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Erstes Kapitel

I

Sobald Krau nach dem vorzeitig und so turbulent beendeten Fest Gisela verlassen hatte und Blanche allein geblieben war, verständigte sie zuerst ihre Eltern, daß sie heute nicht nach Hause kommen werde. Sie war entschlossen, ihre Freundin nicht früher zu verlassen, als bis sie aufgewacht sei. Für die Tatsache, daß sie hier übernachten wollte, gab sie ihrer Mutter eine wahrheitsgemäße Begründung, indem sie von einer leichten Erkrankung Giselas sprach, wobei sie nur den kleinen Rest der Wahrheit über die Ursache dieser Unpäßlichkeit für sich behielt. Dann ging sie daran, sich für die Nacht einzurichten und den Raum der Situation anzupassen. Sie verstopfte die Eingangsglocke und stellte das Telephon ab, damit die Ruhe nicht gestört werde, schloß alle Türen, ließ die Rouleaus zwischen die Fenster fallen, zog die Gardinen vor und schob für sich selbst einen bequemen Großvaterstuhl, einen Schemel für die Füße und einen kleinen Tisch neben das Bett. Nun ließ sie sich nieder. Sich vorbeugend, stellte sie die Ellenbogen auf die Knie, stützte das Kinn auf die zu Fäusten geschlossenen Hände und betrachtete mit stillem Blick die Schlafende.

Gisela war bleich, die Lippen waren trotzig vorgeschoben, die Brauen zueinander gezogen und die Stirn wie drohend gerunzelt. Wie sie sich im ersten Augenblick auf ihre rechte Seite hatte fallen lassen und wie Blanche sie bis zum Hals zugedeckt hatte, so war sie geblieben. Unterm dünnen Flanellstoff zeichnete sich ihr Körper ab; die Knie waren nur ein wenig vorgeschoben, der linke Arm lief entlang ihrer Flanke abwärts, knickte sich im Ellenbogen und stieg wieder hinauf; die Hand war gegen's Herz gedrückt. Ihre Frisur war verwirrt, die um ihren Kopf gehenden Löckchen hatten ihre Regelmäßigkeit verloren und waren ineinandergeraten, ja, einzelne hatten sich gelöst, und die kurzen, hellblonden Strähnen lagen, aufgerollt und mit den dünnen Haarenden sich zart verzweigend, auf dem weißen Kissen.

Nachdem Blanche kurze Zeit gesessen hatte, erhob sie sich wieder, trug einen Hocker ans Kopfende des Bettes und ordnete auf ihm eine Wasserkaraffe und ein Glas an, eine Zigarettenschachtel und Giselas Feuerzeug, ihre Handtasche, die im allgemeinen Wirrwarr zu Boden gefallen und nun in einem Winkel des Zimmers zum Vorschein gekommen war, und ihre Uhr, die sie ihr beim Auskleiden vom Gelenk gestreift hatte.

Blanche kehrte an ihren Platz zurück, doch sie stand nochmals auf und eilte über den Hausflur, um nachzusehen, ob die Wohnungstür geschlossen sei, und sperrte sie ab. Als sie wieder saß, blieb sie still, die Augen wie früher auf Gisela richtend.

Auf dem Tisch neben ihr lag eine alte Zeitung. Sie war umgeschlagen, und auf der nach oben gekehrten Seite war ein kleiner Bericht über eine Gemäldeausstellung angestrichen, offenbar von Gisela, die ihn Blanche hatte zeigen wollen. Sie griff nach dem Blatt, las den kurzen Absatz und legte es wieder weg; dann ging sie in den Nebenraum, das eigentliche photographische Atelier, zog von dort mit vieler Mühe durch den ganzen Saal und durch die Tür eine hohe Stehlampe bis an ihren Sessel, stellte den Kontakt her und zündete sie an, nachdem sie die Deckenbeleuchtung ausgelöscht hatte, so daß nur der Umkreis ums Bett und um sie selbst erhellt war. Nun ließ sie sich abermals nieder und lehnte sich zurück. Die erste Viertelstunde der langen Nacht war vergangen.

Blanche ging nochmals ins Atelier, um nach Lektüre zu suchen, und fand eine heutige Zeitung. Sie wandte Seite um Seite, und ihre Blicke blieben auch da und dort haften, doch meistens nur auf einer Überschrift, und folgten selten dem Text. Schließlich fielen die Blätter auf ihre Knie, und sie schaute wieder auf Gisela, die unbewegt lag und deren Kopf wie bei einem Läufer ein wenig zurückgeworfen, doch zugleich gegen den seitlich ausgestreckten Arm gepreßt war. Ihre Lider waren über den Augen nicht gesenkt, sondern zugekniffen. In ihren Zügen war Verbissenheit, doch wer hätte in sie eindringen können, um zu beurteilen, ob es noch immer der Grimm der letzten Stunden war, der so zum Vorschein kam, oder die Leidenschaft, mit der sie sich jetzt ihrem Schlaf hingab. In ihre Gedanken versunken, sah Blanche unverwandt auf ihre Freundin, und unter dem langen Schauen erstarrten ihre Blicke, so daß sie das Bild, das sich ihr bot, offenbar gar nicht näher ins Bewußtsein nahm, und auch ihre Gedanken mochten längst von Gisela abgewichen sein. So verging viel Zeit.

Der Abend war längst in tiefe Nacht übergegangen, das Haus war zur Ruhe gekommen. In allen Wohnungen, durch alle Stockwerke hindurch, schienen die Menschen, wie in Fächer abgelegt, in ihren Betten zu liegen. Nur hie und da wurde das Schweigen von der Straße her gewalttätig durchbrochen, wenn sich ein in dieser unbelebten Nebengasse schnellfahrender Wagen mit rasch anwachsendem Lärm näherte und vorüberbrauste; er verschwand, kaum daß er gekommen war, hinter einer Ecke oder verhallte in der Ferne, und die Stille schloß sich wieder wie eine glatte Wasserfläche über dem hineingeworfenen Stein. Die ersten Male hatte Blanche ängstlich aufgeschaut, denn sie hatte gefürchtet, daß Gisela durch den plötzlich heraufdringenden Lärm aufgeschreckt werden könnte; inzwischen aber hatte sie erkannt, daß die Schlafende weder durch diese aus der Entfernung kommenden, noch auch durch die kleinen Geräusche in ihrer unmittelbaren Umgebung geweckt wurde, wie sie mit dem Knarren eines Sessels oder durch das Blättern der Zeitung entstehen mochten, und so bewegte sie sich denn, in die Situation eingewöhnt, ein wenig freier und nicht mehr mit jener übertriebenen Ängstlichkeit, als ob Giselas Schlummer schon durch einen Katzenschritt gestört werden könnte. Im Gegenteil, bei der Beharrlichkeit, mit der sie unverändert und, wie es schien, unveränderlich lag, mußte man glauben, daß auch ein neben ihr fauchender und losbrüllender Löwe sie nicht geweckt hätte, und selbst wenn er sie gefressen hätte, wäre sie wahrscheinlich, in ihrem tiefen Schlaf begraben, ohne Schmerz zu empfinden, aufgefressen worden.

So fand Blanche die Gelassenheit, die Zeitung zu lesen, nun las sie aber auch alles von der ersten bis zur letzten Seite, die Telegramme, die Artikel, das Feuilleton und die Berichte aus aller Welt, auch die Sport- und Wirtschaftsmeldungen, die Nachrichten über das Vorbereitungstraining eines amerikanischen Boxers und über den Verlauf einer Verwaltungsratssitzung, die Inserate einer Automobil-Werkstätte und eines Witwers, der eine Frau mit gutem Herzen suchte, die noch wahrhaft lieben könnte. Als sie nichts mehr fand, ließ sie die Hand mit den Blättern sinken, und die Müdigkeit kam über sie. Immer wieder schlossen sich für Sekunden ihre Lider. So stand sie auf, ging in die Wohnung hinüber, aß einige Bissen und kochte starken Kaffee. Nachdem sie getrunken hatte, war sie erfrischt. Sie setzte sich kräftiger nieder, lehnte sich entschlossen zurück, und so blieb sie, mit immer offenen und auf denselben Punkt gerichteten Augen, reglos wie die Schlafende. Lange Zeit verstrich. Wer weiß es, was in diesen Stunden durch ihren Kopf ging, welche Phantasien, Träume und Gedanken! Die Nacht schritt vorwärts.

Endlich rührte sich Blanche und sah auf die Uhr. Sie erhob sich, um ihre Glieder und Muskeln wieder in Fluß zu bringen, und tat einige Schritte auf und ab; plötzlich aber hob sie mit schneller, mechanischer Bewegung ihre Hand und griff nach der Brust, als ob sie dort von irgend etwas belästigt worden wäre; tatsächlich, dort war unterm Kleid jenes alte Kuvert versteckt, in das sie die Tabletten geschüttet hatte. Sie langte hin und zog es hervor. Ihre Handtasche lag neben ihr, sie öffnete sie und ließ sie fallen. Dann setzte sie sich wieder und blieb lange still.

Die elektrischen Bahnen hatten längst aufgehört, zu verkehren, die Wagen fuhren seltener, die Nacht war in ihr tiefstes Schweigen verfallen; aber unten erschienen um eine Ecke klappernde Schritte, wie die von Schuhen mit hohen, schmalen Absätzen. Ihre Schnelligkeit und Hast enthielt Eile und Furcht, die unbeholfene Kürze aber, mit der sie vorwärtstrippelten, ließ ahnen, daß die Beine von einem engen Rock behindert wurden. Es war offenbar eine Frau, die aus irgendeinem Grund den Wagen nicht vor ihrem Haus hatte vorfahren oder sich von einem Mann nicht bis zum Tor hatte begleiten lassen wollen und nun in der menschenleeren Gasse entlang der Häuserfront ängstlich dahinlief. Blanche horchte hinunter. Die Schritte waren verklungen, und die Ruhe kehrte zurück.

Alles war in den Mantel der Nacht gehüllt, das Seiende und das Kommende, und sein Faltenwurf verriet nicht, was er barg. Die einzigen Zeichen, daß sich das Leben weiterwirkte und -spann, war die leichte Röte, mit der sich allmählich Giselas Wangen färbten, und die gedankenversunkene Miene Blanches, ihr vor sich hinstarrender Blick, der die Arbeit ihres Gehirns verriet.

Blanche hatte aus Giselas Bibliothek einige Bücher mitgebracht und nahm nun eines zur Hand; doch sie legte es wieder beiseite, dachte nach, und abermals verging ein Stück Zeit. Ihr kam der Gedanke, ins Atelier zu gehen; dort besah sie die Apparate und Lampen und in den Arbeitsräumen die ihr fremden Vorrichtungen. Dann kehrte sie zurück. Die Stunde rann dahin. Nochmals versuchte sie zu lesen, doch es wollte ihr nicht gelingen, die Sätze lösten sich in unzusammenhängende Worte auf, die Buchstaben wurden zu Hieroglyphen, und sie starrte nur noch auf die aufgeschlagene Seite; als sie aber die Augen erhob, fühlte sie sich irritiert – etwas war anders im Zimmer geworden. Sie wandte den Kopf zum Fenster, denn dorthin wurde ihr Blick gezogen. Das dünne grüne Rouleau war von einem Schein durchleuchtet und heller geworden, und in den beiden Streifen zwischen dem Stoff und dem Fensterrahmen stand das Licht. Gegen die Lampe allerdings kam es noch nicht auf. Blanche trat zum Fenster, schob den Vorhang zur Seite, zog das Rouleau um ein Stück in die Höhe und bückte sich mit seitwärts geneigtem Kopf, um hinaus und hinauf sehen zu können.

Über den starren Häusern und der unbewegten Luft war der Himmel in stiller Bleichheit matt erleuchtet. Das gräuliche Blau war durch kein Grau einer Wolke gestört. Ein Frühlingstag mit allem Glanz begann sich zu eröffnen. Das erste Aufschimmern hatte Blanche versäumt, nun blickte sie lange hinaus. Als sie sich wieder aufrichtete, zurückwandte und hin und her sah, in den hellen Lichtkreis um die Glühbirne, in die Finsternis im Hintergrund des Zimmers und in die kaum geahnte Dämmerung, die sich vom Fenster, leise vergehend, bis ans Bett erstreckte, hob sich wie unter einer Beklommenheit ihre Brust, und ihr Atem ging schwerer. Es war, als zöge an ihr die weichende Finsternis, als bedrängte sie das kommende Licht. Ihre Augen liefen ratlos durch den Raum. Schließlich trat sie ans Bett und sah auf die regungslos Entrückte, weit Entfernte nieder, doch immer wieder drehte sie den Kopf zum Fenster, und ihre Blicke gingen zwischen der Schlafenden und dem sich erhellenden Schein auf und ab; eine vibrierende Unruhe kam über sie; ihre Augen gingen schneller, immer flackernder hin und her; es zuckte in ihrem Gesicht, und als sie wieder auf die hingestreckte Gestalt hinunterstarrte, die unbewegt lag, unbewegt wie eine Tote, riß es an ihren Händen, und plötzlich hob sie die Arme, als könnte sie nicht mehr widerstehen, nach Gisela zu greifen und sie aus ihrer Starrheit zu lösen.

Dann aber konnte sie sich doch nicht entschließen, die Ruhende zu berühren, und stürzte davon, hastete durch den Flur, durchflog die Wohnung, rief Krau an, und als er sich sofort mit erschreckter Stimme meldete, versagte ihr fast die Sprache, als sie geheimnisvoll flüsterte: »Sie schläft noch immer!«

Aus dem Apparat drang ein leises Hauchen an ihr Ohr; es war die Luft, die Krau mit seinem tiefen befreiten Aufatmen ausstieß. Wenn es weiter nichts sei, brachte er tonlos hervor und schwieg einige Sekunden, die er offenbar brauchte, um sich von seinem Entsetzen zu erholen, das ihn wie ein Schlag überkommen haben mochte, als er Blanches Stimme gehört hatte. Es sei ja gut, daß sie schlafe, fuhr er dann fort, es sei nur natürlich, sie solle nur weiterschlafen. Zwar hatte ihm Blanche nichts zu berichten, das ihn hätte besorgt machen können, doch um ihre eigene Besorgnis zu zerstreuen, entschloß er sich, zu ihr zu kommen.

Blanche eilte zurück und löschte die Lampe aus, und da war es nochmals Nacht im Zimmer, und der Schein im Fenster wurde gespenstisch. So zündete sie sie schnell wieder an, aber das grelle Licht war starr und tot, das zarte bläuliche Grau des werdenden Tages lebendig. Sie stand wieder neben dem Bett und schaute auf Gisela nieder, die dalag wie ein aus der Welt auf ein totes Gleis geschobenes Ding. Das Antlitz der Stille hatte sich in eine Fratze verwandelt. Blanches Gesicht verzerrte sich wie unter einem Schmerz. Von Viertelminute zu Viertelminute sah sie auf die Uhr, doch es waren seit ihrem Anruf und Kraus Versprechen, daß er herfahren werde, kaum zwei Minuten vergangen. Endlich hob sie die Hand, riß mit einem wilden Ruck eines ihrer Haare aus und hielt es vor Giselas Mund. Es flatterte mehr und kräftiger auf, als sie erwartet haben mochte, und mit einem krampfhaften, weinerlichen Seufzer der Erleichterung und die Hände vors Gesicht werfend, ließ sie sich in ihren Sessel fallen.

Draußen zog ein Trupp Soldaten auf den Übungsplatz, in der Entfernung kreischten die elektrischen Bahnen, und die Marktwagen knarrten vorüber. Die Stadt bereitete sich auf den Tag vor.

Als Krau vorgefahren und Blanche an die Wohnungstür gestürzt war, um ihm zu öffnen, rannte er geradenwegs an Giselas Bett; bevor er sie aber noch ganz erreicht hatte und schon bei ihrem Anblick hielt er ein. Er legte einen Arm um Blanches Schulter und wies mit dem anderen lächelnd auf die Ruhende. Giselas Wangen waren gerötet wie die eines Kindes, das sich warm geschlafen hat. Ihr Gesicht war entspannt und willig dem Frieden hingegeben. Ihre Lippen waren nicht mehr trotzig vorgeschoben, sie hatten sich allmählich zurückgezogen, und ihre Stirn war geglättet; nur ihr linker, im Ellenbogen geknickter Arm führte die Hand noch ans Herz. Sie konnte nicht ahnen, daß Blanche sie einen Augenblick für tot oder für einen Menschen gehalten hatte, der nicht mehr aufwachen werde, und daß Krau bei aller Sorglosigkeit, zu der ihn seine Vernunft hatte überreden wollen, dennoch, bedrängt von tragischen Vorstellungen und mit grausamen Erinnerungen an medizinische Ausnahmefälle, hergeeilt war; sie nahm nicht die Änderung des Lichts wahr, nicht den Wechsel von der Nacht zum Tag, sie lag tief auf dem Grunde der Grube, doch dort unten zog das Leben durch sie. Dieser Schlaf hatte keine Verwandtschaft, kaum mehr eine Ähnlichkeit mit dem Tod.

Sobald sich Krau ein wenig erholt hatte, suchte er seine Aktentasche, entnahm ihr eine Apothekerschachtel und reichte Blanche ein leichtes Beruhigungsmittel. Dann flüsterte er ihr mit müdem Lächeln zu: er lasse die Schachtel hier, und wenn sie nochmals Gisela für tot oder sterbend halten sollte, dann möge sie selbst, bevor sie ihn alarmiere, noch eine dieser Pillen nehmen, und schon werde die Tote zum Leben erwacht sein. Nun mußte auch Blanche ein wenig lachen.

Nachdem sie nochmals Kaffee gekocht hatte, saß Krau in einem anderen Zimmer eine Stunde bei ihr. Er hatte nur wenig geschlafen, da er bis tief in die Nacht von allen Seiten, auch von Blanches Mutter und von Feding, angerufen worden war, um Auskunft über Giselas Zustand zu geben. Er hatte mechanisch allen denselben Bericht erstattet, auf den er sich mit Blanche geeinigt hatte: daß Gisela betrunken gewesen und von einem Weinkrampf befallen worden sei, über den Blanche, vielleicht selbst durch den Alkohol verwirrt, viel mehr erschrocken sei, als es der Sache entsprochen hätte. Die einen hatten ihm diese Darstellung geglaubt, die anderen nur so getan, aber sie blieben auch in den folgenden Tagen bei dieser Version, bis alles vergessen war.

Krau versuchte, Blanche zu überreden, nun nach Hause zu fahren, doch sie hielt sich an das Versprechen, das sie gegeben hatte; Gisela, sagte sie, solle sich erwachend nicht allein sehen. Nun aber entschlossen sie sich nach langen Beratungen, wie sie es bewerkstelligen sollten, Gisela mitsamt ihrem Bett aus dem Atelier in die Wohnung hinüberzuschaffen; denn wenn erst einmal der Betrieb eingesetzt habe, werde sie nicht ungestört bleiben; andererseits könne es auch nach der Anlage der Zimmer den Kunden kaum verborgen bleiben, daß die Besitzerin des Ateliers mitten zwischen den Empfangs- und Arbeitsräumen am hellen Tag hier lag und schlief. Da sie neues Aufsehen und Geschwätz vermeiden wollten, warteten sie nicht auf fremde Hilfe und gingen selbst an die Arbeit.

Es war ein sehr schwieriges, verwickeltes und langwieriges Unternehmen. Sie hoben die Schlafende auf und betteten sie vorerst mit aller nur möglichen Behutsamkeit und mit vielen einander zugeflüsterten Mahnungen zur Vorsicht auf eine über die Erde gebreitete Decke. Gisela ließ alles mit sich geschehen wie irgendein Ding, und als für einen Augenblick ihr Kopf die Stütze von Kraus Händen verlor, hing und wackelte er leise hin und her wie ein Klöppel an seinem Ring. Wie sie sie hinlegten, auf den Rücken ausgestreckt und mit abstehenden Armen, so blieb sie liegen, ja, sie sahen ein, daß sie sich in ihrem ruhigen Schlaf nicht hätte stören lassen, auch wenn sie sie auf ein indisches Fakir-Nagelbrett gelegt hätten. So wurden sie allmählich unbekümmerter. Sie zerlegten das Bett, und nachdem sie alle Türen weit geöffnet hatten, trugen sie seine Bestandteile, die Matratzen, die Kissen, die Wäsche auf unzähligen Hin- und Herwegen in die Wohnung hinüber. Schließlich lagerten sie Gisela auf den Strohsack, um sie hinüberzubringen. Dies war nicht praktisch, denn der Strohsack hatte sein eigenes schweres Gewicht und war recht breit. Gisela lag in der Mulde, und wenn sie an den Türrahmen stießen, rollte und kugelte sie auf und ab. Endlich aber war's geschafft, sie bauten im Schlafzimmer alles wieder auf, setzten den Raum in die gehörige Ordnung und brachten sie zu Bett. Das volle Licht kam durch das unverhangene Fenster, und als sie es für einige Minuten öffneten, drang, durch keine Finsternis gedämpft und durch keine Nacht geheimnisvoll gemacht, das langsam anwachsende Konzert der Straße herauf.

Krau hatte einen weiten Nachhauseweg. Er wollte ihn in der erfrischenden Morgenluft zu Fuß zurücklegen, um nach dieser Nacht überhaupt arbeitsfähig zu sein; im übrigen war hier nichts mehr zu tun, und so ließ er Blanche wieder allein. Sie war durch den angebrochenen Tag und die Anstrengung der Arbeit ein wenig aus ihrer Müdigkeit gerissen und ließ sich wie früher neben Gisela nieder. Nur wenn sie zu lesen versuchte, drohte der Schlaf sie zu überwältigen. Die zwei nun kommenden Stunden glitten schneller vorüber, denn immer wieder und immer deutlicher meldete sich der Tag. Die Zeitung fiel in den Kasten, die Milchflasche wurde vor die Wohnung gestellt, man hörte Schritte auf der Treppe und auf dem Flur, der Aufzug setzte sich zum erstenmal in Bewegung, dann ein Rascheln an der Wohnungstür; Blanche eilte hin und sah durchs Guckloch den Bäckerjungen, der die Semmeln in den Sack fallen ließ. Und endlich hörte sie drüben, an der Eingangstür zum Atelier, die Geräusche des Schlüssels im Schloß. Es war das kleine Mädchen, das täglich um sieben Uhr kam, zuerst das Atelier, dann die Wohnung aufzuräumen, im Laufe des Tages den Kunden die Tür zu öffnen und Botengänge zu machen hatte. Als es eben die Schwelle überschreiten wollte und sich jenseits des Flurs die gegenüberliegende Wohnungstür auftat und jemand auf den Flur trat, eine Dame, aber nicht Gisela, sondern eine fremde Dame, da erstarrte es mit aufgerissenem Mund, schien Blanche für eine Erscheinung aus einer anderen Welt zu halten und sah aus, als überlegte es, ob man ein Gespenst zu grüßen habe. Blanche aber sagte guten Morgen! ganz wie ein Mensch und gab ihm die nötigen Aufklärungen und den Auftrag, die Wohnung vorläufig zu lassen wie sie sei, damit Gisela nicht gestört werde, im übrigen half sie ihm, um sich ein wenig die Zeit zu vertreiben, bei seiner Arbeit, denn auch hier im Atelier war so manches durcheinandergeraten. Dann ging sie wieder hinüber.

Durchs breite Fenster drangen die ersten Sonnenstrahlen, Giselas regungsloses Gesicht erglänzte im Licht, und die sich zart verzweigenden Strähnen der hellblonden Haare auf den Kissen blinkten mit winzigem Schein.

Noch vor acht Uhr, früher als sonst, kamen zugleich Giselas beide Gehilfinnen und stießen im Haustor zueinander, die jüngere und die ältere dürre.

Sie wußten natürlich, daß Gisela lebte, und waren bei ihren immer wiederholten Anrufen von Krau über ihren Zustand getröstet worden. Dennoch konnten sie sich nicht entschließen, an die Arbeit zu gehen, denn sie warteten voll ungeduldiger Spannung, wie sich der Tag anlassen, und fragten einander nochmals und nochmals, ob Gisela wohl und wann und in welcher Verfassung sie erscheinen werde. Sie berieten, auf welche Weise sie ihre Chefin empfangen sollten, ob mit einem in den Vorraum gestellten weißen Blumenstrauß und einem stummen bedeutungsvollen Händedruck, wie es die ältere vorgezogen hätte, oder mit der Versicherung, wie gut sie sich amüsiert hätten, mit lautem Hallo und mit justament großem Radau, wie es die jüngere wollte. Als aber Blanche bei ihnen erschien, vom vollen Tageslicht in ihrer Übernächtigkeit schonungslos entlarvt, schwärzlich unter den Augen, bleich und mit erschlafften Zügen, begann die jüngere wieder zu schreien: Sie ist tot! Sie ist tot!, während die ältere, die heute ins andere Extrem, in das der düsteren Problematik und Tragik verfallen war, sich aufrichtete, statuenhaft stand und ihr nur schweigend, mit übertrieben schwermütigem Blick aus ihren aufgerissenen, schwarzsamtenen Augen entgegensah. Blanche gab ihnen die verabredete Darstellung, versicherte ihnen, daß Gisela gesund sei, wovon sie sich wahrscheinlich im Laufe des Tages selbst würden überzeugen können, und bat sie, mit der Arbeit, wie sie gewohnt seien, zu beginnen und vor Fremden nicht durch ihr Verhalten zu verraten, daß etwas Außergewöhnliches vor sich gegangen sei. Das schreckliche Jammern der einen ging in Schluchzen und Wimmern über, während die andere bewegungslos zuhörte, die Blicke starr auf Blanche gerichtet, offenbar mit dem Versuch, ihr in die Augen zu sehen und so ein stummes seelisches Einverständnis zwischen ihnen beiden herzustellen. Aus dem Mund der Weinenden wälzten sich irgendwelche ungeformte und unverständliche Worte, und ihre Hand wischte mit jämmerlichen Gebärden die Augen. Man mußte glauben, daß sie Blanche gar nicht zugehört hatte. Das kleine Dienst- oder Laufmädchen stand in der Nähe und folgte der Szene mit jenen gebannten Blicken, mit denen es noch vor einem Jahr in seinem Dorf den Vorführungen eines durchreisenden Kasperletheaters gefolgt war, wobei es ein gewisses delikates Kunstverständnis dadurch bewies, daß es sein Interesse nicht so sehr auf die heulende, lärmende Person, sondern voll Scheu und Neugierde auf die pathetisch aufgereckte, aber schweigend-unbewegliche konzentrierte.

Die ältere bat Blanche in ein anderes Zimmer. Dort trat sie dicht an sie heran, den Blick gewaltsam in ihr Gesicht bohrend, und beschwor sie flüsternd, ihr die Wahrheit zu sagen: ob Gisela wirklich noch lebe oder ob – und dies war allerdings ein Gedanke, der windschief zur Wirklichkeit, aber auch zu jeder Möglichkeit stand – ob vielleicht nur aus Geschäftsgründen ihr Tod vorläufig verschwiegen werden sollte. Blanche beteuerte von neuem, es sei kein Anlaß, Sorgen zu haben, und eilte in die Wohnung.

Gisela schlief nun schon über zwölf Stunden, und wenn Blanche auch das gegebene Versprechen, ihr Erwachen abzuwarten, nicht brechen wollte, so war sie doch endlich bereit, sich größerer Bequemlichkeit und, wenn es anders nicht gehen sollte, auch ein wenig dem Schlaf zu überlassen. Sie richtete eine Chaiselongue her, streifte die Schuhe ab, um in Pantoffel zu schlüpfen, und suchte in Giselas Schrank nach einem Schlafrock, um ihn statt des Kleides zu nehmen; doch während sie ab und zu ging, hörte sie vom Bett her Bewegung, Knirschen des Holzes, das leise Rauschen und Knistern der Decke und Kissen; mit lautem Blasen die Luft ausstoßend, warf Gisela sich mit schwerem Plumps von der rechten Seite auf die linke. Blanche hielt ein und stand still. Giselas Brauen hoben sich, die Stirn kräuselnd, als bemühe sie sich, die Lider hinaufzuziehen, aber sie waren wie zugeklebt und spannten und dehnten sich nur. Es war ein langer Kampf, doch endlich schlug sie die Augen auf. Ihr Blick fiel auf Blanche und blieb starr und glasig auf ihr haften. Noch getraute sich Blanche nicht zu sprechen. »Was tust du hier?« fragte Gisela, ohne die Lippen voneinander zu bringen und noch ganz ohne Stimme.

Blanche trat ans Bett und fragte ihrerseits: »Wie geht es dir?«

»Ausgezeichnet!« antwortete Gisela tonlos. »Hast du die ganze Zeit hier gesessen?«

»Ich habe es dir doch versprochen!«

»Verrückt!«

Sie legte sich auf die rechte Seite zurück, und es war nichts mehr von ihr zu hören. Wahrscheinlich schlief sie wieder. Dann knurrte sie, ohne sich zu rühren und ohne die Augen zu öffnen: »Hunger!«

»Was soll ich dir bringen?«

»Nichts. Ich stehe auf.«

Blanche aber eilte in die Küche, geraume Zeit verging, und als sie mit einem großen Tablett erschien, auf dem ein reichliches Frühstück hergerichtet war, erwachte Gisela von neuem. »Ich stehe auf«, sagte sie, erhob sich mit schwerem Seufzen und ging mit taumelnden Schritten, nach Möbeln und Türpfosten tastend, um einen Halt zu haben, ins Bad. Nachdem sie sich ein wenig gewaschen und frisiert hatte, kehrte sie, nur dämmerndes Leben in ihrem Körper und Geist, mit noch halbgeschlossenen Lidern zurück. »Ich werde noch im Bett frühstücken«, murmelte sie, »und dann stehe ich auf.«

Sie aß schweigend, die Augen nur zu blinzelnden Blicken öffnend, wenn sie sich orientieren mußte, sie aß und trank viel und schnell, mit Verbissenheit und Hast. Man mußte glauben, daß nur der Hunger sie geweckt habe, und tatsächlich hatte sie seit dem gestrigen Morgen nicht mehr als im erstbesten Restaurant, nach ihrem Besuch bei Feding, jene kleine, vom Zorn vergiftete Mahlzeit in sich geworfen.

»Geh nach Haus! Schlaf dich aus!« brummte sie zwischen zwei Bissen.

»Und du?« fragte Blanche.

»Ich werde aufstehen und arbeiten.«

Sie war daran, alles zu verzehren, was Blanche ihr gebracht hatte, aber es war, als äße nicht sie, sondern als zöge und saugte nur ihr Körper selbständig und wie unter einem Zwang die Nahrung in sich. Blanche rief Krau an, um ihm Bericht zu geben, und kam zu Gisela zurück: Er frage, ob sie irgendwelche Beschwerden fühle. »Blödsinn!« knurrte Gisela, ohne aufzuschauen.

Blanche sprach lange mit dem Arzt. Sie wollte wissen, was nun zu tun sei, und ob es nichts Schlimmes zu bedeuten habe, daß Gisela so benommen sei; doch nun endlich schwang er sich zu einer gewissen Energie auf und ging gar nicht erst auf ihre Sorgen ein: Sie habe ihr Versprechen gehalten, bei Gisela bis zu deren Erwachen zu bleiben, nun sei es so weit, und damit sei es auch genug. Gisela habe ein etwas schweres Schlafmittel genommen, und dies sei kein Anlaß, sie als Kranke zu behandeln; es sei durchaus möglich, daß sie noch einmal einschlafen werde; gut, möge sie nun schlafen oder aufstehen, man solle sie sich selbst überlassen; er werde im Laufe des Tages nach ihr sehen, Blanche solle einen Wohnungsschlüssel im Atelier hinterlassen, sie selbst aber solle sich schleunigst davonmachen und schlafen gehen, sie habe es nötiger als alle anderen. Schließlich versprach sie es ihm.

Als sie zurückkehrte saß Gisela, in ihren Zügen den Nebel des Schlafes, in kläglicher Hilflosigkeit im Bett, denn sie war durch das leergegessene Frühstücksbrett auf ihren Knien gefesselt, da sie noch zu unbeweglich oder zu ungeschickt war, es beiseite zu bringen. Trotz Kraus Reden und Ermahnungen, konnte Blanche beim Anblick der Schüsseln und Teller, von denen alles weggeputzt war, eine gewisse Besorgnis nicht unterdrücken. »Hast du nicht zu viel gegessen?« fragte sie ängstlich.

»Zu wenig!« hauchte Gisela. Der Kopf war ihr zu schwer, und sie ließ ihn hängen. »Weißt du, was ich jetzt möchte?« fragte sie.

»Was denn?«

»Gemüsehuhn. Das haben wir immer als Kinder bei der Tante Margarethe bekommen. Ach, war das schön!«

»Gisela –!« sagte Blanche flehentlich, und ihre Stimme erzitterte fast. »Gemüsehuhn? Das gibt's doch gar nicht! Du meinst gewiß Suppenhuhn?«

»Bestie!« brummte Gisela, »Gemüsehuhn!« Sie schielte mühsam nach Blanche. »Du hältst mich wohl für verrückt? Nein. – Ach, bei der Tante Margarethe haben wir's immer bekommen, auf dem Land, auf einer Terrasse haben wir gesessen, um einen großen Tisch, viele Kinder, ach, war das schön!«

Blanche stand noch immer auf ihrem Fleck und beobachtete Gisela, über deren Gesicht ging das erste, noch schlafende Lächeln. »Du hältst mich für verrückt? Gut, ich bin verrückt. Wau, wau, wau!« Da es ihr nicht gelingen wollte, die Augen ganz zu öffnen, kniff sie die Lider erst recht zu, wandte aber den Kopf nach Blanche hin und bellte sie an. »Wau, wau, wau!« machte sie, und da ihre Stimme verrostet und rauh war, wurde sie wirklich der eines Hündchens etwas ähnlicher. »Wau, wau, wau! ich bin verrückt!« wiederholte sie, und wer weiß, ob nicht wirklich unter der Decke ihrer Verschlafenheit ein kleiner, harmloser Lebensirrsinn in ihr tobte. »Nimm das Brett«, sagte sie, »und geh nach Hause!«

»Und du?« fragte Blanche.

»Ich werde aufstehen.«

»Brauchst du noch etwas?«

Gisela saß noch immer. »Ob ich etwas brauche?« Ihr Kopf fiel nach vorn, aber sie hob die Arme, und ihre Finger krallten sich in ihre Löckchen. »Ja. Ich brauche etwas. Weißt du, was ich jetzt brauchen würde? Einen Buben, einen hübschen, netten, angenehmen Buben, zur Not könnte es auch ein Mann sein.« Bevor ihr aber Blanche antworten konnte, ließ sich Gisela fallen, lag wieder auf der Seite, atmete zweimal schwer und aus der Tiefe her auf und war wieder im Schlaf. Blanche fuhr jetzt endlich, um zehn Uhr vormittags, nach Hause.

Über Gisela gingen die Stunden hinweg. Sie lag in der Tiefe des Schlafs, hingestreckt wie ein lebloses Ding, nicht anders als die Decke über ihrem Körper oder das Kissen unter ihrem Kopf. Der Vormittag, der Mittag, der Nachmittag strichen in solch ungestörter Gleichmäßigkeit vorüber, daß über diese ganze, ungebrochen fließende Zeit nicht mehr zu sagen ist als über die Luft, die um sie stand.

Nur zweimal wurde die Wohnung betreten. Nach Tisch kam Krau, schlich sich ans Bett, nickte befriedigt bei Giselas Anblick und machte sich wieder davon, da es nicht zu verkennen war, daß er als Arzt hier nichts mehr zu suchen hatte. Er übergab zwar wieder den Assistentinnen den Wohnungsschlüssel, weil man nicht wissen konnte, ob sie ihn nicht auf die eine oder andere Weise brauchen würden, zugleich aber bat er sie, sich nicht weiter um Gisela zu kümmern und nach der Arbeitszeit getrost nach Hause zu gehen. Er war mit Blanche übereingekommen, daß es nun Gisela willkommen sein dürfte, allein zu sein, wenn sie erst noch einmal aufgewacht und ausgeschlafen wäre, um so mehr, als ihr ja die Möglichkeit blieb, zu telephonieren, mit wem sie Lust haben würde.

Als er das Atelier verließ, lief ihm die ältere der Assistentinnen ins Stiegenhaus nach und stellte ihn. Er gab ihr beruhigende Nachrichten und alle Auskünfte, soweit es die Situation zuließ. Kein Zweifel, sie glaubte ihm nicht, sie mißtraute seinen Antworten und offenbarte ihm mit der innigen Traurigkeit ihrer Blicke ihre Enttäuschung, daß er so wenig Vertrauen zu ihr habe. Das Blut stieg in ihr Gesicht, und in dessen leichter Röte waren die Pickel dunkelrot. Als sie aber daranging, ihm die Resultate ihres eigenen freundschaftlich-besorgten Nachdenkens auseinanderzusetzen, als sie sich an Giselas angebliche Geheimnisse heranmachte und von geheimen Leiden, geheimen Wunden, geheimer Krankheit, kranker Liebe und krankhaften Neigungen sprach, da wurde er, der Arme, verwirrt und wußte nichts mit sich zu beginnen. Ihm wurde immer beklommener zumut, zwar auch vor ihren Worten, noch mehr aber vor ihren aufgerissenen Augen, die von Moment zu Moment größer und sogar schwärzer zu werden schienen, und als fühlte er schon, wie von diesem Blick seine Seele angenagt werde, machte er sich so schnell wie nur möglich los, indem er auf die schweren Fälle hinwies, die gerade heute auf ihn warteten, und lief in aller Eile, wie von einer Panik erfaßt, die Stufen hinunter.

Sie sah ihm verächtlich nach. Dann ging sie, über seine Teilnahmslosigkeit gegen Gisela staunend und über die arme mitleidslose Welt den Kopf schüttelnd, wieder an ihre Arbeit. Als aber die Stunde kam, da ihre und ihrer Kollegin Arbeit beendet war, konnten es die beiden Frauen doch nicht übers Herz bringen, das Haus zu verlassen, ohne Gisela angeschaut und betrachtet zu haben, wie sie lag und schlief. Vibrierend durchschlichen sie den Vorraum und die beiden ersten Zimmer und blickten mit ängstlich stockendem Atem um sich, als erwarteten sie jeden Augenblick, daß Gespenster an ihnen vorüberwallen würden. Endlich standen sie am Bett. Den rechten Arm ausgestreckt und den Kopf gegen ihn gepreßt, lag Gisela vor ihren Augen. Ihr Gesicht war dunkelrot, und ihre Wangen schienen voller geworden zu sein, als habe das kräftige Frühstück schon bei ihr angeschlagen. Die Haut war glatter geworden und glänzte. Ihr Atem entwich regelmäßig mit leisem Pfeifen und Hauchen dem geschlossenen Mund, der zugespitzt und dadurch auf lustige Weise ein wenig komisch war. Die schrägen Strahlen der schon tiefstehenden Sonne spielten in ihren hellen Haaren.

Auf dem Tisch lag jene kleine Apothekerschachtel, in der Krau für Blanche die Baldrianpillen zurückgelassen hatte. Die ältere griff nach ihr, drehte sie in ihren Händen hin und her, roch an ihr und betrachtete mit ernstem Blick die ihr unverständliche Aufschrift. Die jüngere beobachtete sie voll Spannung, als wollte sie aus ihren Mienen ein Urteil über diese Schachtel lesen: ob sie Tod bedeute oder Leben.

»Valeriana!« hauchte die ältere, und da die andere, wie von einem Schicksalsschlag gebrochen, langsam den Kopf auf die Schulter der Freundin sinken ließ, strich diese ihr tröstend über die Haare, und da sie der Überzeugung war, daß die jüngere wieder in Tränen ausbrechen werde, legte sie zuerst mahnend den Finger vor den Mund und wies dann zur Tür. »Geh, mein Kind, geh!« sagte sie flüsternd, obwohl sie sonst niemals im Du miteinander verkehrten. Die jüngere gehorchte und verließ das Zimmer, während die ältere noch blieb und auf die Schlafende herabsah. Schließlich bückte sie sich und küßte über Giselas Stirn in die Luft. Dann ging auch sie.

II

Als Gisela erwachte, nahm das Tageslicht schon ab. Die Umklammerung mag sich allmählich gelöst haben, nun aber wurde die Fessel mit einem Ruck abgeworfen, die Starrheit mit einem einzigen Stoß durchbrochen. Der Schlaf war zu Ende geschlafen.

Sie warf sich herum, machte Licht, sah auf die Uhr, setzte sich auf, rief in die leeren Räume »Hallo« und »Ist jemand hier?«, und da niemand antwortete, schwang sie sich mit einem runden, hohen Satz aus dem Bett. Barfüßig und in ihrem blau-gelbgestreiften Schlafanzug lief sie durch die Zimmer, durch den Vorraum und bis in die Küche. »Niemand hier«, sagte sie dort und kehrte zurück. Sie verband sich mit dem Atelier und wartete eine Minute. »Auch niemand mehr«, konstatierte sie, legte den Hörer auf und zog den Stecker wieder aus der Wand.

Ihre Stimme war klar, ihre Bewegungen waren flink, und ihre Augen, nachdem sie, mit jener kleinen Unterbrechung zwanzig Stunden geschlossen gewesen, wie frisch gewaschen und voll des reinen Tagesglanzes. Wie man eine Tür aufreißt und ins Freie tritt, so trat sie aus dem Schlaf ins Wachen und hatte nicht einmal eine schmale Schwelle der Dämmerung zu überschreiten.

Sie ging ins Bad und ließ Wasser in die Wanne laufen. Offenbar hatte sie beide Hähne zugleich und zur Gänze aufgedreht, denn ein gewaltiges Rauschen erdröhnte im kleinen Raum und hallte durch die Wohnung, in der alle Türen offen standen. Während sie schon mit der einen Hand die Jacke des Schlafanzugs aufzuknöpfen begann, schloß sie mit der anderen die Badezimmertür.

Drinnen klapperte es hin und her, die Gegenstände wurden aufgehoben und zurückgestellt, schließlich ertönte mit dem Reinigen der Zähne, dem Spülen des Mundes ein heftiges Reiben, Gurgeln und Spucken. Dies dauerte seine Zeit. Dann wurde etwas mit so großer Energie in die Wanne geworfen, daß es laut auf die Wasserfläche aufknallte, dann noch etwas und noch etwas: die Handbürste, der Waschlappen, der Schwamm, die Körperbürste.

Eine Weile war's still. Plötzlich schrie Gisela Au! und Verflucht!, sie muß den Fuß ins noch zu heiße Bad getaucht haben: Einer der Hähne wurde geschlossen, und der Strom wurde schwächer. Ein leichtes Plätschern, sie ließ sich in der Wanne nieder, ein Schieben und Rutschen, sie legte sich, streckte sich und sagte ein wohliges Ah! dann ein kräftiger, spritzender Klatsch, ein zweiter, ein dritter – es war nicht anders zu erklären, als daß sie mit der offenen Hand aufs Wasser hieb. Eine knappe Minute der Ruhe, und mit einem Donnerschlag, zugleich mit einem Aufschrei, von wildem Aufschäumen des Wassers begleitet, setzten die Geräusche wieder ein: Gisela hatte sich wieder aufgesetzt, aber sie hatte es offenbar so plötzlich und heftig getan, daß sie den Ellenbogen mit voller Wucht gegen die Wanne schlug. Nach einer Sekunde der Stille folgte ein leises spielerisches Winseln und Plärren, als wollte sie ein Kind nachahmen, das sich wehe getan hat.

Ein kleines Scheppern der Seifenschüssel auf ihrem Untersatz, »Komm her!« sagte Gisela, und es kann nur der Waschlappen gewesen sein, dem sie es sagte, da gleich nachher ein Streichen und Reiben hörbar war, das stärker und stärker wurde, und zugleich ihr immer lauter gehender Atem. Abermals ein heftiges Aufwirbeln und Plätschern, die Kette rasselte, und gurgelnd floß das Wasser ab; aber schon wurde auch dieser Lärm von einem andern übertönt: die Dusche rauschte nieder, stärker, schwächer und wieder stärker, sie wurde wohl aus warm und kalt zu kühl gemischt. Gisela erhob sich und rief Au! und Großartig! Die harte Bürste massierte ihren Körper. »Sehr gut!« sagte sie, »Ausgezeichnet!« Das Brausen der Strahlen wurde lauter, das Wasser kälter, und als wollte sie Schritt halten, schrubbte sie immer schneller, immer heftiger und begann, zu pusten und zu prusten. Nochmals verstärkte sich der Wasserfall, nun biß und brannte wohl die Kälte, denn Gisela trillerte und trällerte und quietschte lächerliche Lieder. Das Wasser stürzte. Je kälter es wurde, desto mehr kam sie in Schwung, man sah geradezu, wie ihre Arme hin und her, auf und ab geworfen wurden und ihre Haut sich rötete. Sie schien nicht genug bekommen zu können, und nun keuchte und stöhnte sie. Das zischende Brausen ertönte mit voller Gewalt, die Strahlen mußten eisig sein, und in ihrem schmerzlichen Wohlgefühl begann sie nochmals zu singen, irgendeine ungestaltete, undefinierbare Melodie, ihre Stimme stieg höher und höher und endete in Koloraturen, die, bei ihrem Versuch, immer weiter zu steigen und zu klettern, dennoch, auf ihrem Weg zu einem unerreichbaren Gipfel, endlich abbrechen mußten.

Ein kleiner Aufschrei, etwas schlug gegen die Wanne, und die Scherben fielen ins Wasser. Die Brause wurde abgestellt, und man hörte nur das tiefe Atmen und ein leises Streichen, mit dem sie die Tropfen von ihrem Körper streifte. »So! – So! – So!« sagte sie in kurzen Abständen, stieg aus der Wanne und frottierte sich. Sie tat es blasend und fauchend, mit derselben Kraft, mit der sie sich unter der Brause bearbeitet hatte, und als könnte sie es nicht erwarten, warm und trocken zu werden. »Wirst du kommen!« sagte sie offenbar zu einem zweiten Hand- oder Badetuch, das nicht gleich von der Stange wollte. Man hörte ein Ziehen und Zerren, es fegte durch die Luft und dürfte dabei entlang des Gestells über den Waschtisch geflattert sein, denn dort mit einemmal klapperten, klingelten und rasselten alle Flaschen, Schachteln, Tiegel und Dosen gegeneinander. Sie massierte sich weiter, der Stuhl stieß gegen die Wanne, dann gegen die Mauer, nochmals ein Klirren, und sie schrie eine imaginäre Person oder vielleicht nur die Luft und die Wände an: »Ich habe doch immer gesagt, daß diese blöde Schüssel hier im Weg ist!« Der Atem ging in Schnaufen über, immer wieder stieß sie da und dort an, hier ein Schlag und dort ein Krach, es war kaum mehr zu verfolgen, wie alles vor sich ging. Ein gewaltiges Patschen und Klatschen hub an, sie schlug mit den offenen Händen die Schenkel und alle Flächen ihres Körpers, daß es nur so schallte. Doch dazwischen hörte man immer wieder die Gegenstände, ein Schälchen, eine Bürste, einen Kamm, als wären sie selbständig und selbsttätig geworden, es war ein Schieben und Rutschen, ein Poltern und Rumoren, ein Aufeinanderprallen und Gegeneinanderstoßen – die Dinge schienen trunken durch den Raum zu toben.

Schließlich brach alles ab. Nach einer kurzen Weile öffnete Gisela die Tür, ihre Füße tappten durch den Vorraum, und sie stand nackt im Zimmer, nur die Gummihaube auf dem Kopf und die Pantoffeln an den Füßen.

Sie ging daran, sich anzuziehen, öffnete im Schlafzimmer alle Kästen und Schränke und zog die Laden und Fächer hervor, so weit es ging. Nachdem sie Strümpfe und die Wäsche angezogen hatte, strichen ihre Hände zuerst von den Knöcheln aufwärts über die Beine, dann aber genießerisch über den ganzen Körper, dem nach dem harten Bad der weiche, sanfte Stoff wohltun mochte. Ihr fehlte nur noch das Kleid. Sie setzte sich vor den Toilettentisch, frisierte sich, massierte ein wenig ihre Nägel und zog den Schminkstift über die Lippen, doch mit so vorsichtiger Genauigkeit sich innerhalb der Grenzen des natürlichen Rots haltend und mit nur so leichtem Druck, daß ein ungeübtes Auge die Nachhilfe gar nicht bemerkt hätte. Schließlich schob sie ihr Gesicht an den Spiegel heran, um ihren Teint zu studieren, doch die frisch gerötete Haut war fehlerlos.

Gisela schlüpfte in die Hosen und in die Jacke eines hellbraunen flauschartigen Anzugs, den sie zu Hause manchmal trug. Dann schob sie die Laden und Fächer zurück und schloß die Türen der Kästen. Nun war sie angezogen, ging ins Wohnzimmer und stand in dessen Mitte. War es Tag, da sie erst vor kurzem erwacht war? War es Abend, da schon die Dunkelheit herrschte? War's Nacht, da sie schon so allein war? Sie war wie verloren im Raum und sah sich um, als fragte sie: und was nun?

Der Männeranzug stand gut zu ihrem kräftigen, charaktervollen Gesicht und blieb nur im Gegensatz zu ihrer weichgeformten, frauenhaften Gestalt, in einem Gegensatz, der sich im Kleinen wiederholte: der oberste Knopf der Jacke nämlich war offen geblieben, der Saum des Hemdes lugte hervor, und der dünne Seidenstoff lag neben der groben Wolle. Es war, als ob dort oben an der Brust das Zarte, Zärtliche mit dem Kräftig-Rauhen kokettierte.

Sie brachte das Schlafzimmer in Ordnung; dann ging sie in die Küche, schloß Eiskasten und Speisekammer auf und überflog all die Schüsseln und Behältnisse. Zuerst holte sie aus einem weißen Porzellannapf ein Gürkchen aus dem Essig, der undefinierbar und kompliziert nach den Gewürzen ganz Indiens und scharf wie der Pfeffer der Hölle roch. »Brr!« machte sie. »Pfui Teufel!« und nahm ein zweites. »Großartig!« rief sie und nahm ein drittes und viertes. Sie aß oder naschte vielmehr, in unordentlicher Reihenfolge, noch dies und jenes aus den großen Vorräten, ging zurück in die Zimmer, und abermals stand sie dort mit der Frage im Blick: und was nun?

Nachdem sie ein wenig durch die Wohnung gestreift war, kam sie in den Vorraum bis zur Ausgangstür und war schon daran, ins Atelier hinüberzugehen, doch sie besann sich anders, sagte: »Ach was!« und kehrte um. Sie stellte den Telephonapparat auf die Couch des Wohnzimmers, setzte sich neben ihn und lehnte sich zurück, so daß sie halb lag. Einige Zeit ließ sie verstreichen, dann rief sie Ruge an. Er begrüßte sie freudig, sie sei ja gestern schön betrunken gewesen, rief er, und habe einen prachtvollen Wutanfall gehabt; wie es ihr gehe und ob sie ausgeschlafen sei. Als stände sie unter dem Einfluß des Schweigens rings um sie, sprach sie in stillem Gleichmaß und mit geglätteter Stimme. Sie fühle sich ausgezeichnet antwortete sie und erkundigte sich ihrerseits nach seiner Frau. Carola sei heute, sagte er, in keinem guten Zustand, der gestrige Nachmittag habe sie sehr ermüdet. Seitdem sie nach Hause gekommen, sei sie im Bett. Gisela schlug ihm vor, ein, zwei Stunden mit ihr zu verbringen, sie wisse nichts mit sich zu beginnen, es sei nicht Tag, es sei nicht Abend, es sei nicht Nacht, es sei ihr, als werde sie drei Tage nicht schlafen können; sie könnten, meinte sie, miteinander zu Abend essen oder ein wenig Spazierengehen, doch Ruge wollte Carola nicht allein lassen, da sie seiner vielleicht bedürfen würde. Gisela wußte, daß er auch wirklich immer tat oder unterließ, was er Carola zuliebe zu tun sich vornahm oder ihretwegen unterlassen wollte, und so bemühte sie sich gar nicht erst, ihn zu überreden oder umzustimmen.

Nun versuchte sie, Blanche zu erreichen, aber das Mädchen sagte ihr, daß das gnädige Fräulein schlafe. »Lassen Sie sie schlafen!« sagte Gisela und rief noch einen Vetter an, mit dem sie schon lange verabredet hatte, daß sie einen Abend miteinander verbringen würden, aber er sei eben, gab man ihr die Auskunft, ausgegangen und werde voraussichtlich erst spät in der Nacht nach Hause kommen. Sie legte sich auf die Seite und sah vor sich hin. Endlich rief sie die Nummer eines Kaffeehauses, in dem um diese Zeit Stadel zu sein pflegte. Er kam auch wirklich an den Apparat, und als er ihre Stimme hörte, schrie er »Gisela! Gisela! Gisela!« und sprach, lachend und dann wieder Frage an Frage reihend, allerdings ohne überhaupt erst die Antworten abzuwarten, so laut und sprudelnd, daß sie von allen Worten, von denen immer einige zugleich aus seinem Mund hervorzustürzen schienen, kein einziges verstand. Sie wartete das Ende seines Ausbruchs ab und dann sagte sie ungefähr dasselbe, was sie auch schon Ruge gesagt hatte: es sei nicht Tag, es sei nicht Abend, es sei nicht Nacht, sie wisse nichts mit sich zu beginnen, und ob er Zeit habe, ein, zwei Stunden mit ihr zu verbringen, ob es zu spät für ein Kino sei oder ob sie miteinander nicht zu Abend essen wollten. Er habe zwar schon, rief er, für den Abend und für die Nacht so viele Verabredungen getroffen, daß er sieben Abende und sieben Nächte brauchen würde, um ihnen allen zu entsprechen, aber er sei ihr zuliebe bereit, auf alles zu verzichten. Das sei sehr nett, sagte sie. Ja, sprudelte er weiter, es sei aber auch sehr nett von ihr, daß sie, zu neuem Leben erwacht, sich gerade an ihn wende; er habe es ja ohnedies seit jeher gewußt, daß sie nicht immer werde an ihm vorübergehen können; er sei zwar ein Widerling, aber gar so ohne sei er auch nicht; jedenfalls sei sie eine prachtvolle Frau, und die gestrige Explosion habe seine Lust hervorgerufen, auch andere Explosionen an ihr zu erleben.

Sie sei so friedlich heute, antwortete sie, daß sie fürchte, ihn zu enttäuschen. Sie wolle nichts als ein wenig plaudern. Gut, gut, rief er, es werde sich alles zeigen, er werde ihr tolle Dinge erzählen, die ihm passiert seien. »Was denn?« fragte sie.

Es lasse sich im kurzen nicht wiedergeben, denn die Einzelheiten seien bei diesem heroischen Epos das Entscheidende, wie bei jeder wahren Kunst, aber den Kern der Sache müsse er ihr denn doch gleich servieren. Er habe zwei Freundinnen gehabt, die Haus an Haus gewohnt haben; mit dieser Tatsache sei er noch fertig geworden, er habe die Schwierigkeiten und Gefahren, die sich aus dieser Nähe ergaben, auf einfache Weise überwunden, indem er immer dann, wenn er die eine habe besuchen wollen, auch der anderen angekündigt habe, daß er vielleicht zu ihr kommen werde, so daß auch diese, die Arme, zu Hause gesessen und auf ihn gewartet, er aber mit diesem Trick die Gefahr vermieden habe, auf der Straße erwischt zu werden, wenn er ins Nebenhaus gehe – ob das nicht eine geniale Idee gewesen sei.

»Mehr als genial!« antwortete sie.

Aber, fuhr er fort, nun komme das Eigentliche: er habe nicht gewußt oder nicht bemerkt, daß nicht nur die beiden Häuser, sondern auch die beiden Wohnungen aneinander grenzten, und wie nun auf grotesk-unanständige Weise seine Eskapaden ans Tageslicht gekommen seien, werde er ihr ausführlich erzählen müssen. Sie könne es gar nicht erwarten, alles zu hören, warf sie ein. Aber was denn mit ihr sei, fuhr er fort, er wisse gar nicht, mit wem sie sich in der letzten Zeit herumgetrieben habe. »Ich?« antwortete sie mit jener Gelassenheit, mit der sie heute nun einmal sprach. »Ich mache es jetzt straßenweise. Augenblicklich bin ich bei der Schillerstraße Nummer vierzig!«

»Ausgezeichnet, ausgezeichnet!« schrie er, so müsse man es machen, sie sei doch, lachte er, eine wunderbare Frau, aber sie werde sich auch bei seiner Geschichte totlachen. Wo sie also einander treffen wollten, fragte er.

»Weißt du«, sagte sie, »ich habe mich eben erinnert, daß ich noch eine Verabredung habe. Es wird doch nicht gehen. Ich hatte diese Verabredung vergessen. In zehn Minuten muß ich im Kaffee Rose sein. Entschuldige mich also! Ich muß augenblicklich weggehen. Auf Wiedersehen!« Er widersprach und brüllte seine Fragen, aber sie hatte schon den Hörer auf die Gabel gebracht und den Stecker aus dem Kontakt gezogen.

Sie blieb einige Zeit liegen, ohne sich zu rühren. Dann rief sie Müller-Erfurt an. Kaum hatte er erkannt, wer mit ihm sprach, sagte er, indem er jede Silbe bedeutsam akzentuierte, so daß die Vorstellung vom prätentiösen Lächeln seines zugespitzten Mundes zwingend heraufbeschworen wurde: »Erst der Tod zeigt uns den Sinn des Lebens und erst der Sinn des Lebens den Wert des Todes!«

»Falsch verbunden!« sagte sie, unvermittelt eine männlich-tiefe Stimme imitierend, und legte auf.

Nun wartete und überlegte sie lange. Schließlich versuchte sie es bei Joachim. Es sei nicht Tag, es sei nicht Abend, sagte sie, es sei nicht Nacht, sie wisse nichts mit sich zu beginnen, es müsse sich jemand ihrer erbarmen, und ob sie nicht den Abend miteinander verbringen wollten. Auch er hatte über seine Zeit schon verfügt, er hatte außerordentlich wichtige Briefe zu schreiben, aber auch er war bereit, es anders einzurichten und die Briefe später zu schreiben. Er lade sie ein, mit ihm zu Abend zu essen; einer Frau bringe man eben Opfer und lasse die Briefe ungeschrieben, auch wenn sie noch so wichtig seien. Das sei sehr nett von ihm, sagte sie, und wohin sie gehen wollten. Er wünsche, wie es ihr zukomme, gut und elegant mit ihr zu speisen, meinte er und versprach ihr, sie mit seinem Wagen abzuholen. Vielleicht, fügte er hinzu, könne er noch vorher die Briefe schreiben, sie seien nämlich tatsächlich sehr wichtig, er werde übrigens kein Geheimnis daraus machen und ihr gleich sagen, worum sich's handle: er habe heute einen sehr interessanten Brief bekommen, von der Nichte des englischen Vizekönigs, mit der er sehr befreundet sei, aus Lahore; sie schreibe ihm, daß eine indische Ausgabe seiner Werke geplant sei.

»Hindostanisch?« fragte sie.

Englisch-indisch, sagte er. In Indien herrsche eine viel geistigere Atmosphäre, als man ahne, die Nichte des Vizekönigs sei eine der kultiviertesten und geistreichsten Frauen, die er kenne. Sie habe mit einigen Damen der Gesellschaft einen Verein gegründet, dessen Zweck es sei, moderne außerenglische und außerindische Literatur in englischer und indischer Übersetzung herauszugeben. Sie schreibe ihm nicht weniger als acht Seiten darüber. Man wolle mit einem seiner Werke beginnen. Es sei doch herrlich, und man könne geradezu Hoffnung auf die Entwicklung der Welt setzen, wenn man sehe, wie die Emanationen eines einzigen Gehirns um den Erdball rasen.

Sie werde sich gerne und ausführlich mit ihm über die rasenden Emanationen der Gehirne unterhalten, sagte sie, ob es aber nicht besser wäre, daß er sich jetzt daran mache, an die Nichte des Vizekönigs zu schreiben, damit es nachher nicht zu spät werde.

Ja, antwortete er, das werde er tun, damit er dann auch wirklich einen freien Kopf für Gisela habe; denn das müsse er ihr denn doch noch sagen: er habe den ganzen Tag bewundernd an sie gedacht; sie sei prachtvoll in ihrem Zorn gewesen, er liebe Frauen, die zornig sein können. Zorn sei eine ganz bestimmte Delikatesse.

Sie hörte bewegungslos zu.

Ihre Aufgelöstheit, fuhr er fort, habe etwas durchaus Außereuropäisches gehabt, ihre Eruption sei kosmisch gewesen.

»Halt! Halt!« unterbrach sie ihn hier. »Warten Sie! Man hat mir eben ein Telegramm gebracht. Einen Augenblick! – Mit dem heutigen Abend wird es nichts werden. Ich muß weggehen. In einer halben Stunde kommt meine beste Freundin an!«

»Jetzt? Von wo?«

»Aus Siam.«

»Von wo?«

»Aus Siam. Bangkok. Ja.«

»Aber Gisela –!«

»Sie kennen sie nicht. Sie ist Französin, eine geschiedene Gräfin Renoncourt-Bailly, eine geborene Rohan übrigens. Jetzt ist sie die Geliebte des Königs von Siam.«

»Hören Sie. Gisela –!«

Sie ließ ihn nicht zu Wort kommen und sprach in ruhigem Fluß weiter: »Demnächst werden sie heiraten. Ich muß sofort auf den Flugplatz fahren. Wie ist übrigens die Nummer des Palacehotels? Ich soll dort zwanzig Fürstenzimmer bestellen. Ich nehme an, daß der König auch kommt. Aber niemandem sagen! Seine Ankunft ist wahrscheinlich nicht dem Außenamt gemeldet, es könnte Komplikationen geben. Seine Reise hat übrigens auch politische Hintergründe. Aber ich beschwöre Sie: Diskretion! Also entschuldigen Sie! Auf Wiedersehen!«

Sie brach ab und legte sich wieder zurück, aber nach kaum einer Minute klingelte ihr Apparat. Es war nochmals Joachim: was sie ihm da erzählt habe, klinge abenteuerlich, phantastisch und unwahrscheinlich, das wisse er und sage es ausdrücklich, andererseits aber sei er selbst so sehr über den ganzen Erdball gespannt, daß –. Sie unterbrach ihn: »Seien Sie nicht böse«, sagte sie sehr langsam und müde, »aber ich kann nicht ein einziges Wort mehr sprechen. Ich bin in fürchterlicher Hetze und stürze davon. Auf Wiedersehen!«

Diesmal schaltete sie das Telephon wieder aus, und den Kopf in der Hand des aufgestützten Arms, blieb sie auf der rechten Seite liegen. Lange Zeit verging. Endlich versuchte sie doch noch einmal ihr Glück und entschloß sich, den Sohn einer älteren Freundin, die auswärts lebte, anzurufen, einen neunzehnjährigen Jungen, der hier studierte und öfter zu ihr kam, um sich mit ihr zu beraten, da er ein leidenschaftlicher Photograph war. Sie belächelte manchmal seinen jugendlichen Überschwang, doch im Grunde konnte sie nicht anders, als ihn gern haben, weil sein noch knabenhaft-unwissendes Temperament und seine unerfahrene Gefühlskraft zu dem fruchtlosen Wissen und der ergebnislosen Erfahrenheit der meisten seiner Altersgenossen in heiterem, ja, in beglückendem Gegensatz stand. Er hatte sie ohnedies schon gar zu oft gebeten, einmal einen Abend mit ihr verbringen zu dürfen, und schließlich hatte sie ihm bei seinem letzten Besuch versprochen, ihn anzurufen, sobald sie Zeit haben würde.

»Robert«, sagte sie. »Wollen wir miteinander ausgehen? Hast du Zeit? Ich habe Lust, ein wenig zu plaudern. Die Männer sind so über alle Maßen blöde! Und du bist doch wenigstens ein netter Junge. Hast du Zeit?«

Er gab keine Antwort.

»Nun«, fuhr sie fort. »Hörst du mich nicht? Wollen wir ein wenig ausgehen?«

»Wann?« fragte er leise.

»Heute! Jetzt, wenn du Zeit hast! Wir können uns ein wenig in ein Restaurant setzen oder wir können auch ein wenig spazierengehen.«

Wiederum war nichts zu hören. »Nun also! Sprich doch! Was ist denn mit dir!«

Er flüsterte: »Wir zwei allein?«

»Ja. Warum denn nicht?«

»Ach, Fräulein Gisela, wenn Sie wüßten, wie gern! Wenn Sie wüßten –!«

»Leiser, leiser!« rief sie dazwischen, denn er hatte, wie wenn er nach einem Schrecken oder nach einer maßlosen Verwunderung plötzlich losgeschnellt wäre, so sehr zu schreien begonnen, daß es in ihren Ohren dröhnte.

»Ah!« fuhr er fort, »und ich habe mich nicht getraut, Sie anzurufen!«

»Aber warum denn nicht? Das hättest du getrost tun können!«

»Ich habe es mir geschworen, Sie nicht anzurufen!«

»Ja, mein Lieber, wenn du es dir geschworen hast, dann durftest du es nicht tun, warum aber schwörst du dir denn so etwas Blödsinniges?«

»Weil ich wissen wollte, ob Sie selbst – heute ist nämlich der siebente Tag der Woche, der letzte Tag –!«

»Mein Lieber, bist du irre? Heute ist Dienstag!«

»Nein! Sie verstehen mich nicht! Ich bin so glücklich. Ich habe mir gedacht, heute vor einer Woche habe ich mir gedacht: wenn sie mich innerhalb einer Woche anruft, aber wenn ich in dieser Woche nicht anrufe, deshalb habe ich mir eben geschworen, nicht anzurufen, wenn sie mich innerhalb einer Woche anruft, dann – dann – Die Woche hat nämlich mit dem Neunten begonnen, und die Neun ist meine Glückszahl, wenn sie mich also in dieser Woche anruft, dann, dann –!«

»Was denn –?« unterbrach sie ihn, doch mit so energischer Stimme, daß er verstummte. Sie schwieg einige Zeit, dann sagte sie: »Merk es dir, mein Lieber: der Aberglaube behält immer recht, wenn er uns etwas Schlechtes prophezeit, er ist darin ein wenig dem Gewissen ähnlich, das auch nur warnt und nicht rät, wie mir einmal ein gescheiter Mann gesagt hat, aber wenn er uns das Gute voraussagt, merk es dir, mein Lieber, dann ist er sehr unzuverlässig!«

»Ach was!« schrie er, »ich weiß es besser! Ich bin so glücklich!«

»Leiser, leiser!«

»Fräulein Gisela, ich muß es Ihnen endlich sagen, daß ich –«

»Einen Moment, einen Moment«, sagte sie. »Schrei nicht! Warte!« Sie schloß die Augen. »Warte! – Ach, mein Lieber –! Schrei nicht! – Du bist ein netter Junge. Aber ich muß aufhören zu sprechen. Es hat nämlich eben geklingelt. Warte! Das Mädchen öffnet. O Gott! Ich höre die Stimme meiner Tante! Es wird nichts werden mit dem heutigen Abend!« sagte sie traurig. »Sei nicht böse, mein Lieber, es wird nichts werden, denn sie bleibt immer sehr lange bei mir!«

Die Stimme versagte ihm. »Dann können wir einander doch später sehen! In der Nacht! Wann Sie wollen!«

»Nein, mein Lieber, daraus wird auch nichts werden, denn die Tante bleibt immer bis zum Morgen! Sie wohnt weit draußen und übernachtet meistens bei mir. Eine alte Dame.«

Er brüllte: »Was kann denn irgendeine Tante gegen –!«

»Weißt du es nicht?« sagte sie in leise singendem Pathos. »Weißt du es nicht? Irgendeine Tante kann alles!«

»Aber, aber«, stotterte er. »Also morgen?«

»Nein, morgen habe ich keine Zeit, wahrscheinlich werde ich verreisen müssen. Sei nicht bös, mein Lieber, ich hätte dich nicht anrufen sollen, aber ich wußte doch nicht, daß meine Tante kommen wird!«

»Fräulein Gisela –«, begann er noch einmal.

»Still!« unterbrach sie ihn. »Sei still! Und sei nicht böse, mein Lieber! Nun bist du enttäuscht. Aber was verlierst du denn, wenn du den Abend nicht mit einer alten Frau verbringst! Warte, warte, schrei nicht!« – Sie schloß wieder für einen Moment die Augen, schien nachzudenken, und der Hauch eines Lächelns ging über ihr Gesicht. »Weißt du übrigens«, fragte sie, »was die Schuld hat, daß ich dich angerufen habe? Ich habe heute nachmittag eine Viertelstunde geschlafen, und mir hat von dir geträumt. Dadurch habe ich mich an dich erinnert.«

»Ach!« rief er und zögerte. Sie wartete. Endlich kam die Frage: »Was hat Ihnen geträumt?« Sie begann langsam startend und kam erst allmählich in Fluß: »Es war auf der Straße, es hat geregnet, ich bin die unendlich lange, gerade Straße entlanggegangen, immer über Brücken und Brücken, niemand war zu sehen, und nur in ganz, ganz weiter Entfernung tauchten zwei Gestalten auf, sie kamen näher, und plötzlich standen sie vor mir – die eine von ihnen warst du, und die andere habe ich vorerst nicht gesehen, dann aber war's mit einemmal eine alte Hexe, dann wieder ein hübsches kleines Mädchen, ungefähr so alt wie du. Was macht ihr hier? habe ich gefragt. Nichts! hast du geantwortet; aber plötzlich hast du die Arme ausgebreitet und sie an dich gerissen. Was machst du denn? habe ich geschrien, was machst du denn, du gewalttätiger Kerl? Aber wie ich wieder auf sie schaue, liegt sie hingegossen an deiner Brust. Sei still!« Sie schwieg einen Augenblick, dann fuhr sie fort, ein wenig singend, wie man einem Kinde ein Märchen vorsingt: »Sie war wie Flaum in deinen starken Männerarmen und hat dich von unten her angeschaut, jedes ihrer beiden Augen war ein tiefer See, auf dessen Grund die Liebe war. Da habe ich gesagt: Ach so! Pardon!, habe zum Scherz salutiert und bin weggegangen. Ich habe mich nur noch einmal umgewandt, und sie war wirklich reizend, hübsch, zierlich, sanft und hatte ein unendlich süßes Lächeln –.«

»Was kümmern mich«, rief er verächtlich, »die kleinen zierlichen Mädchen!«

»Ja, mein Lieber, das weiß ich nicht. Aber schrei mich doch nicht an! Mach mich doch nicht für meine Träume verantwortlich! Im Gegenteil, du solltest mir dankbar sein, daß ich dich auf das Kommende vorbereite, denn ich habe die Erfahrung gemacht, daß sich meine Träume immer und innerhalb sehr kurzer Zeit erfüllen. Schrei nicht! Schwör' nicht das Gegenteil! Denn was dir bestimmt ist, das kommt! Du mußt bedenken, daß an jedem Tag, zu jeder Stunde sie plötzlich vor dir stehen kann, in jedem Raum, den du betrittst, kann sie schon sitzen! Schon geht sie irgendwo und denkt vielleicht im Augenblick: wenn ich einmal verliebt sein sollte, dann werde ich ihm zu Weihnachten eine ganze Garnitur stricken: Sweater, Pullover, Weste, Schal, Krawatte, Mütze, Strümpfe, Schneesocken – alles! So leidenschaftlich wird sie sein! Sei still! Laß mich zu Ende sprechen! Ich an deiner Stelle würde nicht Widerstand leisten, sondern mich darauf freuen und vielleicht ein wenig davon träumen. Und dann, mein Lieber, wenn du dann einmal einen Rat brauchen solltest, komm zu mir! Denn sieh, zu wem könntest du so viel Vertrauen haben wie zu mir? Wo findest du eine so reife, abgeklärte Frau, die hoch über allem schwebt? Sei still! Die Tante hat endlich abgelegt. Das Mädchen öffnet ihr schon die Tür. Sie kommt! – Auf Wiedersehen, Robert! – Guten Tag, Tante! Nimm Platz, bitte!«

Sie horchte noch einige Augenblicke in den Apparat, hörte seinen Atem, ein Räuspern und knurrend-gurgelnde Geräusche und schließlich ein schüchternes: »Sind Sie noch da?« Sie wartete, bis er es aufgab, brachte dann selbst den Hörer auf die Gabel, legte sich bequemer auf die Seite und blieb still. Zuerst lächelte sie noch, dann sah sie traurig vor sich hin.

Nach einiger Zeit aber war es ihr Apparat, der klingelte. Sie meldete sich unfreundlich und hörte eine tiefe, warme, männliche Stimme: »Gisela, bist du's?«

»Wer ist denn dort?« fragte sie schnell und in einer Art, die Schrecken und zugleich Abwehr enthielt.

»Nun, meine Stimme darfst du doch noch erkennen!«

»Ach, du bist's«, sagte sie in gelassener Sachlichkeit.

»Ja, ich bin vor einigen Tagen von der Reise gekommen und will hören, wie es dir geht.«

»Danke, mir geht es gut. Und wie geht es dir?« fragte sie, und ihre Zurückhaltung legte eine weite Distanz zwischen sie und den Sprechenden.

»Danke, mir ist es auch gut gegangen. Ich bin länger weggeblieben, als es geplant gewesen ist. Nun, wie geht es dir? Bist du gesund?«

»Ja, danke, ich bin gesund.«

»Und beruflich?«

»Danke, es geht gut. Ich habe viel Arbeit.«

Sie gab die Antworten mit steifer Höflichkeit und mit einer starren, leeren Stimme, der aller Timbre abhanden gekommen war.

»Hast du dich im Winter gut amüsiert?« fragte er weiter.

»Danke, es ging.«

»Warst du verreist?«

»Nein, ich war nicht verreist.«

»Du warst den ganzen Winter hier?«

»Ja.«

Er schwieg, und auch sie sagte nichts.

»Und wie geht es allen deinen Freunden?« setzte er dann seine Fragen fort.

»Danke, allen meinen Freunden geht es gut«, antwortete sie in monotoner Gleichmäßigkeit.

»Und was ist in all den Monaten vorgefallen?«

»Gar nichts ist vorgefallen.«

Abermals entstand eine Stille, dann sagte er, mit kleiner Traurigkeit einsetzend, doch mit wachsendem Ärger und schließlich mit unverdeckter Schärfe: »Ach, Gisela, ich sehe, daß ich dich doch nicht hätte anrufen sollen. Ich glaube, du mißverstehst mich. Du willst offenbar nicht mit mir sprechen. Ich habe es nur gut gemeint. Ich behalte eben eine gewisse Solidarität, eine gewisse Anhänglichkeit, und wenn du willst, sogar eine gewisse Verantwortlichkeit. Das wollen allerdings die Menschen niemals verstehen, denn sie gehen auseinander, wie sie –. Du scheinst mich mißzuverstehen oder noch böse zu sein. Dann hättest du das Gespräch eben ablehnen sollen!« Er schwieg, dann fügte er noch hinzu: »Verzeih also, daß ich dich belästigt habe! Hoffentlich habe ich dich nicht auch noch gestört! Leb wohl!«

Er wartete noch eine Sekunde, und eben, da er einhängen wollte, im letzten Augenblick, antwortete sie und sagte den etwas steifbeinigen Satz: »Du befindest dich in einem Irrtum, denn es lag nicht in meiner Absicht, unfreundlich erscheinen zu wollen, und wenn ich diesen Eindruck dennoch hervorgerufen haben sollte, so bedaure ich es, weil es nicht in meiner Absicht lag.« Sie überlegte, dann fuhr sie flüssiger fort: »Ich bin nur im Augenblick etwas abgespannt, ich bin nämlich eben erst aus dem Atelier gekommen und habe vom frühen Morgen an gearbeitet –.« Sie brach ab, ein wenig unzufrieden oder erschrocken über ihre eigenen kühnen Worte, dann sprach sie weiter: »Vielmehr, ich will nicht übertreiben, nach Tisch habe ich tüchtig geschlafen, ich bin nämlich zu allem auch noch marod.«

»Ach! Bist du krank?«

»Es ist nichts Schlimmes, mein Magen hat ein wenig revoltiert. Es waren gestern einige Gäste bei mir, und da war so ein Likör, den ich nicht vertragen habe. Die Gäste sind sogar früher weggegangen – oder hast du vielleicht schon mit jemandem von den Leuten gesprochen, die hier gewesen sind?«

»Nein, nein!« rief er lebhaft. »Mit wem hätte ich denn sprechen sollen? Ich war vom Morgen bis zum Abend beschäftigt!«

»Ich dachte nur«, warf sie hin, »daß du mit irgendwem telephonisch gesprochen hast.«

»Wenn du wüßtest, wieviel ich zu tun hatte, würdest du nicht denken, daß ich Zeit für Privatgespräche habe!«

»So. Hm.«

»Der Likör wird gepantscht gewesen sein«, sagte er noch.

»Ich weiß es nicht. Er hat gewirkt wie Gift.«

»Nun, nun! Es wird doch nicht Methylalkohol gewesen sein! Aber jetzt ist alles vorüber?«

»Ziemlich.«

»Nun also! Ich will dich nicht weiter stören, wenn du nicht wohl bist. Gute Besserung!«

»Danke!«

»Ich werde dich gelegentlich wieder anrufen.«

»Ja. Ruf mich gelegentlich wieder an!«

Er verabschiedete sich: »Auf Wiedersehen!«

»Auf Wiedersehen!« sagte sie. »Aber hör einmal – da wir schon miteinander sprechen –: findest du es nicht einigermaßen grotesk, daß wir uns miteinander unterhalten, als ob zwischen uns nichts vorläge? Ich muß dich doch bei dieser Gelegenheit fragen: wie steht's mit den Briefen?«

»Erledigt, erledigt!« rief er lebhaft. »Du bekommst sie! Ich will keinen Streit! Das war nämlich auch der Grund für meinen Anruf, ich wollte nur nicht gleich sozusagen als Prozeßpartei auftreten. Ich habe mich dagegen gewehrt, sie dir zurückzugeben, weil es mir immer niederträchtig erscheint, das Gewesene verleugnen zu wollen. Es ist ein Verrat an sich und am andern. Aber schließlich, da du so sehr darauf bestehst, bleibt mir nichts anderes übrig. Denn noch häßlicher als dieser unfreiwillige Verrat wäre ein häßlicher Streit.«

Sie hatte ihm mit ein wenig geöffnetem Mund und bewegungslos zugehört. »Du hast recht«, sagte sie nun, in ihrer Kühle verharrend. »Ich freue mich außerordentlich und danke dir sehr für deine Nachgiebigkeit.«

»Du bekommst sie, wann du willst! Soll ich sie dir schicken?«

»Ja, bitte!« Sie zögerte, dann fragte sie: »Sie werden doch auf der Post nicht verlorengehen?«

»Ach nein! Aber ich kann sie dir auch persönlich übergeben, wenn du willst! Sobald du ganz hergestellt bist, können wir uns einmal in der Stadt ein Rendezvous geben!«

»Gut!« sagte sie.

»Und bei dieser Gelegenheit«, fügte er hinzu, »wirst du mir vielleicht doch sagen, wie es dir geht!«

»Gut!«

»Auf Wiedersehen also!« verabschiedete er sich.

»Auf Wiedersehen! Im übrigen, jetzt schäme ich mich fast. Du wirst doch glauben, daß ich ungezogen bin, ich glaube, ich habe dich nicht einmal gefragt, wie es dir ergangen ist.«

»Danke! Im ganzen recht gut! Ich hatte mehr Erfolge, als ich erwartet hatte. Du weißt doch, ich bin nach Rumänien gefahren, um Verträge über den Bau von zwei Brücken abzuschließen, und bin mit Verträgen über fünf Brückenbauten zurückgekommen!«

»Das ist ja sehr erfreulich.«

»Ja. Deshalb bin ich auch so lange weggeblieben. All die Verhandlungen mit dem Staat, den Gemeinden, den Ämtern! Aber ich habe eben«, er lachte, »die Gelegenheit benützt, den Herren nachzuweisen, an welchen Stellen und Orten sie Brücken bauen müssen, wenn sie nicht wollen, daß ihr Land rettungslos zugrunde geht.«

»Kolossal!«

»Nun also –!« begann er wieder, sich zu verabschieden.

»Und wie ist es dir sonst ergangen?« fragte sie.

»Ach, ich bin vor Arbeit gar nicht zur Besinnung gekommen und bin kreuz und quer durchs Land gereist. Nun, du kannst es dir denken, daß es dabei so manche Zwischenfälle gegeben hat. Einmal war ich sogar verhaftet.«

»Verhaftet?«

»Ja, man hat mich mit einem Hochstapler verwechselt.«

»Du warst richtig eingesperrt?«

»Ja!«

»Wie lange?«

»Ach, nur zwei Tage. Dann hat sich der Irrtum aufgeklärt. Aber diese zwei Tage! Es war widerlich.«

Sie runzelte die Stirn: »Ungeziefer?«

»Ich hatte all mein Geld für Insektenpulver ausgegeben, es hat gestunken wie ein angesengter Teufel, aber die Flöhe und Wanzen haben es als Delikatesse gefressen und sind dabei gediehen!«

»Dann hattest doch wenigstens du Ruhe vor ihnen!«

»Aber nein! Sie waren bei Appetit und haben mein Blut als Kompott und Nachtisch genommen.«

Sie lachte nicht und schüttelte nur den Kopf: »Scheußlich! – Und die Kost?«

»Ich durfte mich für mein Geld verpflegen. Ich werde dir die Geschichte genauer erzählen, wenn wir einander sehen. Es war im Grunde ein großer Spaß, wie eben so etwas nachträglich ein Spaß ist.«

Eine kleine Pause trat ein. »Aber sag einmal«, fragte sie, »deine Direktion muß dich doch mit Triumphpforten empfangen haben?«

»Nun ja, man ist sehr zufrieden und hat mir auch schon angedeutet, daß man einen neuen, längeren und besseren Vertrag mit mir abschließen will. Ich werde dir, wenn wir einander sehen, alles erzählen.«

»Ja.«

Sie veränderte ihre Stellung, ums noch bequemer zu haben, und lag nun ganz auf dem Rücken, den Arm auf die Rolle gestützt und die Hand am Ohr. »Wie kam's denn überhaupt zu deiner Verhaftung?«

»Es ist eine Kriminal- und Detektivposse. Der Hochstapler und ich, wir haben in Bukarest im selben Hotel gewohnt. Zufällig wollte er am selben Tag, wahrscheinlich mit demselben Zug abreisen wie ich. Die Polizei hatte ihn längst beobachtet und war auch darüber informiert, daß er sich aus dem Staub machen wollte. Aus irgendeinem Grund aber hatte sie vor, ihn erst auf dem Bahnhof zu verhaften. Nun, zur bestimmten Stunde verläßt, wie sie es erwartet hatten, ein Herr das Hotel – ich nämlich! –, er steigt in einen Wagen und fährt zum Bahnhof. Ein Detektiv, der offenbar vor dem Hotel gewartet hat, folgt ihm. Und als ich den Zug besteigen will, werde ich verhaftet. Kein Protest, keine Legitimation, keine Berufung auf meine Verbindungen hilft mir – zur Polizei! Dort untersuchen sie mein Gepäck und finden all meine Papiere, die Pläne und die Notizen. Ich habe noch niemals Menschen sich so freuen gesehen, denn jetzt waren sie überzeugt, daß sie nicht nur einen langgesuchten Betrüger, sondern auch einen gefährlichen Spion gefangen hatten!«

»Toll! Und der Hochstapler?«

»Er hat zwei Minuten nach mir das Hotel verlassen, ist in einen Wagen gestiegen, zum Bahnhof gefahren und unbehindert abgereist!«

»Toll!«

»Aber ehe die Polizei zugeben wollte, daß sie daneben gegriffen hat!«

»Eben. Es hätte genauso gut eine Woche oder einen Monat dauern können –?«

»Gewiß, aber ich habe einen Freund in Bukarest, einen Deutschrumänen, der sich der Sache angenommen hat, ein freundschaftlicher, geschickter und gescheiter Mensch.«

»Ist es der, von dem du so oft gesprochen hast? Der Schriftsteller, von dem du so viel hältst?«

»Ja. Ich werde dir alles genauer erzählen, wenn du willst. Die Details sind natürlich das amüsanteste.«

»Ja.«

»Ich will dir ja ohnedies die Briefe so bald wie möglich übergeben, damit es abgetan und erledigt ist.«

»Eben«, sagte sie.

»Wann denn?« fragte er. »Den heutigen Abend habe ich vergeben, aber morgen? Hast du morgen abend ein wenig Zeit?«

»Morgen?« fragte sie gedehnt und dachte nach. »Nein«, sagte sie dann, »morgen abend habe ich keine Zeit.«

»Und übermorgen?«

»Übermorgen? Nein, übermorgen habe ich auch keine Zeit, da bin ich eingeladen.«

»So. Dann kommt der Freitag. Wie verhält sich's damit?«

»Freitag? Da muß ich nachsehen. Einen Augenblick, bitte! Ich werde auf meinen Kalender schauen!«

Sie legte den Hörer neben sich, wartete eine Minute, hob ihn wieder auf und sagte: »Ich habe auf dem Kalender nachgesehen, aber am Freitag habe ich auch keine Zeit. Es sind zwei Gäste bei mir. Ich habe überhaupt bei dieser Gelegenheit gesehen, daß ich in dieser Woche alle Abende vergeben habe.«

»So. Dann verschieben wir es wohl auf die nächste Woche.«

»Ja«, sagte sie, »verschieben wir es auf die nächste Woche.«

»Ich werde dich wieder anrufen.«

»Gut.«

»Ich hätte die Briefe gern schon in deinen Händen. Vielleicht hältst du dir in der nächsten Woche eine Stunde frei, damit es uns nicht so geht wie in dieser Woche.«

»Ach ja, natürlich, es wird schon gehen, es ist ja nur ein Zufall, daß sich gerade in dieser Woche so viel zusammendrängt. Es tut mir selbst leid. Einen Moment, als du davon sprachst, daß du mir die Briefe lieber persönlich übergeben möchtest, dachte ich, daß es heute sein könnte, weil ich den heutigen Abend frei habe; aber du bist ja schon vergeben.«

»Ja. Leider. Um halb neun erwartet mich einer der Direktoren, der heute von der Reise gekommen ist, in seiner Wohnung; ich soll ihm einen vorläufigen Bericht über meine Verhandlungen geben – allerdings, gar zu lange kann es nicht dauern, länger als eine Stunde werde ich nicht bei ihm bleiben. Wenn es dann nicht zu spät für dich wäre? Um zehn Uhr?«

»Um zehn Uhr? Ja, das ginge. Warum nicht?«

»Nun also!« rief er. »Bleiben wir dabei! Um zehn Uhr!«

»Wo?« fragte sie.

»Wo? Wollen wir konservativ sein? Im Café Rose?«

»Gut. Wo wohnt denn dieser Direktor?«

»In der Goethestraße. Ich nehme eben, wenn es zu spät wird, einen Wagen.«

»Gut. Aber warte! Hör einmal, sei nicht bös! Ich habe es mir überlegt. Es wird doch nicht gehen!«

»Warum?«

»Ich bin doch recht müde und kann mich nicht entschließen, auszugehen.«

»Mein Gott, nimm eben auch einen Wagen!«

»Nein, das ist es nicht, aber weißt du, wenn ich bedenke, daß ich mich umkleiden soll, frisieren, die Treppe hinuntersteigen, nein, sei nicht bös, ich habe doch nicht die Kraft dazu!«

»Nun, ich will dich nicht drängen. Wenn du krank gewesen bist, ist's vielleicht wirklich besser, daß du zu Bett gehst.«

»Nein, das ist es nicht, ich will noch gar nicht schlafen gehen, ich könnte auch noch gar nicht schlafen, und ich hätte mich sehr gern noch ein wenig mit dir unterhalten, aber noch umkleiden, frisieren, ausgehen!«

»Nun, wenn es nur das ist«, rief er, »dann könnte ich ja ebensogut zu dir kommen, wenn du so spät noch Besuch empfangen willst!«

»Mein Gott, warum denn nicht!«

»Gut! Dann bin ich eben um zehn Uhr bei dir!«

»Schön. Nur wirst du entschuldigen müssen, wenn ich ein wenig derangiert und schlampig bin!«

»Aber bitte! Bleib, wie du bist! Also um zehn Uhr!«

»Gut.«

»Auf Wiedersehen!«

»Auf Wiedersehen!« sagte sie. »Aber warte! Hör einmal, ich fürchte, du wirst jetzt sehr böse sein, aber ich denke, es ist doch besser, wir lassen es sein!«

»Aber Gisela!« rief er lachend, doch auch mit dem fernen Anflug eines Ärgers. »Nein! Nun bleiben wir dabei! Du bist ja wie eine Wetterfahne!«

»Aber ich bin so müde, ich war den ganzen Tag krank, und im Atelier war so viel zu tun wie noch nie!«

»Mein Gott, war es wirklich so arg?«

»Glaubst du mir nicht? Glaubst du, daß ich lüge?«

»Nein, Gisela!« rief er ernst und freundschaftlich. »Das glaube ich wirklich nicht, ich habe es immer gewußt, und wie oft habe ich es dir gesagt, daß du darin eine Ausnahme zwischen allen Frauen bist! Wann immer über dich gesprochen wurde, habe ich deine Direktheit und Geradheit gelobt und deine Unfähigkeit, zu lügen!«

»Nun also, wenigstens das!«

»Aber deshalb brauchst du nicht launisch zu sein!«

»Aber wenn ich so furchtbar müde bin?« fragte sie mit kläglicher Schwäche.

»Dann bleibe ich eben nur eine Viertelstunde bei dir! Einmal bist du schläfrig, dann wieder nur müde, dann willst du nur wieder die Treppe nicht hinuntergehen – was ist denn mit dir?«

»O Gott! Ich sehe schon, daß du dich ärgerst! Ich will nur eines: keinen Zank! Also meinetwegen! Wenn du unbedingt kommen willst – bitte sehr! Ich gebe nach! Nur damit es keinen Streit gibt! – Also auf Wiedersehen!« rief sie, legte den Hörer schnell auf und zog den Stecker aus dem Kontakt.

 

Vor allem stellte Gisela fest, wie spät es war. Dann streckte sie sich aus, daß sie flach auf dem Rücken lag, verschränkte die Hände unterm Kopf und sah aus großen, friedlich-reglosen Augen zur Decke. Sie blieb unbeweglich wie die Dinge rings um sie und wurde eins mit der Stille des Raums. Nur hin und wieder bog sie den linken Arm und führte das Handgelenk mit der Uhr vor ihr Gesicht. Schließlich, als hätte sie eine bestimmte Grenze festgesetzt, sprang sie, nach einem letzten Blick auf die Uhr, genau nach einer Viertelstunde, auf und ging zielbewußt mit eiligen Schritten ins Schlafzimmer.

Dort öffnete sie den breiten Kleiderkasten und wandte sich der linken Seite seines Innern zu, wo die abgetragenen Kleider waren und jene, die sie nur noch zu Hause trug. Hinter den Bügeln aber, an einigen Haken, hingen, übereinander und sich ineinander drängend, die ältesten, die schon darauf warteten, verschenkt oder gar weggeworfen zu werden, und deren eines und anderes sie nur noch manchmal unter ihren Kittel nahm, wenn sie in ihrem Laboratorium zu arbeiten hatte. Ihre Hand tastete in diesen dunklen Hintergrund und zog aufs Geratewohl eines dieser abgetanen Kleider hervor. Wer weiß, wie lange es schon dort sein ausgedientes, zerquetschtes Dasein fristete! Der blaue Stoff war zerdrückt und abgewetzt, die Ärmel waren fast durchgescheuert, und jener Teil, der sich unzähligemal an Stühlen und Sesseln gerieben hatte, erstrahlte schon in hohem Glanz. Gisela hob es in die Höhe und betrachtete mit zufriedenen, fast triumphierenden Blicken seine Schäbigkeit. Es hatte Schlaufen für einen Gürtel, doch dieser selbst war abhanden gekommen oder lag auf dem Boden des Schranks. Sie suchte ihn gar nicht erst. Einer der Knöpfe hing nur noch an einigen Fäden. Wenn sie diesen Fetzen erst einmal angezogen hätte, würde sie wirklich derangiert und schlampig aussehen, und niemand würde auf den Gedanken kommen können, daß sie sich auch nur die geringste Mühe mit der Toilette gegeben hätte. Sie warf ihn über einen Stuhl, zog den Anzug aus und setzte sich vor den Toilettentisch. Finger und Nägel, Brauen und Frisur, Haut und Lippen wurden einer Prüfung unterzogen, und nachdem da und dort noch eine winzige Nachhilfe geleistet worden war, ging Gisela daran, sich anzuziehen. Als sie aber nach dem Kleid griff und es nochmals in Augenschein nahm, besann sie sich doch anders und hängte es wieder weg.

Nun aber stand sie lange dort zwischen den offenen Flügeln, und ihre Blicke gingen langsam von links nach rechts, gingen zurück und nochmals von links nach rechts entlang ihrer ganzen Garderobe. Manchmal ergriff sie einen der Bügel an der Schulter, um ihn aus der Reihe zu ziehen, doch schob sie ihn gleich wieder zurück. Sie fand nichts, wozu sie sich hätte entschließen können. Am äußersten Ende auf der rechten Seite war ein Kleid in einer schonenden Hülle verborgen. Sie hob es von der Stange und streckte den Arm aufwärts, während die linke Hand behutsam die weiße Leinwand abstreifte, so daß es allmählich aus seinem Sack emporstieg. Es war aus leuchtend grauer, ins Silberne schimmernder Seide, die unten in wenigen gewichtigen, wellenförmigen Falten stand, und endete in einer Schleppe. Der Gürtel aus in Silber gewirktem Brokat war seitlich zu einer großen luftig-lockeren Schleife geschlungen und setzte sich in zwei Schärpen fort, deren eine nur unter das Knie, deren andere über den Knöchel reichte. Um den Hals wurde es von einem schmalen, großmaschigen goldenen Filigrankragen abgeschlossen, der im Nacken aufrecht stand, sich aber vorn allmählich legte, um den Ausschnitt zu säumen. Es war ein feierliches und zugleich temperamentvolles Kleid, als ob sich Giselas eigenes Temperament in Gold und Silber ausgetobt hätte. Sie hatte sich nur einmal in ihm zeigen dürfen, bei einem großen öffentlichen Ball, zu dem sie eingeladen gewesen war, und es war fraglich, ob sich wieder eine Gelegenheit ergeben würde, es nochmals zu tragen. Es glänzte und flammte ihr entgegen, ja, es schien sie zu hypnotisieren, sie sah es wie in träumerischer Verliebtheit an, vielmehr, wahrscheinlich sah sie sich selbst, wie sie sich damals im Spiegel gesehen und in den Augen der Männer gespiegelt hatte. Schließlich verbarg sie mit liebevoller Vorsicht die feurige Balltoilette im alten Leinensack und brachte sie an ihre frühere Stelle.

Nochmals ging sie ihr ganzes Besitztum durch, überlegte und studierte. Endlich glaubte sie, das Richtige gefunden zu haben: ein schlichtes Straßen- oder Hauskleid, schwarz und schmucklos, doch war's sehr kurz und lag eng an, so daß sich der Körper ganz verriet. Als sie es aber übergeworfen hatte und vor dem Spiegel stand, schien sie doch nicht zufrieden zu sein. Sie nestelte an ihm, bemühte sich, den Stoff an der Brust zu lockern, daß er sich dort nicht gar zu sehr straffe, und damit der Ausschnitt und der Hals bedeckt, sie selbst gleichsam verschlossener sei, stellte sie den kleinen Umlegekragen auf. Vielleicht wäre er mit einigen Stichen festzuhalten gewesen, aber sie kam mit all dem nicht zu Rand, und da ihre Augen endlich auf den weggelegten Hausanzug fielen, zog sie sich mit schnellem Entschluß wieder aus und schlüpfte in die Hosen und die Jacke. Was war natürlicher in ihrer Situation, als ihn zu tragen! Er stand gut zu ihrem kräftigen, charaktervollen Gesicht und blieb nur im Gegensatz zu ihrer weichgeformten Gestalt. Nun war sie befriedigt; nur irgend etwas wollte ihr nicht stimmen, und stirnrunzelnd spekulierte sie, was es sein konnte. Tatsächlich war etwas anders, als es gewesen war: der oberste Knopf der Jacke nämlich, der vorhin zufällig offengeblieben, war jetzt geschlossen. Sie öffnete ihn, und wie vorher lugte der Saum des Hemdes hervor. Zugleich krempelte sie einen der Aufschläge einwärts, als wollte sie mit Gewalt eine gewisse Unordnung an sich herstellen. Zwar konnte von Derangiertheit und Schlampigkeit im Ernst nicht die Rede sein, doch war wenigstens ihre Gleichgültigkeit gegen ihr eigenes Aussehen symbolisch betont.

Endlich war sie bis ins letzte und kleinste so angezogen, wie sie es ursprünglich gewesen war, aber mit diesem Weg im Kreis war viel Zeit vergangen. Nur eine kleine Veränderung nahm sie noch vor: sie streifte die alten Wollpantoffeln von den Füßen und nahm Hausschuhe mit verhältnismäßig hohen Absätzen. Sie waren spitz, kurz und schmal, so daß aus dem rauhen Stoff der breiten Hosen zierliche Kinderfüßchen hervorsahen.

Als sie so weit war, klingelte es. Mit einem schnellen Blick auf die Uhr überzeugte sie sich, daß es der erwartete Gast noch nicht sein konnte. Sie schlich sich in den Vorraum, blickte durchs Guckloch und sah Blanche auf dem Flur. Nach kurzer Besinnung öffnete sie ihr die Tür.

Vor lauter Freude, Gisela gesund und bei Kräften zu sehen, nahm Blanche nicht wahr, daß sie selbst nicht mit allzu großer Freude begrüßt wurde. Seit über einer Stunde, erzählte sie, habe sie versucht, Gisela telephonisch zu erreichen, aber einmal sei die Leitung besetzt gewesen, dann wieder habe sich niemand melden wollen, und so habe sie sich entschlossen, selbst herzufahren. Sie gingen ins Wohnzimmer, Gisela legte sich wieder auf die Couch, und Blanche setzte sich neben sie. Sie wollte wissen, wie lange Gisela geschlafen, ob und was sie gegessen habe, wie sie sich fühle und ob sie irgendwelche Nachwirkungen spüre. Zerstreut gab Gisela ihre Antworten, doch war's ihr bald zu viel. »Ach, Blanche!« sagte sie langsam und gedehnt und sprach wie von weither. »Ach, Blanche! Du siehst ja, daß ich gesund bin! Es ist alles vorbei! Sag du mir lieber, wie es dir geht!«

Blanche winkte ab.

»Wie lange hast du geschlafen?« fragte Gisela.

»Bis nachmittag.«

»Und dann?«

»Ich hatte einige Wege.«

»Was für Wege?«

»Allerlei.«

»Allerlei? Ich kann's mir schon denken! Ich glaube, du läufst noch immer deinem Atelier nach? Laß es fahren und zieh aus!«

»Selbstverständlich werde ich ausziehen, wenn mir nichts anderes übrigbleibt!«

Gisela lag auf dem Rücken. Sie neigte im geheimen ein wenig den Kopf und sah verstohlen auf ihre Armbanduhr. Dann war ihr Gesicht wieder unverwandt zur Decke gerichtet. »Du tust so«, sagte sie verträumt, »als müßtest du dort, in diesem alten kleinen Haus, deine Seele zurücklassen.« Sie schwieg, dann fuhr sie fort: »Wie kann man nur seine Seele außerhalb seiner selbst haben! Wenn du mich fragtest, wo meine Seele ist – ich wüßte es nicht.«

Blanche lachte auf, doch ein wenig zu laut, wie man lacht, wenn man sich dazu zwingt. Sie frage Gisela nicht nach dem Aufenthaltsort ihrer Seele, o nein, sie frage nicht. Gisela hörte nicht mehr hin, starrte aufwärts und schwieg. Geraume Zeit verging, dann aber ließ ein schwereres Atmen oder ein eben noch vernehmbarer fremder Laut Gisela den Kopf wenden, und sie sah, daß Blanche weinte. »Ach Blanche!« sagte sie langsam, ein wenig singend. »Ach Blanche! Du weinst? Warum weinst du?«

Blanche unterdrückte ihr Schluchzen, trocknete die Augen und zwang sich zu einem Lächeln. »Ganz genau«, sagte sie, »ganz genau könnte ich es dir auch nicht erklären. Nach allem, was geschehen ist, dürfte ich dich nicht auch noch mit meinen Tränen behelligen; aber weißt du, nach dem Schrecken gestern abend und nach dieser Nacht bin ich auch ein wenig aufgelöst und ohne Gewalt über mich.« Sie sprach mit zugedeckter Stimme und ein wenig monoton: »Als ich heute nacht an deinem Bett gesessen habe, wurde ich zwar immer müder und müder, und doch war's nicht schlimm. Ich dachte: es ist doch schön, daß ein Mensch am Bett des andern sitzt und bei ihm wacht. Solange man einen andern hat, ist nicht alles verloren. Ich habe mich gefragt, ob ich es einmal wohl über mich bringen werde, mit dir so aufrichtig zu sprechen wie mit mir selbst, vielmehr, das würde wohl kaum genügen; man muß wahrscheinlich vor dem andern noch um einen Grad aufrichtiger und rücksichtsloser sein als vor sich selbst. Einmal, einmal heraus aus dem Kreis, den man um sich geschlagen hat! Ach, das ist kein Leben! Vielleicht, dachte ich, ziehst du mich heraus. So ist es doch kein Leben! Du bist zwar ein närrisches Frauenzimmer, aber du bist viel gesünder und klüger als ich, warum sollte ich mich da nicht einmal vor dir öffnen dürfen! Man ist schwach und braucht jemanden. Und solange man jemanden hat, ist nicht alles verloren. Sieh, ich habe gestern gesehen, was du getan hast, ich wußte doch immer, wie es um dich steht, warum sollte ich da nicht auch ein wenig vor dir weinen dürfen? Nicht wahr?« Während sich wieder die Tränen in ihre Augen drängten, zwang sie sich zu einem kleinen Lächeln: »Nicht wahr? Ich darf doch?«

»Ach, Blanche!« sagte Gisela mit leiser Klage. »Natürlich darfst du! Aber heute –? Weine morgen, Blanche, weine morgen!«

Blanche war eingeschüchtert und schien ein schlechtes Gewissen zu haben. »Sei nicht böse!« sagte sie. »Heute bist du selbst noch im Schatten des Vergangenen, nicht wahr?«

»Eben!« antwortete Gisela. »Daß ich dir nicht helfen kann! Aber weißt du, komm morgen, mein Kind, weine morgen!«

Sie sah abermals verstohlen auf die Uhr. Dann stand sie auf.

»Du willst wohl wieder zu Bett gehen?« fragte Blanche.

»Ja«, antwortete Gisela, trat hinter Blanches Stuhl und strich ihr über die Haare. »Wann kommst du morgen?«

»Ich weiß es noch nicht.«

»Ich werde dich anrufen«, versprach ihr Gisela, »und dann wirst du zu mir kommen, und wenn du nicht kannst, komme ich zu dir.«

»Gut«, sagte Blanche. Sie dachte einen Augenblick nach. »Du wirst wohl gleich schlafen, wenn du jetzt zu Bett gehst? Sonst könnte ich mich noch ein wenig zu dir setzen.«

»Ja«, sagte Gisela, »wahrscheinlich! Weißt du, ich fürchte nämlich, daß mir einfach die Augen zufallen werden.«

»Dann werde ich gehen«, sagte Blanche, aber sie stand nicht auf.

Gisela ging im Zimmer ab und zu, plötzlich aber lehnte sie sich an den Türpfosten zum Nebenzimmer, ließ den Kopf zur Schulter hängen und sank mit geknickten Knien in sich ein. »Oh Gott!« rief Blanche, als sie ihre Freundin so sah, und sprang auf. »Du bist ja ganz schwach! Geh zu Bett! Schnell! Ich will es dir herrichten!«

»Nein!« sagte Gisela und richtete sich wieder auf. »Laß alles sein! Geh nach Hause und laß du dich bedienen! Ich bin gesund, nur müde!« Sie legte den Arm um Blanches Schultern und ließ ihn dort liegen. »Morgen also? Ich werde dich anrufen!«

»Ja!« antwortete Blanche. »Aber ich will dir noch helfen!«

»Nein, nein! Ich bitte dich!« rief Gisela hastig. »Laß mich getrost allein! Ich ziehe mich aus, werfe mich ins Bett und werde schlafen!« –

Ohne daß es Blanche zu Bewußtsein gekommen wäre, wurde sie von Giselas um ihre Schulter gelegten Arm mit sachter Energie in den Vorraum gelenkt und geführt. »Ich werde gehen«, sagte sie.

»Schade!« antwortete Gisela, »aber ich bin eben noch so schrecklich müde!«

Blanche verabschiedete sich: »Auf Wiedersehen!«

»Auf Wiedersehen, mein Kind! und schlaf dich aus! Du hast die letzte Nacht nicht geschlafen! Die ganze Nacht –!«, und sie sah nachdenklich in Blanches bleiches, abgemüdetes Gesicht, als wollte sie noch etwas hinzufügen. Vielleicht hätte sie ihr gern noch nachträglich ein gutes Wort, irgendein Wort des Dankes gesagt, aber dies war nun einmal nicht Giselas Art, und man erwartete es auch gar nicht von ihr, um so weniger, als man ja wußte, daß auch sie ein kameradschaftlicher Mensch und eine gute Freundin war.

»Auf Wiedersehen!« sagte Gisela nochmals. »Ich rufe dich morgen an! Und dann wollen wir uns ausführlich unterhalten!«

»Ja«, sagte Blanche und stieg langsam die sechs Stockwerke hinunter. Auf der Straße überlegte sie, nach welcher Seite sie sich wenden, ob sie nach Hause oder ins Atelier gehen sollte, in dem sie während dieser Wochen noch viel mehr Zeit verbrachte als früher, wie wenn sie es noch ausnützen und genießen oder langen Abschied von ihm nehmen wollte. Schließlich aber war die Müdigkeit stärker als alles andere, und sie fuhr nach Haus.


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