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Tagsüber hatte ein schwerer Sturm von Nordwesten her durchs Werratal geheult, das trockene Gezweig aus den Bäumen gerissen und den Märzstaub in langen Fahnen über die Landstraßen getrieben. Mit einsinkender Dämmerung begann es zu schneien – feuchter Schnee, der die Schutzscheibe am Wagen verklebte. Zwei Stunden zu früh war es Nacht. Die weißen Lichtkegel der Laternen zitterten hilflos in einen Schneesturm hinein, der dem starken Wagen das geruhsame Hinrollen eines Handkarrens aufzwang. Das Fahrtziel dieses Tages rückte in unendliche Ferne, lag plötzlich so weit hinter diesen ringsum in Schnee vergrabenen Hügeln, wie es dem Werratal unserer Urgroßväter entlegen war, die das Land noch maßen nach Fuß und Pferdelänge. Aber da, dort, auch jenseits des Weges blitzten jetzt Lampenlichter auf. Wenn der fauchende Wind das Schneegewölk für Augenblicke zerriß, ahnte das Auge die tröstlichen Schatten von Türmen, Dächern – eine Stadt! Wie sie heißt? Das Straßenschild war mit Schnee verhüllt.
6 Da stapft ein Mensch, vermummt, aber ein lebender Mensch! Ich beuge mich aus dem Wagen: »Wo ist der Gasthof?«
»Gradaus! Dann links!« schreit der Mann durch den Sturm, »in der Ecke am Ratsmarkt, der Belgische Hof!«
Also geradeaus, dann links – da ist ein freier Platz, und das ansehnliche zweistöckige Gebäude dort muß der Gasthof sein. Im Schneegestöber ist sein Schild kaum zu erkennen. Ich lese »Hof« – ja, »Belgischer Hof« steht da angemalt! Hinter diesem festverschlossenen großen Tor wartet ein Wirt auf seine Gäste, das tief auf die Fensterrahmen herabgezogene Dach gewährt Schutz vor nassem Schnee, und die Kellerfenster wären nicht so schwer vergittert, wenn hinter ihnen kein Wein läge – alle guten Geister loben den Herrn!
Aber weder dieser gute Wunsch noch ungeduldiges Klingeln am Tor schienen irgendwelchen Eindruck auf den Belgischen Hof zu machen.
»Pochen Sie an den Laden dort«, murmelte ein rund in Wolle gewickeltes Wesen aus dem Mantelkragen heraus und zeigte im Hineilen auf einen Fensterladen des Erdgeschosses. Mein Klopfen weckte wirklich diese schlummernde Gaststätte. Der Laden öffnete sich, nach allerlei Hantierung an den Vorhängen drinnen ging 7 sogar das Fenster auf, aber zu meinem Erstaunen wurde ich gefragt, was ich hier wolle.
»Abendessen!« rief ich und wischte mir ärgerlich den Schnee aus den Augen, »und ein Bett, wenn's sein kann!«
Ich hatte mit dem Wirt des Belgischen Hofes gesprochen, sein Gesicht jedoch nicht zu erkennen vermocht. Die Lampe im Zimmer überblendete ihn, und hier draußen auf dem Markt war Nacht und Schnee. Was, dachte ich, was ist das für ein Gastwirt, der sein Haus verrammelt und späte Gäste anfährt, weil sie ihm die Ruhe stören? . . . ah, so einer – das ist also mein Wirt in dieser Unwetternacht. Ein altes, nein: ein uraltes Männlein hatte die ins Tor gefügte kleine Eingangstür geöffnet. Sein grauer Schoßrock, sein spärliches weißes Haar wehten im Wind. Solches Haar haben alte Männer immer getragen, aber solche Schoßröcke doch nur in einem längst vorm Krieg versunkenen Jahrzehnt. Der Alte trat beiseite, daß ich ins Haus konnte. Ohne weiter nach mir zu sehen, ließ er mich vorbei an sich. Ich war für ihn offenbar nicht ein nach Namen, Alter, Beruf und Geldbeutel bestimmter Einzelgast, sondern nur die vom Wirtshaus nun einmal leider unzertrennliche Gasterscheinung überhaupt. Fünfundachtzig Jahre kann man alt geworden 8 sein, schien er beim Zuschließen der Tür zu denken, und das kommt immer noch irgendwoher gelaufen, bei Tage, bei Nacht. Als er aber nun den Riegel vorschob und nirgends ein Hausdiener auftauchte, erlaubte ich mir schließlich zu fragen: »Und mein Wagen?«
»Der bleibt draußen« – der Wirt stieß den zweiten Riegel vor – »das Tor klemmt. Es ist seit Jahren nicht geöffnet. Der Herr nimmt nachher gütigst das Nötige für die Nacht selbst mit auf's Zimmer. Der Hausdiener kommt erst morgen früh wieder.«
Beklommen suchte ich mit den Augen das Hausinnere zu durchdringen, das nachtschwarz wie ein Bergwerk ins Ungewisse ging. »Bitte«, sprach der Wirt, öffnete eine Flügeltür, und ich stand in einem spärlich erhellten, aber sehr geräumigen Speisesaal, dessen ausgewogene Maße sogleich eine behagliche und doch vornehm gedämpfte Stimmung gaben. Ich suchte mir einen Platz in der Nähe des weißen Kachelofens, musterte die schweren doppelten Fenstervorhänge, das lederbezogene Stuhlwerk. An der Wand hing ein Ölbild – der blinde König von Hannover. Auf der Weinkarte las ich in goldgeprägten Buchstaben: Traugott Steinmann, Hoftraiteur. Traugott Steinmann – ich sah mich nach ihm um. Der 9 alte Herr hatte über einem Stehpult die Lampe eingeschaltet und schrieb. Er drehte mir den Rücken zu und schrieb . . . ich besah seufzend den blinden König: der fing wenigstens nicht auch noch an zu schreiben. Kein Ton als das Kratzen der Stahlfeder. Ja – ich war hier wohl der einzige Gast. Vielleicht weilten in dieser winterirren Märznacht überhaupt nur zwei lebende Wesen in diesem großen Hause: der Hoftraiteur Steinmann und ich. Da kam er mit seinen kleinen ebenmäßigen Altersschrittchen heran – sieh da, die Speisekarte! Das Diner hatte der Wirt geschrieben, auf einen feinen Elfenbeinkarton. Ich las und wollte sagen: Sehr einverstanden, aber Herr Steinmann war schon gleich einem aufgezogenen Spielzeug mit gravitätisch unbewegtem Oberkörper ans andre Ende des Speisesaales gewandelt und schloß mit einem mächtigen Schlüsselbund Wandschränke auf, holte hier Teller, dort Bestecke, da Gläser heraus, wischte sie – ohne von seinem Gast irgend weitere Kenntnis zu nehmen – mit einem Tuch ab. Der Gedanke überfiel mich: seit langer Zeit bin ich vielleicht der erste Gast, und was um mich vorgeht, ist nicht weniger als das Ingangsetzen eines seit Monaten oder, mein Gott, seit Jahren schlummernden Hauswesens! Herr Steinmann hatte inzwischen 10 den Saal verlassen. Jetzt bereitet der Hoftraiteur das Diner, sagte ich mir – in einer riesigen leeren geschwärzten Gasthofküche steht er gebückt über einem winzigen Herdflämmchen und kocht. Gern wäre ich auch gegangen, auf mein Zimmer, hätte mich erfrischt. Wie wollte ich das wagen? Ich kannte nicht Weg und Steg in diesem nächtlichen Haus, nicht einmal meine Stube. Aber draußen heulte, polterte der Sturm, hier drin war's warm, und da kam der Wirt ja schon wieder. Er hatte mich nicht vergessen. In einem altmodisch geflochtenen Strohkörbchen brachte er Schwarzbrot, er entnahm dem Wandschrank eine angebrochene Rotweinflasche. Ängstlich las ich das Schild: neunzehnhundertzwanzig. Ich atmete auf – der blinde König konnte also nicht die erste Hälfte dieser Flasche getrunken haben. Nur der graue Schoßrock meines Wirtes und die alte Weise, den Gast bei seinem Eintritt zu erquicken mit einem Stück Brot und einem Schluck Wein, dazu das dunkle leere Gehäuse, hatten mich an gut dreiviertel Jahrhundert abgelebter Zeit irre gemacht. Ich lebte doch noch heute, aß von dem krümelig-kernigen Roggenbrot und nahm das Glas: »Auf das Wohl des Belgischen Hofes!« Dieser Gruß fand die Billigung des Wirtes. Er nickte, trieb sein Wirtswesen emsig weiter, aber 11 schien mich doch nicht mehr lediglich als eine zwar unanfechtbare jedoch völlig unpersönliche Gasterscheinung zu nehmen. Herr Steinmann legte mir das Anmeldeformular vor: »Bitte genau ausfüllen« – und fügte entschuldigend hinzu: »Früher war es auch so. Nur dazwischen, die letzten dreißig, vierzig Jahre, nahm man's läßlich.« Ich schrieb in deutlichen Buchstaben, was die Polizei von mir wissen wollte. Der Wirt setzte die Brille auf und prüfte meine Angaben. Er nickte wieder. Er lächelte sogar: »Gäste Ihres Berufes kommen nicht oft in diese Gegend. Aber ich habe einmal eine ganze Konferenz solcher Herren im Belgischen Hof beherbergt. Als sie hier das Grab der Unbekannten geöffnet haben. Im Jahre zweiundachtzig. Ich sollte auch mitkommen« – er schüttelte den Kopf; nach einem halben Jahrhundert noch rief jene Einladung die Mißbilligung des Hoftraiteurs Steinmann wach.
Etwas beklommen hatte ich angesichts solcher Zeitmaße den Brotteller zurückgeschoben, aber Steinmann sprach gelassen weiter: »Keinen Wein mehr? Man begibt sich jetzt vielleicht aufs Zimmer? In einer halben Stunde ist das Essen bereit. Wenn Sie Ihr Handgepäck mitnehmen wollen – ich mache Licht.«
Auf dem weiträumigen Flur im ersten Stock 12 brannte eine kleine Lampe. Die hölzernen Treppen schwangen sich mit ihren schönen Geländern hinauf ins Dunkle. Der Wirt führte mich an eine Tür. ›Nummer zwei‹ stand dran. Er klapperte mit den Schlüsseln, hielt das Bund nachdenkend eine Weile still – ruckte mit den Schultern, als wenn er seine Absicht geändert hätte und schloß die Flügeltür von Zimmer Nummer eins auf. Ich mußte also sein Wohlwollen errungen haben und betrat erwartungsvoll die Hauptstube des Belgischen Hofes – zunächst enttäuscht: lang wie ein Flur war das Zimmer, wirkte dadurch schmaler als es war und besaß nur ein in die linke Ecke gequetschtes Fenster. Zweidrittel Raum lagen hier also tagsüber in Dämmerung. Ich tröstete mich: morgen reise ich ja bei Tage weiter. Wenn Herr Steinmann nicht überall im Hause so sparsam winzige Glühlampen verwendet hätte, würde ich jedoch nicht gleich an Weiterreisen gedacht haben. Was für wunderbare alte Mahagonimöbel standen in diesem Raum! Dieses Gerät mußte ein Tischler gebaut haben, der an Gott glaubte. Der Wirt sah mich in die Betrachtung des Sofas versunken. Er tippte mir befriedigt lächelnd auf den Arm: »Alt. Alt und gut. Auf dem Sofa hat sie gesessen« – dabei wies er auf einen Kupferstich an der Wand.
13 »Wer ist das Mädchen?«
»Die Prinzessin Charlotte von Frankreich. Marie Therese Charlotte. Die Tochter der Marie Antoinette. In Gefängniskleidung. So hat sie im Temple gesessen, als ihre Eltern hingerichtet wurden.«
»Die . . . die hat –«, ich starrte den Alten an, ob der etwa dem Alter nach auch noch mit auf dem Grèveplatz gestanden und zugesehen haben könne.
Die Geschichte hat noch gefehlt in dieser Nacht in diesem Haus!
Ich stand hier als ein Mann, der in diesem Zimmer eine Nacht allein zubringen sollte und schlafen wollte – in berechtigter Notwehr suchte ich meine Geschichtskenntnis zusammen: »Aber diese Charlotte war doch die spätere Herzogin von Angoulême.«
»Die da«, sagte Herr Steinmann kurz und wies auf ein anderes Bild: Charlotte als die Angoulême, nach einem Gemälde von Kreutzinger. Das Bild aus dem Temple zeigte ein zartes feines Köpfchen. Der brave Maler Kreutzinger aber hatte ein pralles lebenstüchtiges Frauenzimmer gesehen, das sicherlich umzuspringen wußte mit Herzögen, Kaisern und sonstigen Daseinsmächten.
14 »Das sind doch zwei verschiedene Mädchen, Herr Steinmann.«
»Wie's scheint, Herr. Aber nur die eine von beiden kann die echte Tochter der Marie Antoinette gewesen sein.«
Dunkle Geschichten hinter den geschnitzten Rücklehnen der Thronsessel – mich hat das Spüren an altem Holz, in dem der Wurm sitzt, nie ermuntert. Auf frischgeleimten harzigen Tannenbrettern tanzen unsre eigenen Geschichten eng genug um die Göttin der Gerechtigkeit. Aber ich wollte ja Schlaf finden in diesem alten Mahagonibett: zu Häupten die beiden Bilder, allein in großem Haus mit einem uralten Mann, der längst fertig war mit dem Ameisenkrabbeln der Mitwelt, der Charlotte Bourbon von achtzehnhundert, der eine Konferenz im Belgischen Hof von achtzehnhundertzweiundachtzig, der mich und meinen Sechszylinderwagen, der das alles für gleichermaßen gegenwärtig und belanglos vorübergehend nahm. Und dieser Hoftraiteur fügte dem allen noch hinzu: »Wenn es hell ist morgen früh, wird der Herr zum Fenster hinaussehen, dorthin zu, übers Rathausdach. Gleich neben dem gelben Haus mit den Pappeln, am Bergabhang, da ist ihr Grab.«
15 »Und auf dem Stein, was für ein Name steht da?«
»Keiner. Man weiß ja nichts. Nur daß sie hier in diesem Gasthof drei Wochen mit einem Grafen Vavel im Verborgenen gewohnt hat« – er griff nach der Klinke – »ich schlage an die Flurglocke, sobald das Essen fertig ist. Wenn der Herr pünktlich sein will.«
Beim Abendessen begann ich nach den beiden jungen Damen zu fragen, deren Bilder neben meinem Kopfkissen hängen würden – freilich, ich konnte die Bilder abhängen für die Nacht. Dann staken zwei leere Nägel in der Wand, und das war noch schlimmer. Ich versuchte mehr zu erfahren von meinen beiden nächtlichen Nachbarinnen. Herr Steinmann blieb jedoch sparsam mit Worten.
»Es ist alles ungewiß«, sagte er.
»Aber es schläft sich besser, wenn man weiß, wo der Faden einer Geschichte abreißt: auch das ist zur Not ein Ende.«
Traugott Steinmann lächelte: »Ja so, schlafen. Sie sind noch jung. Um die Fünfzig, wie?« – er nickte – »Da will man noch schlafen. Wenn Sie's beruhigt: auf dem Wandbrett in Ihrem Zimmer liegt ein Buch. Ein alter Gartenlaubenband. Da steht was drin über die zwei 16 Charlotten. Ist aber auch lange her, seit das einer geschrieben hat, und wenn's richtig war zu seiner Zeit, vielleicht schon wieder falsch geworden. Nur die Hauptsache ist in Ordnung, die kann ich dem Herrn ohne das Buch melden: die beiden Damen sind seit guter Zeit gestorben und begraben an ihrem Ort – der Herr kann ganz ruhig schlafen. Gute Nacht.«
Leider ist Begrabensein offenbar kein Ende: jedenfalls beruhigte mich der Steinmannsche Schluß nicht als ein Gutenachtsegen. Ich brannte mir in meinem Zimmer eine Zigarre an, nahm Platz auf dem Sofa, das angeblich der hilflosen Tochter einer unseligen Mutter hingestellt worden war zur Ruhe auf der Flucht. Ich begann zu lesen.
Rasch kam ich nicht voran: Steinmanns Lämpchen hing ganz oben an der Decke. Auf dem Nachttisch fand ich nur einen Leuchter. Eine Kerze verbessert wenig, wenn die Papierblätter vergilbt stockfleckig sind. Das alte Sofa aber hatte wirklich ein gottbegnadeter Tischler gebaut – ermüdet von der mühevollen Fahrt und der schweren wäßrigen Luft versanken mir in diesen Polstern Gegenwart und Bild, wie in dem Treppenbergwerk Traugott Steinmanns Wirt und Gast verschwinden aus Zeit und Raum. Tief in 17 der Nacht schreckte ich hoch – ein Windstoß, ein aufheulender Sturmruck hatte das Haus gepackt. Der Schnee stob in Schwaden am Fenster vorbei. Die Uhr zeigte weit nach Mitternacht – ich sehnte mich nach einem Kopfkissen. Ach so – Prinzessin Charlotte, Königliche Hoheit: sie sah mich groß an aus dem Bild neben dem Bett. Und wollte ich von der andern Seite her ins Bette steigen, sah mich die andre Hoheit an. In Dreiteufelsnamen, wie war das also – ich blätterte wieder in dem vergilbten Buch: Charlottes Vater – da stieg die alte Schauergeschichte hoch aus ihrem Blutdunst, und ich mußte Charlotte suchen in dem Wirrsal: ihr Vater war Ludwig der Sechzehnte, ihre Mutter die habsburgische Marie Antoinette. Die Eltern starben unter dem Fallbeil – und sie selbst? Gewiß ist, daß dem Haus Habsburg die Befreiung Charlottes aus dem Temple gelang. Das Erzhaus gedachte die unglückliche Prinzessin mit Freuden zu empfangen und rasch dem Erzherzog Karl zu vermählen, denn damit brachte Charlotte das Vermögen ihrer Mutter wieder zurück an Habsburg und ermöglichte obendrein verwickelt hinterhältige Ansprüche Habsburgs an Frankreich – dunkle Geschäfte! Die scherten mich nicht in dieser Nacht. Nahe hielt ich den Leuchter an Charlottes Bild: 18 ein holdes Mädchengesicht in Kreuzspinnenweb von Trug und Verrat. Die später offiziell vorhandene Charlotte – ich trat mit dem Licht an das andre Bild –, die sah ganz anders aus. Die hat auch den Habsburger Karl nicht geheiratet, sondern den Bourbonen Angoulême. Und die wirkliche Charlotte? Die verschwand in Gerücht und Geheimnis, begleitet von einem Mann mit falschem Namen Vavel und einem Diener Scharre, der kein Diener war . . . ich las ängstlich weiter. Figur um Figur tauchte auf um Charlotte, ein Gewimmel fragwürdigen Gelichters. Nicht nur Habsburg sah ich tasten nach der kleinen weltfremden Prinzessin und ihrem guten Vermögen – verhüllt steht da noch einer im Halbdunkel: der Bruder des enthaupteten Ludwig, der auch Ludwig hieß, Ludwig der Achtzehnte später, und der zunächst nichts besaß als einen dicken Bauch, ungeheure Schulden, ein eisernes Gewissen, ferner den legitimen Anspruch auf den Thron und zuletzt einen heiratsfähigen Neffen namens Angoulême. Dieser Mensch brauchte die Tochter der Marie Antoinette noch notwendiger als Habsburg. Freilich war ihm nicht gedient mit einer ahnungslosen Charlotte aus dem Temple, die in Wien hilflos dem Erzhaus verfiel, sondern mit einem Frauenzimmer, 19 das wußte, was Bourbon wollen mußte. Wenn dieser Ludwig die echte Charlotte zu vertauschen verstand mit einer anderen, heimlich und griffsicher – einen Zuschauer hatte er: Talleyrand, der ja seinerseits längst den Nachfolger erspürte für Napoleon – Talleyrand, der so geschliffen fein zu lügen verstand, daß ihm die Schwindler Europas heute noch ihre Verehrung zollen als dem kultiviertesten aller Lügner.
Charlotte zwischen diesen Tausendfüßlern und Schlupfwespen . . . ich begann hin und her zu gehen, zu rauchen. Der Wind fand Fugen in den alten Fensterrahmen, das Licht wehte auf dem Docht. Im Haus knackte zuweilen Gebälk. Je weiter ich las, desto lebensmächtiger wurde das schüchterne Kind in seinem Bilderrahmen. Ich ahnte: altes Unrecht war aufgestanden im Dunkeln und suchte nun den Ausweg ins Menschliche. Wen das Unrecht antrifft, der muß es durch sein Herz hindurchlassen. Das Unrecht saugt sich voll von seinem warmen Blut. Die Schatten der Gekränkten nähren sich am Lebendigen: du leidest Unrecht? Sei ruhig – du lebst dich ins Recht. Charlotte, wie begab sich das mit dir, daß du den Rückweg in den Tod über das Leben suchst?
Es ist alles ungewiß, sagt mein Wirt . . . ich 20 stand am Fenster und sah auf den verschneiten Ratsmarkt hinunter – bauen wir uns denn eine Gewißheit aus Märzenschnee! Da unten liegt er hügelhoch, da fällt er vom Himmel muldenweis auf den Frühling. Er tut sehr winterlich, aber wir müssen eilig bauen, falscher Schnee schmilzt schnell, und Märznächte laufen rasch in den Morgen. Also, Charlotte, wie wollen wir, daß es gewesen ist? . . .
*
Eine Nacht wie diese sehen wir.
Im Flockentreiben darf kaum der Reiter da unten zu erkennen sein, der sich gegen den Sturm drängt auf den Gasthof zu. Vom Sattel aus schlägt der Mann mit der Reitpeitsche an den Fensterladen: »He!« Der Wirt öffnet, hält eine Laterne in den Wind, erkennt den Reiter: »Schon da?« – »Gleich muß die Herrschaft hier sein!« schreit der Reiter durch den Sturm. Der Wirt nickt: »Ist auch alles bereit. Das Essen wird oben auf den Zimmern einzeln serviert. Alles wie befohlen.« – »Und die Pelze, die Kleider?« – »Nichts abgegeben hier«, sagt der Wirt achselzuckend. Fluchend setzt sich der frierende Bote im Sattel zurecht und fragt nach dem nächsten Weg zur Stadt.
21 Die Schneeluft saugt das Hufklappern seines Pferdes auf, sie verschluckt jeden Laut, sogar das Rasseln des schweren Reisewagens, den vier Gäule durch den Schnee schleppen – auch die nebenher reitende Dragonereskorte zieht lautlos gespenstisch im Flockenwirbeln dahin. Der Lakai auf dem Kutschbock versucht mit verklammten Fingern das Halstuch um die frostroten Ohren zu knüpfen. Sein Nachbar sieht ihm spöttisch zu, gibt den Pferden einen Peitschenknips: »Da sitzt er und friert. Du hättest damals die Winterkampagne mitmachen sollen, mein lieber Vavel!« – »Ich dächte, wir hätten alle genug mitgemacht.« – »Na, nun ist's bald überstanden. Keine halbe Stunde, und wir sind in Hüningen.« – »Ich fahre bis Wien mit«, sagt Vavel – der Kutscher nennt den Lakaien »Graf Vavel«, und der Lakai sagt »mein bester Oberst Scharre« zu dem Kutscher – falsche Kleider, denn die beiden Menschen passen offenbar besser zu den Titeln und Namen, mit denen sie sich anreden, als zu ihrer Garderobe.
Der Mann im vielkragigen Kutschermantel hat die Augenbrauen gehoben und Vavel von der Seite angesehen: »Bis hierher war's gut, daß wir zu zweit auf diesem Wagen saßen. Irgendwas hat nicht gestimmt unterwegs – 22 aber da ist jedenfalls der Kirchturm von Hüningen, und sobald die Prinzessin an Österreich übergeben ist, sind wir überflüssig; vor allem – du, mein Lieber. Nimm mir's nicht übel, Vavel, ich bin zehn Jahre älter als du, und die arme kleine Prinzessin scheint mir zu neugeboren für diese männliche Welt. Charlotte ist aus dem Gefängnis des Temple heraus ohne Umweg in diesen Wagen gestiegen – hü!« Die Pferde scheuen, der kutschierende Oberst packt die Zügel fester – »Paß lieber aufs Fahren auf, sonst schmeißen wir noch um vor Hüningen«, spottet Vavel.
Wie das schneit . . . nicht Flocken: in einem weißen zitternden Würfel innen eingeschlossen sind Stadt, Ratsmarkt und Gasthof verborgen vor der Welt der Lebendigen draußen.
Schlimm, in solchem Unwetter über Land reiten müssen; schlimm, über Land fahren müssen – aber ein verzweifeltes Beginnen, zu Fuße durch den Schneesturm stapfen wollen: auch über den kahlen Landweg nach Hüningen pfeift der Eiswind. Verwundert zieht der Grenzwächter den Schlagbaum hoch – »Ein Ladendiener und eine Putzmamsell vom Modehaus Robinet, Botengang in den ›Raben‹.« Nach ein paar Schritten bleibt die Mamsell stehen, holt Atem: »Ein furchtbarer Weg«, seufzt sie. Der Sturm 23 reißt dem Ladendiener die Mützenklappe aus dem Gesicht, er sieht sich um . . . niemand weit und breit, nur der Sturm kann hören, was er sagt: »Wege zum Thron sind so, Hoheit.« Der Schnee stiebt auf, schnaubend hält ein Pferd vor ihnen, und durchs Gestöber schreit der Reiter: »Modehaus Robinet?« Der Ladendiener nickt. »Los, los!« drängt der Mann und springt vom Pferd, »die Prinzessin kann jede Minute im Gasthof ankommen. Gebt her« – er nimmt ihnen ein paar Packen ab.
Der Rabenwirt hängt vor seiner Tür eine zweite Laterne in den Lichtstock – er horcht auf: Pferdegetrappel. Der Reisewagen mit der Eskorte taucht im Flockenwirbel auf. Voran reitet ein Kapitän, klappt den Pelzkragen herunter: »Zum Raben?« – »Gasthof zum Raben, zu dienen, wenn ich mit Herrn Kapitän Méchain die Ehre habe, für den der erste Stock reserviert ist?«
Der Kapitän ist vom Pferd gesprungen und mit großer Ehrerbietung einer tief in Mäntel und Schals gewickelten Dame beim Aussteigen behilflich: »Die Wagen«, sagt er zu ihr, »mit der Begleitung und den Ministern haben wegen der Formalitäten eine kleine Verspätung; keine halbe Stunde, Hoheit.«
24 Die Uhr zeigt weit nach Mitternacht. Eine böse Schneenacht – nichts ist deutlich zu erkennen . . . Modemamsells werden doch nicht mit dem Titel ›Hoheit‹ angeredet, auch ganz leise und auf einsamen Landstraßen nicht. Und der Ladendiener nannte sie so? Vielleicht stak der Kerl auch in falschen Kleidern? Und die andere Hoheit . . . die schien standesgemäß vorzufahren, aber tief in der Nacht wieder hinauszulaufen aus dem Haus, durch den verschneiten Garten, irgendwohin, mit zwei Männern . . . was für Gäste herbergten in diesem Wirtshaus diese Nacht?
Der Wirt tritt von einem Bein aufs andre vorm Schlüsselbrett und malt mit Kreide Kreuze hinter die Zimmernummern. Kein Gast nennt ihm ja seinen Namen! Sicherlich hat der Wirt die Ehre, Herren von Stande zu bewirten: Uniformen mit Orden, Eskorten, Lakaien. Aber unter soviel Männern nur zwei weibliche Wesen – eine Prinzessin und eine Modemamsell. Der Wirt schüttelt den Kopf. Er tappt sein Treppenbergwerk hinauf. Wer hat eigentlich die Windlichter auf den Fluren ausgelöscht? Oben geht eine Tür. Da blinkt doch im Wandspiegel ein Licht auf – weg ist es. Der Wirt sieht sich um – »Steht hinter mir jemand?« Nein, sein eigener Schatten . . .
Auch nach sehr dunklen Nächten graut endlich 25 der Morgen, und noch im ersten Frühlicht wird die Prinzessin Charlotte höchst ehrerbietig übergeben an Österreich, das glücklich ist, diese Tochter der Marie Antoinette nun bald ins Haus Habsburg verheiratet zu sehen – samt ihrem Vermögen.
Aber im Gasthof zum Raben tat wohl niemand ein Auge zu in der Nacht vorher. Treppauf und ab ist das gegangen, unaufhörlich – gravitätisch zuweilen, sporenklirrend und unter Vorantragung von zwanzig Kerzen auf silbernen Leuchtern – doch auch ganz leise, auf Strümpfen im Dunkeln und rasch huschend durch den Streifen Mondlicht, der den Flur trifft und den keiner auslöschen kann.
Horchend richtet sich der Wirt im Bett auf: was da klappte, war die Gartentür – der Wirt lugt aus dem Fenster – und was da läuft, da, im Häuserschatten, das sind Menschen . . . ein Frauenzimmer und zwei Männer . . .
Es ist alles ungewiß, sagt der Hoftraiteur, und ein solch alter Wirt in einem solch dunklen Treppenbergwerk, das Gäste auf- und abgestiegen sind seit so vielen Jahren, der muß es wissen. Lassen wir ruhig ungewiß, wer das Mädchen war, das unter dem Namen »Prinzessin Charlotte« übergeben wurde an Österreich. 26 Vielleicht war sie die Modemamsell, die gestern abend ins Haus kam, und diese Mamsell hieß vorgestern vielleicht Louise, weit hergereist aus Turin, aus dem Hause Condé vielleicht – das Mädchen sorgt uns nicht. Ein Blick auf das Bild des guten Malers Kreutzinger rechts neben dem Kopfende meines Bettes: solche Menschen finden sich zurecht unter jedem Namen in jedem Kleid in jeder Zeit. Aber die Tochter der Marie Antoinette, die wirkliche Charlotte! Die hat ihre liliengeschmückten Koffer stehen lassen im Gasthof zum Raben, ja, nicht umgekehrt ist sie nach dem vergessenen Diamanten ihrer Mutter. Charlotte hat sich vor dem schwarzen Nonnenhabit gefürchtet, das ihr im dunklen Treppenhaus des Gasthofs zum Raben plötzlich jemand über den Arm hing: sie hatte zu lange in falschen Kleidern im Temple gesessen, um nun, auf der Schwelle der Freiheit, in falschem Kleid ins Kloster Sacré Coeur zu wollen . . .
Ja, eine entsetzliche Winternacht. Und dennoch loben drei Menschen Gott, daß sie dem warmen Haus entronnen sind und nicht mehr gegen sanft redende Herren und Damen, sondern nur gegen eine rasend gewordene Winternacht kämpfen müssen. Schneewehen sperren die Straßen. Vavel stützt Charlotte. Ihr laufen die Tränen übers 27 Gesicht: »Ich kann nicht mehr.« Scharre nickt grimmig: »Seht euch um«, sagt er und zeigt mit beiden Händen in das freigebige Schneegewölk, »die ganze Welt ein Temple!«
Vavel nimmt Charlotte auf seine Arme, hebt sie über die Schneewehe – da sind die drei in der Seitengasse verschwunden . . .
*
Ich drückte die Stirn gegen das köstlich kalte Fensterglas und starrte die Schneewehe an: ich muß doch noch Charlottes Fußspuren erkennen? Ah so – ich stand ja am Fenster des Belgischen Hofes, und der Ratsmarkt da unten war nicht der Platz vorm Raben zu Hüningen. »Da sind die drei in einer Seitengasse verschwunden!« – diese eigenen lauten Worte hatten mich geweckt. Hoffentlich, sagte ich mir, hat sie der Hoftraiteur Steinmann nicht gehört. Sonst kommt er, nimmt mir das Buch weg, dreht mir's Licht aus, sagt: Es ist ja alles ungewiß – und ich stehe alleine da im Dunkeln mit einem undeutlich flüsternden Unrecht. Ich brannte die erloschene Zigarre an und betrachtete nachdenklich Charlottes Bild: Kind, Unrecht verjährt nicht; wir sehen's ja – das eben knüpft die Bilder im Lebensteppich so 28 verwirrend bunt und so verschlagen durchschlungen, daß altes Unrecht mit den Lebendigen umgeht, bis es, aus Leben und Gegenwart in sich selber frische Gegenwart saugend, rechtens den Geist aufgeben kann. Ich nickte dem zarten Mädchenkopf zu: Also sei ruhig – es ist nicht alles ungewiß, sondern gewiß ist, daß einer, der Unrecht schafft, das Unrecht ernähren muß mit sich, bis die Natur ihr Recht bekommt.
Eine Turmuhr schlug draußen die dritte Morgenstunde. Es schneite immer noch. Wie in Hüningen ums Gasthaus zum Raben. Und die arme Prinzessin hatte immer noch nicht genug Leben getrunken, um Blut haben und den Geist aufgeben zu können.
Wie sollte es nun weitergehen?
In einer Seitengasse war Charlotte verschwunden. Da verschwinden viele. Aber in Seitengassen wohnen auch Leute. Freilich meist nur kleine Leute, die wirkliches Leinen spinnen. Wer Feineres spinnt, wohnt gemeinhin feiner und begibt sich nur geschäftehalber in Seitengassen – ich blätterte in dem Buch: ja, da tauchten sie wieder auf um Charlotte, einer nach dem andern – der dort, schon im seidnen Nachtkleid am Kamin, sah sehr gelassen das Kind aus dem Temple die Seitengasse gehen: »Ah bah«, hörte ich 29 Talleyrand sagen und sah ihn in den Scheiten stochern, »das ist eine Geschäftssache wie jede andre.« – »Aber dieser Bericht des Kapitäns Méchain«, bemerkte sein Geheimsekretär, »klingt fast, als ob man die Prinzessin vertauscht hätte. Gesetzt, dies wäre so, brauchte doch nun Frankreich nicht das ihr zugebilligte mütterliche Vermögen auszuzahlen: die Million dreimalhunderttausend Livres der Marie Antoinette nicht, ihren Schmuck nicht –« »– den Solitär ihrer Mutter hat sie ja schon mitbekommen« – träumerisch sah Talleyrand seine schlanken Hände an – »schöner Stein . . . Ja, die alten guten Bourbonen möchten nun gern das Vermögen der Königin wiederhaben . . . wie sie das anstellen, allen Respekt. Der brave Habsburger will's auch wiederhaben. Mittels Heirat natürlich, Hochzeit Charlotte und Karl« – Talleyrand hatte halb für sich gesprochen und dabei die Figuren eines Schachbretts im Kreise um die weiße und die schwarze Dame herumgestellt. »Aber gesetzt«, begann der Sekretär wieder – Durchlaucht wischte die Figuren vom Brett herunter; nur die weiße, die schwarze Dame standen in den Karrees: »Gesetzt, gesetzt! Um die paar Groschen geht's doch gar nicht« – er wies mit leichter Bewegung auf die Erzbüste Napoleons, die das Kaminfeuer von unten her 30 erleuchtete, als ob sie lebte – »Es kann sich ändern. Der Kaiser hat eine weite Reise vor, bis nach Moskau, Lieber. Da muß man an den Rückweg denken« – er nahm die weiße Dame vom Schachbrett, stellte das Elfenbeinfigürchen sorgsam auf das Kaminsims – »Eines Tages sind die dicken Bourbonen wieder da. Es dürfte dann kein Fehler sein, den Herrschaften eine kleine Gefälligkeit erwiesen zu haben« – gedämpft drang von draußen das Geläut der Stundenglocke Notre Dame durch die schweren Vorhänge . . .
Glockenschläge? Kuhglocken sind das doch! Freilich, der Stadthirt treibt die Kühe und Ziegen durch die Gassen des Harzstädtchens Blankenburg. Das Brüllen des Rindviehs tönt zutraulich bis in das Erkerzimmer des alten Patrizierhauses in der Tränkegasse, in dem Koffer stehen, Berge von Koffern, sammetbeschlagen. Zwischen diesen Koffern watschelt Ludwig Bourbon herum, die Füße in ungeheuren Podagrapantoffeln. Man ist höchst erregt. Man brüllt lauter als das Rindvieh unten. Bei den Kernsätzen schlägt man mit dem Stock auf die liliengeschmückten Koffer. Ein wenig zugeknöpft hört sich der Herzog von Berry diese Ausführungen an. »Ich habe kein Geld!« schreit Ludwig und setzt sich auf einen der kleineren Koffer, »ich, der 31 Nachkomme des heiligen Ludwig, sitze in der Tränkegasse in Blankenburg und bin absolut bankrott!« Berrys Erinnerung, der Zar habe ihm doch ein Asyl versprochen, erzeugt eine neue Explosion: »Aber er gibt mir keine Livres!« Ludwig ächzt tief aus seinem gewaltigen Bauch herauf: »Nun ist Charlotte meine letzte Karte. Sie bekommt das Vermögen ihrer Mutter. Charlotte muß den Vetter Angoulême heiraten. Das Geld muß in der Familie bleiben. Dann ist die Finanzierung meiner Prätendenz gesichert.« – »Wenn das Ihre letzte Karte ist, Sire, nehmen wir beide besser gleich Kriegsdienste in Amerika an: Charlotte ist ja schon verlobt mit dem Erzherzog Karl.« Ludwig schweigt. Jetzt lächelt Ludwig: »Enfin – sie nimmt den Angoulême . . .« Er scheint noch etwas auf der Zunge zu haben, aber er schluckt nur. Der ahnungslose Berry sieht ihn fragend an. Nach einer Weile legt Ludwig die Hand auf Berrys Epauletten: »Das Charlottchen? Haha. Warte ab, Berry.« –
Hanebüchene Zeitläufte – aber manche Gerüchte ließen die hartgesottene Menschheit doch aufhorchen, und manche Gerüchte gerieten sogar in die Aktengänge. Ein Hofrat in Wien hat die Aufgabe, die Heirat der Charlotte aus dem Temple mit dem Erzherzog Karl vorzubereiten. 32 Er macht jetzt sehr große Augen und hält für geraten, eiligst nach dem Kriminalrat Eberhardt zu schicken.
Talleyrand vernimmt sowohl das Gerücht wie auch die Nachricht von den polizeilichen Bemühungen um die Wahrheit in Wien. Nachdenklich ruht sein Auge auf der schwarzen Dame seines Schachbretts: »Sieh da, Gnädigste, Sie sind weiß geworden. Man hat Sie angestrichen. Zwei weiße Königinnen im Spiel? Wir könnten die Partie versuchen, aber . . . hält die weiße Farbe auch? Bröckelt sie nicht, kommt das Schwarze nicht wieder durch hier oder da? Was wir jedenfalls nicht brauchen in diesem Augenblick, das ist ein öffentlicher Skandal ums Haus Bourbon« – er klingelt – »Lagny«, sagt er zu dem eintretenden Sekretär, »feststellen, wer in Wien die Sache ›Auslieferung Hüningen‹ bearbeitet.«
Scharre hört's auch munkeln – er trägt zwar herrschaftliche Dienerlivree, ist aber doch unterm Hemd ein Oberst außer Dienst, will diese ganze verkehrte Existenz nicht mehr herumschleppen und schreit dies seinem Freund Vavel, der eben in der offenen Türe steht, ins Gesicht. Entsetzt gibt Vavel der Tür einen Tritt, daß sie zufliegt: »Wenn das einer hörte! Übernimm du die Rolle des Herrn. Gut. Dann spiele ich den Diener. 33 Aber durchgespielt werden muß die Rolle.« In grimmiger Förmlichkeit knurrt Scharre: »Wann befehlen anzuspannen?« – »Ohne Wagen.« – »Aber die Pferde?« – »Laß sie stehn.«
Auf dem Flur draußen atmet Vavel seufzend die Luft des Hauses ein. Das Stockwerk über einer Apotheke hat er gemietet: »Der richtige Geruch: nach Krankenstube.« Noch beim Eintreten in Charlottes Zimmer denkt er: Aber wo gibt's einen Arzt, der ihr die richtige Kleidung verordnen könnte?« – »Hoheit, wir werden kurz nach Mitternacht aufbrechen müssen, zunächst leider zu Fuß.« Sie wirft die Handarbeit weg: »Verfolgt?!« Vavel beruhigt sie: »Nichts droht unmittelbar. Aber wer keinen Namen hat, muß zusehn, daß er niemand trifft, der ihn danach fragen könnte.« Charlotte zeigt auf die Straße hinunter: »Die Obstfrau da an der Hausecke, die hat einen Namen! Die ist jemand. Die lebt.«
Vavel ist ehrerbietig an der Tür stehengeblieben, jetzt tritt er vor sie hin: »Madame Niemand, Sie müssen verschwunden bleiben, bis sich beweisen läßt, daß die andre nicht die Tochter der Marie Antoinette ist.«
Beweisen – in einer Nacht wie dieser, gebaut aus Märzschnee, wollt ihr Beweise suchen? Und 34 seid selber nicht mehr als falscher Schnee: Beweise, Graf Vavel?
Ich tastete mit dem Ellbogen nach der Zigarrentasche im Rock, suchte mir ein schweres dunkles Kraut, roch daran, vergaß es anzuzünden . . . Wie soll ich's denn weitergehen lassen! Ich – ein Reisender an fremdem Ort?
Sogar Kriminalräte, Männer vom Fach, haben ja Mühe, wenn legitime Leute leise ihre Türschilder abschrauben: »Mein Name ist Niemand.«
Wie da Eberhardts Zeigefinger eifrig an der endlosen Reihe der französischen Emigranten hinfährt! Jetzt sucht er in der Abteilung ›Drei Zusammengehörige‹, da gibt's weniger, denn das paarweise Auftreten ist die gewöhnliche menschliche Erscheinungsform. Der kriminalrätliche Finger bleibt halten: Graf Vavel mit Begleiterin, Dienerkutscher und eignem Fuhrwerk, zur Zeit wohnhaft in Ingelfingen, woselbst in der Hofapotheke den ersten Stock gemietet . . . »Vavel?« murmelt Eberhardt kopfschüttelnd. Er blättert in einem anderen Heft: den Namen gibt's nicht! Er läßt eilig anspannen.
Wie auf der Landkarte eines Reisespiels die Figürchen in Bewegung geraten und ruckend durcheinanderfahren nach der Punktzahl der 35 fallenden Würfel – Reiter, Extraposten, Bauernwagen – so huscht es undeutlich durch diese Nacht. Talleyrands Kurier reitet zwischen den Punkten Rastatt–Stuttgart; Eberhardts gelbe Kutsche rollt zwischen Landshut–Pfaffenhofen; ein sehr ansehnlicher Glaswagen prescht in allen Fugen ächzend auf dem grundlosen Wege zwischen Friedland und Insterburg dahin. Der Wind pfeift ums Verdeck, trotzdem hört ein heimkehrender Schäfer deutlich den hinter Vorhängen verborgenen Insassen gröblich fluchen: »Konnte mir der Zar nichts Besseres geben als dieses Lauseschloß in Mitau hinten, wo die Welt aufhört?« fragt soeben Ludwig von Bourbon, auf dessen Thron immer noch Napoleon sitzt, den schweigenden Berry.
Nicht festzustellen in diesem von unbekannter Hand würfelnd bewegten Reisespiel sind die zwei Orte, zwischen denen jetzt ein elendes Strohwägelchen seines Weges nicht, aber wohl des großen unbekannten Würflers Wege fährt: Vavel hat die Stationen sorgfältig ausradiert. In der Schoßkelle sitzt Scharre, einen zerdrückten Bauernhut auf dem Kopf. Vavel hüllt Charlotte in seinen Mantel: »Geduld, Hoheit Niemand, in drei Stunden sind wir im ›Belgischen Hof‹.«
*
36 An ihrem Ort und bei bestem Wohlbefinden fühlt sich zur Zeit nur eine der Spielfiguren um Charlotte herum: die Dame nämlich, welche in Hüningen als Prinzessin Charlotte an Österreich übergeben wurde, jenes resolute Mädchen namens Louise – vielleicht. Aus dem Hause Condé – vielleicht. Diese Dame ist als der erste Gast von all den Gästen, die das dunkle Treppenbergwerk im Raben zu Hüningen auf und ab stiegen, an ihrem Bestimmungsort angekommen: in der wetterfesten Burg zu Wien. Allerdings haben sich die Wiener das arme Kind aus dem Temple etwas anders vorgestellt: Die denkt nicht dran, den ihr zugedachten Erzherzog zu heiraten! Sie hat ihre Koffer gar nicht erst richtig auspacken lassen. Sobald der Onkel Ludwig ruft: Vetter Angoulême eingetroffen, komm und heirate!, wird sie samt ihrer Mitgift, dem Vermögen der Marie Antoinette, ins Asyl Ludwigs nach Mitau eilen. Noch sind inzwischen allerlei Geschäfte zu erledigen in Wien. Die in jener Winternacht in einer Seitengasse verschwundene wahre Charlotte hat man leider immer noch nicht wiedergefunden; die so gesund nach Süden gelegene Zelle im Kloster Sacré Coeur steht immer noch leer, und das schwarze Nonnenhabit hängt immer noch am Nagel und wartet auf seinen schönen Inhalt. 37 Aber die falsche Charlotte hat noch anderes zu tun, als nach der echten zu fragen: da schrieb eben Renête, die einzige Freundin aus dem Temple, sie werde die Aufzeichnungen der Prinzessin Charlotte aus der Kerkerzeit nach Wien bringen, die gerettete Freundin umarmen und ihre Hochzeit mitfeiern. Renête kennt die echte Charlotte wie sich selbst: sie ist die letzte, welche die falsche Charlotte in Wien zu sehen wünscht. Aber ihre gefährlichen Dokumente braucht sie. Man verreise, wird ihr geantwortet, die liebe Freundin könne nicht zu Besuch kommen, aber die Erinnerungen aus dem Temple, die wolle Renête unverzüglich einsenden.
Der Kriminalrat Eberhardt tut unter diesen Umständen was er kann. In dunkler Morgenfrühe klopft er den Apotheker in Ingelfingen aus dem Bett: er wünsche den Grafen Vavel zu sprechen. Der Apotheker lächelt nur mitleidig: »Der Herr Graf empfangen nicht einmal bei Tage Besuch.« Nach einigem Hin und Her und endlicher Legitimation stehen Eberhardt und der Apotheker in der Wohnung: sie ist leer. Menschenleer wenigstens – Koffer, Kleider, alles sonst ist noch vorhanden. Der Apotheker gerät außer sich: gestern spät abends hat er doch noch die Pferde des Grafen im Stall gesehen! Er läuft 38 hinunter in den Hof. Eberhardt sieht sich um: Bestecke, Kleider unsigniert, nirgends ein Papierschnitzel. Das Bett der Dame sieht aus, als ob sie eben aufgestanden wäre. Da erblickt der Kriminalrat ein seidnes Hemd. Am Saum ein gesticktes Zeichen! »Herr Rat!« ruft der Apotheker auf der Treppe draußen. Rasch steckt Eberhardt das Hemd in seine Tasche. Er ist höchst betroffen. Aber der Apotheker redet auf ihn ein. Der Wagen sei noch da. Und die herrlichen Pferde auch! »Ja«, sagt Eberhardt zerstreut, »und die Miete?« – »Die ist vorausbezahlt.« Ob er die Dame einmal gesehen habe, fragt Eberhardt. – »Niemand hat sie gesehen. Sie ging nie aus.«
Ach, wir haben Charlotte von diesem Fenster des Belgischen Hofes aus nicht anders als ausgehen sehen! Aber jetzt scheint auch sie ihren Ort endlich gefunden zu haben. Solange nämlich Talleyrand einen Menschen noch irgendwie verbrauchen konnte, tat er für ihn, was in seinen Kräften stand, und teilte diese Wohltaten aus als ungenannter Spender. In Talleyrands Kräften stand viel: zu Vavels Erstaunen läßt ihm der Hildburghäuser Fürst mitteilen, daß er dem Grafen Vavel und seiner Begleitung das abgelegene Schloß Eishausen als unauffällige Wohnung zur Verfügung stelle.
39 Die Madame Niemand muß nun ein leeres Schloß bevölkern mit Hoffnungen: »Ich bin die Tochter der Marie Antoinette!« ruf Charlotte, als sie im ›Schwäbischen Merkur‹ liest, die Prinzessin Charlotte sei in Wien. Vavel sieht vor sich hin: »Wie aber beweisen? Für Leute, die jetzt noch sowas sagen, hat man Irrenhäuser.« Scharre lehnt am Türpfosten: »Renête«, seufzt er, »die könnte helfen. Die hat die Dokumente aus dem Temple und darf sagen: diese Charlotte ist die wirkliche Tochter der Marie Antoinette.«
Wie soll aber Renête jemand finden, der sich nicht finden lassen darf?
Alles gefunden, was ein Mensch im Asyl verlangen kann, hat Ludwig Bourbon. Die Dame, welche sich Charlotte nennen läßt, ist angekommen, der Vetter Angoulême auch, andere Vettern ebenfalls, und Ludwig streicht nicht mehr in pelzgefütterten Podagrapantoffeln sorgenvoll von Saal zu Saal in diesem düsteren Mitauer Schloß. Hochzeitsgirlanden hängen im Saal – morgen wird jenes schwerzubenamsende Mädchen endlich einen soliden Namen haben: Herzogin von Angoulême. Und Ludwig spricht: »Das Vermögen der Marie Antoinette ist zurückgekehrt in unseren Schoß.«
In Hüningen ließ Charlotte auf der Flucht 40 den Stein der Königin liegen. Ludwig hebt das Fundstück hoch. Ein gewaltiger Diamant! Langsam dreht Ludwig den Stein. In den Facetten bricht sich verwirrend das Licht, in den vorüberdrehenden Facetten spiegeln sich die Anwesenden. Aber der Diamant dreht rascher, andre Bilder huschen auf in dem Kristall, verschwinden farbenfunkelnd in den folgenden: eine Guillotine, ein Haufen zerbrochener Kronen, das vom Geschützdampf umwölkte Haupt mit dem berühmten dreieckigen Hut, eine brennende Stadt in ferner Steppe, ein leerer Thronsessel – die Prinzessin legt den Kopf zurück, Ludwig küßt sie auf die Stirn, er will ihr den Solitär umhängen: »Du hast Bourbon gerettet –« »– wenn das Fundstück verkauft und Geld geworden ist, Sire«, unterbricht sie ihm Ludwig seufzt: »Bargeld, Bargeld . . . ach ja, man pfändet mich sonst sogar hier. Wir werden einen Käufer suchen müssen.«
*
Der Kriminalrat Eberhardt aber ist immer noch auf der Suche nach dem rechtmäßigen Inhaber des Steines. Er steigt im Belgischen Hof ab, richtet sich in dem kürzlich freigewordenen Zimmer Nummer eins mit wenig Griffen ein und begibt sich 41 aufs Amt. Auf seine dienstlichen Fragen antworten die Amtsschösser nur mit stummem Achselheben. Dabei sehn sie sich an von Pult zu Pult, schnüffeln ein bißchen, der Oberamtsschösser muß sogar gerade mal rausgehn – Eberhardt ist auch Beamter, weiß Bescheid, hält sich hier nicht länger auf und läßt sich beim Hildburghäuser Fürsten melden, der ja den drei Unbekannten das Schloß Eishausen zur Verfügung gestellt hat.
Ein Gerücht, beginnt Eberhardt seinen wohldurchdachten Vortrag, laufe um im Lande, die Prinzessin sei in der Nacht ihrer Auslieferung vertauscht worden – vom Fürsten sieht man nur die kronengeschmückte Rückseite seines Sessels. Nach den ersten Sätzen sagt er: »Pst!« Eberhardt ist verdutzt, beginnt weiterzureden: »Wenn dieses Gerücht –« »Pssst!« – Eberhardt stockt wieder, will aber nun zu Ende kommen und sagt ganz schnell: »Ich habe Gründe – bitte: das Hemd der unbekannten Dame. Von mir gefunden in ihrem Bett.« Jetzt wendet sich Hoheit: »Ahh«, er befühlt das Hemd: »Mmm!« – »Geruhen Hoheit zu bemerken: die drei Lilien von Bourbon in der Ecke.« Der Hildburghäuser Fürst ist vertieft in die Betrachtung des seidenen Hemdes: »Sehr niedlich. Sehr. Aber Lilien, sagten Sie? Haben Sie Ruß in den Augen, mein Guter? 42 Das sind Veilchen.« Gedankenvoll faltet er das Hemd, steckt es plötzlich in – seine Tasche und dreht sich ganz herum nach Eberhardt: »Ja, was ich sagen wollte – Sie scheinen ein guter Kopf zu sein. Ein Kriminalist von Ruf. Von internationalem Ruf. Man kennt den Rat Eberhardt in Wien, in Ingelfingen – ja, man kennt ihn in Paris! Denken Sie: der Talleyrand kennt den Eberhardt! Freut Sie, wie? Und, ah ja, da wir grade den Talleyrand erwähnten« – Hoheit zieht seine Uhr – »es ist jetzt genau ein Uhr zehn. Wenn Sie sich nicht Punkt ein Uhr fünfzehn auf der Rückreise befinden, sollte es mir sehr leid tun, wenn Sie meine Polizei über die Grenze abschieben würde« – Hoheit winkt gnädig mit der Hand . . .
Jeder erledigt seine Obliegenheiten nach bestem Vermögen. Hoheiten winken, Amtsschösser schreiben, Eberhardts Bett im Zimmer Nummer eins wird wieder abgezogen, die Ratsuhr zeigt die Stunden wie immer – und doch wankt die Welt, taumelt betrunken von rechts nach links: Napoleons Armeen marschieren nach Osten, Talleyrands Kanzlei ist dem Kaiser bis zur Grenze gefolgt. Talleyrand hat viele Gedanken: Rußland liegt weitab – »Lagny«, sagt er zu seinem Sekretär, »ich wünsche einen Vertreter der 43 Bourbonen zu sprechen. Geheim. Hier in der Nähe der Grenze. Am besten den Berry. Sagen lassen können Sie ihm, ich möchte den Diamanten der Marie Antoinette kaufen. Nicht für mich, behüte. Der Stein bringt seinem Besitzer Unglück. Aber man braucht zuweilen so kleine Geschenkartikel, die dem Empfänger kein Glück bringen. Bestellen Sie: ich freue mich über den Besuch« – –
*
»Besuch haben Sie?« – sprach da jemand? . . .
Beim Auf- und Abgehen war ich an die Tür gekommen, sah das graugestrichene Holz an, griff nach der Klinke. Aber ich war eben in unheimlicher Gesellschaft gewesen, und hinter dieser Türe breitete sich ein leerer dunkler Flur, von dem Flurboden schwang sich gewundenes Treppenwerk ins Ungewisse hinauf – ich ließ die Klinke wieder los: »Ist dort jemand?«
Da klopfte es wahrhaftig ans Türholz: »Der Wirt.«
Ich schob den Riegel weg, der Eingang stand offen. Das Lämpchen auf dem Flur war ausgedreht, vor pechschwarzem Grunde stand Herr Steinmann in seinem Schoßrock, eisgrau, klein, uralt, mit einem Leuchter in der Hand: »Ich 44 bemerkte Licht«, sagte er, »man sieht's auf dem Schnee draußen. Vielleicht fehlt Ihnen was, dachte ich. Will anklopfen. Und höre Sie sagen, daß Sie Besuch haben.«
»Nein, nein, Herr Steinmann. Ich sprach nur für mich.«
»Es waren doch unterschiedliche Stimmen« – der Wirt äugte ins Zimmer: aber er konnte nur mich allein sehen. Steinmann nickte befriedigt: »Sie verstehen, Herr. Das Haus ist verschlossen, wie soll Besuch zu Ihnen kommen. Und wenn man so allein wohnt –«
»Aber bitte, treten Sie doch ein.«
Steinmann schüttelte den Kopf, und an der Art dieses Schüttelns sah ich, daß jetzt irgendein Wort der Erklärung gefunden werden mußte: »Die verschiedenen Stimmen habe ich selber geredet« – jetzt hob der Wirt den Leuchter, um mich besser sehn zu können – »Das kommt vom Lesen«, fuhr ich fort. »Da ist man der, man ist jener . . .«
Herr Steinmann knöpfte langsam den oberen Knopf zu am grauen Rock: »Der und jener zugleich? Dann entschuldigt der Herr die Störung wohl. Gute Nacht.«
Ich klinkte die Tür wieder ein, kam mir aber trotz des Verschlusses ein wenig bloßgestellt vor. 45 Wie wird der Hoftraiteur morgen früh mit mir verfahren am Kaffeetisch? Ach ja, wie gut reden hat ein Mann, der den Mut aufbringt, einen urkundlich fertiggelebten Helden am Rockkragen zu nehmen und ihn zu schieben von Aktennotiz zu Aktennotiz bis in sein Heldenende hinein. Ich hob Charlottes Bild vom Nagel, stellte es vor mich hin auf den Tisch: »Sieh, Kind, ich muß mir eine Gewißheit dichten. Weil ich weiterleben will. Und der Herr Steinmann, unser Wirt, hat eben seinen Rock zugeknöpft – es ist sehr spät, du bist so schwer zu finden im Treppenbergwerk. Man greift ins Pechschwarze und hat Schattenpack in der Hand, das der Teufel holen soll. Aber du selbst – gut, du selbst! Du wirst jetzt weder seufzen, noch feuchten Auges in die Ferne, in dein goldenes Königreich schauen – du nimmst jetzt Messer und Gabel in die Hand und ißt. Gebratene Wildente mit Salat – hm, frischer Salat, jetzt, in Eishausen? Ach was, den Salat hat dir der Fürst aus dem Treibhaus in Hildburghausen geschickt – sie haben sich doch alle um Charlotte gekümmert. Die Königin Louise, laut Aktennotiz. Und die Hildburghäuser Prinzessin hat ihr sogar eine Perlentasche gestickt, laut Aktennotiz. Nur den Vavel, den haben die Fürstlichkeiten nicht leiden können – dieses nicht laut 46 Aktennotiz, jedoch aus bestem Munde mir in mein eigenes Ohr. Halten wir das fest für später. Jetzt wird Hoheit ganz gewöhnlich menschlich mit essen anfangen. Die Ente steht auf dem Tisch, lieblich anzusehen. Die Prinzessin ergreift das gewaltige Bratenmesser. Auch gebratene Enten haben ihr walzenförmiges Äußere behalten und schaukeln hin und her beim nicht sehr gewandten Schneiden. Wo soll Charlotte das Zerlegen des Geflügels gelernt haben? Im Temple hat's ihr keiner gezeigt. Die Herrschaften mit den Jakobinermützen verstanden selber nicht, ein organisches Ganze zu tranchieren, wie die späteren geschichtlichen Ereignisse gezeigt haben.
Charlotte säbelt. Vavel muß lächeln.
»Lachen Sie mich etwa aus? Verkehrte Welt! Sie haben zu tranchieren!« – »Ich habe nur die Ehre, hier Gast sein zu dürfen. Die Hausherrnrechte, Hoheit, liegen bei Ihnen.« – »Ahh! Ich bin hier Herr! Graf Vavel, ich befehle Ihnen, unverzüglich anspannen zu lassen. Denn ich sterbe vor Lufthunger.« – »Heute? Leider ganz unmöglich. Im Dorf ist Kirmes. Wie leicht könnte Sie ein unerwünschter Fremder erblicken.«
So blieb es auch heute beim Anschauen der Natur durch Fensterglas oder – durch den Kristall der Erinnerung hindurch, den 47 mondsilberklar gewölbt geschliffenen, durch den man immer nur von innen nach außen, nie von außen herein blicken kann . . . einen wunderbaren Spaziergang beginnt jetzt Charlotte zu beschreiben: weite Rasenflächen, die goldne wasserumsprühte Neptungruppe, über den Wipfeln der Platanen die Mansarddächer des Schlosses . . . »Sie träumen«, sagt Vavel und versinkt selber in Traum . . .
»Ich pflücke Blumen, Vavel. Einen Arm voll. Am Pavillon der Diana wachsen Osterglocken, wissen Sie's noch?«
Selbstvergessen legt sie ihre Hand auf seine Hand. Vavel beugt den Kopf, küßt ihre Hand – da zuckt diese Hand. Die beiden sehen sich an, erwachend. Lautlos senkt sich wieder die unsichtbare Schranke zwischen sie.
»Blumen«, stammelt Vavel, »zu Befehl, Hoheit. Ich werde heute noch in die Gärtnerei schicken.«
»Zum Gärtner? Schicken Sie in einen Putzmacherladen, Graf. Lassen Sie künstliche Blumen kommen. Die passen besser zu unseren falschen Kleidern und verblühen nicht.«
*
48 Die alte Frage nach Dauer beschäftigt auch Talleyrand seit vielen Nächten. Immer wieder ordnet er heute die künstlichen, morgen die natürlichen Blüten Europas zu einem neuen Bukett. Tief in sich versunken sitzt Talleyrand im Sessel. Im silbernen Leuchter brennt nur eine Kerze. Ineinanderströmende, zu Figur sich wölkende Gedanken brauchen Dämmerung.
Ein Geräusch am Türvorhang läßt ihn aufsehen. Sein Sekretär hat behutsam einen Mann hereingeführt. Die Gesichtszüge sind kaum zu erkennen im Halbdunkel – Talleyrand lächelt: sieh da, ein Bourbonengesicht. Aber diesmal ein offenes, schlichtes Soldatenantlitz: der Herzog Berry.
»Sie sind rasch gereist.« – »Die Ereignisse reisen noch eiliger«, antwortet Berry, »über Nacht kann der Thron leerstehen. Das Haus Bourbon –« »– das Haus Bourbon«, unterbricht ihn Talleyrand, »ach ja. Man hört, Charlotte hat geheiratet. Den Angoulême. Ausgezeichnet. Und – die echte Charlotte?«
Berry weiß nichts. Er starrt den Mann an, der von Unrecht lebt wie die Schlange von der Erde, der Sage nach. Talleyrand spricht ruhig weiter, enthüllt dem entsetzten Berry das Geheimnis von der echten Charlotte. Den Namen des 49 abgelegenen Ortes Eishausen hört Berry zum erstenmal . . . »Sobald das Haus Bourbon verhandlungsfähig ist«, schließt Talleyrand, »erbitte ich Ihre Benachrichtigung.« – »Was – was heißt das?« – »Eine von den beiden Charlotten ist jetzt überzählig geworden, mein Bester.«
*
Überzählig . . . Das Wort schlägt wie ein Glockenklöppel in Berrys armem Gehirn. Heißt überzählig etwa – tot? Glaubt dieser Mensch, ich, ich soll . . . er ist wie ein Irrer durch die Straßen, die Gassen gelaufen, weiß nicht, wo er ist. Da gehen Steinstufen hinunter in eine Kneipe. Dudelnde Musik. Über der Tür eine rote Laterne. Röchelnd trocken ist Berrys Kehle. Er reißt die Tür auf: »Wein!« Ein Frauenzimmer lacht: »Der paßt!« Berry säuft lechzend den Wein in sich. Das Mädchen setzt sich auf seinen Schoß: »Wo kommst du 'n her?« Rote Weintropfen hängen in seinen Mundwinkeln: »Vom Schindanger. Geh weg!« Taumelnd steht er auf, aber das Mädchen hält ihn fest: »Bleib. 's ist spät. Wo willst du noch hin?« – »Wo ich hin will?« – er läßt sich wieder in die Bankecke fallen, greift nach dem Weinglas – »wohin? Ich 50 glaube, ich . . . ich habe in meiner Zunft nach Arbeit fragen wollen.« – »Komm, geh ins Bette. Du redst schon wie 'n Betrunkner.« – »Ins Bette« – Berry lacht plötzlich – »Du, einen Menschen zwischen zwei Leinentüchern zur Ruhe bringen will gelernt sein.« Er wirft ein Goldstück auf den Tisch, gibt der Tür einen Fußtritt, ist verschwunden. Das Mädchen faßt zaghaft das Goldstück an: »Der hat einen auf'm Gewissen«, flüstert sie und versteckt das Geld.
*
Eishausen liegt weit abseits von diesen Begebenheiten. Napoleons Heere jedoch rinnen nach Osten in vielen Fäden. Ein Sergeant braucht Essen und Trinken für seine Leute, klopft an die Tür des Schlosses. Der Diener erscheint. Die Livree aber reicht dem Scharre nur bis zum Hals – sein Soldatenauge blitzt auf, als er die Uniformen sieht. Dennoch sagt er kühl, jeder Zoll ein Lakai: »Bedaure, dieses Haus darf nicht betreten werden.« – »Hoho!« Die Soldaten schieben ihn lachend beiseite, quellen in Scharen herein – da wacht in dem gemaßregelten Lakaien der heimliche Oberst auf, die Wut packt ihn, vor seinen Augen dreht sich die Halle, er 51 kommandiert – wie einst: »Achtung! Stillgestanden!« Das Kommando war so wunderbar echt, der alte Zauber wirkte – Rasseln auf den Steinfliesen, Strammstehn, Totenstille . . . eine Sekunde, zwei. »Du verfluchter Kerl!« brüllt jetzt der alte Sergeant – er unterbricht seine Ansprache an den Lakaien: »Rührt euch!« – der Zauber ist hin! »Kaffee kochen, Brot bringen, und dick mit Butter – Hanswurscht, hier zu kommandier'n wie 'n Kapitän!«
Der erschrockene Vavel ist erschienen – Herr und Diener sehen sich an. Was? Der Oberst soll Musketieren Kaffee kochen . . . Und Vavel, vordem Kapitän in Seiner Majestät Schweizergarde, vielleicht Butter streichen . . . Hier verliert man kein Wort mehr. Man geht die Treppe hinauf, begibt sich in sein Zimmer und schließt ab.
Soldaten wissen auch ohne Lakaien die Küche zu finden.
Charlotte hat den Lärm gehört. Ihre Angst legt sich rasch: die lachen da unten! So fröhlich hat noch nie ein Lachen geklungen in diesem toten Haus. Sie lauscht an der Tür, tritt auf den Flur. Wie schön das klingt, wenn Menschen lachen. Sie hat's selten gehört. Im Temple lachte niemand, später erst recht keiner. Stufe für Stufe geht sie die Treppe hinab, kommt dem Lachen 52 immer näher – unten tut sich ihr ein herrliches Bild auf. In der riesigen alten Gutsküche, vor hochflackerndem Feuer, sitzen, liegen, kauern Soldaten und schmausen, reden, lachen.
»Bitte, Madame«, sagt der Sergeant, stuppst einen Mann von seinem Stuhl – und eh sie sich's versieht, sitzt Charlotte unter lauter lebendigen Menschen, die begeistert sind, als sie ihr Französisch hören. Man serviert ihr höflich frischgekochten Kaffee in einem Blechtöpfchen. Der Unteroffizier legt ihr auf einem Stück Papier ein Butterbrot handlich. Der Gefreite schneidet die dicke Brotscheibe in kleine Häppchen mit dem Taschenmesser, das er vorher an seiner Hose abwischt. Menschen! Es gibt noch Menschen! Wie Spuk verraucht durch den Küchenkamin, was ihr die Brust eindrücken wollte mit Albgewicht – ich bin doch auch ein lebendiger Mensch! Der Köchin droht ein Schlaganfall, aber sie muß den Soldaten zeigen, wo die Schinken hängen, wo der Rotwein liegt. Nach einer Weile – nicht anders kann man nennen, was sich nun begibt in dieser Küche nach einer kleinen Weile – beginnt hier ein richtiges Gelage. Charlotte bekommt ein großes Wasserglas voll Wein hingestellt. Sie trinkt mit ihren Gästen auf das Glück ihrer Heimat. Sie erfährt, daß Emile eben 53 geheiratet hat, Aristide vier Kinder und Paul eine Braut besitzt: »Oh, blond wie Sie, Madame!« Sie nickt immer nur zu allem, denn tut sie den Mund auf, muß sie vielleicht weinen.
Und jetzt: Ob sie Paris kennt, fragt einer!
Da beginnt's, ein paar erst, dann alle:
»Leb wohl, lachende Heimat,
Mein Vaterland,
Meine guten Tage, lebt wohl –
Nur ein Stück von mir wandert fort,
Das andre, das Herz, bleibt daheim,
Mein Vaterland: das gehört dir!«
Jetzt laufen Charlotte doch die Tränen übers Gesicht.
Der Sergeant sagt väterlich: »Das ist das Heimweh, Madame« – sie legt den Kopf in die Hände, auf die Tischplatte, mitten zwischen die Butterbrote und Kaffeetöpfchen. Der alte Sergeant streicht ihr über das Haar: »Das gibt sich, wenn man wieder zu Hause ist, Madame, das gibt sich.«
Zwei Salzsäulen, stehen Vavel und Scharre in der Tür. Das träumen sie ja wohl bloß. Das kann doch nicht sein. Scharre kneipt sich in den Arm, zu sehen, ob er noch lebt – ja, er lebt, und er sieht mit seinen Augen, wie Ihre Hoheit 54 die Prinzessin von Frankreich, die Madame Royale, die gewaltige Tatze des Sergeanten an ihre Brust drückt: »Nehmt mich mit nach Hause.« – »Madame, wir marschieren ja zum Brückenbauen. Da 'nüber zu.«
Der Sergeant erblickt plötzlich die beiden in der Tür. Er stemmt die Fäuste in die Hüften: »Aha, da sind sie ja wieder« – besonders diesen Lakaien hat er auf dem Zuge – »Hör mal her. Du weißt doch, was 'n alter Sergeant ist? Wenn wir mit unserer Brücke fertig sind, kommen wir wieder durch bei euch. Dann frage ich die Madame, ob Ihr gesorgt habt, daß sie hier so lustig leben kann wie bei uns zu Hause. Und Sie, Sie feiner junger Mann, Sie kennen 'nen alten Sergeanten noch nicht, aber Sie werden ihn kennenlernen. Jetzt müssen wir weiter. Antreten.« Noch einmal wendet er sich drohend nach Vavel und Scharre um: »Ich komme wieder!«
Er drückt der Madame beide Hände. Alle vierzig Mann drücken ihr beide Hände. Sie winkt ihnen nach.
In der Ferne verklingt das Lied: »Meine guten Tage, lebt wohl« – und noch einmal ganz leise: »Bleibt daheim . . .«
*
55 Bleibt daheim – nur Totengräber können ihre Gemeinde frühmorgens beim Betreten ihres Arbeitsfeldes, vor Einlaß des Publikums, guten Gewissens mit ›Bleibt daheim!‹ begrüßen. Die sonstigen Erdbewohner üben ihr Gewerbe im Herumziehen aus. Bleibt daheim! rufen sich die Leute zu, und jeder packt seinen Koffer entweder grade ein oder aus, und alle müssen nach der Zeche fragen. Wohl dem, der bezahlen kann, was er schuldig ist. Renête de Chanterenne sieht sich nicht in dieser angenehmen Lage, sondern hält dem Wirt ›Zur goldenen Gabel‹ in der Türkengasse zu Wien ein goldenes Armband hin. Zu den vielen Emigrantenscherereien dieser großen europäischen Reisezeit ist ein neuer Fall gekommen. Der Kriminalrat Eberhardt hat trotz seiner kürzlichen Mißerfolge die Vorliebe für Emigrantenakten behalten – er sieht sich die revoltierende kleine französische Dame näher an.
»Das Armband ist echt und mein Eigentum!« ruft sie, »Hier das Wappen« sie hält ihr Petschaft daneben – »das Wappen der Chanterenne!« Der Kriminalrat starrt auf Armband, Petschaft, auf das zorngerötete liebliche Antlitz: »Sie sind . . .« – »Renête de Chanterenne!« ruft sie. – »Dieselbe, die mit Prinzessin Charlotte –« »Oh Charlotte! Deretwegen bin ich ja hier! Ich will ihr die 56 ›Erinnerungen aus dem Temple‹ bringen. Und da bekomme ich den dummen Brief da von ihrer Kanzlei! Wenn das Charlotte wüßte! Ich wollte ihr sagen, was für ein Esel ihr Sekretär ist!« – »Ja, und?« – »Und?! Da sitze ich mit meinen paar Groschen! Charlotte ist verreist, wird mir gesagt!«
Eberhardt liest den Brief der Kanzlei. Er blättert in den handgeschriebenen Erinnerungen. Ein Bild sieht er an, das drin liegt: »Wer ist das?« – »Das ist sie doch!« – »Wer!« – »Die Prinzessin Charlotte!« – »Nein«, murmelt Eberhardt mechanisch und steht langsam auf . . . er hat die Prinzessin doch auch gesehen, als sie nach Wien kam. Renête versteht die Erschütterung des Kriminalrats falsch: »Ja«, sagt sie, auf das Bild deutend, »solche Kleidung hat die Prinzessin im Gefängnis tragen müssen.«
Eberhardt blickt scharf gradeaus: »Kleider? Jetzt fallen sie ab, wie's scheint.«
*
Zu ein und derselben Stunde: Berry steht in schmutzbedeckten Reitstiefeln auf dem Teppich des Empfangszimmers der Angoulême – der Kriminalrat rückt sich zurecht auf dem Polstersitz, 57 Renête gegenüber, im vierspännig bespannten Eilwagen.
Der Kriminalrat sagt zu der erstaunten Renête: »Wir fahren nach einem kleinen Ort namens Eishausen.«
Berry aber fragt die falsche Charlotte nach ihrem richtigen Namen. Hochzeiten, sagt er grob, pflegten zwar die Mädchennamen zu verändern, aber nicht die Personen – wenn es nun der Charlotte in Eishausen auch einfiele, sich zu verheiraten?! – »Oh«, lächelt die Angoulême, »dann wird der Pfarrer das Fräulein zunächst um seine Papiere bitten.« Charlottens Papiere! Selbst der Kriminalrat Eberhardt fände diese Papiere schwerlich, seit sie auf dem Grèveplatz die roten Flecken bekamen. Die Angoulême kann den aufgeregten Berry beruhigen. Man wird ja nächstens mit Talleyrand über den Diamanten verhandeln, und Berry soll die Leute von Eishausen dazu einladen, damit ein Ende werde mit dem Gerücht: »Aber ich sage Ihnen, Berry, die werden sich hüten zu erscheinen.«
Eishausen sieht in der Tat nicht nach Bewohnern aus, die zur Türe herauskommen, wenn sie einer ruft. Vavel wünscht keinen zweiten Besuch zu erleben wie jene Aufwartung der Soldateska in der Küche. Scharre hütet den Eingang von 58 früh bis abend. Die Köchin wird entlassen. Keine fremde Hilfe kommt über die Schwelle. Aber die Hausarbeit muß getan werden. Vavel bindet sich eine Dienerschürze um und stürzt das Haus vollends in Unordnung. Charlotte kann dieses Unwesen nicht mehr mitansehen, bindet gleichfalls eine Schürze um und bringt mit ihren unbelernten Händchen das Haus an den Rand des Abgrunds. Scharre sitzt hinter der Eingangstür und ruft durchs Holz, wenn jemand klopft: »Wir brauchen nichts.« In der Umgebung hat er verbreitet, eine ansteckende Krankheit im Hause herrsche. Viele Meilen in der Runde gibt es keine so stille Wohnung. Aber – was bände Menschen enger, als das Gefühl belagert zu sein?
Vavel lehnt mit einem Besen in der Hand am Türpfosten. Charlotte trägt eine Blumenvase vom kleinen runden Tisch auf den großen viereckigen Tisch. Die Hand tut ihr weh, sagt sie. »Bewegung machen«, rät Vavel, »tanzen zum Beispiel.« Charlotte lacht, stößt die Spieluhr an. Graziös klingelt ein silbernes Menuett durch den Raum. In Küchenschürze, in Dienerschurz – sie umfassen sich, folgen gehorsam dem nickenden Takt – wann war das doch zuletzt? In roten Röcken, weißen Perücken saßen die Geiger auf dem Muschelbalkon über glitzernder Anmut, sündenleichtem 59 Tanz in unermeßlich goldener Gewißheit – Vavel muß Charlotte gut führen und eng, sie hat Schmerzen in der Hand. Charlotte lehnt sich schwer in Vavels Arme –
– jäh stehn sie still: krachend ist unten im Haus eine Tür gegen die Wand geflogen – Scharres grobe Stimme, Treppenlaufen. Das Menuett ist zu Ende.
Und der Tanz beginnt neu in einer andern Tonart – der Kehraus einer Nacht, die sich verlaufen hat in falschem Schneekleid. Der Kriminalrat erscheint am Ort, unterm Arme die Dokumente aus dem Temple, sauber geheftet, wohlversehen mit Aktenzeichen. Renête liegt in Charlottes Armen, und Kriminalrat Eberhardt macht die bisher tiefste Verbeugung seiner Amtszeit: »Madame Royale.«
Warum ist Charlotte so still? denkt Renête und sieht sie von der Seite an – jetzt wird doch alles gut?
Vavel und Charlotte sehn vor sich hin. Das Menuett ist zu Ende.
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Und zu Ende geht auch diese Schneenacht!
Der Himmel begann sich bleigrau zu färben. 60 Ich stand am Fenster, blickte hinunter auf den Ratsmarkt: der plumpe Schneeklumpen da am Straßenrande ist mein eingeschneiter Wagen – ob das Wasser eingefroren ist im Zylinderblock? Nun, der Motor war dick zugedeckt diese Nacht. Mit Schnee freilich nur. Aber Schnee wärmt . . .
Wärmt er? Mich fröstelte – immer noch ist mein Bild von Charlottes Flucht ins Leben undeutlich. Zwei Aufnahmen übereinander auf einer Platte: mißtrauisch hielt ich sie gegen das Licht – nicht gegen die trübe Kerzenschnuppe neben dem Gartenlaubenband des Hoftraiteurs Steinmann: gegen das erste Frühlicht draußen, in dem schon verborgne Strahlen das junge Taglicht webten . . . alle Figuren durcheinander! Der da in der Ecke muß Berry sein. Wie erleichtert er lächelt, der Gute. Ludwigs Bauch in der Mitte ist unverwechselbar, aber was da durch ihn durchscheint – ah, die Angoulême, wie Gott sie schuf, nichts hat sie an, die resolute Frau! Der dunkle Strich quer über sie weg könnte die Äbtissin sein von Sacré Coeur. Sie schwenkt ein leeres schwarzes Habit. Und dort fährt ein Wagen, ein andrer da, dies gar sieht wie eine zerbrochene Brücke aus. Und die vielen Treppen auf dem Bild! Auf jedem Absatz steht ein leerer Kleiderständer – rasch, schon lichtet sich das Frühgrau drüben über dem 61 Rathausdach, und noch ist Charlotte nicht an ihrem Ort. Wenn die Sonne hoch ist, zerstiebt der Spuk – und wann treffen wir beide uns wieder im Treppenbergwerk hienieden, Charlotte?
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Sie ist schweigsam geworden seit dem Menuett. Aber, die Dokumente auf dem Schoß, muß sie sich mit Vavel, mit Renête, Scharre und Eberhardt aufmachen nach Talleyrands Quartier – sie muß so rasch fahren wie Berry mit der falschen Charlotte, die den Diamanten der Königin Marie Antoinette in der Hand hält.
Berrys Wagen kommt eher an – nicht nötig, dies erst zu berichten: die zwei Bilder am Kopfende des Mahagonibettes in Zimmer Nummer eins des Belgischen Hofes besagen ohne Worte, welches der beiden Mädchen stets zuerst am Platze ist. Aber diese Nacht soll nicht durchwacht sein, ohne bei Sonnenaufgang die Gewißheit zu haben, daß in Talleyrands Quartier nur die richtigen Kleider angekommen sind vor den falschen.
Kriminalrat Eberhardt hat sich später noch lange bemüht, die Schuld an der Verspätung des Vavelschen Wagens festzustellen – nur um das 62 Aktenstück endlich ablegen zu können, denn in Sachen Charlottes gab es amtlich nichts mehr festzustellen. Niemand, nicht einmal Talleyrand, unterstützt den gewissenhaften Beamten bei seinen Forschungen, und Eberhardt erfährt wenig mehr, als er selber miterlebt in der Frühdämmerung des letzten Reisetages – schon in Rufweite nahe dem Quartier Talleyrands.
Die dort den Strom überspannende Pontonbrücke ist noch unbefahrbar, und die Reisenden müssen sich von der Fähre ans andre Ufer bringen lassen. Glücklich kommen sie drüben an. Als aber Pferde und Wagen übersetzen, dreht sich die Fähre plötzlich inmitten des Stromes langsam um sich selbst und treibt mit gerissenem Fährseil gegen die Pontons. Brechendes Balkenwerk – ein paar Kähne scheren auseinander. Fluchen, Schreien. Soviel in der Frühdämmerung zu erkennen ist, dreht sich die Fähre noch einmal um sich selbst und schwimmt sodann samt Roß und Wagen ruhig, majestätisch in Richtung des Schwarzen Meeres den Strom hinab. Ein heilloses Durcheinander von Brückenbauern, Verwundeten, Holzträgern, Offizieren, Soldaten erschwert den Reisenden das Wiederfinden.
Renête sucht Charlotte, Scharre sucht Eberhardt, Eberhardt hat zwar die Dokumente unterm 63 Arm, aber den lebendigen Gehalt dieser Akten: die Prinzessin Charlotte, die hat der Kriminalrat aus dem Auge verloren, und ›Prinzessin‹ darf er hier vor aller Ohren nicht schreien, aber einfach ›Charlotte‹ zu rufen getraut sich ein Beamter nicht, der mit Papieren rumläuft, welche diese Charlotte als die wahrhaftige Prinzessin von Frankreich ausweisen.
Der verzweifeltste Sucher – Vavel, der gerät in einen Kreis von Offizieren. Er traut seinen Augen und Ohren nicht. Am Wagenrad hat einer der Rotweinflasche den Kopf abgeschlagen: »Finderlohn!!« schreit er lachend dem herrschaftlichen Kutscher Scharre in die Ohren, den zwei andere Offiziere eingehenkelt haben und ein dritter am triefendnassen Rock schüttelt: »Mann, bist du's denn selbst?! Und wie hast du dich angezogen?!« Scharre blickt vor sich hin, schüttelt den grauen Kopf, sieht von unten her den atemlosen Vavel an: »Komm her, Vavel. Sei still. In Talleyrands Quartier mußt du nun die Prinzessin ohne mich bringen«, sagt er leise. »Da hinter den Bäumen liegt's ja schon. Halt den Mund. Hör zu. Aus dem Wasser gezogen haben mich meine alten Kameraden. Du siehst – ich bin angekommen. Falsche Kleider, Vavel. Zieh dich auch bald um.«
In dem Lärm um die Pontonbrücke verhallt 64 Vavels Rufen nach Charlotte ungehört. Sie hätte ihren Namen sonst wohl verstanden. Charlotte sitzt in der Baracke am Strohlager ihres Freundes, des alten Sergeanten und starrt die roten Flecke an auf dem Verband um seinen Kopf.
Der alte Kriegsknecht lächelt mühsam: »Ist das Heimweh wieder da, Madame?« Charlotte hat Tränen in den Augen. »Nach Hause. Kehrt marsch, Madame. Schnell nach Hause.«
»Wenn ich wüßte, wo das ist.«
»Das muß der Mensch seine Mutter fragen.«
Charlotte senkt den Kopf . . .
Der Alte sieht sie an: »Tot? Alle tot? Gehn Sie erst recht, Madame.«
Charlotte sieht sich um, ob sie allein sind in der Baracke: »Und wenn«, flüstert sie, »wenn ich komme und es steht schon ein andrer da und in meinen Kleidern?«
»Madame, dann lassen Sie 'n die alten Sachen abtragen. Machen Sie sich neue. Die stehn Ihnen auch besser. Wir leben immer nur heute.«
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In dieser Baracke, auf einem Strohbund, gibt ein Sergeant Audienz – im großen Salon des Hauptquartiers empfängt Talleyrand seinen 65 Besuch. Zuzeiten steckt das Echte in Baracken und sitzt die Weisheit auf Strohbünden – zuzeiten ist's auch anders – zu allen Zeiten aber bereitet die Erkenntnis des Echten nicht nur Kriminalräten Beschwerde.
Talleyrand steht die rechtzeitig angekommene falsche Charlotte aufmerksam durch die Augenwimpern an. Sie lächelt ihm zu: »Ich bin sie selbst.«
Die Tür fliegt auf: »Hier soll sie sein?« – die verstörte Renête steht auf der Schwelle. – »Wo?« fragt Eberhardt hinter ihr und lugt in den Raum. »Wo ist die Prinzessin!« ruft Renête.
Talleyrand hat seinem Sekretär einen Wink gegeben, diese fremden Leute zu entfernen – jetzt hält er ein, weist Renête mit leichter Bewegung an die Angoulême. »Nein«, ruft Renête in zitternder Ungeduld, »die Prinzessin Charlotte meine ich!«
»Gnädigste«, sagt Talleyrand sehr langsam zur Herzogin von Angoulême, »man sucht Sie offenbar und sieht Sie nicht.«
»Aber sie ist leicht festzustellen nach diesem Bild«, bemerkt Eberhardt dienstbereit und breitet die Dokumente aus.
Talleyrand blättert, steht die Bilder an, sieht 66 die Gesichter an um ihn herum – »Lagny, das Geld für den Diamanten« – er weist mit langem Zeigefinger eindringlich auf das Bild der echten Charlotte – »an die Besitzerin des Steines. Und diese Papiere« – er legt sie sorgsam in die Kassette zurück – »in mein Archiv. Den Diamanten der Marie Antoinette« – Talleyrand übergibt Lagny den Solitär – »heute nacht noch an Napoleon: ich ließe Seiner Majestät mit diesem Amulett ehrfurchtsvoll alles Glück wünschen in Rußland.«
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Da hob sich der Kreisrand der Sonne über das Rathausdach. Lang ausgestreckt auf dem Sofa, das Charlotte hingestellt war zur Ruhe auf der Flucht, fühlte ich mich nun viel zu müde, um den Kopf nach der Sonne zu wenden. Sie blendete mich, und ich wollte ja schlafen. Aber die Sonne schien mir, zurückstrahlend von Decke, Boden, Wänden, durch die Augenlider blutrot und warm hindurch, bis ich das Bild zu erkennen vermochte, das sie mir ja noch zeigen mußte bei geschlossenen Augen. Ich sah den Kreisrand der Sonne über die Dächer Talleyrands sich heben, sah sie die Kiefernbretter der Holzbaracke treffen und 67 Charlotte bestrahlen, die lächelnd, in einem goldenen Zauberkreis, an der Balkenwand lehnt – Vavel hat sie endlich gefunden: »Prinzessin!«
Charlotte sieht sich suchend um, schüttelt den Kopf: »Niemand ist hier, Vavel. Nur ich. Und ein alter Sergeant da drin.«
»Aber die Dokumente!«
»Nach denen müssen Sie dort fragen, glaube ich« – sie zeigt nach den Dächern Talleyrands.
»Das also ist das Ende! Nichts übriggeblieben –«
»Eines doch, wie Sie sehen« – Charlotte tritt an ihn heran, so nahe wie beim Menuett, als ihr die Hand weh tat und Vavel sie gut führen mußte und eng: »Ich – bin übriggeblieben.«
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Bis weit in den Tag hinein muß ich geschlafen haben auf dem Sofa in Zimmer Nummer eins des Belgischen Hofes.
Leises Klirren machte mich halbwach. Schritte, Murmeln – ohne den Kopf zu wenden, öffnete ich vorsichtig die Augen – ah, Herr Steinmann, der Hoftraiteur, mein Wirt! Er deckte ein weißes Tuch auf den Tisch, stellte Kanne, Tasse, Teller. Er öffnete das Fenster angelweit. Die verrauchte 68 Luft zog hinaus. Emsig schaltete, waltete Herr Steinmann, ohne von seinem Gast weiter Kenntnis zu nehmen. Er hing das Bild Charlottes an den Nagel, legte das dicke Buch aufs Wandbrett. Ich war wohl nun wieder die bloße Gasterscheinung geworden, welche ein Wirt zeitlebens eben nicht loswird.
Herr Steinmann war gegangen.
In tiefen Zügen atmete ich die frische Luft, wurde ganz wach und wendete den Kopf: blau stand im Fenster ein wolkenloser Himmel. Über dem Fensterbrett konnte ich von meinem Kissen aus gerade noch ein Stück Rathausdach sehen, schwer verhüllt in Schnee.
»Falsche Kleider«, sagte ich, denn eine Drossel sang draußen, scherte sich nicht um Märzenschnee, sang sich das Herz aus ihrer kleinen Vogelbrust: »Die lebt auch ihren heutigen Tag, in ihrem eigenen Gefieder« – es war nun Zeit, aufzustehn.