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»I halt's nimmer aus, i muß emal ausschlage!« Damit klappte ein lang aufgeschossener Junge dem neben ihm stehenden Studenten kräftig auf die Achsel und lachte dazu in der melodischen Weise, wie es Buben in der Zeit des Stimmwechsels tun. Dann drehte er sich auf dem Absatz drei-, viermal um sich selber; Arme und Beine schlotterten dabei um ihn herum, als hingen sie an Drähten wie bei einem Hampelmann.
»Erich, dich hat's wohl?« Der Student fragte es brüderlich liebenswürdig, aber es lag kein Ärger in seiner Stimme.
Eben fuhr dröhnend der Schnellzug vor dem Bahnsteig auf. »Ludwigsburg! Ludwigsbu–urg!« riefen die Schaffner.
Der Student und der Schüler eilten nun Seite an Seite den Zug entlang. Sie mußten, was sie suchten, bald entdeckt haben, denn jetzt sprangen beide mit einem Satz und mit hellem Jauchzen auf das Trittbrett eines Wagens. Daß sie dann zugleich durch die Tür ins Innere kommen konnten, war nur der fast übernatürlichen Schlankheit des Schülers zu danken. Der kam im Drang der Ereignisse freilich mit der Rückseite zuvörderst an, aber das tat weiter nichts zur Sache, denn er war dennoch früher am Ziel, als sein Weg- und Kampfgenosse.
Zwei Arme legten sich um ihn; er wurde fest an ein laut schlagendes Herz gepreßt. Er hielt auch ganz still, obwohl er sonst mit Händen und Füßen ausschlug, wenn ihm jemand in Zu- oder Abneigung zu nahe kam.
»Mutterle,« sagte er nur, »Mutterle!« und ließ es geschehen, daß die Mutterhände ihm die rinnenden Tränen wegwischten, daß der Mutter Lippen sich auf seine legten. Wo war all seine vierzehnjährige, täppische Ungebärdigkeit geblieben?
»Erich,« sagte die weiche Stimme, die er drei Jahre lang nur im Traum gehört hatte, »mein Erichle!« Fester nestelte er sich in den Armen der Mutter zurecht.
Da faßte ihn der Student beim Rockkragen; alles Ausschlagen half nichts. »Erich, du kannscht doch da net feschtwachse! I will au was von der Mutter!«
Der Zappelnde war von zwei anderen Armen umhegt, ehe er wußte wie. Jetzt aber wehrte er sich, sah auf, machte große Augen und pfiff leise. »So siehscht aus? Ui Jegerle!«
»Ich gefall' dir wohl nicht?« fragte Ruth lachend, denn sie war es.
»Bassiert,« erwiderte der höfliche Bruder.
Dann kam der Vater und holte sich seinen Jüngsten zur Ansicht. Er lachte bei dem, was er erblickte. »Was sagst du dazu, Anna; würdest du ihn wiedererkennen, wenn nicht der Georg dabei wäre?«
»Sogar im Dunkeln,« sagte Frau Anna, hatte die hellen Tränen in den Augen und zog ihren Jüngsten neben sich auf den Sitz. Er huschelte sich dicht heran, obgleich es im Abteil erstickend schwül war. Die drei anderen standen drum herum.
Ruth lachte den Bruder Studio an. »Er kommt schon!« Sie fuhr sich mit beiden Händen aufwärts von den Mundwinkeln, als ob sie einen Schnurrbart drehe.
»Er ist schon da,« erklärte der Student, drei Viertel Kränkung und ein Viertel Lachen, und drehte zum Beweis eifrig an der dünn sprossenden Zier seiner Oberlippe.
»Dreiehalb Häärle,« flötete der Schüler im Diskant, wandte sich aber alsbald wieder den streichelnden Mutterhänden zu, die er heimlich küßte. Im Tunnel, der jetzt kam, hing er der Mutter am Halse.
Mittlerweile eilte der Zug weiter. Ruth hatte den Arm durch den des großen Bruders geschoben. »Hättest du mich erkannt?«
»Bei so einer Nase?« Er fuhr an der seinen mit kühnem Bogen nach oben und lachte der Schwester dazu in die Augen. Sie gab ihm einen kleinen Puff, ließ ihn aber nicht los. Ihre Eitelkeit war kein bißchen verletzt. Zum Überfluß las sie etwas in den lachenden Bruderaugen, das Balsam gewesen wäre, hätte es dessen bedurft. »Du gefällst mir,« stand ganz deutlich darin geschrieben. Ruth verstand es und lachte vergnügt.
»Mir hat se vorher besser g'falle. Jetzt schwätzt se so domm hochdeitsch und des mag i net. Mädle send halt immer domm,« behauptete der Schüler vom sicheren Hafen bei der Mutter aus.
»Bist du noch immer so höflich?« fragte Ruth.
Erich aber zeigte ihr bloß die äußerste Zungenspitze, worauf Vater Rümelin lachend drohte, aber doch mit merklichem Ernst sagte: »Erich, allzu derb, das mag ich nicht, wie du weißt!«
»Wer hat die gute Idee gehabt, uns bis Ludwigsburg entgegen zu kommen?« fragte die Mutter ablenkend.
»Ich – i!« riefen die beiden Söhne zugleich. Es blieb unentschieden, wer das Urheberrecht beanspruchen konnte.
»Es wollen so viele kommen, euch begrüßen,« sagte Georg.
»All die domme Denger aus dem Kränzle,« erklärte Erich genauer.
»Herr Überle hat sich auch erkundigt, wann ihr kommt.«
»Ui jegerle, die Leni, die Br–a–u–t!!!« Erich sprach das Wort aus, als ob es ein zähflüssiger Brei sei, der ihm nicht aus dem Munde gehe. Er grinste dabei höhnisch und schlug sich auf die Knie; seine Meinung von der Sache war deutlich erkennbar. Die Mutter legte ihm mahnend die Hand auf die Schulter und er streifte sie mit einem flüchtigen Kuß.
»Da haben wir gedacht, es sei schöner, euch erst allein zu haben, und –«
Damit war die Unterredung zu Ende, denn eben kamen die ersten Häuserzeilen von Stuttgart in Sicht. Ruth jauchzte und schaute voll Wonne zum Fenster hinaus. Wie sie es fertig brachte, zu winken, ihren Hut zu halten und die strömenden Augen notdürftig zu trocknen, das war ein Rätsel, da sie doch nur zwei Hände hatte. Aber sie brachte es fertig, und stammelte dabei noch Freudenlaute, die niemand verstand. Erich sah erstaunt zu, grinsend und überlegen. »Mädle send halt doch domm!« Das war seiner Weisheit Schluß.
Nun fuhr der Zug in die große Bahnhofhalle ein. Dicht gedrängt stand weit hinten eine Menge Erwartender.
Einzelne kribbelten wie Ameisen in dem frei gehaltenen Raum davor. Zu unterscheiden war noch nichts, selbst für die hellsten jungen Augen, selbst für Ruths stürmische Sehnsucht nicht.
Ein langgezogener Pfiff, ein Rucken der Bremse, ein Schüttern durch die Wagenreihe, ein durchdringendes Schleifen und Schrammen – der Zug hielt.
Ruth war schon längst nicht mehr am Fenster, sie stand auf dem Trittbrett des Wagens; alles an ihr zuckte und federte.
»Stuttgart!« riefen die Schaffner.
Ob Ruth mitschrie, sie wußte es danach nicht. Sie kam erst wieder zu sich, als sie der Leni am Hals hing.
»Leni,« jauchzte sie, »da bin ich also wieder und nun kann's losgehen!«
Was sie damit meinte, erläuterte sie nicht näher.
»Mein Bräutigam,« sagte die Leni, als sie ein bißchen zu Atem kam, und der Stolz eines Welteroberers lag in dem Ton.
Ruth wollte sich erst sehr damenhaft unnahbar verbeugen; dann brach die alte ungekünstelte Ruth durch. Beide Hände hielt sie ihm hin, lachte ihn mit nassen Augen an und sagte: »Wir vertragen uns hoffentlich, denn ein klein bissel Teil an der Leni hab' ich auch – von der Schulbank her, wissen Sie, und das bindet. Ich gebe mein Recht nicht auf!«
»Das sollen Sie auch gar nicht, Fräulein Rümelin. Ich sei, erlaubt mir die Bitte, in eurem Bunde der Dritte.«
»Bürgschaft, Schiller. Aber den Löwenanteil wollen Sie doch, nicht?«
»Behüte! Sie glauben gar nicht, wie bescheiden ich bin.«
»Ich hab' doch auch was mitzureden, dächte ich,« schmollte Leni, strich aber dabei Ruth übers Gesicht. Und dann kam die Schwäbin zum Vorschein. »Nett bischt! Gut, daß du bei deine Japaner warscht; wer weiß, ob i dem da sonscht gefalle hätt'!« Ein Schelmenblick traf den Bräutigam. Der tat, als höre er nicht.
Nun fielen vier junge Damen mit viel Geschrei über Ruth her. Nur mühsam erkannte sie in den veränderten gereiften Gesichtern die Lotte, die Trude, die Anne und das Mariele heraus.
»So seht ihr aus, Kinder? Ich muß mich erst daran gewöhnen. Laßt euch mal betrachten!« Was mit viel Kichern, Lachen, Schäkern und Lärmen geschah.
Eine schlanke Frauengestalt stand abseits und wartete mit lachenden, verstehenden Augen, bis ihre Zeit kommen würde. Sie hielt nur mit Mühe drei kleine weiße Mädchen zurück, die durchaus nicht begreifen wollten, weshalb sie hier nicht, wie überall sonst, zuerst zu ihrem Recht kommen sollten. Sie fügten sich bitter schwer, die drei weißen kleinen Mädchen.
Endlich hatte Ruth Luft; der Strom der Bewillkommnung, der sich brausend über sie ergossen hatte, ebbte ein wenig. Ruth ließ das Mariele Motz aus den Armen und fragte: »Backst noch immer so gute Gugelhöpf, Mariele?«
»Wirst schon sehen,« sagte diese und dachte an den, der blumenbekränzt daheim auf Ruths Tisch stand. Der war zum Willkomm mit Liebe gebacken und gut geraten. Ein Musterbild von einem Kuchen!
Ruth atmete tief auf; konnte das enge Herz so viel Freude fassen? Ihr leuchtender Blick ging in die Runde und blieb an der schlanken Frau haften.
»Frau Klara,« jauchzte sie nun, »meine liebe Frau Klara!« und sie hing ihr am Halse.
Es krabbelte und kribbelte um Ruth herum, piepte mit Vogelstimmchen und griff mit ungeduldigen kleinen Händen zu. »Wir sind auch da! – Wollen Ruth Drüß Dott sagen! – Mis Tuß deben!«
Endlich erfaßte Ruths Ohr und Sinn den Ton. Sie hob den Kopf und sah die drei Süßen mit gehobenen Köpfen, mit ausgestreckten Armen und gespitzten Mäulchen und nahm sie alle zumal in die Arme.
»Maiblümchen, Schneeglöckchen, da seid ihr ja! Und wo ist Klein-Iris? Macht mal ein bissel Platz für die Kleinste. Dein Mäulchen her, Irislein!«
»Du sein meine Ut danz allein!« Klein-Iris drängte sich mit Ungestüm an Ruth und umfaßte sie mit den kleinen Armen, so hoch sie just reichen konnte.
Maiblümchen und Schneeglöckchen wollten ihre Rechte wahren und fast wäre es zu einem Streit gekommen; die Vogelstimmchen klangen immer schriller und erregter. Da nahm Vater Überle seine Jüngste und setzte sie sich auf die Schulter. Auf ihrem luftigen Thron vergaß die kleine Person alles andere. Maiblümchen und Schneeglöckchen kamen jetzt zu ihrem Recht.
»Ich dächte, wir lassen die Freunde nun allein,« sagte Frau Klara. »Sie müssen erst wieder zu sich selbst kommen; Herr Erich macht schon sein brummigstes Gesicht. Wir gehen, Junge, wir gehen!«
Erich wußte nicht, wohin sehen vor Verlegenheit. Sein Gesicht wurde nicht freundlicher dadurch. Er half sich damit, daß er das Mutterle an den Rockfalten faßte.
Die Überle verabschiedeten sich nun schnell und die anderen folgten alle dem Beispiel. Die drei Süßen warfen noch Kußhändchen und stolperten dabei fast über die eigenen kleinen Beine. Die » Quinta fidelia«, die nun wieder eine Sexta war, entfernte sich samt dem Bräutigam unter Kichern und Schäkern. Wie vertraut diese Töne klangen! Ruth kicherte hinterher und wäre am liebsten gleich mitgezogen.
Die Rümelin blieben ein paar Tage im Hotel Marquardt. Eine Wohnung war schnell gemietet und zwar in der alten Gegend, in der Reinsburgstraße diesmal, nach dem Hasenberg zu. Beim Einräumen half Ruth treulich und begrüßte jedes alte Möbelstück mit Jubeln wie einen lang entbehrten Freund. Dienstboten fanden sich auch; innerhalb acht Tagen war es, als seien die Rümelin gar nicht fort gewesen und Japan lag dahinten wie ein Traum.
»Es ist rein undankbar, Mutterle,« klagte Ruth, wenn sie sich dessen einmal bewußt wurde, »wir haben so viel Schönes gesehen und ich hab' so viel Liebes erfahren! Aber daheim – daheim, Mutterle – –« Sie sprach den Satz nicht aus, nickte nur ein paarmal mit dem Kopf und fuhr sich, als das zum Entfernen der verräterischen Tröpflein nichts helfen wollte, widerwillig über die Augen. Die Ruth von achtzehn Jahren zeigte ihre Tränen noch ebenso ungern, als es die von fünfzehn getan hatte.
Das alte Leben setzte nun ein. Einstweilen war Vater Rümelin der einzige von der Familie, der alsbald wieder streng ins Joch mußte. Der neue Posten im Ministerium beanspruchte den ganzen Mann. Der Herr Ministerialrat – dieser Titel hatte auf ihn gewartet – war aber nie freudiger an der Arbeit gewesen; es war ein anderes Wirken für König und Vaterland.
Georg und Erich durften es sich eine Weile in der Mutter Hut und bei ihren Fleischtöpfen wohl sein lassen; für beide waren Ferien.
Der Herr Student, der sein Einjährigenjahr während der Eltern Fernsein noch vor dem Bezug der Universität abgedient hatte, sollte im Herbst nach Leipzig gehen. Erichs Schulzeit begann erst im September; er war glückselig, wieder im Elternhaus zu sein, und ließ sich vom Mutterle verhätscheln, als ob er ein ganz kleiner Hemdenmatz wäre. Seine Tertianerwürde stand ihm dabei gar nicht im Wege. Die Mutter besorgte ihren Haushalt mit Freuden und dankte ihrem Schöpfer jeden Morgen, wenn sie in die Küche kam und da eine richtige Kathrine mit umfangreicher weißer Schürze und runden roten Armen vorfand, statt des mageren gelben Izakura mit dem fragwürdigen Schlafrock um die dürren Lenden und dem schmutzigen Kopftuch über den Schlitzaugen. Sogar Sophie, das Hausmädchen mit dem Wuschelkopf, war ihr lieber als Haru und Sighe mit den kunstvollen Frisuren.
Ruth aber? Sie half ein bißchen hier und ein bißchen da, und führte im übrigen das Leben einer Blume, die den Garten ziert, indem sie sich selber schmückt. Die Mutter ließ es einstweilen geschehen und dachte, die Zeit werde Rat bringen. Die entwirrt ja zumeist geschickt die verschlungensten Knoten, geschickter wie manche ungeduldige Menschenhand. Sie würde ja wohl auch hier zeigen, welches Los sie für die junge Ruth bereit hielt. Daß es etwas Außerordentliches sein könne, darum flehte das Mutterle nicht; es hielt sich in seinen Zukunftsträumen an das Rückertsche Wort: »Wollest mit Freuden und wollest mit Leiden mich nicht überschütten, denn in der Mitten liegt holdes Bescheiden!«
Jung-Ruth aber ging ihren Weg ohne Denken und Grübeln. Es war eine sonnige Zeit. So schön hatte sie sich das Wiederkommen, das Wiedersehen in ihren kühnsten Träumen nicht gedacht.
Sie waren alle so nett mit ihr, als müßten sie die letzten drei Jahre in Liebe nachholen. Ruth wußte nicht, daß jemand, der reichlich gab wie sie, auch reichlich erntet, daß Geben allein schon reich macht.
Die » Sexta fidelia« war bei ihren wöchentlichen Tagungen, die mit eifriger Gewissenhaftigkeit eingehalten wurden, ungeheuer lustig. Nicht wenig trug dazu »unser« Bräutigam bei, wie der Erwählte Lenis in rührendem Gemeinsinn genannt wurde. Er durfte immer ein Stündchen dabei sein, wo die » Sexta fidelia« auch tagte, holte die Braut oder brachte sie. Das Urteil über ihn war einstimmig: »E arg netter Mensch.« Mit Ruth stand er bald besonders gut, und wenn sie an die Art dachte, womit sie damals in Myanoshita die Kunde von Lenis Verlobung aufgenommen hatte, wurde ihr recht ungemütlich dabei. Wie gut, daß niemand sie verraten konnte! Vaterle und Mutterle hatten ihr Wort gegeben, zu schweigen, Herr Überle desgleichen, mit Schmunzeln freilich und unter allerlei nichtigem Vorbehalt, aber gegeben hatte er's. Es blieb nur noch einer, der darum wußte, der gute Kamerad!
Und der – – wer wußte, ob man sich überhaupt je wiedersah! Geschrieben hatte er ja schon, zweimal sogar, aber es waren nur flüchtige Briefe gewesen; Ruth war damit nicht ganz zufrieden. Vaterle sagte freilich, der arme Mensch wisse eben jetzt wahrscheinlich nicht, wo ihm der Kopf stehe, weil er sich in die Verwaltung der väterlichen Fabrik einarbeiten müsse. Ruth aber dachte im stillen, daß man für seine Freunde immer Zeit behalten solle, und ein Schatten ging ihr über das Gesicht, wenn von dem Kameraden die Rede war.
Das war wieder in der letzten Tagung der » Sexta fidelia« der Fall. Man hatte schon mehrmals gedrängt, daß Ruth aus ihrem Gelegenheitsbuch vorlese, und die hatte sich endlich nach langem Sträuben entschlossen, es mitzubringen.
Es gab aber so viel zu schwatzen, daß sie erst spät zum Lesen kamen. Daß Ruth die Unterhaltung jedesmal künstlich belebte, wenn sie abflauen wollte, merkte niemand. Endlich trat dennoch eine Pause der Erschöpfung ein. Ruth wollte in der Verzweiflung eben zum Wetter übergehen, da sagte das Mariele: »I hab' glaubt, m'r komme jetzt ans Lese. D' Ruth hat's doch versproche.«
Nun gab's kein Entrinnen. Seufzend, sehr rot und heiß holte Ruth das Werk ihres Geistes und ihrer Feder hervor. »Ich habe Lampenfieber, Kinder,« sagte sie mit verlegenem Lächeln, »muß ich lesen?«
Ein Sturm der Entrüstung folgte, in den das Gellen der Flurglocke schallte.
»Dem Himmel sei Dank, es kommt jemand,« seufzte Ruth erleichtert, aber gleich danach in komischem Schreck: »Unser – der – ich meine dein Bräutigam!« Das Büchlein war zwischen den Sofakissen verschwunden.
Der Herr Assessor wurde lebhaft begrüßt, am lebhaftesten von Ruth, aber dem Verhängnis konnte er nicht Einhalt tun. Das Mariele sagte: »D' Ruth hat uns ebe von Japan vorlese wolle. Sie hören's g'wiß au gern, Herr Assessor!«
Er beeilte sich beizustimmen und es gab keinen Ausweg mehr für die arme Ruth. Als ob sie vor Gericht treten solle, war ihr zumute. Die Knie zitterten ihr plötzlich sonderbar und die Kehle war ihr ganz trocken.
»Ein Glas Wasser,« bat sie mit erlöschender Stimme. Feierlich stellte ihr die Leni eines hin.
Wollte Ruth sich nicht lächerlich machen, was sie gar nicht beabsichtigte, so mußte sie jetzt beginnen. Sie tat es. Erst zitterte ihre Stimme und wollte nicht recht heraus; dann kam das Erinnern und half Ruth über die Gegenwart. Sie las sich in Eifer. Sie fühlte sich an Bord der »Darmstadt« zurückversetzt und erlebte wieder, was sie dort erfahren hatte.
Eine Frage weckte sie; der Bräutigam hatte sie gestellt. »Wie heißt der ›gute Kamerad‹, Fräulein Rümelin? Hab' ich recht verstanden, Herbert Norten? Ist er von Düsseldorf?«
»Ich – ich glaube. Ja, Herbert Norten heißt er.« Der Schatten, von dem vorher die Rede war, ging über Ruths Gesicht. »Er schreibt nur noch selten; wir wissen wenig von ihm. Es tut den Eltern recht leid.«
»Kennst du ihn?« erkundigte sich Leni bei ihrem Bräutigam.
Ruth las rasch weiter. Das war noch besser, als über den Kameraden zu sprechen, war von zwei Übeln das kleinere.
Die Freundinnen waren danach auf dem Heimweg einig, daß Ruth entschiedenes Talent zum Schriftstellern habe. Man müsse ihr zureden, sich der Literatur zu widmen; das sei sie der » Sexta fidelia« schuldig.
»Ui jeh,« sagte das Mariele, »da würd' i lieber Strümpf stopfe, was i sonst gar net mag.«
»Der Wert eines Buches bestimmt sich nicht so ohne weiteres,« belehrte Lotte Müller, im selben selbstgefälligen Ton wie vor drei Jahren. »Da zählt erstens –«
Aber da kam die »Elektrische«, die das Mariele und die Anne nehmen mußten. Es gab einen raschen Abschied; die Lotte konnte nur ihr Bäschen Trude allein weiter belehren, womit der aber gar nicht gedient war. Sie zog die Lotte zu einem Schaufenster und diese vergaß über den ausgelegten Herrlichkeiten ihre Weisheit. – – –
»Wer dir als Brautführer zufällt, weiß ich noch nicht. Es kommen ein paar Freunde von meinem Bräutigam; den nettesten sollst du haben. Ich bin noch nicht entschlossen, weißt du!« So sagte die Leni zu Ruth und machte ein Schelmengesicht dazu, was diese aber nicht bemerkte, denn sie war eben damit beschäftigt, vor dem Spiegel allerhand Blumen zu probieren.
»Du, nehme ich Rosen oder Vergißmeinnicht? Der Brautführer ist mir gleichgültig!«
»Ich will mir das merken,« antwortete die Leni und lachte wie ein Kobold. »Nimm Rosen; Vergißmeinnicht sind zuckerwasserig.«
»Ich hab' sie gern,« sagte Ruth kurz.
Leni war gekommen, um noch einmal ein paar Stunden ungestört mit der Freundin zu sein. In der nächsten, der Hochzeitswoche, würde dazu keine Zeit mehr bleiben. Da hatte jeder Tag seine Bestimmung. Sie saßen in Ruths Stübchen. Nachdem die Wahl der Blumen, die Ruth an dem wichtigen Tag schmücken sollten, endgültig auf Rosen gefallen war, rückten sie näher zusammen; der Alltag entschwand und die Herzen wollten sprechen. Ruth hatte den Kopf an Lenis Schulter.
»Wenn du nur so recht, recht glücklich wirst!«
»Ich glaube, ich hoffe! Ich will, Ruth, denn sieh, ich meine, ein bissel was muß man auch selbst dabei tun, gelt? Wenn ich mich hinsetze und sage zu meinem Bräutigam: ›So, du, jetzt mach mich glücklich‹ und meine, nun müsse ganz was Besonderes kommen, das ist gewiß nicht das rechte. Wenn ich aber frisch und froh das meine tue und glücklich und zufrieden sein will, auch wenn es einmal anders kommt, als ich dachte, dann wird es schon recht werden, glaubst du nicht?« Sinnend schaute die junge Braut ins Weite; ihre Augen leuchteten.
Fast scheu sah Ruth nach ihr hin. War das die unbekümmerte Leni, die nie der Ernst zu streifen schien?
»Woher hast du diese Weisheit, Leni?«
»Von dem Gefühl der Verantwortung, Ruth! Wenn zwei mitsammen durchs Leben gehen wollen als treue Kameraden, da muß jeder daran denken, wie er dem anderen den Weg leicht macht, nicht?«
Schweigend legte Ruth die Arme um die Freundin, und barg das Gesicht an ihrer Schulter.
Leni mußte bald wieder fort und Ruth geleitete sie über die Königstraße.
»Zum letztenmal,« sagte Ruth mit Pathos im Ton, das aber nicht lang standhielt. Von da, wo die Marienstraße in die Königstraße mündet, gab es so viel zu sehen und zu kichern, so viele Bekannte wollten gegrüßt, so viele Läden bestaunt sein: wo hätte da Raum bleiben sollen für graue Gedanken?
Schließlich standen zwei vergnügt kichernde junge Menschenkinder unten am Schloßplatz, sich zu trennen, als ob sie eben wie vor drei und mehr Jahren aus der höheren Töchterschule, dem Katharinenstift in der Friedrichstraße, herkämen. Die Backfische von damals mit den fliegenden Röcken und Zöpfen hatten das Voneinandergehen hier nicht schwerer gefunden, als Leni, die Braut, und Ruth, die weitgereiste junge Dame. Zwei Schritte machte die eine, dann fiel ihr etwas ein, was durchaus noch besprochen werden mußte, und genau so ging es der anderen. »Leni!« kam's von hüben und »Ruth!« von drüben, ein Rückwärtseilen, Lachen und Plappern, ein Händeschütteln und Wenden, um gleich danach wieder mit »Leni!« und »Ruth!« zu beginnen.
Glücklicherweise zählte kein kritisches Auge diese mißglückten Versuche der jungen Damen, endgültig Abschied zu nehmen. – – –
Endlich war der Hochzeitstag da, der zwölfte September! Frühmorgens um fünf schielte Ruth schon durch den Ladenspalt nach dem Wetter. Ein leichter Sprühregen stäubte durch die Luft. Strafend reckte sich Ruths Stumpfnase gegen die Wolken. Dann tröstete sie sich damit, daß Regen sich auf Segen reimt. Sie kroch ins Bett zurück, wollte wachen und nachdenken; von einem solchen wichtigen Tag verschläft man nicht mehr als man muß. Aber sie war eingeschlafen, fast noch ehe sie recht wieder auf den Kissen lag.
Als sie von neuem erwachte und sich die Augen rieb, schien die Sonne hell, fast spöttisch ins Zimmer. »Da bin ich noch vor dir zur Stelle, Murmeltier, du.«
Ruth rieb sich die Augen. Hatte, sie nur geträumt, es regne?
Das Mutterle klopfte an der Tür. »Flink, Kind, verschläfst du dich? Es gibt doch noch manches vorzubereiten. Ich hatte auf dich gerechnet.«
Ob Ruth flink auf den Füßen und in den Kleidern war! Sie ärgerte sich über sich selbst. Wie konnte man nur an einem solchen Tag sich verschlafen!
Als sie zum Frühstück herunterkam, waren richtig das Vaterle und Erich schon fort. Das würde nachher ein schönes Necken geben! Ruth hing den Kopf; sollte das eine Vorbedeutung für den Tag sein? Würde nun alles schief gehen, weil der Tag so verkehrt anfing?
Ihren Appetit aber hatte sie nicht eingebüßt. Als sie nach dem vierten Brötchen griff, lachte das Mutterle leise vom Fenster her. Ruth aber tat, als merke sie nichts.
Dann gab es ein fröhliches Tummeln; alles fand hübsch seine Erledigung. Ruth stand zur rechten Zeit in ihrem Stübchen vor dem Spiegel und wachte darüber, daß die erste Brautjungfer der Leni keine Schande mache.
Wohlgefällig besah sich danach das Mutterle diese erste Brautjungfer und es schien nicht, als ob sie ihm mißfalle; es sagte aber nur: »Alles in Ordnung; nun sieh zu, daß du dich benimmst, wie es der festlichen Gelegenheit und deinen Jahren zukommt!«
»Als ob ich im Hängekleidchen liefe,« schmollte Ruth, wie oft schon, faßte aber das Mutterle fest in die Arme und lachte es an. »Ich werde dir schon keine Schande machen, bin ja in solch guter Zucht aufgewachsen! Huijeh, wenn ich aber nun doch wüßte, wer mein Brautführer wird! Mir ist wahrhaftig ein bissel bang. Ich hätt' mich mehr drum bekümmern müssen. Wer weiß, wem mich die Leni zuweist! Na einerlei, ich unterhalte mich eineweg!«
So dachte auch das Mutterle, als es in das lachende Gesicht sah. »Nun lege dir noch die Handschuhe und den Strauß zurecht, daß du sie gleich findest, wenn der Wagen kommt. Ich muß fort, sonst bekomme ich keinen Platz mehr.«
Frau Ministerialrat Rümelin ging nur in die Kirche, sich die Trauung der besten Freundin ihrer Tochter anzusehen. Die Familien waren sonst nicht näher befreundet; sie standen nur auf dem Besuchsfuß.
Ruth hatte die langen Handschuhe übergestreift, wartete auf den Wagen und betrachtete dazu tiefsinnig den Strauß, einen wundervollen Büschel La France-Rosen mit langen Stielen. Er war schon früh gekommen und von Ruth mit Wonne begrüßt worden. Daß er zu den gewählten Rosen des Anzugs paßte, daran war sicher die Leni schuld, die ausgeplaudert hatte. Der Strauß war eine Gabe des Brautführers, wie üblich; aber der Herr mußte vergessen haben, seine Karte beizulegen. Na, was lag daran! Sie erfuhr seinen Namen immer noch früh genug, dachte Ruth.
Da rollte eben unten der Wagen vor. Ruth dachte nun gar nichts mehr, sondern war ganz zappelnde Erregung.
Sophie, das Mädchen, kam, ihrer jungen Dame in den Wagen zu helfen, und Ruth saß alsbald strahlend inmitten ihrer Wolken von weißem Seidenkrepp.
Anne Meyer, die in der oberen Marienstraße wohnte, wurde noch mitgenommen. Es gab viel Kichern, bis Anne ihre rosa Röcke geordnet hatte; aber dann ging es ohne Aufenthalt dem Ziele zu.
»Du, ich hab' Herzklopfen,« sagte Anne. »Wie muß das erst sein, wenn –«
»Man zur eigenen Hochzeit fährt,« hatte sie sagen wollen, kam aber nicht weiter, denn eben fuhr der Wagen an der Stiftskirche vor.
Der Schlag wurde aufgemacht und ganz gegen ihre Gewohnheit vorsichtig kamen die weißen und die rosa Duftwolken samt ihren Trägerinnen zum Vorschein. Ruth und Anne, beide vergewisserten sich erst ängstlich, ob auch noch alles beisammen sei. Dann seufzte die erstere: »Uff, ich lobe mir meinen Rock und die Bluse; das ist einem auf den Leib gewachsen und geht mit, wohin es auch sei. Der Firlefanz da aber« – ein verächtlicher Blick streifte den weißen Krepp – »der macht einem mehr Last, als der ganze Kram wert ist.«
»Das sag' ich auch,« bestätigte Anne. »Aber nett ist's doch!«
»Na, alle Tage möcht' ich nicht Hochzeit haben!«
»Das wäre auch ein bißchen viel,« erwiderte Anne.
Dann waren sie in der Sakristei. Ein buntes Gewoge von Seide und duftigen Stoffen rings. Wer darin steckte, das ließ sich erst allmählich erkennen. Blitzende Uniformen gab es dazwischen und nüchterne schwarze Fräcke.
Ruth und Anne standen noch benommen an der Tür. Die rosa Anne hatte sich hinter die weiße Ruth gedrängt; ihr schien in der Deckung wohler.
Da schob sich ein befrackter Herr durchs Gedränge, eilig, fast rücksichtslos.
»Du,« sagte die Anne und zupfte Ruth, »der kommt zu uns.« Sie konnte im Hinterhalt unbefangener Ausschau halten und die Anwesenden mustern.
»Wo?« fragte Ruth und sah wo anders hin. Da verneigte sich jemand schon tief vor ihr. Die Anne stieß sie wieder an.
»Ich habe die Ehre, als Brautführer des gnädigen Fräuleins bestimmt zu sein!«
Würdevoll hatte der Herr seine Anrede und seine Verbeugung vollendet. Jetzt richtete er sich auf und sah in das Gesicht seiner Dame. Das war blaß und starr; ihre Augen standen weit offen und auch – ja es muß gesagt sein – und auch der Mund. Sehr geistreich sah das Gesicht nicht aus, gar nicht so, wie man es manchmal in Büchern beschrieben liest, wenn der Heldin irgendeine Überraschung widerfährt. Aber jetzt lief ein Freudenschein darüber hin und färbte es hübsch rot; er verklärte es und ließ die Augen strahlen. Beide Hände hob Ruth. »Sind Sie's? Sind Sie's wirklich?«
»Behüte, nur mein Geist,« antwortete lachend der Herr. Zugleich faßte er die dargebotenen Hände und schüttelte sie, als ob er sie nie wieder loslassen wolle.
Jetzt kam Ruth erst zum Bewußtsein des Ganzen, aber wieder war die Wirkung verschieden von der gewöhnlichen. »Ich will's aber der Leni lehren!« zankte sie. »Mich so anzuführen!«
Er lachte vergnügt. »Ich danke sehr! Sie sind ja noch ebenso liebenswürdig, wie –«
»Ach was,« schnitt ihm Ruth das Wort ab, »man hat doch gern seine Vorfreude!«
Aber dann kam die richtige Freude zu ihrem Recht und ließ sich nicht mehr hintan halten. Sie jubelte aus Ruths Mund: »Grüß Gott, Kamerad! Hätte ich gewußt, daß Sie es sein sollen, ich – aber wie kommen Sie hierher?«
Da war wieder der Verhörton.
»Mit der Bahn den größten Teil des Weges, mit dem Wagen vom Hotel zur Kirche.«
»Danke! So weit reicht meine Fassungsgabe auch. Ich meine –«
»Mit demselben Recht wie Sie!«
»Das heißt?«
»Als Freund des Bräutigams!«
»Also, Sie sind's wirklich?« Ihre Augen strahlten.
»Ich bin's wirklich!« Auch er schien sehr zufrieden.
»Das Brautpaar! Eben kommt der Wagen! Rasch, die Paare ordnen! Wer kommt zuerst?« Das rief Ruth zur Gegenwart zurück.
»Uijeh, wir sind ja bei der Hochzeit. Ich glaube, ich bin's!« Mit dem ersten rief sie sich selbst zur Ordnung, mit dem zweiten gab sie Antwort auf die Frage, wer zuerst komme.
Sie legte den Arm in den des überraschend aufgetauchten guten Kameraden. Hinter dem ersten Paare her schritten die anderen den Kirchgang entlang, das Brautpaar am Portal in Empfang zu nehmen und an den Altar zu geleiten. Ruth ging wie im Traum. Sie sah nicht der Mutter erstaunt ungläubiges Gesicht in einem der Kirchstühle sich vorbeugen; sie sah nicht die neckend fragenden Augen der Braut, die sie für eine Sekunde streiften.
Sie kam erst recht zu sich, als ihr Leni den Brautstrauß reichte, da es Zeit zum Ringwechsel war und die Braut die Hände frei haben mußte.
Ruth hielt den weißen Strauß neben ihren Rosen und fand, daß die wunderhübsch aussahen. Sie mußte geschwind erst einmal daran riechen. Da sie ihn zum Gesicht hob, sah sie zwei Augen von drüben, wo die Herren saßen, auf sich gerichtet. Sie wurde ein wenig rot, schaute um sich, sah das Brautpaar am Altar knien und hörte der Braut schüchternes Ja. Die Leni war nun also eine Frau! Die junge Ruth fand jetzt doch Sammlung zu einem heißen Stoßgebet für der Freundin Glück. Dann wischte sie sich ungestüm die Augen. Was brauchten die dummen Tränen zu fließen! Ein Glück, daß der Brautstrauß da war. Da hinein barg sie das Gesicht. Als die Braut ihre Blumen danach mit fortnahm, waren sie von einem heiligen Naß betaut, von den Freudentränen der liebsten Freundin. Denn da Ruths Gesicht jetzt leuchtete und strahlte, wie sie am Arm ihres Führers dem Kirchenausgang zuschritt, so mußten es doch wohl Freudentränen gewesen sein.
So war also Leni Frau Assessor Rehmer geworden, ohne daß Ruth viel davon gemerkt hatte, und wenn sie späterhin mit der Frau Assessor auf die Hochzeit zu reden kam, dann sagte sie stets: »Du bist ganz allein daran schuld, Leni, daß ich dich habe heiraten lassen, als ob das gar nichts sei; ohne viel zu denken, meine ich. Weshalb hast du mich so angeführt!«
Die Leni lachte dann allemal. »Angeführt, Ruth? Ich dächte, deinem Glück hätt' ich dich entgegengeführt!«
»Das wär' auch von selbst gekommen,« behauptete Ruth daraufhin stets großartig, aber sie umfaßte zugleich die Leni und lachte ihr in die Augen.
Aber das ist weit vorgegriffen. Einstweilen sind wir noch bei der Hochzeit und zwar im Saal des Oberen Museums, wo die Feier stattfand.
Alle Gäste umdrängten das junge Paar, alle hatten warme Worte und Wünsche. Frau Leni lachte und weinte, immer hübsch abwechselnd; wenn sie lachte, waren die Augen naß, und wenn sie weinte, tat sie es mit lachendem Munde. Ruth hielt sich in einer ihr selbst unbewußten Scheu ein bißchen abseits. Da winkte Frau Leni: »Du, Ruth, komm doch mal her.«
Sehr heiß war Ruth und half sich damit, daß sie das Gesicht an der Freundin Schulter barg. »Das Beste, Leni, das Schönste!«
»Weiß ich und so weiter! Jetzt möcht' ich hören, wie dir dein Brautführer gefällt.« Sie hatte Ruths Gesicht zwischen den Händen und alle Neckteufelchen sprühten ihr aus den Augen.
Ruth machte die ihren zu, schüttelte mit dem Kopf, daß Lenis Hände abglitten, drehte sich auf dem Absatz und sagte über die Schulter: »Es geht an!« Dann war sie im Gedränge verschwunden. Die Stelle, wo der gute Kamerad stand, mied sie ängstlich. Sie hatte wunderbar viel mit den anderen von der » Sexta fidelia« zu lachen und zu tuscheln.
»Du, hast du denn deinen Brautführer schon vorher gekannt?« fragte Anne Meyer neugierig. Da fiel der Ruth plötzlich ein, daß sie eine der älteren Damen noch zu begrüßen hatte. Weg war sie wie der Wind. Anne Meyers Frage mußte sie gar nicht gehört haben.
Vor dem Essen aber trat der gute Kamerad heran und pochte auf sein Recht, seine Dame zu Tisch zu führen. Als dann Ruth an seiner Seite saß, da war mit einem Male alle Scheu gewichen und nur die warme Freude blieb.
»Nun erzählen Sie, bitte!« Ruths Augen forderten noch dringender als ihr Mund.
»Was soll ich erzählen, Fräulein Kamerad?«
»Alles!«
»Ein weites Feld. Wo fang' ich an?«
»Am Anfang doch natürlich.«
»Und der wäre?«
»Wie Sie in Kioto von uns gingen. Wissen Sie noch?«
»Ob ich noch davon weiß! Aber ich habe Ihnen doch schon seitdem geschrieben.«
»Was sind Briefe gegen Worte! Fangen Sie doch endlich an!« Ruth schmollte.
Er erzählte nun von seiner Heimkehr und wie dann der Tod des Vaters kam. Er berichtete von seiner neuen Tätigkeit und seine Augen leuchteten dabei; sie war ihm lieb geworden. Er hatte sich mit Fleiß und gutem Willen eingearbeitet und sah frohen, hoffenden Blicks in die Zukunft.
»Ein einziger großer Wunsch bleibt mir; wenn mir das Leben den noch erfüllt, gibt es einen glücklichen Menschen mehr auf der weiten schönen Gotteserde.«
Er hielt dabei seiner Dame sein volles Glas Wein entgegen. Sie wollte anstoßen, wie man es mit einem guten Kameraden tut, mit Freuen und Lachen, mußte aber den Blick vor dem seinen senken. Weshalb er sie so ansah? Sie suchte vergebens nach einer Erklärung.
»Und nun erzählen Sie und zwar auch alles und von vorn an,« mahnte er gleich darauf.
Das war eine willkommene Ablenkung. Mit welcher Lebendigkeit sie das Kleinste berichtete!
»Die Reise war nämlich wundervoll. Kein einziger rauher Tag, keine Welle; die See wie Öl so glatt vom ersten bis zum letzten Tag.«
»Und die Gesellschaft?«
»Passa– ich meine ausgezeichnet. Durchweg nette Menschen.« Das sagte sie mit einem Schelmenblick auf den Lauschenden. »Man hätte sich wirklich nichts Besseres wünschen können.«
»Hm – hm!« erwiderte er. »Da war also die Ausreise nichts gegen die Heimkehr?«
»Es war eben die Heimkehr.«
»Pst! Pst! Pst!« tönte es von allen Seiten. Ruth und ihr Tischherr merkten jetzt erst, daß jemand stand und eine Rede halten wollte. Der Brautvater war es. Er tat es mit viel Schwung zuvörderst und dann mit viel Rührung. Die junge Frau war der Eltern einziges Kind; wenn sie auch einstweilen in der Vaterstadt blieb, wurde das Vaterhaus doch leer.
Nach Schluß der Rede gab es ein großes Pilgern mit den vollen Gläsern zum jungen Paare. Auch Ruth und ihr Partner schlossen sich an.
»Hab' ich's recht gemacht?« fragte der junge Ehemann und zwinkerte Ruth an.
»Woher wußten Sie es?«
»Wer las neulich das Gelegenheitsbuch, worin just ein Herr Norten eine Rolle spielt?«
»Wenn ich das geahnt hätte! So hinterlistig zu sein!«
»Hätten Sie dann nicht vorgelesen?« Es galt Ruths erstem Satz.
»Weshalb haben Sie nie von Ihrem Freund gesprochen?« Damit überfiel Ruth den guten Kameraden meuchlings, um einer Antwort zu entgehen.
»Ich hörte den Namen nicht. Damals in Myanoshita, als Sie von der Verlobung erfuhren, da – –«
Was hatte Ruth da heraufbeschworen! Flehend legte sie ihm die Hand auf den Mund. Der gute Kamerad lachte sie an und leerte dazu sein volles Glas bis zur Neige.
» Vivat sequens!« rief der Bräutigam und streckte dem Freund sein Glas hin. Der tat ihm Beschied, nachdem er sich seines wieder gefüllt hatte.
Ruth war zu ihrem Platz geeilt. Was für eine Erinnerung knüpfte sich doch nur an dies Wort? Ihr war sehr heiß.
Da kam auch schon der gute Kamerad und sah so seltsam aus, halb bittend und halb überlegen.
»Es ist sehr schwül hier, finden Sie nicht auch?« bemerkte Ruth. »Sonderbar für den zwölften September.«
»Ich wollte wissen, ob Sie sich noch an unseren Pakt erinnern, den wir damals in Myanoshita schlossen, als Sie von der Verlobung ihrer Freundin – –«
»Wissen Sie schon, was Hochzeitssträuße sind?«
»Werden Sie mir antworten, Fräulein Kamerad?«
»Es ist eine nette Sitte, wirklich; Sie werden schon sehen!«
»Wir versprachen, uns gegenseitig zu sagen, wenn wir ähnliches vorhätten, wie Ihre Freundin und mein Freund. Erinnern Sie – –?«
Ruth sah ihn hilflos an. Dann jubelte sie: »Da kommen sie, da kommen die Hochzeitssträuße! Sehen Sie, ach, sehen Sie doch nur! Die sind alle für mich. Ist's nicht wundernett?«
Eine Fülle von kleinen und größeren Päckchen, alle niedlich mit bunten Bändern eingebunden, wurde vor Ruth aufgestapelt. Auch vor allen anderen Gästen, namentlich vor den jungen, türmten sie sich.
Ruth flehte mit einem Schelmenblick: »Nun seien Sie gemütlich, bitte, und helfen Sie mir auspacken; wozu hätte ich denn meinen guten Kameraden? Sehen Sie doch den Segen!«
»Woher fließt er?«
»Das ist ja gerade die nette Sitte, von der ich sprach. Wenn wir hier in Schwaben zu einer Hochzeit gehen, haben wir nicht nur diese Freude, sondern alle Freunde schicken auch noch kleine Geschenke. Man muß dann erraten, von wem sie kommen; meist ist ein lustiger Vers dabei. Ist das nun nicht wirklich nett?«
»Sehr hübsch,« bestätigte Norten, »namentlich, wenn es so etwas ist!« Er hielt einen kleinen braunen Affen hoch. »Auch ein Vers ist dabei: Was du bist, zeigt dir die Gabe, die ich dir gewidmet habe!«
»Das ist der Schlingel, der Erich, vermute ich! Dem will ich's eintränken. Das Tierchen ist aber sehr nett; er hat sich seinen Witz etwas kosten lassen. Freut mich, aber Strafe muß sein!«
»Ist der junge Herr immer so liebenswürdig?«
»Ach was, er ist ein guter Junge! Doch er ist in dem bewußten ungemütlichen Alter. Aber sehen Sie nur diese entzückende Nadel! Die kommt sicher von Leni. Ja, ich sehe, alle haben sie die gleiche und wie sie lachen!«
Die Nadel war niedlich und sinnig zugleich. Über sechs Efeublättchen lag ein winziger Vergißmeinnichtzweig. Auf der Rückseite stand graviert: »Die scheidende Sechste«.
Sie umringten Leni, die anderen fünf: »Aber du bleibst doch hier! Du denkst doch nicht daran, aus dem Kränzchen auszutreten? Der Bräuti – dein Mann hat doch nichts dagegen? So grausam werden Sie doch nicht sein, Herr Assessor!«
Leni und ihr Mann versicherten beide, daß sie nicht an eine Änderung dächten, solange die Zeit sie nicht bringe.
»So lang wir beisammen sind, Kinder, wollen wir lustig sein!« rief Leni, und mit Jubeln stimmten die anderen ein.
Ruth saß wieder neben ihrem Tischherrn. Der Kamerad hatte inzwischen all ihre Schätze ausgepackt; sie jubelte bei jedem neuen Stück.
»Was dies alles aber mit Sträußen zu tun hat, verstehe ich nicht,« sagte Herbert Norten jetzt. »Sie sagten doch, Hochzeitssträuße nenne man die Gaben? Woher dieser unerklärliche Name?«
»Wer fragt nach dem Namen, wenn die Sache so nett ist!«
»Sehr richtig, gnädiges Fräulein.«
»So seien Sie doch gemütlich! Und jetzt – jetzt wird getanzt! Die Leni hat sich nämlich eine richtige Tanzhochzeit bestellt. Denken Sie noch an meinen ersten Ball?«
»Und an den zierlichen Herrn Meyer!«
»Ich habe vor acht Tagen erst eine Karte von ihm bekommen. Er schreibt sehr nett.«
»Der Schäker! Und Ihre Freundinnen in Tokio? Wie hießen sie gleich?«
»Schämen Sie sich, wenn Sie das nicht mehr wissen! Von Kiku bekam ich schon zwei lange Briefe; Sie sollten sehen, wie sie schreibt! Sie erzählt von allen. Haruko ist sehr glücklich; der kleine Kentaro Inazo Oto – so heißt ihr Sohn – läuft schon und fängt an zu sprechen. Kiku selbst ist jetzt wieder auf der Universität, um fertig zu studieren. Und denken Sie, was sie schreibt! Ich wiederhole es mit ihren Worten, die lauten so nett: ›Es gar nicht unmöglich sein, daß ich kommen Deutschland, meine Ut. Mich wollen deutsche Frauarzt kennen lernen. Wir uns vielleicht Wiedersehn also.‹ Wäre das nicht wundernett?«
Der Kamerad gab das ohne Einschränkung zu.
Aus dem Nebenraum wurde ein Klavier laut. Ruth mahnte eifrig: »Kommen Sie, aber so kommen Sie doch!«
»Polonaise!« rief der Brautvater und neigte sich vor der Mutter des Bräutigams. Die Paare ordneten sich; alle Hochzeitsgäste nahmen teil. In stattlichem Zug ging es in den Nebenraum, den lockenden Klängen nach, die nun zum Marsch wurden. Das Brautpaar allen voran. Leni, strahlend, übermütig, wußte nicht genug Touren und Verschlingungen zu erfinden.
»Mädle, Mädle, glei am erschte Dag so zickzack!« Ein alter, lustiger Onkel drohte der Braut mit gekniffenen Zwinkeräuglein.
»Nur am ersten Tag, Onkele, dann geht's immer gradaus!«
»Wer's glaubt, zahlt en Taler. Puh, i kann nimmer.« Der alte Herr sank stöhnend auf den nächsten Stuhl. Die Kette löste sich in einen wirbelnden Walzer auf. Ein gewaltiges Drängen erst, das sich schnell lichtete. Stöhnend saßen die Gereifteren alsbald längs der Wände; fröhlich beschwingt behauptete die Jugend das Feld.
Ruth war im siebenten Himmel. Sie hatte viele Tänzer. Die Herren meinten, nachholen zu müssen, was sie in den drei Jahren versäumt hatten.
Sie sah dem guten Kameraden strahlend in die Augen, als er sie wieder einmal im Walzer drehte. »Wer hätte in Myanoshita gedacht, daß wir bei Lenis Hochzeit zusammen tanzen würden! Können Sie sich was Schöneres denken?«
»Nein,« sagte der gute Kamerad und zwar im Tone vollster Überzeugung.
Die Stunden gingen ihren Gang; der Abschied für das junge Paar war schon in Sicht. Das hatte zuletzt mit den Eltern beisammen gesessen. Ganz so hell leuchteten Lenis Augen nicht mehr. Dafür lag ein tiefer, warmer Schein darin, der wohl tat zu schauen. Jetzt hatte sie allerhand mit Eltern und Ehemann zu tuscheln und dann stand das junge Paar inmitten des Saals.
»Jetzt kommt der Kranzwalzer, meine Herrschaften!« So rief der Brautvater.
Der Braut wurden die Augen verbunden. Die Freundinnen faßten sich an den Händen und schlossen einen Kreis um sie. Sie drehten sich rechts, sie drehten sich links, still stand die Braut. Sie hatte ihren Kranz abgenommen, hielt ihn in Händen und zögerte lange, wem sie ihn reichen solle.
»Ruth,« rief da eine Stimme, es war der Brautvater, »Ruth!«
Ein Stocken kam in den Kreis, der um die Braut sich drehte. »Ja,« rief Ruth mit ihrer hellen, jungen Stimme, »was soll ich?«
Sie wandte den Kopf, fühlte sich aber im selben Augenblick gefaßt. Tastende Hände griffen nach ihr, und ehe sie wußte, wie ihr geschah, fühlte sie den Brautkranz auf ihrem Haar.
Ein Schreck durchfuhr sie. Unsicher nestelte sie an dem Kranz herum und wollte ihn abnehmen. »Ich? Nicht ich!« stammelte sie dazu, und wußte nicht, wohin sich bergen.
»Sitzen lassen!« Einstimmig ertönte der Ruf. Die Braut, von deren Augen die Binde gefallen war, so daß man alle Neckkobolde darin sehen konnte, hielt Ruths Kopf gefaßt und wollte deren gesenktes Gesicht in die Höhe zwingen. »Der Kranz steht dir wundernett, du!«
»Laß mich,« sagte Ruth, »ich – ich werf ihn sonst in die Ecke! Mich so in Verlegenheit zu bringen!«
Leni kicherte bloß. »Paß mal auf, du, was jetzt kommt!«
Um den Bräutigam standen nun die Freunde. Auch er hatte die Augen verbunden und hielt ein Zweiglein Myrten in der Hand. Sie drehten sich mit viel lustigen Sprüngen, mit Necken und Lachen. Er wartete still, zu lange für alle. Auch Herbert Norten wurde ungeduldig. Es mochte Zufall sein; eben als er den Mund auftat zum ersten lachenden Protest, da hatte ihn sein Geschick auch schon ereilt. Er hielt das verhängnisvolle Zweiglein in Händen. –
Ein lustiger Walzer jubilierte. Der mit dem Zweiglein trat vor die Dame, die den Kranz trug, legte den Arm um sie und begann den neuen Tanz.
»Vivat sequens!« aber jubelten die anderen, holten ihre Gläser und es gab den fröhlichsten Tumult. Währenddessen entwich das Brautpaar. Als Ruth sich von dem Schreck und von ihrer Verlegenheit erholt hatte und sich nach Leni umschaute, mit ihr abzurechnen, da war die Übeltäterin nirgends mehr zu finden. Ein Wagen rollte gerade unten fort; deutlich klang das lustige Peitschenknallen.
Was blieb nun Ruth übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen? Man war auch bereits zur Tagesordnung übergegangen; ein froher Galopp klang und Ruth flog mit einem Stuttgarter Herrn dahin.
Als dann später nach ein paar Touren der gute Kamerad kam und auch wieder um ein Tänzlein fragte, da unterhielt sich Ruth sehr gesetzt mit ihm, sprach von Politik, vom neuesten Buch, ja vom Wetter.
Viel Tänze folgten noch und viel Lust. Aber alles findet ein Ende.
»Darf ich morgen kommen und mich erkundigen, wie Ihnen das Fest bekommen ist?« fragte der gute Kamerad, als er Ruth sorgsam für die Heimfahrt in ihre Hüllen wickeln half.
»Vater und Mutter werden sich sehr freuen,« sagte Ruth.
»Und das Fräulein Tochter?«
Sie sah ihm nur noch einmal lustig in die Augen, dann enteilte sie.
Gleich darauf saß sie, eng in die Kutsche verpackt, mit den übrigen verwaisten Mitgliedern der »Sexta fidelia« beisammen.
»Au,« sagte das Mariele, »fein war's! Wie die im Oberen Museum kochet, so möcht' i's au' könne!«
»Wenn du weiter nichts zu sagen weißt,« schalt die Anne.
»Streitet nicht, Kinder; so einen Tag läßt man ausklingen!« Das sagte die Lotte.
»Kling klang, kling klang,« neckte die Trude. »Wann heiratest du, Lotte?«
»Domms Deng!« sagte jetzt auch die ärgerlich.
Ruth hatte gar nichts gesagt, nur geträumt, und die anderen taten alle bald dasselbe. Eine nach der anderen wurde abgesetzt, verabschiedete sich von den Bleibenden mit Necken und Lachen, oder schon halb im Schlaf, je nachdem.
Ruth war die letzte, sie hatte den weitesten Weg.
Als sie allein war, holte sie tief Atem, streckte den Kopf zum Fenster des Wagens hinaus und sah nach den Sternen. Wie die da oben blitzten und strahlten. Fünkchen aus einer leuchtenden Wunderwelt. Wie war diese Gotteswelt so schön! Die junge Ruth faltete die Hände und preßte sie gegen die Brust.
Sechs Jahre später.
Ist mir das Büchlein da heute wieder in die Hände gefallen. Wie lange ich nicht mehr daran dachte? Ich habe es durchgelesen von Anfang bis zu Ende; ich hatte gerade gut Zeit, weil Herbert auf einer Geschäftsreise ist, und ich habe herzlich gelacht. Eins will ich vorausschicken, ehe ich ein wenig erzähle, wie alles weiter kam; das ist, daß ich doch nicht Schriftstellerin geworden bin, sondern was ganz anderes, nämlich Hausfrau – eine glückliche, glückliche Hausfrau! Nun schließt ja freilich eines das andere nicht aus; aber mein Talent lag doch mehr in der häuslichen Richtung. Zu dieser Erkenntnis kam ich bald.
Eigentlich schon am Morgen nach Lenis Hochzeit, damals da der gute Kamerad sich bei uns in der Reinsburgstraße einstellte und allerhand zu fragen hatte, worauf ich ihm die Antwort nicht schuldig blieb.
Vaterle und Mutterle sagten dasselbe wie ich, nämlich: ja! Nur mit dem Unterschied, daß ich bereit gewesen wäre, den Wunsch gleich zu erfüllen, den er hatte, ihm in seine Fabrik am Rhein zu folgen und dort Frau Fabrikbesitzerin zu sein; die Eltern aber wollten davon erst nach einem Jahr hören.
Als gute Tochter, wie es Ruth Rümelin ja immer war, fügte ich mich. Puh, das riecht nach Selbstlob, würde das Vaterle sagen.
Mein Vaterle und mein Mutterle! Sie kommen alle Jahre an den Rhein und freuen sich an ihren Kindern und Enkeln.
Ja so, da müssen ja kleine Leute auftreten, die im Büchlein hier noch fremd sind. Ich stelle sie vor: ein Pärchen von zwei und drei Jahren – – –
Nein, ich erzähle lieber, wie ich heute wieder an das Büchlein kam.
»Mammi,« sagte der kleine Erich, ein dicker, stämmiger, blonder Krauskopf von drei Jahren, »Mammi, mich Entdeckerle spielen!«
Er saß vor einem Eckschränkchen, das Mammi offen gelassen hatte – ganz so achtsam wie sie sein sollte, ist Mammi nämlich nicht –, kramte darin mit beiden Händen und wirtschaftete aus dem Vollen; neben ihm türmte es sich am Boden von allerhand, das wahrlich nicht dahin gehörte.
»Mis auch Deckerle pielen,« versicherte sofort eine andere schrille Stimme und ein Mägdlein, zwei Jährlein alt, braun und süß, wühlte mit beiden Fäustchen in dem, was das Brüderlein zutage förderte.
Mammi saß und träumte; es war just heute ihr Hochzeitstag – fünf Jahre! Mammi hielt einen Brief, den ihr am Morgen der Postbote gebracht hatte, und liebäugelte mit einem Strauß La France Rosen – ihren Lieblingsblumen –, den kurz zuvor der Gärtner geschickt hatte. Beides kam vom Hausherrn, dem etwas Dringliches im Geschäft just auf Reisen trieb und fernhielt. War es da so sehr zu verwundern, daß Mammi träumte?
»Mammi, uns Deckerle pielen!« Der Triumphchor weckte sie und sie sah, sprang und rettete! Sie kam noch eben recht, dies ihr Büchlein vor dem Untergang zu retten. Kleine Fäuste hatten zum Zerstörungswerk bereits angesetzt.
»Mis wollen viele Buchen machen!« Damit war Erich, der Wüterich, im Begriff, die Blätter des Büchleins aus dem Zusammenhang zu lösen. Geschäftig half Klein-Annchen, die Braune. Fetzen flogen, Querrisse klafften.
Mammi rief entsetzt: »Kinder, aber Kinder!« und rettete ihren Schatz, besah und betastete ihn ängstlich. Das Unglück hatte nur die weißen Seiten betroffen, die kostbaren beschriebenen waren unversehrt.
Die Zerstörer sahen erschreckt auf und waren wie erstarrt; die Äuglein, weit aufgerissen, wollten eben überfließen.
Da raffte sich Mammi, ehe das Drohende zum Ausbruch kam, diesen ihren lebenden und größten Schatz in die Arme – am Boden lag der papierene – und dreht sich im Ringelreihen, bis die Äuglein wieder leuchteten und die Stimmchen krähten in Lust.
Den ganzen Tag ließ Mammi nun ihre Kleinchen nicht von ihrer Seite; sie mußten Ersatz sein für den Gatten, der heute – gerade heute! – nicht bei ihr sein konnte.
Nun ist's Abend geworden. Das ganze Haus ist still. Vorhin hat Martin, der Kutscher und Diener, alle Türen geschlossen und die Schlüssel neben mich gelegt. Ich halte auf Ordnung in Abwesenheit des Hausherrn. In den alten Baumkronen des Gartens raunt flüsternd der Nachtwind und dahinter gurgeln leise die Wasser des Rheins.
Solch schöne, liebe Heimat hat die Ruth Rümelin gefunden, die nun Ruth Norten ist! Solch frohes, glückseliges Leben! Sie ist glücklich und – ja, sie darf es sagen, denn gerade das ist ihr größtes Glück – – sie macht glücklich! Ihr guter Kamerad, dem sie dasselbe geworden ist, versichert es ihr manch liebes Mal und zeigt es ihr jede Stunde des Tages.
Weshalb sie, da sie doch nicht Schriftstellerin werden will oder kann, dennoch in der Abendstille heute noch einmal ihr Büchlein vorgenommen hat? Wie sagte das Vaterle immer? Man muß zu Ende führen, was man begonnen hat. Ich will noch ein bissel erzählen von all denen, über die ich hier drinnen geschrieben habe.
Da wären zuerst das Mutterle und Vaterle. Sie sind dieselben, frisch und froh. Bloß daß das Vaterle jetzt mit »Herr Ministerialdirektor« angeredet wird, was wegen der Briefadressen nicht bequem ist. Sie haben eben ihren Jüngsten bei sich, der sein Jahr abdient und dann zur Universität gehen soll. Georg, unser Stolz und Ältester, hat seine Examina glänzend hinter sich und ist als Referendar in Ulm. Ich sehe meine Lieben jedes Jahr; kann ich nicht zu ihnen, so kommen sie zu mir.
Auch die Überle sehe ich viel. Sie reisen gern. Sein Geschäft blüht; Herbert sagt, er sei glänzend gestellt. Ein kleiner Sohn und Stammhalter ist zu den drei Süßen hinzugekommen. Frau Klara strahlt in Glück. Die drei Süßen sind fixe Schulmädel geworden und längst zu den hausbackenen Namen übergegangen. Schneeglöckchen, Maiblümchen und Iris sind bei den japanischen Erinnerungen verstaut.
Und da taucht es auf, mein Land der Blumen, das mir ein Traum dünkt, den ich in fernen Tagen träumte. Wären nicht Kikus Briefe, die mir von Zeit zu Zeit sagen: »Es war Wirklichkeit, daß du dies alles mit deinen Augen dort im Osten geschaut hast!« ich glaubte es selbst kaum.
Kiku schreibt lieb und treu. Zweimal im Jahr kann ich auf einen Brief zählen. Bis jetzt habe ich treulich geantwortet und hoffe, auch fernerhin daran festhalten zu können. Ein Engel ist die Ruth Rümelin als Ruth Norten auch nicht geworden, aber sie hat den ehrlichen Willen, ein treuer Mensch zu sein. Ich schreibe den letzten Brief Kikus ab, es wird das beste sein. Ihr Deutsch ist nicht vollkommener geworden, ihr tätiges Leben läßt ihr nicht Zeit zu Nebenstudien. So schreibt sie:
»Meine Ut. Sein lange, daß nicht schreiben, aber haben viel, sehr viel zu tun. Sein glückliche Mensch, weil sein viel von Not. Haben jetzt Krankenhaus mit Doktor Nakashima zusammen. Er wollen haben heiraten mir; ich nicht wollen. So sein Helfer in Arbeit, und sein froh; führen nützliche Leben, was kommen Brüder zu gut. Sehen viel Not freilich, aber können auch helfen. Alte Großmutter sein tot. Sein schnell gestorben. Alte müde Frau sein in Ruhe. Vater und Mutter sein gesund. Mutter mich lieben; Vater sagen, ich seine liebe Tochter. Was ich wollen mehr? Haruko sein stolze Mutter. Haben zwei kleine Mädchen mit kleine Kentaro Inazo Oto. Heißen Kiku und – ja, heißen – Ut! Haruko es so wollen und lassen ihre Ut, wo sein so weit, viele Male grüßen. Und meine Ut sein auch stolze Mutter. Mich hören so gern von kleine Erich und Anna. Haben geträumt von Wiedersehen. Aber bleiben Traum! Müssen in Arbeit weiter machen, haben nicht Zeit für Denken an anderes. So, meine Ut, wir leben mit unsere Freundschaft in die Erinnerung. Du mir sein wie schöne Stern, der stehen an meine Himmel weit, weit. Du Kiku nicht vergessen, ich wissen. Grüßen Du Deine Mutter und Vater. Auch Deine gute Kamerad! Mich sein froh, ihm zu kennen. Du noch denken an Myanoshita? Liegen so fern, so fern. Mit Lieben
Kiku.«
Ist das nicht ein lieber Brief? Nein, ich werde Kiku nicht vergessen, nicht die niedliche Haruko mit den Grübchen, die ihr kleines Mädchen nach mir genannt hat, und ich werde dich nicht vergessen, mein Land der Blumen!
Und die » Sexta fidelia?« In alle Winde ist sie zerstoben. Lotte ist wohlbestallte Bibliothekarin in Hannover, sehr stolz und sehr froh. Trude hat geheiratet, einen guten Mann, der sie freundlich und mild gemacht hat. Das Mariele ist Verwalterin in einem Stift, zweite bis jetzt noch, aber der Posten der ersten ist ihr sicher, wenn die Zeit kommt. Sie ist glücklich und sehr befriedigt von ihrem Wirkungskreis. Bloß die Anne! Sie ist so unfroh und rastlos. Es schmerzt, sie zu sehen und zu hören. Das kommt davon, weil sie sich keinen Wirkungskreis geschaffen hat. Zu Haus ist sie überflüssig, weil viel jüngere Schwestern da sind; aus Bällen und Gesellschaften macht sie sich nichts mehr, ist aber noch immer nicht schlüssig geworden, welches von ihren Talenten sie ausbilden soll. Arme Anne!
Welch ein Segen ist's, in einen Kreis gestellt zu sein, den man ausfüllen kann, der uns ausfüllt, sei's nun im Haus oder sonstwo! Nur wirken können, nur nicht müßig sein!
Doppelt glücklich aber die Frau, der das Geschick im eigenen Haus bei Mann und Kind – für Mann und Kind den Wirkungskreis erkoren hat! Ich preise mein Los. Ich preise es in Demut! Ruth Rümelin, womit hast du verdient, daß du einen so guten Mann, so hübsche Kinder gewinnen durftest. Sei dessen wert!
Über den Garten streicht der Nachtwind; wie im Traum murmeln die Wasser des Rheins. Was mögen sie alles schon geschaut haben in ihrem Lauf da unten an der alten Steinterrasse des Gartens vorüber? Was werden sie schauen, wenn Jahrzehnte verrauscht sind?
Ich falte die Hände und flehe: »Herr, Vater, erhalte mir mein Glück. Laß mich dessen wert sein, auch mit grauen Haaren!«