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Erstes Kapitel

Erinnerung

Jeder Mensch hat Augenblicke, wo ihm das Leben recht freundlich begegnet, Lichtmomente in dem lieblosen Zwielichte seines Schicksals wo er hinaussehen kann in die frohere Zukunft oder in das ferne Wesen seiner Ideale, die er nimmer erreichen darf. Dann ergreift es ihn wunderbar, und er möchte' es allen verkünden und sagen, wie er so selig war; aber er geht einsam und in sich gekehrt durch Wald und Fluren in freudiger Wehmut, den ganzen Himmel in seiner stillen Brust. Denn die Erinnerung vergang'ner Seligkeit ist wohltätiger für ein Menschenherz als des Augenblicks Genuss und wirkt mit heiligem Beben durch viele Zeitenstürme mild und freundlich fort. Ich aber bin ein fröhlich leichtes Gemüt, verschließe nicht gern in tiefer Brust mein höchstes Glück und halt' es nicht für halb recht, mit andern nicht die Erinnerung meiner schönsten Tage zu teilen. Wenn sie auch nicht das Besondre meiner Erzählung interessieren mag: sind sie nur einer zarteren Teilnahme fähig, so freuen sie sich doch an dem ausgesproch'nen Gefühle des seligen Herzens, knüpfen an meine Freuden auch die ihrigen an und finden so in meiner Erinnerung ihre eigene wieder. Drum will ich denn schlicht und recht meinen Himmel auftun, und wem es gefällt, der schaue hinein!

Ich bin aus einem kleinen Landstädtchen in Thüringen, studiere nun seit drittehalb Jahren die Rechte auf der Leipziger Universität, war ziemlich fleißig und gedenke, mich auf nächste Ostern exmatrikulieren zu lassen. Weil ich nichts gern halb mache, so bin ich auch ein ganzer Student, mit allem Bösen und Guten, das sich diesem Titel anschließt. Burschenfreiheit war bis jetzt mein Ideal, und mir ist nichts lieber gewesen, als wenn ich der scharfen Klinge gegenüberstand. Übrigens schickte mir mein Alter recht anständige Wechsel, und ich lebte bis jetzt in der angenehmsten Lage. Verliebt war ich alle Wochen dreimal; Liebe kannte ich noch nicht. So viel in kurzem von meinem Ich und meinen Verhältnissen. Nun zu meinem Lichtmomente! Die Michaelisferien kamen näher; das Wetter, das für den ganzen Sommer für den April angesehen hatte, fing an, beständig und gut zu werden, und ich entschloss mich, die freien Tage zum letztenmal in der vollen Freiheit, eh' ich ins Philisterleben hinüber musste, durchzubringen. Wörlitz, Das bekannte Städtchen bei Dessau, unweit der Elbe, berühmt durch seinen 1796 – 1802 vom Herzog Leopold Friedrich Franz angelegten Park; in demselben das Pantheon (mit Antikensammlung), der Floratempel etc. (der Hrsg.) den von Leipzig nur acht Meilen entfernten reizenden Park des Herzogs von Dessau, hatte ich noch nicht gesehen, und ich bestimmte ihn zum Ziel meiner Reise. Da ich von Jugend auf keine andre Gelegenheit als die zu Fuß gewohnt war, so war meine Einrichtung bald getroffen; mein Ränzel war in wenigen Augenblicken geschnürt. Ich verließ die freundliche Lindenstadt Der Name Leipzig ist abgeleitet vom sorbischen lip oder lipa, die Linde (der Hrsg.) am frühen Morgen nach kurzer Ruhe, und leise Ahnung flüsterte mir aus der Morgendämmerung entgegen.

 

Zweites Kapitel

Konstantinopel

Wer das Fußreisen recht gewohnt ist, den wird die Gegend, wenn sie auch noch so flach und trocken ist, nicht verdrießlich machen. Man läuft so hin, und ich kenne mir keinen Augenblick im ganzen Leben, wo mir mehr und glücklichere Träume und Gedanken zugeflogen sind als gerade beim Zu-Fuß-Gehen. Mir ist's dann immer, als wär' ich der ganzen Welt verwandt; ich mochte jeden Begegnenden herzlich Bruder und Vater nennen, und nur in diesem Momente ist mir zuweilen eine Ahnung von dem Ideal der Liebe geworden, das ich im Leben noch nicht gefunden hatte und das meiner prosaischen Seele – denn ich habe, wie jeder andere Mensch auch, zwei Seelen – mir nicht verkündigt glaubte. So kamen mir auch jetzt, trotz der abgeschmackten flachen Gegend, die herrlichsten Träume entgegen, und mir war's, als ob ein neuer Tag in meinem Herzen anbrechen sollte. – Spät kam ich nach Wörlitz, kehrte im dasigen Gasthofe ein, und der Wirt rief dem mich führenden Manne: »Der Herr logiert in Konstantinopel. Geh' aber fein sachte, damit du die Herrschaft in Petersburg nicht aufweckst!« Ich glaubte anfangs, der Kerl sei toll; als ich aber in den Vorsaal kam, da fand ich über jeder Türe den Namen einer der europäischen Hauptstädte statt der gewöhnlichen Zahlen und nahm also stolz mein Konstantinopel ein, da es von den Türken und übrigen Einwohnern gänzlich verlassen war. Ich erkundigte mich sogleich, wer mein Petersburger Nachbar wäre, und erfuhr, dass es ein alter Herr mit einem schönen jungen Mädchen sei, die vorher auch in Konstantinopel gewohnt hätten, aber da Petersburg, welches mehr Flächenraum besitzt, leer worden, hinübergezogen wären. Ich schickte baldmöglichst den geschwätzigen Markeur fort, um meine schöne Nachbarin noch belauschen zu können: aber ich hörte kein Wort. Glücklicherweise ging eine Türe von Petersburg nach Konstantinopel, und auf dieser Grenze trieb ich eine Art Schleichhandel mit Blicken. Da sah ich denn das schönste, lieblichste Mädchen, was mir je erschienen war, mit dunkelbraunen Locken, großen freundlichen Augen, kurz, einen Engel ohne Flügel , auf dem Sofa sitzend und lesend. Ich vernahm zugleich ein tiefes Atemholen und schrieb dies mit vieler Wahrscheinlichkeit dem schlafenden Vater zu, den ich zwar nicht sah, von dessen Existenz ich aber durch den Kellner überzeugt war. Gewiss hat noch kein konstantinopolitanisches Auge mit so viel Wohlbehagen und tiefen Freuden die Petersburger Schönheiten gemustert als das meinige. Ich stand wie festgezaubert an dem Schlüsselloche und hätte meinen Platz mit keiner lebendigen Seele auf der Erde vertauschen mögen, ausgenommen den schnarchenden Nebenmann. Ich hörte den Markeur wiederkommen, floh von meinem Belvedere, aß mit gewaltiger Hast das gebrachte Abendessen hinunter, und als ich fertig war und der verhasste Vierte – denn der schnarchende Dritte war für mich so gut als nicht da – wieder abgetreten, wollte ich mein schönes tête-à-tête, wovon zwei Augen in Petersburg und die zwei anderen in Konstantinopel waren und außer der Entfernung von mehreren hundert Meilen noch durch eine Türe geschieden wurden, wieder anknüpfen, als ich meine Aussicht ganz versperrt fand, da das liebe Licht verlöscht war. Ich hörte es in den Betten rauschen und war also überzeugt, dass mir dieser Stern für heute Nacht untergegangen war; und so ergriff ich ebenfalls die Partei der Petropolitanen und schwur zu der Fahne des Schlafs; in welcher statt des gewöhnlichen Wappens ein lieblicher Mädchenkopf prangte. Wem er geglichen habe, erraten gewiss alle.

 

Drittes Kapitel

Die Landsmannschaft

Es mochte schon ziemlich spät sein, als ich erwachte; meine Nachbarn waren auch schon lebendig geworden. Schnell war ich daher in den Kleidern und nahm wieder meinen Grenzposten ein. Die ganze Nacht hatte ich von dem Engelsköpfchen geträumt, und ich kannte in diesem Augenblicke keinen andern Wunsch, als den ganzen Tag es anstaunen zu können. Ich hörte, wie der Alte vorschlug, im Freien beim Tempel der Flora zu frühstücken, und ich machte daher schnell meinen Plan. Kaum waren sie von dannen, als auch ich Anstalt traf, ihnen zu folgen. Als ich zuletzt nach meiner Brieftasche in dem Schreibpult suchte, fiel mir ein Briefkuvert in die Hände, worauf die Adresse des »Amtmann Walther zu H., dermalen in Dessau« stand. H. ist nämlich mein Geburtsort, und ich hatte schon viel von dem neuen Amtmann und seiner liebenswürdigen Tochter gehört. um so schneller eilte ich meinen neuen Landsleuten nach, fand sie richtig bei dem Tempel der Blumengöttin und machte sie mit wenigen Worten mit mir und meiner Entdeckung bekannt. Der alte Herr schloss mich erfreut in seine Arme, versicherte mich, mein Vater sei sein bester Freund, und stellete mir das Engelsköpfchen als seine Tochter vor. Auch sie erzählte mir viel von meinen Schwestern, und ich ward bald mit ihr vertraut, als hätten uns schon jahrelang gesprochen und gekannt. Ich hatte mancherlei zu fragen, wie es zu Hause herging, denn ich bin seit anderthalb Jahren nicht in die Heimat gekommen; und so waren bald ein paar Stunden verplaudert. Nun, liebe Leser, erzählt' ich euch so gern, wie unendlich reizender Emmeline ward , je näher man sie kennen lernte, wie lieblich die Silbertöne aus ihrem Munde kamen, und wie anständig und gefühlvoll sie über alles sprach. Aber das habt ihr gewiss von tausend Liebhabern entweder schon tausendmal besser gehört oder selbst schon tausendmal deutlich empfunden; nicht einmal das braucht ich euch zu sagen, dass ich das Mädchen schon recht tief und innig liebte, denn ihr habt es mir doch längst abgemerkt. Ich fühlte es recht bald, dass ich nicht wie gewöhnlich bloß verliebt war, denn ich war oft sogar verlegen, wenn sie mich so herzlich offen mit ihren dunklen Augen ansah, was doch einem Stundenten gewiss nur höchst selten begegnet. Der Vater schlug vor, spazieren zu gehen, und wir folgten willig. Amtmann Walther war ein braver, treuherziger Mann von altem Schrot und Korn; er hatte mit Emmeline eine Verwandte in Dessau besucht und zeigte nun auf der Heimkehr seiner Tochter das freundliche Wörlitz. – Wir durchstrichen planlos den schönen Park und waren alle drei in der herrlichsten Laune. Da umzog sich plötzlich der Himmel, und da wir zu weit vom Gasthofe entfernt waren, um dahin zurückkehren zu können, so nahmen wir noch bei guter Zeit Zuflucht im Tempel der Nacht; denn wir waren kaum in Sicherheit, als es heftig zu regnen und zu donnern anfing. Der Plafond des Tempels ist ganz schwarz und voll feiner sternförmiger Lichtlöcher, so dass man zu Tage fast wie unter dem hellen Sternenhimmel sitzen kann. Jetzt ist es freilich ziemlich dunkel, da die Sonne, die diese Fixsterne erleuchten soll, von schweren Gewitterwolken bedeckt war. Um so wunderbarer war der Effekt der Blitze, deren Schein plötzlich die kleinen Sonnen entflammte und uns ein schönes magisches Licht auf Augenblicke zuwarf. Emmeline, die nicht ohne Furcht vor dem Gewitter war, schmiegte sich ängstlich an ihren Vater, und ich kann den Eindruck nicht beschreiben, den die momentane Beleuchtung dieser lieblichen Gruppe auf mich machte. Ich war in tiefer Begeist'rung, kam reizender auf mich zu, als die kühnsten meiner Wünsche geträumt hatten.

 

Viertes Kapitel

Der Knieriemen

Nach und nach legte sich das Gewitter, und die Nacht des Tempels ging schon etwas in Dämmerung über. Nun wurde Emmeline auch wieder gesprächig, und weil sie noch die Nässe der Wege scheute, entschlossen wir uns, noch ein Stündchen in diesem Heiligtume zu verweilen. Ich tat mein mögliches, die Leutchen zu unterhalten, und so gut es mir mit der Tochter gelang, so schlechten Erfolg hatte ich beim Vater, der in einiger Zeit sanft und selig entschlief. Wir ließen ihn schlafen und gaben uns gegenseitig Rätsel und Scharaden auf, die der andere lösen musste. So vertrieben wir uns angenehm die Zeit, bis uns zuletzt einfiel, die Scharaden sogleich selbst zu verfertigen. Einer gab dem andern die Wörter auf, die wir so schwer als möglich zu machen suchten. Ich gab ihr unter anderem das Wort Bügeleisen, und sie mir zur Rache, weil ihr die Scharade schwer schien, das Wort Knieriemen. Ich nahm all mein bisschen Geist zusammen, um mich nicht lächerlich zu machen. Aber ich gestehe, dass mir noch nie eine Scharade so schwierig vorkam als diese, besonders weil ich durchaus darauf bestand, ihr zugleich eine Galanterie zu sagen, die doch wirklich an den Knieriemen schwer zu knüpfen war. Sie war mit ihrem Bügeleisen längst fertig, als ich noch immer an ihrem Knieriemen kaute, und wohl ist noch kein verliebter Poet in dergleichen Not gewesen als ich. Ich hätte lieber durch die ganze ehrsame Schusterzunft, statt Steigriemen, Die Stege an den Beinkleidern (der Hrsg.) Knieriemen laufen Scherzhafte Variation von: Spießruten laufen. Der Sinn ist: statt stolz in seinen Steghosen einherzugehen, würde er lieber unter den Knieriemen der ganzen Schusterzunft Spießruten laufen. (der Hrsg.) wollen, als mit dem Knieriemen meine Begeist'rung zu fesseln. Endlich kam es doch mit meinen Ideen zum Durchbruche. Ich sagte ihr folgende Verse:

»Der Wörter gibt es doch ein großes Heer,
Und möchte' ich gern mit Reden dir gefallen,
So fällt kein einz'ges Wort mir bei von allen,
Ich mag nun denken noch so sehr;
Dürft' ich vor dir vor dir nur auf die erste Silbe fallen,
Braucht' ich die andern Wörter all' nicht mehr.

Du wirst den Gott der Liebe sicher kennen,
Der jedes volle Herz bewegt.
Die letzten meiner Silben nennen
Das Band, woran er seinen Köcher trägt.
Das Ganze ist prosaischer Natur,
Der Schuster schätzt und braucht es nur.«

Ich hatte kaum geendigt und wollte eben hören, was Emmeline auf meine erste Silbe erwidern würde, als der Papa erwachte; doch hatt' ich wohl ein heimliches Erröten und Augenniederschlagen bemerkt, was mir gar wohltat. Der Vater drang auf die Rückkehr, und ich schied mit stiller Dankbarkeit von dem lieben Tempel. Nun ging das Durchwandern des Parks aufs neue an; wir fuhren auf den Teichen umher, eilten über die Kettenbrücke, bewunderten das Pantheon und schwindelten auf der Luisenklippe. Aber die Zeit des Mittagessens kam heran; wir wanderten zurück und nahmen in Petersburg ein frohes Diner ein. Emmeline war lauter Frohsinn und Liebenswürdigkeit, ich unendlich glücklich an ihrer Seite, und der Amtmannerfreute sich an dem Hochheimer, der in unsern Gläsern perlte.

 

Fünftes Kapitel

Das Buchstabieren

Nach dem fröhlichen Mahle hielt der Amtmannseiner Gewohnheit zufolge ein Mittagsschläfchen. Ich ward unterdes nach Konstantinopel verwiesen. In tiefen Träumen legt' ich mich ins Fenster, und immer deutlicher ward es mir, und immer lebendiger stand der Gedanke vor meiner Seele, dass ich das Ideal meiner Lebenswünsche gefunden habe, dass ich beim Ziel meines höchsten Strebens Emmelinen näher wäre, und dass die Ahnung meiner Seligkeit zu schöner Wirklichkeit emporblühe. Aus meinen Träumen zogen mich Emmelinens Silbertöne, die aufs neue zum Spaziergange abriefen. So strichen wir denn zum letztenmal zusammen in dem Park umher; denn Walther hatte mir vorher schon gesagt, dass sie noch abends abreisen würden. Ich war auf jede Minute geizig; es waren ja bald die letzten, die ich in langer Zeit mit ihr verleben sollte! Im Venustempel setzten wir uns nieder; der Vater zündete sich ein Pfeifchen an und besah sich die herumstehenden Pflanzen, da er Botanik als Steckenpferd trieb. Unterdes lasen wir mancherlei Verse, die empfindsame Hände an die Säulen des Tempels geschrieben hatten. Wir trafen unter andern auf folgenden Vers:

»Hier in Cyterens Cyterea, Beiname der Venus nach der Insel Cyterea (der Hrsg.) Heiligtume
Entfaltet sich mit stiller Lust
Des Herzens zartgeschmückte Blume,
Und höher pocht es in der Brust.
Umsonst, nicht länger halt' ich mich,
Und sag es laut ...«

Die folgenden Worte waren fast ganz verwischt, und wir versuchten lange umsonst, den Sinn herauszubuchstabieren. Auf einmal hatten wir es beide zugleich herausgefunden und riefen's uns freudig zu. Aber überrascht durch unsre eignen Blicke, schlugen wir die Augen nieder und schwiegen. Doch mich trieb die Liebe; ich ergriff ihre Hand und sagte begeistert:

»Umsonst, nicht länger halt ich mich
Und sag' es laut: Ich liebe dich!«

Da sank sie, vom Gefühl bezwungen, an meine Brust, und an dem heiligen Altar der Liebe hatten wir uns für ewig gefunden.

 

Sechstes Kapitel

Die Sonnenblume

Noch waren wir trunken vom ersten Begegnen der Liebe, als des Vaters Stimme uns zu uns selbst brachte. Er rief uns zurück, denn schon harrte der Wagen ihrer.

Seligkeit im Herzen, gingen wir still nebeneinanderher, und als wir im Gasthof angekommen und der Vater noch einiges zu besorgen hinauseilte, gab sie mir schweigend die Hand. Eine tiefe Veränderung war in mir selbst vorgegangen; ich war um vieles höher gestiegen in meiner eigenen Achtung, und jetzt erst fühlt' ich den ganzen, vollen Himmel dieser Erde. Wehmütig zeigte ich auf ein Gärtchen in der Nähe, wo unter allen Blumen hoch eine Sonnenblume stand, die traurig ihr Haupt neigte; denn die Sonne ging eben hinter den Bergen nieder. – »Die Dichter verkündigen uns«, sprach sie leise, »diese Blume sei einst eine schöne junge Nymphe gewesen; sie habe den Helios geliebt, und Zeus aus Mitleid mit ihrer Sehnsucht sie in diese Blume verwandelt. Nun sieht sie sehnsüchtig der Sonne entgegen, hebt sich mit ihr und sinkt traurig, wenn der Geliebte verschwindet, die leise Hoffnung nur im Herzen, dass es wieder morgen werde. Und so will auch ich auf meinen neuen Morgen hoffen; die Sehnsucht wird mein glaubend Herz nicht betrügen, und meine Sonne geht mir wieder auf. Nicht wahr, Emmeline?« Da sagte sie mir gerührt: »Ich vergesse Sie nie, vergesse nie die schönste Stunde meines Lebens«, und drückte mir leise die Hand. Schnell hob ich sie in den Wagen; denn schon kam der Vater näher, umarmte mich herzlich, bat mich bald in meine Vaterstadt zu kommen, und versprach, alle die Meinen tausendmal von mir zu grüßen. Zum letzten Male winkte mir Emmeline; da flog der Wagen um die Ecke, und ich stand allein. Aber alle Freuden der Erde glühten in meiner Brust, und alle meine Sehnsucht flog der Einzigen nach. Und mit dieser Seligkeit im Herzen stürmt' ich wieder hinaus in die schöne Natur und kehrte so erst nach einigen Tagen wieder zurück in meine Leipziger Zelle. Nun arbeite ich, was ich vermag; der frühe Morgen trifft mich schon am Pulte, und immer näher, immer näher kommt mir das erwünschte Ostern, und das Examen, was alle andern scheuen, ist mir lieb wie das schönste Fest; denn dann komme ich ja zu ihr, zu Emmelinen, und darf's ihr und darf's der ganzen Welt sagen, dass ich sie liebe und ewig lieben werden!


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