bis aus den Gedanken Worte wurden.
»Ich Narr!« erklang es leise unter heiserem Lachen. »Ach, ich Narr!! Eine Teufelin ist es, die ich geschont habe, eine Teufelin, die mir mit Gift nach dem Leben getrachtet hat, der das Leben eines Menschen überhaupt nichts gilt – aber was macht das mir aus – es ist eine schöne Teufelin, schön wie die Sünde – und ihren Mann betrügt sie ja doch – und ich – ich – ich lasse mir diese Gelegenheit entgehen – o, über mich Narren!!«
Noch ein heiseres Lachen, dann ward es still, eine lange Pause, dann hob der einsame Mann das Antlitz und blickte auf gen Himmel, an dem die goldenen Sterne funkelten, und er blickte auf das südliche Kreuz, das gerade über ihm schwebte, und jetzt waren es ganz andere Worte, die leise über seine Lippen kamen.
»Mein ist die Rache, spricht der Herr – er will vergelten!« erklang es feierlich. »Und wer sich selbst besiegt, der besiegt die ganze Welt!«
Was war das? Wodurch wurde es plötzlich so hell? Woher kam um Mitternacht am östlichen Horizonte der rote Streifen, gerade, als wenn die Sonne aufgehen wolle? Es konnte der Mond sein.
Der einsame Mann achtete nicht darauf. Wurde da nicht gerufen? Gewiß, das war sein Name, Mr. Hektor Cyrill wurde gesucht.
Nobody eilte dem Garten zu. Der amerikanische Konsul kam ihm schon entgegen.
»Wo stecken Sie denn nur? Ein Chinese hat nach Ihnen in meiner Wohnung gefragt, man hat ihn hierhergeschickt.«
»Ein Chinese?«
»Dort steht er.«
Nobody sah den Boten im Schatten der Gartenmauer stehen, schnell ging er hin.
»Tschan Li! Wie zum Teufel kommst du hierher?«
»Flederwisch mit Wetterhexe ist da, liegen auf Leede,« grinste der Kuli, ein Matrose von der Wetterhexe, der, wie fast alle seine Landsleute, kein r aussprechen konnte.
»Was, die Wetterhexe ist in Batavia? Was wollt ihr denn hier?«
»Weiß nicht. Kapitän mir nix sagen. Ich Euch nur sagen soll.«
Nobody war schon unterwegs nach dem Gartentor. Seinen Chapeau claque hatte er in der Brusttasche, Abschied brauchte er von niemandem zu nehmen, und auch das gräfliche Paar hatte ihn ja schon vorhin so gut wie entlassen.
»Und ich möchte sie auch gar nicht wiedersehen,« murmelte er, schon auf der Straße, »höchstens ...«
Er blieb stehen, wandte sich um – da gewahrte er ihn unter den Gästen, an den er gedacht, den Grafen Bjoger. Er ging noch einmal zurück.
»Bitte, Exzellenz, auf ein Wort!«
Der Graf folgte ihm seitwärts zwischen die Bäume.
»Ich wollte mich verabschieden.«
Ganz gegen die gesellschaftliche Form hielt der junge Amerikaner dem Gouverneur die Hand hin; nun mußte sie der Holländer aber auch nehmen.
»O, Sie wollen schon gehen?!«
»Sie haben mich so gastfreundschaftlich in Ihrem Hause aufgenommen – ich danke Ihnen ...«
»Meinem Gastfreund steht alles zur Verfügung, was ich besitze!« sagte der Graf etwas überschwenglich.
»Alles?«
»Alles!«
»Ja, ich war Ihr Gastfreund – ich danke Ihnen – aber – ich möchte ...«
Der will mich anpumpen, dachte der Graf.
»... ich möchte Ihnen noch einmal ins Auge sehen. Graf Bjoger, kommen Sie etwas mehr hier ins Licht!«
Die kräftige Hand, die noch nicht losgelassen, zog den Grafen einige Schritte zur Seite, und diesem ward es etwas unheimlich zumute. Was wollte der eigentlich von ihm? Und jetzt redete der ihn auch noch ganz familiär ›Graf Bjoger‹ an!
»Nein, nicht unter der Laterne – hier im Sternenlicht – Graf Bjoger, blicken Sie mir noch einmal ins Auge.«
Nun, so rätselhaft ihm das alles auch war, ein böses Gewissen hatte der Graf nicht, und so blickten sich die beiden blauen Augenpaare einige Sekunden fest und schweigend an:
»Graf Bjoger – ich war Ihr Gastfreund,« begann da der Mr. Hektor Cyrill aus Cincinnati immer wieder, »und – ich kann Ihnen – frei ins Auge sehen ... leben Sie wohl!!«
Ein Händedruck, daß der Graf am liebsten gleich laut aufgeschrien hätte, und der komische Mensch war fluchtartig verschwunden.
»Ei verflucht!« lachte der Graf ärgerlich, die gequetschte Hand schlenkernd. »Das ist ja ein seltsamer Kauz, den mir da Konsul Steffens ins Haus gebracht hat. Na ja, ein spleeniger Yankee!«
Erstaunt blickte er um sich. Es wurde immer heller.
»Ja, was ist denn das? Wir haben doch Neumond? Ach, das ist ja ...«
»Die Mitternachtssonne, die Mitternachtssonne!!« erklang es da jubelnd im Garten, und schnell pflanzte sich der Ruf fort durch ganz Batavia, jubelnd wurde er überall unter der Tropenzone der ganzen östlichen Erdkugel wiederholt, und wer jetzt nicht gerade im Sterben lag, der ließ sich hinaustragen, um mit eigener Hand einen Stein aufzuheben, den Talisman, der alles in Erfüllung gehen ließ, was man sich dabei wünschte: Gesundheit und Reichtum, Ehre und Ruhm, Glück und Liebe – und auch den verlorenen Sohn nicht zu vergessen, den der Talisman der Mitternachtssonne aus weiter Ferne heimrufen kann an die sehnende Mutterbrust – und dann auch viele Puppen und andere kindliche Wünsche, die schon eher in Erfüllung gehen können.
Man muß sich beeilen, denn nicht lange währt die Mitternachtssonne, selten einmal eine ganze Minute.
Es ist ein wunderbares Schauspiel. Der Horizont rötet sich, gewöhnlich so gegen Mitternacht, immer mehr und mehr, feurige Strahlen schießen daraus empor, die ins Gelbe und dann ins Blaue hinüberspielen, bis alles wieder verschwindet.
Mit dem Nordlicht hat die Erscheinung nichts zu tun. Sie zeigt sich auch sehr selten, oft viele Jahre lang nicht, und eben deshalb wird ihr solche Wunderkraft beigemessen. Die jüngste Theorie erklärt sie als die doppelte Brechung der Sonnenstrahlen durch zwei in der Atmosphäre schwebende Schichten von Vulkanstaub; dem wird von anderer Seite aber ebenso energisch widersprochen.
Es ist eben das Tropenlicht, entsprechend dem Polarlicht, welches sich auch am Südpol zeigt. Was ist das Polarlicht? Man sagt: ein magnetisches Gewitter. Was ist das, ein magnetisches Gewitter? Ein leeres Ausfluchtswort. Wir wissen es nicht.
Nobody befand sich auf einem freien Platze, als das Tropenlicht sich zur vollen Pracht entwickelte. Auch er hob einen Stein auf.
»Was soll ich mir wünschen? Ich wünsche mir, daß ich mir niemals etwas zu wünschen brauche.«
Und er warf seinen Talisman wieder fort.
Ein Trupp Matrosen kam über den Platz, johlend, keuchend, sie trugen zwischen sich etwas Schweres, Gewaltiges.
»Die Mitternachtssonne! Wir haben ihn, wir bringen ihn, den nehmen wir mit an Bord!!«
Die Teerjacken hatten zum segenbringenden Talisman gleich eine ganze Trottoirplatte gemaust.
An Nobody ging eine alte Dame mit einem sechsjährigen Kinde vorüber. Ihre Steine hatten sie schon aufgehoben.
»Großmama, woher kommt denn eigentlich die Mitternachtssonne?« fragte die helle Kinderstimme.
Und worüber sich alle Gelehrten vergebens den Kopf zerbrechen, dafür hatte Großmama sofort eine ganz einfache Erklärung.
»Sieh, mein Kind, am Tage läßt der liebe Gott seine Sonne über alle Menschen scheinen, über die guten wie über die bösen. Wären alle Menschen gut, dann gäbe es überhaupt gar keine Nacht. Wenn nun einmal ein Mensch in der Nacht ein recht gutes, edles Werk getan hat, daß sich alle Engelchen im Himmel freuen, dann läßt der liebe Gott auch einmal bei Nacht die Sonne über die Erde gucken, das ist die Mitternachtssonne. Aber es muß auch etwas ganz Gutes und Schönes gewesen sein, was der Mann getan hat, und ganz heimlich, er darf auch keinen Dank dafür haben wollen – und dann dürfen sich wegen der guten Tat dieses einen Mannes alle anderen Menschen etwas wünschen, sogar die bösen!«
»Da ist es also der gute Mann, der Mama nun wieder gesund machen wird,« verlor sich die Kinderstimme in der Ferne.
Das Tropenlicht war wieder geschwunden. In der Dunkelheit erscholl ein schluchzender Laut. Aber obgleich Nobody ganz einsam stand, konnte er es wohl nicht gewesen sein, oder er hatte nur einmal den Schlucken gehabt, denn gleich darauf steckte er die Hände in die Hosentaschen, schlenderte davon und pfiff sich eins, und dann fing er zu singen an:
»Ueberall bin ich zu Hause,
Ueberall fühl' ich mich wohl,
Macht das Glück im Süden Pause,
Geh' ich nach des Nordens Pol.
Lustig hier und lustig ...«
Er brach jählings ab. Ein über den Platz gehender Mann fesselte seine Aufmerksamkeit. Eine baumlange Gestalt, bis zu den Füßen in einen grauen Staubmantel gehüllt, der hinten einen Schlitz bis zum Rücken hatte.
Nobody blickte sich um.
»Schade,« brummte er, »daß hier niemand ist, mit dem ich wetten kann! Nämlich daß ich dem dort den langen Mantel ausziehe. Oder vielmehr, daß er ihn selbst auszieht und ihn mir, einem ihm ganz fremden Menschen, freiwillig gibt.«
Mit geräuschlosen Schritten eilte er dem Langen nach, wartete, bis dieser dicht an einer Laterne vorüberkam, dann ein Griff, er hatte die beiden Rockschöße in den Händen, zwischen ihnen befand sich der eiserne Laternenpfahl, und so zog Nobody mit aller Macht nach hinten, den Langen festnagelnd.
»Schwefelbande!« fluchte dieser. »Wollt ihr mich gleich loslassen?!«
Er wußte nicht einmal, wer ihn gepackt hatte, konnte den Mann gar nicht sehen, denn der festhaltende Nobody drehte sich doch immer mit um den Pfahl herum, immer aus Leibeskräften an den Rockfittichen ziehend.
Um Hilfe rief der Ueberfallene nicht; er wollte sich aus eigener Kraft befreien, trat und griff mit den langen Beinen und Armen hinter sich, aber die Rockschöße waren noch länger, er konnte den Bösewicht nicht erreichen ...
Nun, da gab es ja ein ganz einfaches Mittel. Schnell den Mantel aufgeknöpft, herausgeschlüpft, und nun schnell ... jawohl, Nobody war aber noch schneller, und wie der Lange aus dem Mantel schlüpfte, so schlüpfte Nobody hinein, und nun die Fittiche über die Arme genommen und über den Platz gejagt, die unmenschlichen Schlenkerbeine hinter ihm her.
Doch da kam dem Verfolger die Erkenntnis.
»Ach, das ist doch kein anderer als No ...«
Wie der Blitz drehte sich Nobody um und stand dicht vor dem Verfolger.
»Willst du gleich's Maul halten?!«
»No no no no no,« verbesserte sich Flederwisch mit Geistesgegenwart, »das ist doch ein anderer, das ist ja Alfred. Na ja, was kann man denn auch von dem besseres verlangen als solche dumme Streiche! Nun gib mir mal erst meinen Mantel wieder her, kleiner Junge.«
Obgleich sich die beiden seit bald einem Jahre nicht mehr gesehen hatten, war es doch nicht anders, als wären sie immer zusammen gewesen.
»Du, Alfred, du kommst mir gerade wie gerufen – hier, zieh mir mal den Trauring ab.«
Er hielt ihm den Finger hin, der ziemlich dick geschwollen war, besonders um den Ring herum.
»Was hast du denn da gemacht?«
»Ja, weißt du – Turandot hat mir einen so engen ausgesucht, am liebsten hätte sie mir den Ring gleich angeschmiedet – während der ganzen Reise habe ich dran 'rumgearbeitet, die ganze Mannschaft mußte sich mit Stricken davorspannen und zerren – 's geht eben nicht. Nu mal los, Alfred, zieh ihn ab, das ist doch dein Metier, Geldschränke aufbrechen und so weiter.«
Nobody ergriff mit der einen Hand Flederwischs Gelenk, mit der anderen den betreffenden Finger, zog – und nun ereignete sich wieder so etwas. Flederwisch fühlte nichts davon, aber er sah mit eigenen Augen, wie sein Finger immer länger wurde, immer länger, eine Elle lang. Nobody zog, so weit sein Arm reichte – dann ein Schnapp, der Finger schien zurückzuschnellen.
»Hier ist er!«
Die Hauptsache war, daß er den Ring wirklich abbekommen hatte.
»Du bist ein Teufelskerl, was hast du denn da wieder in der Tasche gehabt?« lachte Flederwisch, wollte den Ring nehmen, aber Nobody zog seine Hand schnell wieder zurück.
»Ne ne ne ne – da fällt mir ein – i wozu willst du denn eigentlich deine goldene Ehefessel los sein?«
»Wozu? Hm – weißt du – es – es – es ist so heiß hier in Batavia.«
»Du, die Sache kommt mir nicht ganz geheuer vor. Darf das deine Frau wissen?«
»Gib den Ring her, Alfred!«
Er erhielt ihn.
»Wo willst du hin?«
»Mich amüsieren.«
»Hast du schon etwas Bestimmtes vor?«
»Beim Gouverneur soll heute große Sauerei sein, die ganze Haut in de Volle ist versammelt.«
»Du brauchst eine Einladung.«
»Ach was! Wenn der Kapitän Flederwisch von der Wetterhexe kommt! Ich habe zwar Seeschtibbeln an, aber ... du kommst doch mit, Alfred. Brillante Frauenzimmer, dabei lauter große Tiere.«
Nobody hielt sich nicht erst bei der Erklärung auf, daß er gerade von dort kam.
»Ach was, laß die verheirateten Frauen und Jungfrauen in Ruhe, die haben dir doch auch nichts getan. Aber etwas anderes will ich dir sagen: die Erlinda ist wieder da.«
Flederwisch tat, als habe er nicht recht gehört.
»Was?! Die Erlkönigin? Hier wieder in Batavia?«
»Jawohl! Sie hat in Singapore keine Geschäfte gemacht. Ist wieder zurückgekommen. Hat sich schon wieder eingerichtet. Drei Dutzend. Ich habe sie vorhin in den Fenstern liegen sehen. Feine Mädels, pikfeine. Alle Schattierungen sind vertreten. Schwarze, braune, schwarzbraune, braunschwarze, karmoisinrote, orangenfarbene, zitronengelbe mit einem kleinen Stich ins Himmelblaue, tschitscheringrüne ...«
Jetzt machte das lange Laster einen Bocksprung.
»Herzensjunge, komm! Auf zur Erlkönigin! Heute übertrete ich alle sieben Gebote.«
»Zehn Gebote haben wir, ich hab's dir schon ein paarmal gesagt.«
»Na dann alle zehne.«
Sie henkelten sich ein und marschierten ab. Zu einer Unterhaltung kam es nicht. Flederwisch fing gleich aus voller Lunge zu jodeln an – jodelte, als wenn er nur zu diesem Zwecke nach Batavia gekommen wäre.
Zeit: früh um sechs Uhr.
Ort der Handlung: eine höchst elegante Schlafkabine mit zwei Kojen an Bord der auf Reede liegenden ›Wetterhexe‹.
In der Mitte der Kabine steht zwischen Beinkleidern, Röcken, Westen, Stiefeln, Kragen, Schlipsen und anderen Bekleidungsstücken, alle so liederlich wie möglich am Boden durcheinandergeworfen, Kapitän Flederwisch, angetan mit Hemd, Unterhosen und einem einzigen Strumpf, der an der Hacke ein großes Loch hat; hält sich die Unterhose fest, blickt sich in der Kabine um, schüttelt den Kopf, blickt nach dem großen Waschtisch, und dann wandert sein Auge nach der einen Koje, in deren Tiefe wir die Gestalt eines Mannes liegen sehen.
»Du, Alfred!«
»Was gibt's?« fragt es aus der Koje zurück.
»Schläfst du noch?«
»Ja.«
»Paß mal auf, ob du was hörst!«
Flederwisch stolpert über die Bruchstücke zweier Anzüge nach dem Waschtisch, der ein Becken enthält, groß genug, um ein ausgezahntes Kind darin baden zu können, ein Wasserhahn ist vorhanden, er läßt das Becken vollaufen, hält mit beiden Händen wieder die Unterhose am Bunde fest, er könnte sie sonst verlieren, nimmt mit dem Oberkörper eine Art von Anlauf und fährt mit dem Kopfe ins Wasser.
Nach einer Viertelminute zieht er ihn wieder heraus, und es geniert nicht, daß ihm das Wasser an Hemd und Unterhose herunterläuft. Fragend blickt er nach jener Koje.
»Hast du was bemerkt, Alfred?«
»Ja.«
»Was denn?«
Und pathetisch wird in der Koje deklamiert:
»Ich sah die Sonne ins Weltmeer stürzen und hörte sie zischend verlöschen.«
Jetzt hebt Flederwisch langsam beide Hände und legt sie gegen die nassen Schläfen, und in erbarmenswürdigstem Tone erklingt es jammernd:
»Ach, mein Nischel, mein armer Nischel!! Wenn jetzt meine gute Frau hier wäre, die würde mich aber verhau ... bedauern. – Du, Alfred, die müssen mir bei der Erlkönigin Opium in den Wein gegossen haben.«
Jetzt kommt aus der Koje Nobodys Lockenkopf zum Vorschein.
»Na,« lacht er, »nun höre aber auf! Wenn man mindestens ein Dutzend Flaschen Champagner trinkt, zu jeder Flasche mindestens drei Arraks – da braucht man wahrhaftig kein Opium mehr! Ach, was sage ich denn! Ein Dutzend! In deinen Seestiefel gingen fünf Flaschen hinein, und den hast du allein zweimal mit einem Zuge ausgetrunken.«
»Seestiefel?«
»Wir mußten doch alle aus deinem Seestiefel trinken. Du wolltest es doch nicht anders.«
Flederwisch sucht seine beiden mächtigen Seestiefel zusammen, kippt bedächtig einen nach dem anderen um.
»Nischt mehr drin,« sagt er resigniert und läßt den einen fallen, »hier och nischt. Schade!«
Nobody legt beide Arme auf den Kojenrand und den Kopf darauf, so betrachtet er das lange Laster, das wieder krampfhaft die Unterhose festhält.
»Nee, Flederwisch!«
»Na, was denn?« verteidigt sich dieser mit getränkter Miene. »Was ist denn da weiter dabei, wenn man aus dem Stiefel trinkt? Noch dazu Champagner. Wir beide haben doch einmal aus einer Wasserpfütze getrunken, in der ein toter ...«
»Schon gut, schon gut! Vergleiche nicht die zwingende Notwendigkeit mit solchen Streichen. Kannst du dich noch auf das Klavier besinnen?«
»Bei der Erlkönigin? Nee. Habe ich gespielt?«
»Jawohl. Geschützexerzieren hast du mit dem Klavier gespielt. Du wolltest den Mädels zeigen, wie an Bord eines Kriegsschiffes die Geschütze bedient werden – und das gründlich – mit dem Klavier – und es war ein Stutzflügel – mit dem bist du nun immer im Zimmer herumgefuhrwerkt – hast eben ganz richtig mit dem Geschütz exerziert ...«
»Ganz richtig? Na, die Hauptsache ist, daß ich mich dabei nicht blamiert habe.«
»Nein, blamiert hast du dich nicht. Wie du die Gewalt des Rücklaufs demonstriertest, bist du mit dem Klavier durch eine Tür gefahren, durch eine geschlossene, hast die Füllungen durchschlagen, in die gute Stube hinein.«
»Ganz richtig,« nickt Flederwisch ernsthaft, »wenn hinter einem Geschütz eine gute Stube wäre, würde es auch durch die Tür hineinfahren.«
»Aber der Schluß war doch etwas gar zu toll. ›Fertig! Feuer!‹ Bruch!!! Himmelherrgott!! Da geht das Klavier wirklich los! Du hattest heimlich einen Mann an Bord geschickt, der eine Pulverkartusche holen mußte. Die hast du vorher ins Klavier hineinpraktiziert. Hätte ich das geahnt, das hätte ich natürlich nicht geduldet.«
»Was für eine Pulverkartusche?«
»Na, es genügte gerade – ein Pfund.«
Jetzt machte Flederwisch aber doch erschrockene Augen.
»Es ist doch nichts passiert?«
»Gott sei Dank nicht. Schließlich warst du auch vorsichtig dabei. Die Explosion erfolgte drüben im Salon, man konnte es nur durch die Tür beobachten. Nur daß du selbst nicht dabei in die Luft geflogen bist, das ist mir noch jetzt ein Rätsel.«
»Wie habe ich die Kartusche zur Explosion gebracht?«
»Mit einem Schlage. Wahrscheinlich hattest du ein Zündhütchen drin. Weißt du denn gar nichts mehr davon?«
»Keine Ahnung!«
»Mensch, Mensch!! Und man merkt dir gar nichts an. Du verlierst dabei gar nicht die Balance. Und nicht einmal auf die Explosion kannst du dich entsinnen? Himmelbombenelement!! Und nicht einmal ein Haar ist dir versengt worden. Ja, der liebe Gott beschützt die kleinen Kinder und die anderen. Als ich das große Loch in der Decke sah, dachte ich erst, deine zerschmetterte Leiche läge oben in der ersten Etage, wenn du nicht gleich durchs Dach gefahren wärst. Und du standst ganz ruhig da mit verklärtem Gesicht.«
»Loch in der Decke?«
»Na, du denkst wohl, das ist so glatt abgegangen? Alle Türen und Fenster sind herausgedrückt, und wie es sonst in dem Salon aussah – das geht auf keine Rhinozeroshaut, das kann nicht einmal eine photographische Platte wiedergeben!«
»Und das Klavier?«
»Spurlos verschwunden. Natürlich kam die Polizei ...«
»Die Erlkönigin hat die Polizei geholt?«
»I Gott bewahre! Aber wenn in dem stillen Batavia um Mitternacht ein Kanonenschuß fällt, soll da nicht die Polizei kommen? Es ist alles in Ordnung, alles bezahlt. Der Polizeileutnant bat vielmals um Entschuldigung, uns in unserem harmlosen Vergnügen gestört zu haben, und die Erlkönigin hat uns herzlich gebeten, sie heute abend doch wieder zu beehren. Jawohl, das glaube ich. Diese Vorstellung von Flederwisch und Kompanie hat ihr auch etwas eingebracht!«
»Na, dann ist ja alles gut!«
»Jawohl! Was du aber sonst noch alles mit den drei Dutzend Frauenzimmern aufgestellt hast – nee, Flederwisch – nee – mit dir gehe ich nicht wieder aus!«
»Was habe ich denn mit ihnen gemacht?«
»Nee, Flederwisch – das erlasse mir – da schweigt nicht nur des Sängers Höflichkeit, sondern sogar des Sängers Unhöflichkeit!«
»Dann sind wir an Bord gegangen?«
»I wo! Noch lange nicht! Du warst ja wie ein Wilder. Warst gar nicht zu halten. Erst waren wir noch einmal in der ›Osirisflamme‹ ...«
»Im Orisloche?« kürzte Flederwisch den Namen dieser Kneipe ab, aber noch in etwas anderer Weise.
»Jawohl! Da saß ein Maurer drin, ein Deutscher, der hatte sein Handwerkszeug bei sich, auch eine Kelle, und nun fingst du zu renommieren an, du könntest auch ›mäuern‹, hättest in Südafrika ›gemäuert‹ – und da war ein großes Loch in der Wand, der Kalk war herausgefallen – her mit der Kelle – Kalch her – aber ›Kalch‹ war doch nicht da – aber auf der Bar stand eine riesige Schüssel mit Kartoffelsalat – und da hast du das Loch mit Kartoffelsalat zugemauert – und weil du nun einmal dabei warst, hast du alle Wände und sogar die Decke mit Kartoffelsalat abgeputzt, immer regelrecht mit der Kelle.«
Es mußte wohl etwas Drolliges gewesen sein, daß Nobody noch jetzt plötzlich aus vollem Halse lachte. Flederwisch dagegen blieb unerschütterlich ernst, nur darauf bedacht, daß seine Unterhosen nicht herabrutschten.
»Ja, ja,« sagte er nachdenklich, »so etwas Aehnliches habe ich schon einmal gemacht. Ich kann kein Loch in der Wand sehen. Ordnung muß sein. – Sonst noch etwas? Weiter nischt?«
»Du wolltest immer durchaus reiten. Suchtest einen Esel. Weil keiner aufzutreiben war, spieltest du selber den Esel. Deine Seestiefeln konntest du nicht wieder ankriegen, die waren doch ganz naß von dem Champagner. Da hast du sie über die Arme gezogen, und so bist du auf allen vieren auf der Straße herumgaloppiert, mit den Beinen hinten ausschlagend und ›y-y-y-ahh‹ brüllend. Zum Glück hat uns weiter niemand gesehen.«
»Weiter nischt?«
»Zuletzt fanden wir doch noch einen Reitesel. Aber das kleine Tierchen war nichts für dich. Wenn du deine langen Spazierhölzer ausstrecktest, lief es dir immer unter dem Leibe davon. Schließlich verlorst du die Geduld. Jetzt drehtest du die Sache herum, jetzt nahmst du den Esel auf den Buckel, und so galoppiertest du in der Stadt herum. Dann merktest du, daß es eine Eselin war. Na aber da erst! Die Entschuldigungen! Und die Küsse hinten und vorn! Ein Damenkonfektionsladen mußte noch einmal aufmachen; der Esel wurde in einen Frauenrock gesteckt, eine Pelerine umgehangen, einen Straußenfederhut auf, einen Schleier vor – der Steuermann, den wir trafen, mußte den Esel unter den anderen Arm nehmen, daß er auf zwei Beinen ging – so seid ihr in eine Konditorei gegangen.«
»In eine Konditorei?« frohlockte Flederwisch. »Wahrhaftig, mit dem Esel?«
»In ein Damencafé. Der kostümierte Esel war deine Dame. Er wurde auf das Sofa in eine Ecke gequetscht, du neben ihm, bestelltest Nußtorte mit Schlagsahne ...«
»Und der Esel fraß sie?«
»Die Nußtorte, ja. Die behagte ihm. Zwei ganze Torten hat er gefressen. Du bißt immer von der anderen Seite ab. Die Schlagsahne schmiertest du deiner Dame ins Maul. Dann ließt du Pralinés kommen. Gleich einen Kübel voll. Von Konfitüren wollte der Esel aber nichts wissen. Da nahmst du ein hohles Bambusrohr, stecktest es ihm in den Rachen und bliest ihm die Pralinés einen nach dem anderen in den Schlund. Und nun das würdevolle Eselsgesicht mit dem schwungvollen Federhut und der Schleierdraperie, wenn er so mit den Augen nach dir schielte ...«
Bisher hatte Nobody ganz ernst erzählt. Dabei war er aus der Koje geklettert, saß aber noch auf dem Rande. Bei jenen letzten Worten nun schlug er plötzlich rücklings wieder in die Koje hinein, reckte die Beine in die Luft und lachte – lachte, daß die Schiffsplanken zitterten.
Flederwisch blieb ernst; jetzt nahm er die gravitätischste Stellung ein, die in Hemd und Unterhosen möglich ist.
»Was willst du nur eigentlich von mir?« sagte er würdevoll, als sich Nobody endlich wieder beruhigt hatte. »Ist das vielleicht etwas Ehrenrühriges, wenn man mit einem Stutzflügel schießt? Kannst du mir verdenken, wenn ich lieber aus meinen eigenen Seestiefeln trinke, als meinen Mund an unsauberen Gläsern zu verunreinigen? Und der Esel? Sind wir nach Darwin etwas anderes als die höchstentwickelten Tiere? Etwas anderes wäre es gewesen, ich hätte mich im Schweinestall zu einer Sau gelegt! Aber habe ich den Esel nicht ganz anständig behandelt? Nun sage mir aufrichtig, Alfred, wessen willst du mich eigentlich anklagen?«
»Na, wenn du so anfängst, dann will ich doch ein Stückchen erzählen, das du bei der Erlkönigin zum besten gegeben hast. Auch, auf die Geschichte mit dem Speck kannst du dich nicht mehr besinnen?«
»Nee.«
»Du hieltest eine lange Rede über Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit ...«
»Das ist auch mein Ideal, das suche ich auch im großen durchzuführen, und nicht nur so nach französischer Art!« sagte Flederwisch stolz.
»Ja, und den Mädels bei der Erlkönigin gabst du ein Beispiel, wie du das mit der Gütergemeinschaft auch im kleinen und kleinsten durchführen willst, zugleich ein Mittel, um mit einem Schlage allen Hunger aus der Welt zu schaffen.«
»Allen Hunger aus der Welt? Das wäre allerdings etwas!«
»Und du hast wirklich das Mittel dazu gefunden, kannst es dir patentieren lassen.«
»Da bin ich selber begierig, zu wissen, wie ich das angefangen habe.«
»Ganz einfach. Freilich ein Ei des Kolumbus – das Ei des Kapitäns Flederwisch. Du ließest dir ein Stück Speck geben, bandest es an einen Bindfaden, schlucktest den Speck hinter und zogst ihn an dem Bindfaden wieder aus dem Magen ...«
»Ich? Das habe ich getan?«
»Nicht du allein. Ein Mädel nach dem anderen mußte das Stück Speck so verschlucken, du zogst es immer wieder an dem Bindfaden heraus. So ging das Stück Speck die Reihe herum, aus einem Magen in den anderen, und da die Mädels für jedesmal Verschlucken einen Gulden bekamen, schluckten sie immer feste, und du konstatiertest mit Vergnügen, wie das Stück Speck nach und nach durch die Verdauungskraft der verschiedenen Magen an Gewicht abnahm. – Ja, Flederwisch, das kannst du dir patentieren lassen!«
Flederwisch sagte nichts mehr. Er beugte den Oberkörper vor, blickte den Erzähler mit stieren Augen an; dann drehte er sich langsam um, ging an den Wandspiegel, blickte hinein. Aus seiner Kehle kam ein unbeschreiblicher Ton und ... spuckte seinem Spiegelbild ins Gesicht.
»Schschschwwweinigel!!«
Doch schnell nahm er ein Handtuch, wischte die Sauce ab, klopfte seinem Spiegelbild auf die Backen und sagte gutmütig:
»Na, es wird schon noch besser mit dir werden, morgen ziehst du einen anderen Menschen an. Nicht wahr?«
Gleich darauf machte er ein mißtrauisches Gesicht, drehte sich zu Nobody um und deutete dabei mit dem Daumen über die Schulter in den Spiegel.
»Du, Alfred, besieh dir mal den Kerl dort – glaubst du, daß sich der jetzt noch ändert? Ich glaub's nicht, er hat es mir schon zu oft versprochen.«
»Die Hosen!« lachte Nobody. »Vergiß nicht, die Hosen festzuhalten!«
Kopfschüttelnd betrachtete Flederwisch sein eigenes Spiegelbild, das sich ihm in unbeschreiblicher Verfassung präsentierte.
»Jetzt läßt der Kerl auch noch ganz ungeniert seine Unterhosen herunterrutschen!« –
Und so ging das weiter. Dabei aber zogen sich die beiden jetzt wenigstens an, und dann wartete ihrer in der Kajüte ein opulentes Frühstück, bei dem pikante Sachen die Hauptrolle spielten, auch der solide Hering fehlte nicht.
»Nun aber ernsthaft und zum Geschäft,« begann Nobody. »Was treibt dich nach Batavia?«
Es war dies wirklich die erste Frage deswegen. Die beiden hatten absolut noch keine Zeit dazu gehabt, über so etwas zu sprechen.
»Gott, ich dachte, was sollte ich die Chinesen, die du von mir fordertest, mit einem anderen Schiffe hierherschicken – ich hatte nichts weiter zu tun, wollte mir Batavia wieder einmal ansehen – da bin ich gleich mit der Wetterhexe gekommen.«
»Gut. Also du hast die Chinesen mit?«
»Natürlich!«
»Tüchtige Kerle?«
»Wie die Biertonnen, keiner unter zwei Zentner.«
Nobody blickte von seinem Teller auf.
»Was sagtest du da eben?«
»Rund wie die Biertonnen, sagte ich. Feist wie die fettgefressenen Biber. Keiner unter zwei Zentner. Der eine wiegt sogar 318 Pfund, das ist ein Monstrum von Dicke.«
Jetzt legte Nobody Messer und Gabel hin und blickte den anderen starr an.
»Ja, Flederwisch – hast du denn wirklich das Delirium?«
Jetzt blickte auch Flederwisch seinen Freund starr an.
»Na, nun mal keine Beleidigung nich. Ich habe deinen telegraphischen Auftrag nach besten Kräften ausgeführt.«
»Wo sind denn die Chinesen?«
»Unten im Kielraum.«
»Weshalb im Kielraum?«
»Ich dachte, du hättest etwas Besonderes mit ihnen vor, da sollten sie sich hier im Hafen lieber nicht an Deck sehen lassen.«
»Ganz richtig. Warum aber gerade im Kielraum? Die können sich doch irgendwo anders unter Deck aufhalten.«
»Nun, die sind doch nicht so leicht untergebracht. Die sind schon im Kielraum zusammengequetscht genug.«
»Zusammengequetscht?« wiederholte Nobody mit immer größerem Staunen.
»Ja, und dann der viele Proviant! Wo soll ich den verstauen?«
»Der viele Proviant? Ja, Flederwisch, sage mal – wieviel Chinesen hast du denn mitgebracht?«
»Wie du mir telegraphiertest: fünfhundert.«
Langsam stand Nobody auf, stemmte sich mit beiden Armen auf den Tisch und beugte sich weit vor.
»Fünf-hundert – Chinesen?!« brachte er stoßweise hervor.
»Fünfhundert Chinesen,« bestätigte Flederwisch. »Wie du mir telegraphiert hast.«
Plötzlich wurde Nobody wild.
»Fünfe habe ich telegraphiert!« schrie er. »Fünfe, fünfe, fünfe!!!«
»Na, brülle mich nicht so an! Fünfhundert stand auf der Depesche!«
»Hier ist die Kopie meines Telegrammes; ich kopiere jedes Telegramm, das ich aufgebe.«
Nobody riß seine Brieftasche heraus und gab Flederwisch die Kopie. Sie lautete:
»Schicke mir sofort 5 fieberfeste Chinesen und 500 Zigarren.«
»Fünfhundert Zigarren wollte ich haben! Und du weißt genau, welche Sorte. Ich kann hier die ewigen Manilas nicht rauchen! Und du Kerl schickst mir statt der Zigarren fünfhundert Chinesen auf den Hals?! Und was willst du denn immer mit den runden Biertonnen, die zwei Zentner wiegen? Fünf fieberfeste Chinesen wollte ich haben, und da ist Magerkeit gerade ein gutes Zeichen.«
»Fieberfeste? Hm!« brummte Flederwisch. »Ja, das stimmt. Aber was geht mich deine Kopie an? Hier ist die Depesche, die mir eingehändigt wurde.«
Er zog sie hervor, Nobody nahm sie und las:
»Schicke mir sofort 500 biberfeiste Chinesen und 5 Zigarren.«
Nobody marschierte nach dem Sofa, legte sich darauf und hing die Beine über die Lehne.
»So ein Himmelhund von Telegraphisten! Schickt mir der fünfhundert Chinesen anstatt fünfhundert Zigarren – biberfeiste anstatt fieberfeste! Ei du griene Neine!!«
Nobody hatte diese Lage auf dem Sofa nur gewählt, um sich dann ohne Gefahr für seinen Körper auslachen zu können, und das besorgte er denn auch gründlich. Flederwisch lachte nicht mit, er war vielmehr verstimmt, wenigstens anfangs.
»Ich kann nichts dafür. Die fünf Zigarren habe ich natürlich in fünf Mille übersetzt, die habe ich mitgebracht – daß du nicht bloß fünf Stück haben willst, das ist doch selbstverständlich – aber sonst – biberfeiste? – ich habe diesen Ausdruck für dick sonst noch nicht gehört, auch von dir nicht – du wendest ihn eben einmal an – dicke, sehr dicke – so feist, wie die amerikanischen Biber gerade in dieser Jahreszeit sind – wie kann ich denn das biberfeist in fieberfest übersetzen, wie komme ich dazu – du willst eben fünfhundert äußerst dicke Chinesen hierher haben – Gott weiß, wozu – wer kann denn in deine Karten blicken? – Du hast eben irgend etwas vor – du tust doch niemals etwas umsonst – gut, die fünfhundert dicken Chinesen werden besorgt ...«
Flederwisch blickte nach dem Freunde, der sich noch immer auf dem Sofa vor Lachen wälzte.
»Fünfhundert biberfeiste Chinesen und fünf Zigarren, hohohohoho!!!«
»Ja, du hast gut lachen,« schmollte Flederwisch weiter. »Wenn du nur wüßtest, wie ich gearbeitet habe! Wie ein Pferd. Bei dir muß doch alles fix gehen – du telegraphierst doch nicht einmal das Wörtchen ›sofort‹ umsonst – also, ich nach Empfang der Depesche augenblicklich hinüber nach der chinesischen Küste gejagt – Agenten in Stadt und Land verteilt – in verschiedene Städte – Plakate gedruckt und überall angeklebt – – dicke Chinesen gesucht, dicke Chinesen gesucht, sehr dicke Chinesen gesucht!! – – Und ich habe auf der Hauptstation Tag und Nacht mit der Wage und mit dem Maßband gearbeitet – habe geschwitzt und gekeucht – ich nahm's gewissenhaft – zwei Zentner war die feste Norm, unter dem gab's nichts – aber fünfhundert, die wollen doch zusammengebracht sein – und die meisten mußten erst eingekleidet werden – und nun noch im ... Na, da hör doch endlich auf mit deinem verdammten Lachen!«
»Fünfhundert biberfeiste Chinesen und fünf Zigarren, hohohohoho!!« heulte Nobody.
Es half alles nichts, zuletzt wurde auch Flederwisch von der Komik der Verwechslung erfaßt, er stimmte mit ein.
»Nee, Alfred,« meinte er dann, sich die Tränen aus den Augen trocknend, »komm erst mal mit hinunter – die Kerle mußt du dir ansehen – was da für Knöppe dabei sind – besonders der eine, der mit den 318 Pfund – was der für einen Hängebauch hat – ich habe ihm ein Bauchkorsett machen lassen – und dabei ein Reisbauch – kein festes Fleisch, alles nur aufgedunsenes Fett – als er an Bord ging, fiel er ins Wasser – wie eine Schweinsblase schwamm er obendrauf ... nee, Alfred, komm erst mal mit runter!«
Sie begaben sich hinab, die fünfhundert Chinesen mußten antreten, und wirklich, solch eine Kollektion von Dickheiten hatte Nobody noch nicht gesehen. Diese Bäuche! Diese Pausbacken! Diese Beine und Waden! Dabei ist zu bedenken, daß es Reisesser waren, es war das schwammigste Fett, und von diesem nun mindestens zwei Zentner! Außerdem hatte Flederwisch seine Mastware unterwegs doch auch nicht schlecht gefüttert, er hatte sie noch eigens richtig genudelt, und die in Reih und Glied aufgebauten Chinesen wußten, daß sie jetzt auf ihre Leibesfülle gemustert wurden, sie preßten ihre Bäuche noch ganz besonders heraus und bliesen womöglich auch noch ihre fettstrotzenden Pausbacken auf ... hier hatte auch Nobodys Selbstbeherrschung ein Ende, er mußte herausplatzen, und die fünfhundert Dickwanste lachten mit, daß die Schmerbäuche wackelten, und die ganze Mannschaft, welche nun schon von dem Irrtum mit dem Telegramm gehört hatte, stimmte mit ein, so daß die umliegenden Schiffe glaubten, an Bord der ›Wetterhexe‹ sei die Tobsucht ausgebrochen.
Hierbei sei gleich bemerkt, daß die fünfhundert Chinesen eine Entschädigung erhielten und zurück nach ihrer Heimat transportiert wurden, jedenfalls war ihnen allen diese Fahrt die schönste Erinnerung in ihrem ganzen Leben, und die ›Wetterhexe‹ hatte schon kostspieligere Vergnügungstouren gemacht. –
Einmal mußte das Lachen doch ein Ende nehmen. An Deck war Nobody wieder Herr über seine Gesichtsmuskeln.
»Also nur fünf Chinesen brauchst du?« fragte Flederwisch.
»Nur fünf, und da du sieben unter deiner Mannschaft hast, werde ich sie daraus wählen; du kannst dir hier genug andere Hände besorgen, an Bord der ›Wetterhexe‹ gibt es ja keine besonderen Geheimnisse, während ich durchaus sichere, zuverlässige Leute haben muß, welche auch schweigen können, und eben deswegen wollte ich sie ja sowieso von der Wetterhexe oder doch von der Schwefelinsel haben.«
»Was hast du vor, Alfred?«
»Ein Unternehmen, zu dem ich vor allen Dingen fieberfeste Leute brauche.«
Nach vielen Scherzen darf hier wohl auch einmal ein ernstes Wort eingeschaltet werden.
Wie sich der Chinese überall akklimatisiert, im kältesten Norden wie im heißesten Süden, ist bekannt. Der Chinese hält in Fiebergegenden aus, wo selbst der dortige Eingeborene der Malaria erliegt. Die Ursache dieser Widerstandsfähigkeit untersuchend, haben europäische Gelehrte konstatiert, daß der Chinese von allen Völkerrassen die dickste Haut hat. Damit soll dies zusammenhängen.
Es liegt aber auch noch etwas anderes vor. Der Chinese genießt nichts Kaltes, vor allem kein kaltes Getränk. Wenn man bei uns einen Chinesen Bier trinken sieht, so ist das etwas anderes. Hier ist vom chinesischen Arbeiter, vom Kuli, die Rede. Der chinesische Bauer hat auf dem Felde immer ein Strohfeuerchen, über dem er seinen Tee kocht. Das alles hängt mit der ganzen Wasserfrage in China zusammen; denn das Wasser ist in China, wenigstens in der Nähe der Stadt, überall schlecht, faulig, man wirft Kadaver hinein – macht nichts, es wird ja abgekocht. Zur Verbesserung des Geschmackes wird Tee verwandt.
Aus dieser Notwendigkeit, das Wasser abzukochen und heiß zu trinken, ist eine Gewohnheit geworden, die dem Chinesen in Fleisch und Blut übergegangen ist – und diese an sich so unscheinbare Angewohnheit, das Wasser nur heiß zu trinken, dürfte der Hauptfaktor sein, daß die Chinesen noch dereinst berufen sind, Gegenden zu kultivieren, die uns Europäern immer und ewig verschlossen bleiben werden, wie z. B. das Innere Brasiliens und der größte Teil Afrikas, immer gerade das fruchtbarste Land.
Wenn Karawanen, Soldaten, weiße und schwarze, halbverschmachtet an einen Wassertümpel kommen, wirklich dem Verdursten nahe – wer denkt denn da erst an ein Abkochen des Wassers! Das kann man sich wohl ausmalen – aber in Wirklichkeit hilft da keine Belehrung und gar nichts, es wird eben getrunken. Und das schlechte Wasser ist es, welches in jenen Gegenden alle die tödlichen Krankheiten erzeugt, Malaria, Ruhr, Typhus u.s.w., denen die Neger nach Strapazen ebenso erliegen wie die Weißen.
Der dickfellige Chinese dagegen – dickfellig in doppelter Hinsicht – trinkt nicht einmal aus einer klaren Quelle, viel weniger aus einem Tümpel. In der Not freilich frißt der Teufel Fliegen und der Mensch Stiefelsohlen, sogar Menschenfleisch, was oft genug vorgekommen ist. Hat der Chinese aber nur irgendwelche Möglichkeit, das Wasser erst abzukochen, so tut er es, und wenn er nur glühende Holzkohlen hineinwirft, die an sich schon eine stark desinfizierende Kraft haben, und sollte ihm vor Durst auch schon die Zunge aus dem Halse hängen, der Chinese, der gar keine Nerven zu besitzen scheint, wartet geduldig, und dann trinkt er das Wasser auch noch brühheiß – und eben dadurch bleibt er gesund, während alles um ihn herum an Malaria, Ruhr und Typhus stirbt, auch die Eingeborenen des betreffenden Landes.
Wer den dickfelligen, bedürfnislosen, ameisenartigen Chinesen in dieser Hinsicht zu benutzen versteht, der dämmt den Amazonenstrom ein – wozu noch nicht so viel Baumaterialien gehören als zur chinesischen Mauer – der verwandelt Urwälder und Sümpfe in blühendes Land, dem gehört die Zukunft der Erde. Europa wird es nicht verstehen.
»Dann,« fuhr Nobody fort, »muß ich die fünf Chinesen erst etwas vornehmen, um ihnen das Schießen mit Pfeil und Bogen beizubringen, denn deine chinesischen Leute sind wohl schon zu sehr von der Kultur beleckt, um noch Meister in ihrer einheimischen Schußwaffe zu sein.«
»Mit Pfeil und Bogen willst du sie ausbilden? Nanu, was hast du denn eigentlich vor?!«
»Komm mit! Angesichts meines Reisekoffers werde ich dir ein Märchen erzählen.«
»Gibst du dich denn auch mit Märchen ab?«
»Ja, diesmal ist es ein Märchen.«
Sie begaben sich wieder unter Deck. In dieser Nacht waren die beiden Freunde nicht immer zusammen gewesen. Nobody hatte Flederwisch, als er diesen wohlgeborgen wußte, einmal für eine Stunde verlassen, um sein Gepäck, aus zwei Koffern bestehend, aus des Konsuls Wohnung an Bord der ›Wetterhexe‹ bringen zu lassen, wo er auch eine eigene Kabine, wie solche für Gäste reichlich zur Verfügung standen, genommen hatte. Wegen seines Freundes Verfassung aber, daß dieser nicht noch mehr Dummheiten machte, hatte er in dessen Kabine geschlafen.
»Du, Alfred,« sagte Flederwisch, als die beiden eintraten, »hast du schon von dem holländischen Professor gehört, Berneveld heißt er wohl, der sich im Urwalde verlaufen hat?«
»Woher weißt du das?«
»Als ich gestern nachmittag auf Reede ankerte, bekam ich gleich eine Zeitung zugestellt. Da stand's drin. Du, Alfred, da solltest du dich auf die Socken machen und den Kerl suchen. Das wäre eigentlich etwas für dich!«
»Eigentlich, ja,« lächelte Nobody über den ahnungslosen Engel. »Nun besieh dir erst mal diesen Koffer.«
Es war kein Koffer, sondern ein Reisekorb, aus Rohr geflochten, aber ganz anders, als wie Reisekörbe sonst im Handel vorkommen, und Flederwisch fand das Richtige sofort heraus.
»Das ist ein feines Ding! Ich glaube, den könnte man vier Stock hoch herunterwerfen, da ginge nichts kaputt dran, und doch so elegant, so patent – wo hast du den gekauft?«
»Den habe ich mir selber gemacht. Im Urwalde am Rande einer Rohrdschungel. Ich brauchte keine drei Stunden dazu.«
»Ist nicht möglich!«
»Na, dann nicht! Ich brauchte ein Futteral für – für ...«
Er hatte das Vorhängeschloß geöffnet und schlug den Deckel zurück.
»Für den da!«
Flederwisch prallte etwas zurück, und der Anblick des Inhaltes war auch danach. Einen zusammengekauerten Menschen darin zu sehen, das hätte Flederwisch am allerwenigsten erwartet. Es war ein nackter Malaie, schon alt, mit weißem, zerzaustem Haar. Er lebte, er atmete, hatte aber die Augen ganz nach oben verdreht.
»Hyp ...?« fragte Flederwisch nur.
»Jawohl, hip hip hurra,« bestätigte Nobody, und in Gegenwart des hypnotisierten Affenwärters, den er überwältigt und mitgenommen hatte, begann er seine Erzählung.
»Ja, das klingt allerdings wie ein Märchen,« sagte Flederwisch kopfschüttelnd, als Nobody geschlossen hatte, und er hielt doch in seiner Hand die abgeschlagene Teufelskralle, die braunbehaarte Riesenfaust, die schon mumienartig ausgetrocknet war, ohne daß dadurch aber die eisernen Krallen gelockert worden wären.
»Ihre Spuren habe ich noch an meinem Halse, jetzt sind sie noch zu sehen.«
Nobody trug ausnahmsweise einen hohen Stehkragen, er löste ihn schnell ab. Flederwisch sah die Narben der fünf breiten Fingernägel. Sie würden spurlos verheilen, Nobody hatte sie aufs sorgsamste gepflegt.
»Also jetzt schickt der geheimnisvolle Geisterkönig gleich eine ganze Masse solcher abgerichteter Affen nach Java oder vielmehr an den Maharadscha von Pandang, daß dieser die netten Tierchen nach eigenem Gutdünken als Würgengel auf der Insel verteilt?«
Nobody hatte seinem Freunde noch viel mehr erzählt als nur von seinen persönlichen Abenteuern, wenn auch noch nicht alles. Bei solch einer mündlichen Erzählung geht es ja überhaupt nur bruchstückweise, und auch wir werden jetzt noch verschiedenes erfahren, was Nobody unterdessen schon alles getan hatte, ohne daß wir es mit eigenen Augen beobachteten.
»So ist es,« bestätigte er, »und jetzt soll man die Gibbons durch Dressur so weit gebracht haben, wie man sie haben wollte.«
»Wer bringt sie denn von Sumatra hierherüber?«
Nobody deutete nach dem runden Fensterchen, durch welches man den ganzen Hafen von Batavia überblicken konnte.
»Siehst du dort die Dampfjacht liegen mit der purpurnen Flagge am Heck und mit dem Kriegswimpel?«
Es mußte etwas Belustigendes dabei sein, daß Flederwisch lachte.
»Jawohl, das ist ein Kriegsschiff – nein, das ist sogar die ganze Kriegsflotte, welche Holland Seiner Majestät dem Maharadscha von Pandang gelassen hat.«
»Mit dieser Jacht wurden die Gibbons und ihre Wärter von der Mündung des Prajan abgeholt.«
»Ah! Wie hast du das herausgebracht?«
»Laß dir ausführlich erzählen. Dieser Mann, den du hier siehst, Makeijo, gehörte mit zu den Getreuen, welche der aus seinem Reiche vertriebene Radscha von Banca, der auch auf die kulantesten Bedingungen Hollands nicht eingehen wollte, mit sich in die Fiebersümpfe von Bekul nahm. Ich erfuhr von dem Hypnotisierten äußerst Wichtiges, aber doch nicht alles, was ich wissen mußte, um vorgehen zu können. Wie sich der Radscha, der ein ganz außergewöhnlicher Mensch sein muß, auf einem mitten im Strome stehenden Tafelberge eingerichtet hat, wie er die Gibbons fängt und sie zu Würgteufeln abrichtet, wie er sogar ihre nächtliche Furcht zu besiegen weiß, also die ausgesprochensten Tagewesen sogar zu Nachttieren umwandelt, das konnte mir dieser Mann alles erzählen. Viel mehr aber auch nicht, er ist immerhin nur ein untergeordneter Diener gewesen; beim Ausfragen, um von allem ein klares Bild zu bekommen, machte auch das viel Schwierigkeiten, daß er selbst seinen Herrn für einen mit überirdischen Kräften begabten Zauberer, für den Geisterkönig hält, und der Gibbon, den man ihm anvertraut hatte, war für ihn bei weitem kein dressierter Affe, sondern eben ein böser Geist, der durch die Kraft des Geisterkönigs ihm untergeordnet war, und an dieser Meinung wird bei ihm dadurch nichts geändert, daß er doch selbst mitgeholfen hat, die Affen abzurichten. Auch Geister brauchen eben eine Erziehung.
Es ist jetzt sechs Wochen her, als Makeijo von seinem Herrn den Befehl erhielt, den ihm speziell anvertrauten Gibbon, der den Namen Chattoman führte, nach Java zu bringen. Oder das darf ich nicht einmal sagen. Der in einer Erdhöhle mit seinem Affen hausende Mann wußte selbst nicht genau, ob er sich auf Java oder auf einer anderen Insel des malaiischen Archipels befände. Er hatte einfach seine Instruktionen zu befolgen. Oder nicht einmal das. Er war ein willenloses Werkzeug. Er wurde einfach mit seinem Affen in ein Boot gepackt, zwei Tage lang ging es mit vier Ruderern den Strom hinab, vor der Mündung lag ein Schiff, Makeijo kam mit seinem Affen an Bord ...«
»War das die Kriegsjacht des Maharadschas?« unterbrach Flederwisch den Erzähler.
»Was weiß dieser armselige Malaie davon! Die Einschiffung erfolgte in der Nacht, am Tage wurde er in einer Kabine eingeschlossen, und hätte er einen Schiffsnamen zu sehen bekommen, so hätte er ihn doch nicht lesen können. In der nächsten Nacht verließ er mit seinem Affen das Schiff wieder, an einer einsamen Küste erwartete ihn ein Mann, jedenfalls ein vornehmer Malaie, dieser war sein Führer, es ging einen Tag durch den Urwald, bis zu jener Erdhöhle, die bereits angelegt worden war.
Das sei von jetzt an seine Wohnung. Er hatte nichts weiter zu tun, als während des Tages den Affen zu warten, der, wie schon gesagt, zum Nachttier geworden war. Ja, vielmehr wartete der Gibbon seines Herrn, versorgte ihn auch mit Nahrung, mit Früchten und sogar mit Fleisch, wenigstens mit Vögeln, die der lautlose Nachtwanderer einfach im Schlafe von den Zweigen oder aus den Nestern griff. Denn der Wärter durfte sich keine zehn Schritt weit von seiner Erdhöhle entfernen. Seine Hauptaufgabe war, dem Affen das Ungeziefer abzulesen, und dann durfte der Gibbon doch nicht sich so ganz allein überlassen bleiben, es war doch immer ein Affe, der einen Herrn braucht, den er liebt, zu dem er immer wieder zurückkehrt. Und der Affe wußte, was er zu tun hatte, was man von ihm verlangte. In der Nacht wanderte er von Baum zu Baum durch den Urwald, meilenweit, und bald hatte er das Fort Tjibodas gefunden, er sah die Wachtposten mit Gewehren stehen, das war es, was er suchte, er schlug ihnen seine künstlichen Krallen in den Hals ... was willst du?«
»Aber ich bitte dich!« sagte Flederwisch. »Wie kommt denn der Affe dazu, es gerade auf Wachtposten abgesehen zu haben!«
»Na, das ist doch alles Dressur!«
»Der Affe konnte doch gar nicht wissen, wie solch ein Soldat aussieht.«
»Nicht? Du meinst, weil er dort in den weltverlassenen Sümpfen von Bekul dressiert wurde? Ei, was du schlau bist! Die haben dort alles, was sie brauchen. Puppen, als regelrechte Wachtposten herausstaffiert, auf die werden die Gibbons zuerst gehetzt, dann aber auch auf lebende Menschen. Das wäre das wenigste. Frage lieber: wenn nun dieser Menschenaffe mit den angeschmiedeten Teufelskrallen einmal gefangen oder erschossen worden wäre?«
»Nun, was dann? Dann wäre es doch mit dem Geisterglauben vorbei gewesen.«
»Und ich sage dir, Flederwisch,« rief Nobody erregt, »nie, niemals wäre dieses Tier gefangen, niemals auch nur von einem menschlichen Auge erblickt worden!! Du ahnst es ja gar nicht, was die aus diesem Menschenaffen gemacht haben! An sich schon ein Wunder der Schnelligkeit und Gewandtheit, in den Zweigen schon mehr ein Vogel, ist er durch zielbewußte Dressur ein wesenloser Schatten geworden, außerdem aus einem ursprünglich ganz harmlosen Affen, der alles ihm Unbekannte schreckhaft flieht, ein reißendes Raubtier, aus einem Sonnenvogel eine Nachteule ... ach, da weiß man ja gar nicht, wo man anfangen soll, um dieses Wunder verständlich zumachen! Diese meisterhaften Dresseure muß ich unbedingt kennen lernen, und sollte ich dabei auch in meinen unvermeidlichen Tod gehen! Nimm nur an: zu solcher Vorsicht ist dieser mit fast menschlicher Vernunft begabte Affe abgerichtet worden, daß er auch niemals nur mit einer Zehe den Boden berührt, selbst dann nicht, wenn er auf sein Opfer springt, oder wenn er es ausplündert. Dann steht er immer nur auf dem Körper, auf dem nachgebenden Fleische, das keinen Eindruck hinterläßt – und dann ist er schon wieder schnell wie ein Vogel in der Nacht des Urwaldes verschwunden. – Nein, kein irdischer Mensch ist imstande, diesen Würgengel der Nacht zu erblicken, noch viel weniger, ihm zu entgehen, am allerwenigsten ihn zu töten oder gar ihn lebendig, zu fangen – kein Mensch!«
Nobody merkte im Eifer wohl nicht, wie er sich widersprach, er hatte doch dieses Kunststück selbst fertiggebracht, und er war doch auch nur ein Mensch. Doch Flederwisch machte ihn nicht darauf aufmerksam, der kannte seinen Freund ja auch am allerbesten.
»Und wenn nun einmal der Wärter in seiner Erdhöhle aufgespürt worden wäre?«
»Das hätte seine Schwierigkeit gehabt. Sie lag äußerst geschickt versteckt, noch dazu in einem gänzlich unzugänglichen Sumpf. Ich selbst habe wie ein Affe stundenlang von Baum zu Baum über die Aeste balancieren müssen. Außerdem hatte der Mann scharfe Instruktionen, und sein Gehorsam ist bedingungslos. Ehe er sich ergreifen ließ, hätte er sich selbst getötet. Ich kam ihm nur zuvor. Es war mit diesem Affen immer noch erst ein Versuch gewesen. Man muß es in Timukai, wie man die Residenz des Geisterkönigs nennt, gewußt haben, daß dieser Gibbon noch aus der Rolle fallen könnte, was dann auch tatsächlich geschehen ist. Der Chatto hat sich auch noch an anderen Menschen vergriffen, als nur an Wachtposten, er hat es zuletzt hauptsächlich nur noch auf Geld abgesehen gehabt. Wie der in Timukai erzogene Affe hierzu gekommen ist, zu dieser Sucht nach den glänzenden Goldmünzen, konnte ich nicht erfahren, der Wärter wußte ja überhaupt gar nichts von den Streichen seines Zöglings. Aber das konnte mir Makeijo sagen, daß demnächst noch mehr Gibbons aus Timukai als Würgengel abgeschickt würden, noch besser abgerichtet als der seine. Nur die Zeit wußte er nicht, wann der Transport abginge, und darauf kam es mir gerade an, denn vor allen Dingen gilt es doch, diese teuflischen Bestien und ihre noch teuflischeren menschlichen Begleiter abzufangen und unschädlich zu machen, das ist jetzt meine heiligste Pflicht, das bin ich der Menschheit schuldig.
»Den toten Affen versenkte ich spurlos im Sumpf, den Mann nahm ich mit. Es war ein böser Marsch, verlaß dich darauf. Mit der Last immer über die Aeste hinweg! Dann flocht ich aus Bambusrohr hier diesen Korb, packte ihn hinein, nahm im ersten Dorfe ein Ochsenfuhrwerk u.s.w. Ich will mich nicht dabei aufhalten, wie ich meinen Mann nach Batavia schaffte. Ich suchte den mir sehr gut bekannten amerikanischen Konsul auf, gab mich zu erkennen, weihte ihn ein, soweit ich es für dienlich hielt. Nachdem derselbe überzeugt war, daß ich nicht wahnsinnig sei, sondern die Wahrheit erzähle, riet er mir ganz energisch davon ab, diese Sache an die große Glocke zu hängen. Man würde es mir ja auch gar nicht glauben. Selbstverständlich nicht! Ich hatte auch gar nicht daran gedacht, etwa die Hilfe der Regierung anzurufen.
»Mein erstes war, daß ich dir telegraphierte. Ich brauchte, um in die Fiebersümpfe zu dringen, in denen der Dahuradscha haust, dem ich selbstverständlich einen Besuch abstatten will, ein paar fieberfeste Begleiter, Bootsruderer. Hier finde ich doch keinen einzigen Chinesen, der mit nach Bekul hineinkommt! Um alles in der Welt nicht! Man hätte mich doch gleich ins Irrenhaus gesperrt. Und dann muß das alles doch ganz geheimgehalten werden. So solltest du mir fünf fieberfeste Chinesen schicken.
»Meine zweite Hauptaufgabe war, herauszubekommen, wann der Affentransport von Sumatra abging, von wem er abgeholt würde. Meine Absicht war, mich direkt an den Hof von Pandang zu begeben, um den Maharadscha gleich selbst zu hypnotisieren. Denn der ist doch der Hauptleiter dieses teuflischen Hokuspokus, von dem mußte ich aus erster Quelle alles erfahren. Da vernahm ich, daß der Maharadscha, der für die malaiischen Moslems zugleich der Hohepriester, der Papst ist, gerade seine ihm vorgeschriebene monatliche Fasten hat und während dieser Zeit muß er absolut unsichtbar bleiben.
»Wie ich so am Hafen stehe und überlege, an wen ich mich sonst zuerst wende – ich hatte ja eine ganze Menge im Auge, von denen ich wußte, daß sie mir mehr oder weniger von dem Dahuradscha erzählen konnten – sehe ich dort jene Kriegsjacht des Maharadschas von einem Dampfer eingeschleppt werden. Die Schraubenwelle war ihr auf hoher See gebrochen.
»Der Maharadscha macht von seinem einzigen Kriegsschiffe, das man ihm gelassen hat, einen sehr nützlichen Gebrauch. Es ist immer scharf hinter den malaiischen Seeräubern her, die besonders an der Küste von Sumatra ihre Verstecke haben. Aber sollte er diese kleine Kriegsjacht nicht auch dazu verwenden, um die Chattos nach Java zu transportieren? Die Jacht wäre noch aus einem besonderen Grunde hierzu geeignet, zu solch einer geheimen Mission, weil es mit der ganzen Besatzung eine eigentümliche Bewandtnis hat. Dieses Fahrzeug ist nämlich eine Art von Absolutionsschiff oder ein Fegefeuer, und das sagt ja auch schon sein Name: ›Darromaih‹ – so heißt bei den malaiischen Moslems der Ort, in dem die Seelen erst geläutert werden, ehe sie ins Paradies kommen. Diese Jacht hier ist ein irdisches Fegefeuer. Wenn ein Fischer ein todeswürdiges Verbrechen gegen die Religion begangen hat – das heißt, er kann sonst der ehrlichste Kerl sein, er hat vielleicht nur aus Versehen etwas Unreines gegessen, ein heiliges Tier getötet – dann kann er zum Fegefeuer begnadigt werden, er kommt hier auf dieses Kriegsschiff, nach so und so vielen Jahren treuen Dienstes darauf wird er wieder gereinigt. Also sind das alles sehr, sehr zuverlässige Leute; die verraten nichts.
»Gut, ich passe auf. Es kommen Matrosen an Land, im geschlossenen Trupp, ich weiß einen abzusondern, nehme ihn an einem stillen Orte vor ... richtig! Am 28. dieses Monats soll die ›Darromaih‹ vor der Mündung des Prajan liegen. Das ist sogar diesem einfachen Matrosen bekannt. Weshalb gerade am 28.?«
»Weil da Neumond ist,« entgegnete Flederwisch.
»Jawohl. Nun, bis dahin hatte ich ja noch lange Zeit, die Jacht mußte doch auch erst repariert werden, und unterdessen hypnotisierte ich immer lustig weiter, einen nach dem anderen, den ich für einen Eingeweihten hielt, und ich habe denn auch Wichtiges genug zu erfahren bekommen. Aber die Hauptsache, worauf es mir ankam, fehlte noch immer.«
Nobody brannte sich die erste der 5000 Zigarren an, die ihm Flederwisch mitgebracht hatte.
»Welche Hauptsache?«
»Sieh, mein Plan war ja ganz einfach. Bekul ist der südlichste Teil von Sumatra, von Java nur durch die schmale Sundastraße getrennt. Mit den fünf Chinesen wollte ich im offenen Boote hinübersetzen, mich an der Mündung des Stromes, freilich schon etwas landeinwärts, wo das Kriegsschiff nicht mehr hinkommt, in einen Hinterhalt legen – der Affentransport wird abgefangen. Dann schleiche ich mich bei Nacht um das in der Mündung liegende Schiff herum in die offene See hinaus, bringe meine Chinesen und die Gefangenen, Menschen wie Affen, in Sicherheit, um sie dann später als belastende Zeugen vorzuführen, und kehre allein mit dem kleineren Boote zurück, mache die Fahrt stromaufwärts und statte dem Geisterkönig einen Besuch ab.
»Nun aber eine Möglichkeit, an der mein ganzes Vorhaben scheitern könnte! Wie verkehrt denn eigentlich der Maharadscha mit dem Geisterkönig? Etwa gar durch abgerichtete Gibbons, welche wenigstens die Botschaften an der Mündung des Prajan in Empfang nehmen? Oder treiben sich die Chattos nicht vielleicht ganz frei dort in den Wäldern herum? Dann wäre es mir wohl sehr schwer geworden, unbemerkt an die Geisterburg heranzukommen, und ich gestehe ganz offen, daß ich vor diesen dressierten Gibbons einen höllischen Respekt bekommen habe. Meinen ganzen Plan könnten sie wenigstens zuschanden machen.
»Makeijo hatte mir hierüber nur sehr spärliche Auskunft geben können, der Matrose gar keine. Ich nahm den Kommandanten unter Hypnose ...«
»Was, auch den hast du hypnotisiert?!«
»Weshalb nicht? Ist das ein anderer Mensch? Die Hauptsache war, daß ich ihn unter vier Augen bekam, und das gelang mir. Von dem erfuhr ich alles. Das ist ein ganz Eingeweihter. Die Korrespondenz erfolgt einfach durch Brieftauben, die von Zeit zu Zeit ausgetauscht werden. Die einmal eingefangenen Gibbons kommen nie wieder aus der Behausung des sogenannten Geisterkönigs heraus. Dazu sind die schon abgerichteten Affen viel zu wertvoll, und in jenen Wäldern wimmelt es von Tigern und Panthern, welche Affenfleisch allem anderen vorziehen.
»So wäre ich mit allem ganz allein fertig geworden. Nur die paar Chinesen hätte ich gebraucht. Um das wartende Kriegsschiff hätte ich mich gar nicht gekümmert. Da du nun aber einmal hier bist, könnte sich manches ändern. Flederwisch, bist du bereit, die Kriegsjacht auf offener See zu kapern?«
»Weshalb denn nicht?« fragte Flederwisch phlegmatisch.
»Bedenke wohl: es ist das anerkannte Kriegsschiff eines anerkannten Souveräns, eines Königs.«
Flederwisch war plötzlich aufgestanden, in einer Weise, welche verriet, daß etwas Besonderes kommen mußte, und so warf er sich auch in die Brust.
»Und ich?« fragte er hoheitsvoll. »Wer bin ich? Ich bin der König der ganzen Schwefelbande ... Schwefelinseln, wollte ich sagen.«
Wie schon gesagt, liegt die Provinz Bekul im südlichsten Teile von Sumatra, von Batavia aus kann ihre Küste ein gewöhnlicher Dampfer in acht Stunden erreichen – aber kein einziges Fahrzeug nähert sich ihr, diese fruchtbarste Landschaft des Malaiischen Archipels ist für Holland, für die ganze Menschheit vollkommen verloren.
Doch es hat todesmutige oder die Gefahr unterschätzende Forscher gegeben, welche in diese Fiebersümpfe eingedrungen sind.
Von Norden her wälzt der Prajan seine schwarzen, schlammigen Fluten dem Meere zu. Er hat keinen einzigen Nebenfluß, oder er läßt vielmehr keinen aufkommen, es gibt keine Mündung, alles ist ein endloser, unergründlicher Urwaldsumpf, in dem sich die Tierwelt der malaiischen Inseln noch in ihrer ganzen Ursprünglichkeit zeigt, außer Raubtieren aller Art sind also auch noch Rhinozerosse und Elefanten in Menge vorhanden, und wohl nie werden sie von der Donnerbüchse belästigt werden.
Etwa sechzehn geographische Meilen vom Meere entfernt ändert sich die Gegend. Ein Gebirge tritt auf, der Strom hat sich durch dasselbe einen Weg brechen müssen; zwischen den engen Felswänden eingekeilt, ist er sehr reißend, dann tut er einen gewaltigen Sturz und beginnt den trägen, sumpfigen Unterlauf.
Doch so weit sind wir noch nicht.
Nur eine halbe Tagereise von der Mündung entfernt lag am Ufer, zwischen herabhängenden Mangrovezweigen unsichtbar versteckt, ein Boot, in dem sich sechs Männer befanden.
Fünf von ihnen waren Chinesen, und von diesen wiederum wollen wir nur einen hervorheben: Lunysang, den Schiffszimmermann von der ›Wetterhexe‹.
Der kleine, nur aus Haut, Knochen und Sehnen bestehende Kerl war ein echter Chinese mit langem Zopf geblieben, obgleich er als Seemann schon weit in der Welt herumgekommen war, meistenteils auf englischen Schiffen, aber auch auf deutschen war er gefahren, infolgedessen sprach er das Hamburger Platt, sogar den Berliner Jargon beherrschte er, und sein Lieblingsausdruck war: ›Nich in de Diete‹.
Wir heben ihn deshalb hervor, weil ihn Nobody bei dieser Expedition als seinen Kameraden betrachtete, den er in seine Pläne einweihte, mit dem er sich beriet.
Schon tags zuvor war das Boot, früh von der ›Wetterhexe‹ dicht vor der Mündung ausgesetzt, in den Strom eingesteuert, gegen Mittag hatte Nobody hier dieses Versteck gewählt, von dem aus er den Strom nach allen Seiten weit überblicken konnte, ohne durch eine Krümmung daran gehindert zu werden.
Die ›Darromaih‹ war selbstverständlich noch nicht dagewesen. Aber sie würde kommen, darüber hatte man sich zur Genüge orientiert. Die ›Wetterhexe‹ hatte Batavia einen Tag eher verlassen, und diesem Torpedojäger gegenüber war die Kriegsmacht Seiner Majestät doch nur eine Schnecke! Und ebenso selbstverständlich würde die ›Darromaih‹ die ›Wetterhexe‹ auch nicht hier vor der Mündung liegend finden, überhaupt nicht erblicken – bis es Zeit dazu war.
Durch die persönliche Ankunft seines Freundes mit Schiff und Mannschaft hatte sich also Nobodys ursprünglicher Plan geändert. Zuerst hatte er, hier auf der Lauer liegend, den Transport der Chattos nur abfangen, diese würgenden Teufel nur unschädlich machen wollen, was er, wie er gesagt, als eine heilige Pflicht betrachtete, die er der Menschheit schuldig war.
Jetzt wurde das anders. Die Ruderer mochten und sollten mit ihren Affen das Versteck ruhig passieren, sie mochten sich ruhig an Bord der ›Darromaih‹ begeben, das wurde ja eben beabsichtigt – denn dann würde die ›Wetterhexe‹ auftauchen und dem Fegefeuer auf der Spur bleiben, ihm die Hölle heiß machen, das war Flederwischs Sache.
Aber passieren mußte das Boot erst dieses Versteck. Denn sonst wäre Nobody ihm doch begegnet. Dann hätte er es auch gleich abfangen können – dann aber hätte er erst noch einmal umkehren müssen. So war dies alles gar nicht mehr nötig.
Es war eine böse Nacht gewesen, hier in dem Sumpfe zwischen den undurchdringlichen Büschen. Gegen die Moskitos konnte man sich durch Einreibungen schützen, vor der dunstigen Schwüle, die einem den Atem raubte, durch nichts. Ständig prüfte Nobody die Pulse seiner Begleiter und verabreichte von Zeit zu Zeit Chinin. Noch war nichts von Fieber zu merken. Die Chinesen schienen wirklich fieberfest zu sein, und Nobody selbst hatte allen Warnungen seines Freundes kein Gehör geschenkt. Entweder – oder! Wenn er nicht fähig war, überall auf der Erde zu existieren, wohin sein Fuß dringen konnte, dann wollte er lieber gar nicht mehr existieren. Selbst vor dem tödlichen Fieber wich dieser Mann nicht zurück.
So verging auch der Morgen. Am Mittag kochten die Chinesen auf dem Spiritusapparat Reis, getrocknete Fische und Tee, Nobody braute soeben wieder ein Chinintränklein, als der Chinese, der ständig zwischen den Zweigen hindurch den Strom beobachten mußte, flüsterte:
»Die Ludel kommen.«
Er meinte nicht Luder, sondern Ruderer.
Im Nu war alles beseitigt, was auch nur durch Geruch die Bereitung des Mittagessens hätte verraten können, alles spähte.
Ja, das Boot kam. Eben war es um die waldige Krümmung gebogen. Es war noch sehr weit entfernt, vorläufig sah man nur die Ruder sich bewegen.
»Stimmt,« sagte Nobody, »erst bei Anbruch der Nacht können sie die Mündung erreichen, dann liegt die ›Darromaih‹ auch ganz bestimmt dort, der Geisterkönig ist doch jedenfalls rechtzeitig durch Taubenpost benachrichtigt worden, eher hat er also das Boot nicht abgeschickt, und auf Flederwisch kann ich mich verlassen. – Teufel,« setzte er erstaunt hinzu, »so viele hätte ich nicht vermutet!«
Schnell kam das große Boot näher, jetzt konnte man die Insassen zählen. Es waren acht Ruderer, ein Steuermann und zwei andere, welche im Gegensatz zu den nackten Kulis – aber ausschließlich Malaien – in weiße Gewänder gehüllt waren. Der eine hatte einen weißen Bart.
In dem Boote befanden sich offenbar mehrere Käfige, aus Bambus oder vielleicht auch aus Eisenstangen. Man sah nur ihren oberen Teil, und das Boot hielt sich auf der anderen Seite des sehr breiten Stromes. Natürlich waren die Gibbons in diesen Käfigen.
Das Boot verschwand stromabwärts hinter dem Walde.
»Vorwärts,« kommandierte Nobody, »der Weg zur Geisterburg ist frei! Euer Essen könnt ihr unterwegs ...«
»St, noch ein Boot!«
Ein zweites, noch viel größeres Boot tauchte hinter der Waldkrümmung auf. Außer acht nackten Ruderern war es mit einer ganzen Menge von zum größten Teil älteren Malaien besetzt, alle gut nach orientalischer Art gekleidet, einen sehr würdevollen Eindruck machend. Außerdem waren in dem sehr großen Boote noch viele Kisten, Kästen, Körbe und Packe untergebracht.
»Was ist denn das?!« stieß Nobody hervor. »Die ganze Geisterburg hält wohl ihren Auszug?«
»Wieviel Menschen sollte sie beherbergen?« fragte Lunysang.
»Makeijo spricht von 31, die zu seiner Zeit in Timukai waren – und der Geisterkönig noch extra.«
»Das hier sind 18 – im ersten waren 11 – sind zusammen 29 – dann fehlten also bloß noch 2 Personen.«
Mit zornigen Augen blickte Nobody nach dem vorüberschießenden Boote.
»Verflucht,« murmelte er, »wenn ich zu spät gekommen wäre, wenn die jetzt wirklich auswanderten ...«
Plötzlich hielt seine Hand einen großen Bogen, kunstvoll aus schwarzem Holz geschnitzt, in der anderen Hand hatte er einen langen Pfeil mit auffallend kleiner Stahlspitze.
»Master, Ihr wollt doch nicht?!« flüsterte Lunysang erschrocken. »Nich in de Diete!«
»St, ein drittes Boot!« meldete der stromaufwärts spähende Chinese.
Es war ein sehr kleines Boot, nur von zwei Kulis gerudert.
Nobody blickte stromabwärts – das zweite Boot war schon verschwunden.
»Wahrhaftig, die beiden letzten!« zischte er zwischen den Zähnen. »Dann wollen sich auch alle an Bord der Darromaih begeben, dann natürlich auch der Dahuradscha selbst. – Schnell, das sind die beiden letzten, die dürfen uns nicht entgehen, Bogen und Pfeile zur Hand, ihr zielt nach dem letzten Ruderer, ich nehme allein den ersten auf mich! Verstanden?«
Fünf andere Bogen und Pfeile kamen zum Vorschein, mit jenen winzigen Spitzen versehen, die nicht einmal einem Sperling lebensgefährlich werden konnten. Diese Pfeile hatten auch einen ganz anderen Zweck, als einem Menschen das Lebenslicht auszublasen, gerade das Gegenteil bezweckten sie, sie sollten ihm keine gefährliche Verwundung beibringen, die Spitzen waren sogar noch mit einer Schutzvorrichtung versehen.
Es war ein gefährliches Abenteuer, in welches Nobody sich eingelassen hatte, und dem er seine Begleiter aussetzte.
Die Atschinesen, mit denen Holland ständig Krieg zu führen hat, bedienen sich ja auch durchweg vergifteter Pfeile. Aber deren Wirkung ist doch nicht absolut tödlich. Den darüber belehrten Soldaten gelingt es fast immer, sich noch zu retten, vorausgesetzt, daß sie den Mut und die Energie haben, sich selbst der Kur schleunigst zu unterziehen, wobei Messer und Feuerschwamm tüchtig arbeiten müssen.
Ganz anders hier. Die Genossen des Dahuradschas besaßen ein Gift, welches bei der kleinsten Verwundung augenblicklich tötete! Da hieß es auf der Hut sein, jedem Pfeilschuß und Dolchstich zuvorkommen!
Schließlich ist eine Büchsenkugel doch noch besser als ein vergifteter Pfeil. Aber ein Gewehr knallt.
Auch Nobody war im Besitze eines Fläschchens Torakli, eines braunen Saftes, an dessen Existenz er bisher gezweifelt hatte. Nicht der Begumin, einem anderen vornehmen Malaien hatte er es in der Hypnose abgenommen.
Aber das Fläschchen Gift genügte ihm noch nicht, das Rezept mußte er haben, das wollte er dem ›Geisterkönig‹ mit List oder mit Gewalt abnehmen, so wie das segenbringende Rezept zu dem unfehlbaren Fiebermittel, das war der Hauptzweck dieser seiner Expedition.
Und das Torakli, welches er bei sich hatte, tötete augenblicklich. Damit aber war ihm gar nicht gedient. Nobody war gar nicht so sehr fürs Morden eingenommen. Er hielt's lieber mit den lebendigen Menschen. Lebende können mehr erzählen als Tote.
Nobody hatte schon immer einen Saft zu brauen verstanden, welcher, ins Blut gebracht, nicht tötete, sondern nur eine Erstarrung, eine Betäubung hervorrief, und das im Moment.
Nicht sehr häufig bediente sich der Detektiv dieses Mittels. Unter vier Augen, sozusagen für den Hausbedarf gebrauchte er immer nur den Knöchel seines rechten Mittelfingers. Ein kleiner Schlag gegen die Schläfe – das genügte vollkommen, um die momentane Betäubung hervorzurufen.
Hier aber wäre es damit nichts gewesen, hier mußte er einmal sein Morphium anwenden.
»Wenn ihr nicht trefft,« warnte er, »und er ruft um Hilfe, dann ist alles verloren!«
»Nich in de Diete!« versicherte der chinesische Schiffszimmermann vergnügt.
Sie stellten sich in Position, die auf den Bogen liegenden Pfeile lugten zwischen den Zweigen hervor. Das Boot, sich mehr in der Mitte des Stromes haltend, kam heran, von den beiden Kulis hastig gerudert.
»Aufgepaßt!« flüsterte Nobody. »Eins – zwei – drei!«
Gleichzeitig schwirrten sechs befiederte Pfeile ab, fünf trafen den hintersten Mann an verschiedenen Stellen des Körpers, Nobody sah den seinen einen Augenblick an dem nackten Arme des ersten Ruderers haften – und fast in demselben Moment ließen die beiden Kulis ihre Ruder fallen und sanken auf den Boden des Nachens nieder.
Jetzt schoß das Boot hinter der Mangrove hervor. Die Insassen sammelten schnell die Pfeile auf, welche, da die kleinen Spitzen nicht einmal im Fleische haften blieben, zum größten Teil ins Wasser gefallen waren, bemächtigten sich des treibenden Bootes und kehrten mit ihm in das Versteck zurück.
Zuerst beschäftigte sich Nobody mit dem von seinem Pfeile getroffenen Malaien, der mit geschlossenen Augen dalag, ruhig atmend, ganz wie ein Schlafender. Er zog aus seiner Brusttasche ein Kristallfläschchen und flößte dem Manne mit einem Teelöffel einige Tropfen der wasserhellen Flüssigkeit ein, ihn durch Zuhalten der Nase zum Schlucken zwingend.
Bald schlug der Malaie die Augen wieder auf, mit stieren Blicken betrachtete er die fremden Menschen. Er mochte wohl glauben, daß er beim Rudern eingeschlafen sei und jetzt nur träume.
Nobody ließ ihm nicht lange Zeit, ein Blick, die Augen verdrehten sich nach oben – ein Griff in den Nacken, und sie kehrten in ihre natürliche Lage zurück.
»Wie heißt du?«
»Pego.«
»Ich bin dein Herr, Pego, du hast mir zu gehorchen und alles der Wahrheit gemäß zu beantworten, was ich dich frage!«
»Ich gehorche, Sahib,« antwortete der Hypnotisierte demütig.
Und Nobody erfuhr alles, was der Malaie ihm sagen konnte. Freilich war es nur ein Diener, und in Timukai ging es gar geheim zu. Dieser Arbeiter hatte den Geisterkönig, d. h. den Radscha von Banca, seitdem sich dieser als Dahuradscha in die Sümpfe zurückgezogen hatte, niemals wieder zu sehen bekommen.
Es war eine Tatsache. Sämtliche bisherige Bewohner des Tafelberges hatten diesen verlassen, um nie wieder dahin zurückzukehren, auf Befehl des Dahuradschas, nur unter Mitnahme dessen, was ihnen der Geisterkönig mitzunehmen erlaubt hatte, und dann hauptsächlich unter Mitnahme der neun ›Chattos‹, der abgerichteten Gibbons, und mehr als neun waren auf und in dem Tafelberg nicht vorhanden gewesen.
»Wo ist der Dahuradscha?«
»In Timukai.«
»Er ist also zurückgeblieben?«
»Wo soll er anders sein als im Ghullaton, im Geistergebiet?« fragte der Malaie entgegen.
»Was macht er jetzt in Timukai?«
Nobody fand es erklärlich, daß der Malaie auf diese Frage gar keine Antwort wußte, beim besten Willen nicht. Wie kann ein Mensch wissen, was ein Geist treibt? Das hatte der Malaie auch schon in seiner letzten Antwort ausgedrückt.
»Die Fortgefahrenen kehren nicht wieder zurück?«
»Nein.«
»Aber andere werden zum Dahuradscha gehen, es werden andere in die Sümpfe geschickt.«
»Nein. Der Dahuradscha will von jetzt allein sein.«
»Hm,« brummte Lunysang dazwischen, »daß der alte Mann ganz allein in der Wildnis zurückgeblieben ist, kommt mir sehr unglaubhaft vor, das will nicht in meinen Kopf, nich mal in de Diete.«
»Aber ich finde es ganz glaubwürdig, und ich will dir dann erklären, warum,« entgegnete Nobody. »Pego, wer sind die anderen, welche dem Radscha von Banca Gesellschaft leisteten oder ihn bedienten?«
Außer Dienernamen bekam Nobody einige hochklingende Titel zu hören, selbst Radschas waren dabei, welche damals dem Fürsten von Banca in die freiwillige Verbannung gefolgt waren.
Jetzt aber hatten sie ihn sämtlich verlassen, auf seinen eigenen Befehl. Sie brachten die neun Chattos an Bord der ›Darromaih‹, welche an der Flußmündung auf sie wartete, fuhren nach Batavia, begaben sich an den Hof des Maharadschas von Pandang, um dort für immer zu bleiben. Oder sie betätigten sich mit daran, die würgenden Chattos auf Java zu verteilen.
Mehr wußte der Kuli nicht zu sagen, wenigstens nicht über diese Sache, und es war auch schon genug gewesen.
Weiter erfuhr Nobody, daß auch dieser Mann das Torakli kenne – er hatte selbst einen vergifteten Dolch bei sich wie der andere, Nobody nahm die furchtbaren Waffen an sich – aber das Rezept kannte er natürlich nicht, und ebensowenig wußte er, ob es die abgefahrenen Radschas besäßen. Dasselbe galt von dem Fiebermittel, von dem die Bewohner des Inselberges jeden Tag etwas einbekommen hatten, und niemals sei ein Fieberfall vorgekommen. Jeder Mann habe bei der Abfahrt eine kleine Portion erhalten, die letzte Dosis hätten sie vorhin eingenommen. Es sei ein schwarzes Pulver gewesen.
Nobody hypnotisierte auch den anderen Malaien, zu dessen Erweckung er längere Zeit gebrauchte – er erfuhr nichts anderes hinzu.
»Jetzt ist guter Rat teuer,« murmelte Nobody, als er sich aufrichtete. »Wohin nun? Stromauf oder stromab?«
Bald hatte er seine Kalkulation fertig, und zugleich gab er dem Zimmermann auch die verheißene Erklärung:
»Der Radscha von Banca ist ein Malaie, der dem Indier sehr ähnelt, und ich kenne den Charakter des Indiers wie den meinen. Der Radscha muß ein schon sehr alter Mann sein. Er ist kein Geist, sondern ein Mensch, er muß einmal sterben. Aber er hat die Rolle eines Geisterkönigs spielen wollen, noch nach seinem Tode will er den Nimbus behalten. Wenn er sich dem Tode nahe fühlt, schickt er alle Menschen von sich. Keiner soll ihn sterben sehen. Keiner soll auch nur seine Gebeine finden. Der Radscha von Banca ist unsterblich. Verstehst du, Lunysang? Vorwärts, nach Timukai! Und die anderen mit den Affen fallen Flederwisch in die Hände.«
Die beiden Kulis wurden gebunden, und weiter ging es stromaufwärts, trotz der furchtbaren Glut, und während des Ruderns mußte gegessen werden.
Noch eine Nacht kam dazwischen, in welcher die beiden Malaien heftig am Fieber erkrankten, während die Chinesen wie Nobody noch immer davon verschont blieben, dann noch einige Stunden Ruderns, der Urwald trat zurück, die Ufer wurden felsig und hoch, das Brausen eines Wasserfalls drang an ihr Ohr, und noch ehe sie diesen selbst erblickten, tauchte vor ihnen, sich aus dem Strome erhebend, ein abgeplatteter Felsenberg auf, von schäumenden Wasserfluten umspült.
Hier gab es keinen geheimnisvollen Eingang; dort, wo das Wasser ruhig war, führte eine eiserne Leiter in eine Oeffnung, wie solche der massive Felsen, der von der waschenden Kraft des Wassers stehen gelassen worden war, zahllose aufwies, und Nobody gebrauchte nicht die geringste Vorsicht, er glaubte dem, was er gehört und sich selbst kombiniert hatte, er ließ direkt anlegen, das Boot an einen der dazu eingelassenen Ringe binden, und nur, als er die Leiter hinaufgeklettert war und den Eingang betrat, zog er den vergifteten Dolch.
Wenn nicht Menschen und Affen, so konnten doch abgerichtete Raubtiere zum Schutze des Dahuradschas zurückgelassen sein, auch wenn die beiden Malaien nichts davon wußten.
Aber nichts zeigte sich, kein lebendes Wesen.
Der mächtige Felsen war stark ausgewaschen, in den natürlichen Höhlen war nur wenig mit dem Meißel nachgeholfen worden, desto mehr Treppen hatte dieser herstellen müssen.
Es sah wie in einem ausgeräumten Hause aus. Nur Decken und Bastmatten lagen umher, hier war die Küche gewesen, hier eine Schmiede, die Eisenstangen konnten wohl nur durch Vermittlung der Darromaih hierhergekommen sein, in diesen schmutzigen Räumen hatten offenbar die Affen gehaust, hier flatterten noch die Tauben durch die Löcher, in diesem großen Raume waren Steinsitze in die Wände gemeißelt, das war jedenfalls der Beratungssaal gewesen, hier ...
Nobodys Fuß stockte. Nein, er prallte zurück. Er hatte es ja erwartet, und doch war er furchtbar erschrocken.
In der Mitte der kleinen, sonst vollständig nackten Felsenkammer saß, in ein weißes Gewand gekleidet, auf einem Lehnstuhl von Bambusrohr, ein alter Mann mit langem weißen Bart und hageren, eingefallenen Zügen, schon mehr ein Totenschädel.
Er saß da, die Arme auf die Lehne gelegt, so ruhig, als hätte er diesen Besuch erwartet. Aber tot war er nicht, die Augen lebten.
»Wer bist du?« fragte er ganz gelassen, nur mit etwas röchelnder Stimme.
Schnell hatte sich Nobody zusammengerafft.
»Ich bin ein Reisender und ...«
»Du bist ein dem Tode verfallener Mensch,« wurde er von der röchelnden Stimme unterbrochen.
Nobody trat respektvoll einen Schritt näher.
»Radscha von Banca!«
»Hast du mich gesucht? Dann hast du mich gefunden. Aber du wirst es keinem anderen erzählen können, wie du den Radscha von Banca hast sterben sehen, denn noch niemand ist lebendig aus diesen Fiebersümpfen herausgekommen.«
Da erkannte Nobody, daß der uralte Mann ja in den letzten Zügen lag. Er stürzte auf ihn zu.
»Radscha von Banca, nenne mir das Fiebermittel ...«
»Rühre mich nicht an, weißer Hund!« schrie ihn die röchelnde Stimme mit letzter Kraft an.
Nobody erkannte, daß dieses brechende Auge nicht mehr hypnotisiert werden konnte, er hätte es auch bei einem Sterbenden niemals versucht, und außerdem hatte Nobody in dieser letzten Nacht etwas bemerkt, was ihm alle Lust benahm, weiter nach dem Rezept zu dem Fiebermittel zu forschen.
Der Greis hatte allein sterben wollen, er sollte seinen letzten Willen haben. Nobody verließ ihn.
Unten wurde er gerufen. Die beiden Malaien ließen sich im Delirium kaum noch bändigen. Sie quälten sich fürchterlich im Sterben, rangen mit Gespenstern und Ungetümen, und ebenso entsetzlich war auch ihr Aussehen.
Nobody hatte schon viele Menschen am Fieber sterben sehen, aber solch ein Leiden, solch ein fürchterliches Delirium noch nicht, und das war es, was er schon in der letzten Nacht erkannt hatte: Diese beiden Malaien hatten nicht mehr ihre regelmäßige Dosis jenes Mittels bekommen, und nun trat das Fieber erst recht auf! Es war ein direktes Gift, an das man sich nur gewöhnen kann, so wie an das Arsenikessen, und man wird dick und kräftig dabei – aber sobald man kein Arsenik mehr hat, klappt man zusammen. Ein Segen der Menschheit konnte das also wohl nicht genannt werden.
Aber auch der eine Chinese klagte schon über Kopfschmerzen, ein anderer begann sogar schon mit den Zähnen zu klappern. Es war die höchste Zeit, von hier fortzukommen, hatte man doch auch noch Kraft für zwei Tage nötig, ehe man die Flußmündung wieder erreichte.
Nobody sah nur noch einmal nach den Brieftauben, er suchte nach Botschaften. Nichts war zu finden. Die Tierchen würden schnell verwildern.
Der Radscha war bereits tot. Nobody ließ ihn sitzen, wie er saß. Er hatte es ja so gewollt.
Fort von hier! Die sterbenden Malaien wurden ins Boot gelegt. Lunysang hatte zwar etwas von ›nich in de Diete‹ gemurrt, aber Nobody bestand darauf, sie wurden mitgenommen. Als sie starben, wurden ihre Leichen freilich in den Strom geworfen, den Krokodilen zum Fraß, und das konnte den Toten nur angenehm sein. Denn durch Magen und Darm eines heiligen Krokodils geht's direkt ins Paradies.
Einer nach dem anderen der Chinesen ließ kraftlos das Ruder sinken, vom Fieber befallen; zuletzt ruderte nur Nobody noch, und das mit Macht. Doch bei den Chinesen war dies der erste Anfall von Malaria, und wenn sie noch rechtzeitig das offene Meer erreichten, so waren sie gerettet, sie würden auch später keine Folgen davon haben.
Es war am Abend des zweiten Tages der Ruderfahrt, die Nacht brach an, als das Boot die waldige Küste hinter sich bekam, die den unerbittlichen Tod beherbergte. Nobody brauchte nicht zu grübeln, wie er jetzt mit den fünf kranken Chinesen im Boot über die Sundastraße kommen sollte; denn dort in der Nacht leuchtete die Topplaterne eines Dampfers, und darüber noch ein blaues Licht – es war die ›Wetterhexe‹!
Wie kam die jetzt hierher? Folgte sie denn der ›Darromaih‹ nicht? Oder hatte sie die Jacht schon gekapert?
Nobody mußte es ja gleich erfahren. Er hatte Raketen bei sich. Nachdem er kurz hintereinander zwei hatte steigen lassen, näherten sich ihm die Lichter, bald lag das Boot längsseits der eisernen Schiffsplanken.
Zähneklappernd kletterten die Chinesen am Fallreep empor, einer mußte hinaufgehievt werden, und Nobody stand vor Kapitän Flederwisch.
»Nun? Wo ist die Jacht?«
»Die ›Darromaih‹ ...« Flederwisch machte eine kleine Pause, er mochte etwas nicht aussprechen, hob die Schultern, stieß einen langen Pfiff aus und fuhr dabei mit den schnalzenden Fingern durch die Luft.
Und Nobody verstand.
»Hat sich selbst in die Luft gesprengt?«
»Ja, Alfred. Ich habe getan, was ich konnte – es war ein Fehler, daß wir gerade die ›Wetterhexe‹ benutzten, ursprünglich ein Torpedojäger, ein Kriegsschiff.«
»Erzähle!«
»Die am Lande verborgenen Kundschafter beobachteten, wie die pünktlich angekommene ›Darromaih‹ in der Nacht Menschen an Bord nahm, welche in Booten den Strom herabgekommen waren, aber in zwei Booten, nicht nur in einem, wie du meintest ...«
»Ich weiß es. Weiter!«
»Ich erhielt das Zeichen, nahm die Kundschafter wieder an Bord. Kurz vor Sonnenaufgang lichtete die Jacht die Anker und nahm südlichen Kurs. Ich dampfte ihr nach. Als es hell wurde, erblickte man mich. Ich ließ die Dampfpumpe mit kochendem Wasser in Bereitschaft setzen, von wegen der Bogenschützen mit vergifteten Pfeilen. Ich hielt auf sie zu, zeigte meine Flagge. Aber das Signal zu geben, die Segel zu streichen, dazu kam ich gar nicht erst. Gleich beim Anblick der Torpedozigarre brach eine heillose Verwirrung an Bord aus. Die mußten ein furchtbar böses Gewissen haben. Und was sollte dieses Panzerfahrzeug anderes sein als ein englisches Kriegsschiff, das auf Sklavenjäger pirscht? Wie kamen wir gerade hierher? Als bei mir die erste Signalflagge hoch ging, erfolgte drüben ein Blitz, ein Knall – vorbei war alles.«
Nobodys Züge hatten etwas Eisernes angenommen.
»Nichts aufgefischt?«
»Lebendig nicht – alles tot – mausetot.«
Langsam drehte sich Nobody um, sein Fuß stampfte heftig das Deck, er stieß etwas zwischen den Zähnen hervor. Doch gleich darauf war er wieder ganz heiter.
»Famos! Jetzt ist auch das Rezept des Torakli mit zur Hölle gefahren, wohin es gehört!«
»Aber einen lebendigen Gibbon haben wir aufgefischt.«
»Und das sagst du mir erst jetzt?!«
Sie begaben sich hinab. Wieder eine Enttäuschung! Der ängstlich in seinem Käfig kauernde Menschenaffe hatte auf seinen langen Fingern noch keine eisernen Krallen. Diese sollten wahrscheinlich erst am Hofe des Maharadschas darangeschmiedet werden, die sachverständigen Wärter hatten die Tiere ja begleitet.
Und immer noch eine Hiobsbotschaft kam.
»Du, Alfred – der Hypnotisierte ist auch tot. Heute früh sah er mir so eigentümlich aus, ich greife ihn an – richtig, der Kerl ist tot und singt nicht mehr. Ich habe ihn ganz streng nach deiner Vorschrift behandelt, mache mir keine Vorwürfe ...«
»I wo! Recht so! Immer fort damit, alles muß zur Hölle fahren!«
Nobody begab sich gar nicht erst wieder nach Batavia zurück. Die ›Wetterhexe‹ brachte ihn nach Singapore, von dort benutzte er einen holländischen Passagierdampfer nach Amsterdam. Unterwegs starb ihm auch noch der mitgenommene Gibbon an Lungenentzündung.
Das erste, was Nobody in Amsterdam hörte, war, daß der Maharadscha von Pandang am Bisse einer Giftschlange gestorben sei. Am Bisse einer Giftschlange? Nobody zweifelte daran.
Dann hielt Nobody im geheimen Ministerrat einen Vortrag. Es wäre nicht nötig gewesen, daß er die abgeschlagene Affenhand mit den aufgeschmiedeten Eisenkrallen vorwies. Das hätte er ja schließlich selbst fertigen können.
Nein, wenn dieser Mann sprach, wenn man ihn sprechen hörte, verstummte regelmäßig auch der größte Zweifler. Die Ueberzeugungskraft lag allein schon in seiner ganzen Person.
Aber es geschah, wie er es vorausgesehen hatte. Man bat ihn, zu schweigen. Um Gottes willen, was sollte denn da aus den Kolonien werden, wenn das an die Oeffentlichkeit kam! Was er außer seinen Kosten für Schweigegeld fordere. Nobody verpflichtete sich nur zu zehn Jahren, auf etwas anderes ließ er sich nicht ein, stellte die Alternative und forderte keine geringe Summe. Er erhielt sie, vermachte sie einer Unterstützungskasse für Witwen und Waisen von verunglückten Seeleuten.
Professor Berneveld, der die Augenoperation glücklich überstanden, schrieb nach Fort Tjibodas, ließ sich ›seine‹ Koffer schicken. Eine Erklärung, wie er aus dem Urwalde plötzlich wieder nach Amsterdam gekommen sei, gab er nicht, hatte es nicht nötig. So verlief alles im Sande.
Und eines Tages sang und tanzte der ehrliche Paddy im Bureau seinem Chef etwas vor:
»Papa, Mama,
Der Nobody ist da,
Schrum widebum widebum!«
»Nobody!« rief Mr. World erfreut. »Wo haben Sie denn so lange gesteckt?!«
Nobody schob den Bureaudiener zur Tür hinaus, und jetzt fing auch er zu singen und zu tanzen an:
»Papa, Mama,
Ich war in Batavia,
Schrum widebum widebum,
Juchheirassassassa!«
»Was haben Sie denn da gemacht?«
»Hier, lesen Sie!«
»Famos!« rief Mr. World, als er das Manuskript gelesen hatte. »Wirklich famos!! Das bringt unserer Zeitung wieder einen Riesenerfolg. Nobody – ich möchte Ihnen so gern einmal eine Extragratifikation geben – Ihrer würdig ... hier haben Sie eine Zigarre.«
Doch von den würgenden Chattos war in dieser Erzählung nichts enthalten. Orang-Utans hatten eine weiße Frau geraubt, sie in ihr Familienleben auf den Bäumen aufgenommen, Nobody hatte sie unter haarsträubenden Abenteuern befreit. Das glaubten die amerikanischen Leser. Das mit den würgenden Gibbons hätten sie nicht geglaubt, nicht einmal, daß es Affen gibt, welche singen können.
Wir aber erzählen nach Nobodys Tagebuch!
Nobody war mit seinem Erfolg zufrieden, war mit sich selbst zufrieden, und das ist doch die Hauptsache. Er war sich bewußt, der Menschheit einen großen Dienst erwiesen zu haben.
Das gespenstische Steinwerfen unterblieb einige Zeit, machte sich dann aber doch wieder bemerkbar. Noch heute werden auf Java die gespenstischen Steine geworfen. Die harmlosen ›Ghullas‹ leben also noch, von den würgenden Chattos aber hat man nie wieder etwas gehört.
Ein halbes Jahr später hörte Nobody, daß die Begumin im Kindbett gestorben sei, bejammert von dem Gatten, weil er die treueste Lebensgefährtin verloren habe.