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Warum läßt Gott die alten Leute aussterben und mit ihrem schönen weißen Haare in die Erde legen? Warum schont er nicht ihrer, wie er des Baumes schont, den er grünen, blühen und duften läßt, selbst wenn das grimmige Feuer des Himmels an dem knorrigen Stamme gezehrt hat? Es mag sein, daß er das Höhere und Feinere eher zu sich beruft, eben weil es so ist – aber kurzsichtig, wie wir sind, mit Gemüthern, die zwischen dem Heute und Morgen auf- und niederschwanken, begreifen wir nicht, warum das Naturgesetz unseren ›alten Leuten‹ ein so kurzes Ziel gesteckt hat. Nachgleitend, wie ein dunkler Schatten um die Zeit des Abends, folgt ihnen der Spruch des unsichtbar in den Höhen und Tiefen waltenden Richters: Siebzig Jahre! und wenn's hoch kommt, achtzig! Und ihr Stolz ist nicht immer ›Trübsal und Mühsal‹! Mitten in der Gewalt eines vollsäftigen Daseins werden sie gefällt; kein Baum im Walde ist so knorrig als oft mancher alte Mensch, so lebengetränkt vom Scheitel bis zur Fußspitze. Warum läßt Gott die alten Menschen aussterben?
Ich möchte das gerne wissen, lieber fast als tausend andere unnütze Dinge, an denen ich im Grunde keine Freude habe. Aber an Euch hatte ich Freude, Ihr alten Leute aus meiner Kindheit! um euretwillen hätte ich das gerne gewußt. Ihr waret von jeher meine Lieblinge, und wenn einer von euch gegen mich ›dort oben‹ zeugen sollte, so zeuge er, ob ich jemals vergessen vor seinem grauen Haupte aufzustehen. Besonders Rebb Eisik Maier (dem der Friede der Gerechten sei) möge sagen, wie ich ihn geliebt habe, und um dieser Liebe willen mir es auch in seiner andern Welt verzeihen, wenn ich in dieser von ihm zu erzählen wage.
Noch jetzt kann ich mir keine Rechenschaft ablegen, warum ich gerade Rebb Eisik Maier so sehr in mein Kinderherz eingeschlossen hatte. Ihm vor Allen hing ich an, wiewohl ich Großvater und Großmutter nicht mißte; an seinem ehrwürdigen Antlitz hafteten meine Blicke, wenn er betete; und traf es sich einmal, daß ich mit ihm zugleich in die Hallen des Bethauses eintreten konnte, so gab es gewiß kein seligeres Gemüth als das meine. Ich liebte ihn mit jener Unbewußtheit, die stets das Merkmal echter Liebe ist, weil nur sie uneigennützig ist. Ich könnte mich auch nicht erinnern, ob ich jemals von Rebb Eisik ein anderes Zeichen der Gunst erfahren habe, als daß er mir am Vorabend des ›Freudenfestes der Thora‹ ein buntes Panierchen schenkte, das er mir eigens ins väterliche Haus mit den Worten geschickt hatte: es komme von Rebb Eisik Maier! Aber dieses Panierchen hielt ich hoch und theuer, kein Fähnrich in blutiger Schlacht hätte sich muthiger gewehrt, wenn einer von meinen Feinden gewagt hätte, es mir zu entreißen. Es kam von Rebb Eisik – und so ward das Panierchen auch nicht zum Trödel geworfen, nachdem es am Freudenfest seine Schuldigkeit gethan, auch nicht zerrissen, sondern heilig und unverletzlich aufbewahrt, wie der Glaube an ein Märchen, und gleich diesem ging es auch im Laufe der Zeiten verloren!
Rebb Eisik wohnte in dem schönsten Hause der ganzen ›Gasse‹; er galt allgemein als ein sehr reicher Mann. Spiegelhell glänzten die Fenster dieses Hauses, aber eben so rein erschien der alte Mann in seinem Anzuge und sonstigem Benehmen. Er trug stets ein weißes Halstuch, das schon aus der Ferne festtäglich glänzte, sonst trug er sich ganz nach der herrschenden Mode. Er war überhaupt von keiner hervorstechenden Eigenthümlichkeit; sein mildes Wesen bewahrte ihn davor. Bei keiner Gelegenheit drängte er sich vor, weder in der Gemeinde, noch im geselligen Verkehre. Mit der Stille eines gefaßten Gemüthes ging er seinen Weg; nur selten, daß er davon abwich. Das geschah nur, wenn er Streitigkeiten in der Gemeinde zu schlichten hatte, wie sie selten lange ausblieben. Dann konnte er wohl, wenn er auf Widerstand und Widerspruchsgeist stieß, in einige Heftigkeit gerathen; seine Stimme begann dann unsicher zu werden und seine Wangen sich höher zu färben. »Will denn keiner bei Zeit die Brill' herunternehmen?« rief er dann gewöhnlich mit überlauter Stimme. Es war merkwürdig, welche Kraft diesen wenigen Worten innewohnte; es war als hätte ein Zauberer seine Formel über eine sturmbewegte Fluth ausgesprochen. Sobald die Leute das von der Brille hörten, lächelten sie still vor sich hin, und die Streitigkeit nahm dann gewöhnlich ein gutes Ende.
Es hat gar Mancher gelächelt, wenn Rebb Eisik das Wort »von der Brille« sprach, und es lächelt noch jetzt Mancher, wenn es sich ihm unwillkürlich auf die Lippen drängt. Denn Rebb Eisik gieng damit nicht haushälterisch um und brauchte es bei jeder Gelegenheit, wo er es schicklich anbringen konnte, jedesmal traf es aber, wie ein Nagel in die Holzwand fährt. Nie gieng die volle Wirkung um eines Härchens Breite verloren.
Rebb Eisik hatte einen guten Freund, den Gemeindesänger Daniel Kremsier, der zu ihm in dem Verhältnisse eines Haus- und Hofministers zu seinem Potentaten stand. Daniel Kremsier hatte die bei Sängern und Musikantenvolk nicht selten anzutreffende Schwachheit, eine nicht geringe Leidenschaft für ein gutes Glas Wein zu besitzen. Den fand er nun jedesmal bei Rebb Eisik so gut und so schlecht er ihn selber trank, und es war daher wahrhaftig kein Wunder, wenn sich die durstige Kehle des Gemeindesängers als täglicher Gast bei dem reichen Manne einstellte. Dafür zeigte er sich aber auch in seiner Art dankbar, wie weit dies ein so durstiges Gemüth zugibt. Daniel Kremsier kam regelmäßig, sobald das Abendgebet vorüber war, und berichtete Rebb Eisik, der nur wenig aus dem Hause kam, Alles, was sich in der Gemeinde zutrug: von der Kindbetterin an, die am nächsten Sabbath ihren ersten ›Schulgang‹ machen sollte, bis zur kleinsten ›Parthie‹ in der Gasse, die von irgend einem ›Schadchin‹ unter dem Schleier des tiefsten Geheimnisses vorbereitet wurde. Daniel Kremsier war ein lebendiges Zeitungsblatt, nur mit dem Unterschiede, daß Zeitungsblätter öfters lügen, der Gemeindesänger aber niemals log. Denn dafür hatte er, wie bereits gesagt, eine zu durstige Seele, und eine solche spricht bekanntlich nur Wahrheit.
Durch diesen Daniel Kremsier sind nun eine Menge von Äußerungen und Urtheilen, wie sie Rebb Eisik in den vertrauten Unterredungen mit seinem Zeitungsblatt zum Besten gab, bekannt geworden. Sie laufen alle auf die »Brille« hinaus, und man wird sogleich sehen, wie sich die ganze Lebenssumme von Erfahrungen, die gesammte Ladung möchte ich sagen, die mein alter Rebb Eisik aus den Stürmen und Fluthen seines Daseins ans Land gerettet hatte, in diesen wenigen Worten gesammelt hatte.
Daniel Kremsier brachte einmal, nachdem er die Kehle sattsam angefeuchtet hatte, die Meldung, es sei von einer ›Partie‹ in der Gasse die Rede, die nach seiner Meinung nichts zu wünschen übrig lasse. Der Bräutigam ›habe‹ nichts und die Braut habe noch weniger. Aber sie wären sich Beide merkwürdig zugethan, und wenn man dem Bräutigam eine blanke Million auf den Tisch aufzählen würde, so ließe er auch von dem Mädchen nicht ab.
»Und das meint Ihr in Ernst, Daniel?« fragte Rebb Eisik mit einem gewissen schelmischen Lächeln, das dem alten Manne sehr wohl anstand.
»Was heißt, Rebb Eisik?« betheuerte der Gemeindesänger. »Ist denn das nicht eine Partie, wie es keine bessere gibt, wenn der Eine nichts hat und der Andere auch nichts und Keiner was zu verlieren hat?«
»Daniel Kremsier, mir scheint, Ihr habt erst Ein Glas getrunken«, sagte Rebb Eisik mit vollem Ernste, »schenkt Euch ein und trinkt ein zweit' Glas, damit es ein Bissele heller wird in eurem Kopf. Denn Ihr habt eben eine große Narrethei von Euch gegeben.«
»Wie heißt, Rebb Eisik?« fragte der Gemeindesänger sich verwundert stellend, ließ sich aber die Mahnung seines Potentaten nicht zweimal wiederholen.
»Wie heißt?« äffte Rebb Eisik nach. »Das heißt: jetzt hat der Bräutigam noch die Brill' auf und sieht Alles doppelt. Die Nase von seiner Braut erscheint ihm doppelt so schön, als sie vielleicht in der Wirklichkeit ist, und wenn sie etwas redet, meint er vielleicht, Gott selbst in seinem siebenten Himmel kann nicht so fein reden. Laßt aber ein Jahr oder zwei vergehen, Daniel! laß sie Mann und Weib sein, Kinder um sie herumschreien und dergleichen, dann seh zu, Daniel Kremsier, ob er noch die Brille auf hat.«
Der Gemeindesänger war als Zeitungsblatt viel zu diplomatisch, als daß er durch Widerspruch seine Existenz in Gefahr gebracht hätte. Er begnügte sich also, durch ein lautes Gelächter der Meinung Rebb Eisik's seinen Beifall zu schenken und bei dieser Gelegenheit sein Glas zum dritten Male zu füllen.
Kluge Leute mögen aber entscheiden, ob mein alter Rebb Eisik mit seiner Brille Recht hatte oder Unrecht. Die Geschichte jener ›Gasse‹, in der sich jener Bräutigam befand, will wenigstens wissen, daß er schon nach Jahr und Tag mit allen zehn Fingern nach jener Million gegriffen hätte, die er damals verschmäht – wenn sie ihm nur jemand auf den Tisch gezählt hätte.
Kurze Zeit darauf starb der alte, nahe neunzigjährige Rabbiner der Gemeinde. So lange er am Leben war, hatte man sich gehütet, aus Ehrfurcht vor dem Greise, der die Meisten in der ›Gasse‹ als Kinder gekannt hatte, irgend welche Verbesserungen oder, wie es hochdeutsch heißt, ›Reformen‹ in Gottesdienst und Schule anzubringen. Der Tod des alten Rabbi war das Zeichen zu einem erbitterten Kampfe der Parteien; unentschieden wogte dieser lange hin und her, bis am Ende der Sieg den jüngern Gemeindemitgliedern zufiel. Die Jüngern hatten einen ›Prediger‹ durchgesetzt, und mit diesem einen ›geregelten‹ Gottesdienst. Am meisten von diesen tiefeinschneidenden Veränderungen war Daniel Kremsier, der Gemeindesänger, betroffen, denn sie giengen ihm fast ans Leben. Er sollte nicht mehr die schöne Kunst seiner gesungenen Schnörkel üben, nicht mehr die wildaufschreienden Melodien einer uralten Zeit vor den Ohren der Leute, die seiner geworden waren, anbringen! Eine andere Zeit war gekommen und mit ihr ein musikalischer ›Cantor‹, der im Chore des trefflichen Sulzer in Wien gebildet worden war. Daniel Kremsier ward mit vollem ›Gehalte‹ verabschiedet; er war das Opfer eines Kampfes geworden, den man in unserer wortreichen Zeit ›Übergangsphase‹ zu nennen pflegt. Dieses schreckliche Wesen fuhr wie ein schweres Wagenrad über den Leib des armen Gemeindesängers!
Traurig und tiefbekümmert kam eines Abends Daniel Kremsier zu seinem alten Freunde.
»Was ist mit Euch vorgegangen, Daniel?« rief ihm dieser erschrocken entgegen. »Ihr seht ja aus, als hättet Ihr acht und vierzig Stunden hintereinander gefastet?«
»Sieht man mir's also an?« meinte der Gemeindesänger wehmüthig und beschaute mit einer Art von Lust seinen ohnehin spindeldürren Leib. »Ist es denn ein Wunder, wenn ich so aussehe? Ich frag' Sie, Rebb Eisik: muß das Einem nicht das Herz abstoßen, wenn man dreißig Jahre vor Gott und den Menschen gesungen hat, und jetzt kommt so ein Hergelaufener, der nicht einmal ›Hebräisch‹ recht lesen kann, und schnappt Einem das Brot weg?«
»Weggeschnappt hat er es Euch nicht, Daniel«, bemerkte Rebb Eisik ruhig, »und ich denke, die Gemeinde läßt es Euch an nichts fehlen. Euer Brot habt Ihr, Daniel.«
»Was hab' ich vom Brot«, rief der abgesetzte Gemeindesänger mit kläglicher Stimme, »wenn ich nicht mehr singen kann? Soll mir das also nicht das Herz abstoßen, wenn so Einer mit seinem Chor in derselben Schul' singt, die mich mehr als dreißig Jahre kennt?«
»Das ist's, was Euch so mager macht, Daniel?« meinte Rebb Eisik wieder mit seinem ruhigen Lächeln. »Daniel Kremsier, seid kein Narr auf eure alten Tage und zieht auch Ihr die Brill' einmal aus.«
»Wie heißt, Rebb Eisik?« fragte der pensionirte Gemeindesänger ganz verblüfft.
»Schenkt Euch erst ein, Daniel«, meinte Rebb Eisik kaltblütig, »ich will Euch dann sagen, was das heißt.«
Trotz seines Kummers ließ das klägliche Opfer einer Übergangszeit diese Mahnung nicht zweimal wiederholen. Mit auffallender Hast griff er nach dem Glase, und sein vom Kummer abgezehrtes Antlitz begann eine leise Röthe anzunehmen.
»Daniel Kremsier«, sagte hierauf Rebb Eisik, der mit Wohlgefallen die Veränderung bemerkt hatte, die mit seinem Gesellschafter vorgegangen; »Daniel, Ihr wißt, ich bin keiner von denen, die sich das ›Jüdsein‹ auf die leichte Achsel laden. Ich kenne Euch, Daniel, seit dreißig Jahren, und immer hat sich mein Herz an eurem Gesange und euren ›Stückeln‹ ergötzt. Wenn ich Euch am Jom Kipur mit nüchternem Magen habe so gewaltig schreien hören, daß die ganze Schul' gezittert hat, da ist mir das Herz vor Freude aufgegangen. Ich hab' es immer gespürt: Der weiß, was er von Gott will. Was wollt Ihr aber, wenn die Zeit andere Ohren bekommen hat? Für mich schreit und singt Ihr gut genug. Was könnt ihr thun, wenn sich die junge Welt die Brille aufgesetzt hat?«
»Wieder Ihre Brille, Rebb Eisik!« meinte der Gemeindesänger mit einem Anflug von Verdrießlichkeit im Tone.
»Helft Euch, Daniel, anders«, sagte der Alte ungerührt. »Ich kann Euch nur den einen Rath geben: Nehmt Ihr Eure Brille herunter, und Ihr werdet einsehen, daß Ihr für die jetzige Weit nicht mehr paßt.«
Daniel Kremsier neigte wehmüthig sein Haupt, er mußte dem Rathe des Alten beistimmen, wie schwer es immer dem Opfer der neuen Zeit fiel. Und in der That, der abgesetzte Gemeindesänger zehrt noch heut zu Tage am Gnadenbrote der Gemeinde und hat die Brille heruntergenommen, ganz wie Rebb Eisik es ihm angerathen hat.
So wie dem Gemeindesänger Daniel Kremsier ergieng es noch vielen Andern, denen Rebb Eisik mit seiner Brille kam. Nicht jeder lachte darüber, Manchem fuhr sie wie ein spitzer Pfeil in die Seele. Selbst der neue Prediger entgieng ihr nicht. Der junge Mann hatte im ersten Eifer seiner Stellung an gar Manches in der Gasse die Axt gelegt und hatte ins Feuer geworfen, was gar nicht abgestorben oder gar todt war, sondern bei einiger Nachsicht sogar ein schöneres Nachleben versprach.
»Gebt gut Acht, Daniel«, sagte einmal Rebb Eisik zu seinem abgesetzten Gemeindesänger, »gebt gut Acht: Der Prediger wird auch bald seine Brille wegnehmen!«
»Leider Gottes aber«, klagte Daniel, in dessen Gemüth trotz allen Weines noch ein bitterer Tropfen lag, »leider Gotts! er hat sie aber noch auf. Soll man warten, bis kein Jüdenkind mehr in der ›Gasse‹ sein wird? Dann wird er sie gewiß herunternehmen.«
»Schadet nichts, Daniel, schadet gar nicht«, bemerkte dagegen Rebb Eisik. »Die Jüdenkinder hören sobald nicht auf; aber der Prediger wird bald aufhören. Auch er hat die Brill' noch auf, und da meint er, er sieht jedes Fleckele und jedes schwarze Pünktchen in unserer heiligen Religion doppelt so groß als sie sind. Er ist umgekehrt wie jener Bräutigam! Der hat zu viel Schönes an seiner Braut gesehen und unser Prediger sieht wieder zu viel Schwarzes. Der Eine hat schon die Brille herabgezogen, der Andere wird es auch thun. Und je länger es dauert, Daniel, desto besser. Denn je hastiger Einer eine Sache in sich aufnimmt, je fester er überzeugt ist, daß er in der Sache Recht hat, desto gründlicher ist dann seine Besserung. Nur die Menschen nicht zwingen! nur abwarten bis das Nachdenken sich von selbst einstellt. Ich möchte mit Euch eine Million wetten, Daniel, daß wir Beide es noch erleben, wie der Prediger seine Brille herunternimmt.«
Offenherzig gestanden, so gut sonst Daniel Kremsier die Brillensprache seines Freundes verstand, diesmal war sie ihm zu ›hoch‹. Noch fühlte er sich zu tief in seiner Ehre gekränkt, an die ihm jener ›Hergelaufene‹ mit seinem Chore so freventlich griff, als daß er sich so leicht zur Weltanschauung Rebb Eisiks hätte erheben können. Dennoch war er zu gescheidt, um gegen ihn Einspruch zu erheben; Rebb Eisik hatte etwas von der Halsstarrigkeit kluger Leute, die auf einen einmal erprobten Lebenssatz kein Stäubchen der Widerrede wehen lassen. Vielleicht war dieß mit der Grund, daß Daniel Kremsier der Äußerung seines Freundes über den neuen Prediger eine größere Verbreitung verschaffte, als Rebb Eisik selbst wünschte. So gelangte sie auch ans Ohr des neuen Predigers, er ward davon lebhaft getroffen. Der junge Mann mußte sich gestehen, daß sie zwar nicht neu war, aber eine Art Wahrheit enthielt, die er am wenigsten aus dem Munde eines alten Mannes erwartet hatte. Glühend vom Eifer für dasjenige, was er für das Bessere hielt, war er der Meinung, in jedem alten Manne der Gemeinde lauere ein Feind, der die frisch ausgestreute Saat zu vernichten strebe. Wie jedes eifrige und entbrannte Gemüth im Grunde von Nichtduldung des ihm entgegengesetzten Stoffes ausgeht, den es niederzuringen sucht, so hatte auch der junge Prediger vergessen, duldsam zu sein. Jetzt hörte er aus dem Munde eines der ältesten Männer in der Gemeinde die Mahnung, mit ihm selbst, dem Prediger, Geduld und Nachsicht zu brauchen. Er fühlte sich davon einigermaßen beschämt; zugleich aber entbrannte seine Seele im Zorn, daß man es wagen könne, seine Ansichten zu verdächtigen und ihnen nur eine zeitliche Beschränkung einzuräumen. In der ersten Aufwallung wollte er sich darüber auf der Kanzel auslassen, und hatte bereits einen Text dazu gefunden. Aber eine unerklärlich laut sprechende Stimme in seinem Innern hielt ihn zum Glücke von diesem unüberlegten Schritte ab. Die Beschämung behielt die Oberhand. Er beschloß den alten Mann, den er nur oberflächlich hatte kennen gelernt, aufzusuchen; es zog ihn mehr als gewöhnliche Neugierde zu ihm.