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Sie saßen auf den Prellsteinen vor der Einfahrt zur Post, Änne und Brigitte Rottmann.

Änne mit den silberblonden Zöpfen und Brigitte mit den fuchsroten. Neben Änne lehnte der braune Hans, der Doktorsjunge mit dem Murillokopf, der seinen beiden Schwestern nicht eine Spur ähnlich sah, aber genau so ungezogen war wie sie.

Sie warteten alle drei auf die Postkutsche von Kiel, mit der kam Ilsebill, die große Schwester, die immer lachende Augen und ein frohes Wort für das Kleeblatt hatte.

Aber die Postkutsche kam und kam nicht.

Das gehörte zu ihren berechtigten Eigentümlichkeiten. – Ich bitte Sie, wann in aller Welt gab es eine Post, die zur gegebenen Zeit eintraf? Man lebte noch in jenen Jahren, wo jedermann Zeit hatte und Ruhe die erste Bürgerpflicht war.

Vor der Post dehnte sich der große Marktplatz, dreimal zu groß für den kleinen Ort. Schmalebek zählte im Jahre 1842 genau dreitausendsiebenhundertneunundneunzig Einwohner, denn der braune Hans, der das achte Hundert voll machte, kam um eine halbe Stunde zu spät. Nun waren fünf Jahre vergangen, und man durfte hoffen, nicht allzufern mehr von viertausend zu sein. Für den Fall – im Herbst war wieder Zählung – sollte ein großes Fest gefeiert werden, und der Flecken würde den Namen einer Stadt erhalten.

Drüben über dem sandigen, ungepflasterten Platz lagen die Häuser des Doktors und des Predigers, und die hohen Linden vor ihren Türen wölbten gewaltige Kronen in die flimmernde Sommerluft. Bienensummen war in den Kronen, leises Rauschen ging immer einmal durch die Laubmassen, Duft und Kühle strömten von ihnen aus.

Frau Doktor Rottmann sah hinüber zur Post. Nur ihre Drei hockten vor der Einfahrt, scharrten mit den Füßen im Sande, warfen die Hühner mit Erdbrocken, gähnten und langweilten sich augenscheinlich sehr. Waren aber nicht zu veranlassen gewesen, im Hause zu warten, bis Kristian Pedersen mit Horngeschmetter sein Nahen ankündigte.

Neben der Post, einem alten, breiten Fachwerkhaus, lehnte ein vierfenstriges Häuschen, nüchtern, baufällig, mit kleinen Fensterscheiben, so recht das Haus der kleinen Landstadt. Rechts von der Haustür ein Schild: Johannes Rübesam, Tischler. – Links ein ganz bescheidenes zweites: Angeline Eggers, Haubennäherin.

Aus der Haustür, die beim Öffnen einen kleinen, aufgeregten Schrillton vernehmen ließ, kam ein schlaksiger, blasser Junge von sechzehn bis siebenzehn Jahren, ließ die mageren Schultern hängen, sah unter semmelblonden Haarsträhnen blinzelnd in den blendenden Tag und erkannte das Trio vor der Post. Man konnte nicht sagen, daß seine Züge sich bei diesem Anblick erhellten, obgleich die Doktorskinder wirklich nicht übel waren. Änne so fein und schlank in ihrer lichten Blondheit, Brigitte so kindlich weiß und rot mit strahlenden Veilchenaugen, die sieghaft die Stupsnase überglänzten, und Hans – Hans war, wie gesagt: Murillo. – Aber der lange Schlaks sah mit unsicheren Blicken hin zu ihnen, und schon erhoben sie ihre Stimmen im Chor und riefen ihn an: »Fiete Eggers. Fiete Eggers! Wir haben heut keine Arbeitsstunde. – Ätsch. – Ilsebill kommt.«

»Darüber werde ich erst eure Mutter fragen«, sagte Fiete und wandte sich mit langen Schritten hinein in die Sandwüste des Marktes. Er hob die Füße ungeschickt, immer als bemühe er sich, auf den Zehenspitzen zu gehen, wie er es auf Befehl der Mutter tat, wenn er in den feinen Häusern über gebohnte Fußböden stolzierte mit seinen plumpen Schuhen, und hinter ihm her wanderten die Blicke der drei Geschwister, und die liebliche Änne stimmte halblaut an: »Fiete Eggers! Fiete Eggers geht auf Eiern.« »Geht auf Eiern«, echote Hans.

»Fiete! Fiete Eggers geht auf Eiern«, schallte Brigittens Trompetenstimme schmetternd los.

Man hörte es über den ganzen großen Platz.

Fiete fuhr zusammen, als stieß' ihn von hinten ein Messer in den Rücken. Mit Gewalt hielt er sich davon ab, herumzufahren und die Peiniger anzuschreien. Wenn das nicht die Sache verschlimmert hätte! – Wenn sie dann nicht so herzlos gejuchzt hätten! Wenn er dann nicht in seiner hilflosen Wut ins Schluchzen geraten wäre! – Man mußte schweigend dulden. –

Wieder schrillte die Türglocke bei Tischler Rübesam.

Aus dem Hause kam eine kleine, dürre Frau in buntkariertem Umschlagetuch, einen Kapothut, mit sehr vielen verblaßten Blumen geschmückt, auf dem fahlblonden Scheitel.

»Ihr slechten Kinder! – Oh, was seid ihr einmal für slimme Kinder! So ein netten guten Jung so ärgern. – Soll man gar nicht glauben, daß so ne netten Eltern so ne bösen Kinder haben.«

Sie ging hart an ihnen vorüber. Brigitte gab eben Anne einen kleinen Rippenstoß, die Strafrede zu würzen. Anne war nicht vorbereitet, verlor die Balance und fiel vom Eckstein, sich die Knie derb auf den Pflastersteinen der Einfahrt stoßend. Sie schrie auf. Madam Eggers wandte sich um. »Süh, das ist die gerechte Strafe Gottes«, sagte sie äußerst befriedigt, und die vielen Blumen auf der Kapotte wippten dazu. »Merk' dir das, mein Kind.«

»Dumme Ziege«, murrte Änne und rieb sich die schmerzenden Gliedmaßen. »Hat sich mit ihrem Fiete, als wär' er ein Prinz.«

»Täuw',« sekundierte Brigitte, »ich leg' ihm in der nächsten Arbeitsstunde Reißstifte auf den Stuhl.«

Hans sah der kleinen Frau still nach, nur seine Augen leuchteten. »Die gerechte Strafe Gottes«, murmelte er vor sich hin. Ein feines Wort. Wert, dem Sprachschatz einverleibt zu werden. Gegen die großen Schwestern von neun und zehn Jahren hatte er ja keine andere Waffe als Worte.

»Schneddereng deng deng, schneddereng deng deng!« – Sie hatten für eine Weile ja gar nicht an Kristian Pedersen und die Postkutsche gedacht, ganz überraschend flog das Signal in ihre letzten Reden hinein.

Postmeister Lobes kam aus dem Hause, Mudder Lobes steckte den Kopf aus dem Gaststubenfenster, zu sehen, ob mehr als ein Wagen unerwartete Gäste ankündigten, der Hausknecht stellte sich unter das Tor.

»Ilsebill, Ilsebill«, schrien die Rottmannskinder und stürzten dem Wagen entgegen und neben ihm her. »Ilsebill, wir haben junge Karnickel. Du, Ilsebill, Mutter hat Hühnerpastete gemacht.« – »Änne, das sollst du doch nicht verraten.« – »Ilsebill, ich hab' all dreiundvierzig Marmeln«, – man verstand nichts mehr, die Post rummelte über die Holpersteine und hielt.

Aus dem Fenster hatte ein süßes Mädchengesicht gelacht, zwei Hände in hellgrauen Lederhandschuhen hatten den Kindern zugewinkt, – als kaum die Pferde den letzten Tritt getan hatten, flog die Kutschentür auf, und Ilse Rottmann, das Niederschlagen der Treppe nicht abwartend, stand mit einem Schwung auf dem Pflaster.

Wie die Wölfe fielen sie über sie her. Drückten sie, küßten sie, hingen sich an ihren Hals, an die Arme, juchzten und redeten alle drei zugleich.

»Gören, ihr würgt mich. – Ja, Hannes, mein Gepäck rüber in unser Haus.« Sie strahlte den Hausknecht mit ihren braunen Augen an, daß dem der Mund breit wurde vor Vergnügen. »Wiedersehen, Pedersen, in sechs Wochen fahr' ich mit ihm nach Heide. – Na, nun kommt.«

Frau Doktor Rottmann stand schon unter ihren Linden und streckte der Tochter die Arme entgegen. »Endlich, mein Liebes. Wie wir uns sehnten nach dir. Ganz alt und welk bin ich geworden von der Trennung.«

»So siehst du aus, Mam. – Wie das schön ist, wieder zu Hause zu sein. Wo ist Vater?«

»Zu Krogs. Krog hat wieder die bösen Füße. Aber ich denk', er kommt bald. Krogs holten ihn mit dem Jagdwagen.« Den Arm um die Stieftochter gelegt, ging sie mit ihr auf die große hallende Diele, wo es immer nach Möschen und Potpourri roch. Das kam von den Leinenschränken rechts und links der Haustür, die voll waren von selbstgesponnenen Schätzen, Urmüttererbteil und Aussteuergut der kommenden Generationen. Man lebte solide und wohlhabend im Rottmannhause.

Hans hatte die andere Seite der Schwester erwischt und behauptete sie energisch gegen Änne und Gitta. Als es aber durch die Stubentür ging, gelang es Änne, ihn abzudrängen und auf seinen Platz zu gelangen. Gitta zerrte sie ärgerlich an den Zöpfen, Änne bockte und keilte nach hinten aus, beide stolperten und fielen vornüber auf den Fußboden.

Triumphierend schrie der Kleine: »Das war die gerechte Strafe Gottes.«

Seine Mutter sah ihn an: »Wo hast das nun wieder her?«

»Mam Eggers sagt so. Wie wir hinter Fiete herschrien.«

»Ihr sollt doch nicht hinter Fiete herschreien.«

Hans senkte schuldbewußt den Kopf und schielte unter den langen Seidenwimpern hervor nach den Schwestern. Die lachten schon wieder. »Du, Mamme, er ging wieder auf Eiern. Immer so hoch mit den Füßen, und so auswärts und so auf den Spitzen. Zum Totlachen sah er aus.«

»Ach was, er ist ein sehr ordentlicher Junge. Wenn ihr nur immer so manierlich wäret und so würdet wie der.«

»Mamme, möchtest du uns so haben wie Fiete Eggers? Hans, du sollst Fiete Nummer zwei werden.«

»Dumme Gesellschaft. Macht, daß ihr hinauskommt.« Sie jagte die gickernde Schar in den Garten, der sich hinter dem Hause weit und schattig bis an die Schmale hinunterzog. Dann wandte sie sich Ilse zu.

Die stand am Fenster und sah hinaus in die sommergrüne Wildnis und sah hinter den weiten Rasenflächen und Bosketten, weither hinter dem Flüßchen, dunkle Waldlinien und aus den Waldlinien hervor den Turm eines Schlößchens. – Den Turm grüßten ihre Blicke.

»Siehst du nach Eichtal aus?« fragte Hanse Rottmann. »Ja, die sind ja hier. Ich sagte doch schon, Vater ist hin, weil Krog wieder die schlimmen Füße hat. Er sagt Adern! Vater sagt: Podagra. Das wird es auch wohl sein. Sie erwarten ihren Neffen, den Sohn der jütländischen Schwester, Baron Hammersmid. Er war schon mal hier, wenn du dich erinnerst, als du Kind warst. Solch langer Junge von sechzehn Jahren.«

»Doch, ich erinnere mich. Er brachte mir an einem Nachmittag mehr Dummheiten bei, wie man sonst im ganzen Jahr hier in Schmalebek lernen konnte.«

Sie lächelte vor sich hin. Ihre Augen sahen versonnen in ferne Vergangenheit oder in irgendein heimliches Erinnern der neuen Zeit –, wer konnte es deuten –, nur daß sie einen Ausdruck hatten, der ihnen bisher fremd gewesen, das sah Hanse deutlich.

»Ilsebill. Du hast was verloren in Kiel. Hast du auch was gefunden?«

Die fuhr auf. »Verloren? Wieso? –«

»Dein Herz hast du verloren. Man sieht es dir an.«

»Hansemutter, was für ein Unsinn. Da war niemand zum Herzverlieren.«

»So. Soll ich das für bare Münze nehmen?« Ehe Ilse antworten konnte, fuhr ein Wagen vor, der Doktor kam heim und begrüßte die große Tochter. Dann kam das verspätete Mittagessen, und von Herzensgeheimnissen war weiter keine Rede mehr.

* * *

Als Hanse Rottmann ihren Mann heiratete, tat sie es um des Kindes willen. Weil das arme, mutterlose Mädchen sie jammerte. Weil sie es so sehr liebhatte. Der Mann der viel älteren verstorbenen Schwester war so halb Bruder, halb Respektsperson. Und sie hatte eben ein Jungmädchenerleben hinter sich, das nach einer Verlobung ausgesehen und mit einer Enttäuschung geschlossen hatte. In solchem Fall heiratet man sehr verständig. Das Herz sprach ja mit, aber nicht für den Mann, sondern für das Kind.

Zehn Jahre war Ilse, zweiundzwanzig die junge Stiefmutter.

Als sie aus Hamburg, aus dem Leben der großen Stadt, aus dem Lachen und Singen eines reichen Familienlebens in die kleine Stadt kam, dachte sie, sie solle umkommen vor Heimweh. Das liebevolle, heitere Kind war Trost und Aufheiterung in den langen, einsamen Stunden, wo der Mann fern war. Der Mann, der doch eigentlich Respektsperson bedeutete.

Aber wie die Jahre gingen, wuchsen sie zusammen. Beide lebensstark und blutwarm – aus der Vernunftehe wurde ein starkes Zusammengehen voll stillen Glücks.

Von vier Kindern mußten sie einen Sohn wieder hergeben. Das band noch fester. Aber – so sehr Hanse Rottmann die eigenen Kinder liebte –, zwischen ihr und der Stieftochter war ein Band, fester als Mutter- und Kindesliebe. Sie waren Schwestern, Freundinnen und dazu noch Mutter und Tochter. Mehr konnte es nicht geben.

War zum erstenmal ein anderer Einfluß zwischen sie getreten? –

Ilsebill stand an dem Fenster ihres Zimmers. Das lag eine Treppe hoch neben den Stuben der Großeltern, die dort ihre vier Zimmer hatten und eigene Wirtschaft führten. Alte Leute mit gesunden Körpern und jungen Herzen. Die Eltern des Vaters. In ganz Schmalebek schlankweg: »Pastors«. Denn Pastor Rottmann hatte vierzig Jahre lang das geistliche Szepter im Städtchen geschwungen, und sein Nachfolger und Hausnachbar, Pastor Johannes Jessen, würde den Schmalebekern nie werden, was der alte Herr gewesen.

Ilsebill sah wieder in die Ferne. Zwischen den Bäumen hindurch und über Rasen und Rosen hinweg nach der blauweißen Flagge jenseits der Schmale. Sah sie die? – Sah sie nicht etwas ganz anderes?

Die trabenden Pferde vor der Postkutsche. Und drinnen ein junges Ding, voll heimlicher Seligkeit und äußerlicher Unnahbarkeit. Sehr wohlerzogen, sehr gehalten, nur mit einem kleinen Lachen in den Augen. Neben der Postkutsche aber auf einem Apfelschimmel einen schlanken, blonden Mann. – Mann? Er wollte es wohl erst werden. Oder ist man mit zweiundzwanzig ein Mann?

Wie der Schimmel tanzte und stieg. Natürlich kitzelte er ihn heimlich mit den Sporen, um seine Reitkünste zu zeigen und ihre Besorgnis hervorzurufen. – Aber sie tat ihm den Gefallen nicht. Diese jungen Herren wollen immer bewundert und umsorgt werden. Mochten das die Mädchen tun, die gar zu gerne in die Ehe hupften. Sie machte nicht mit. Und außerdem – man kam viel weiter, wenn man sie kurz hielt.

Das weite, junggrüne Land. – Die Landstraßen zwischen den Buchenhecken! Die trillernden Lerchen und die flatternden Möwen droben im Blau! – Und die herrlichen, alten Bäume auf den Feldern, vereinzelt in stolzer Pracht oder zusammengeschlossen zu üppigen Waldburgen. – Und dazwischen hin zu fahren, und als Gardedame nur eine alte Bauernfrau! – Und als Reisegesellschaft ein paar Ritter von der Elle. Spiegeleier und Schinken auf der Mittagsrast und Kaffee und derbes Landbrot am Nachmittag. Und dann tauchte der Schmalebeker Kirchturm auf, der aussah wie ein spitzer Bleistift, und der Weg nach Eichtal ging ab zur Linken, und man reichte die Hand aus dem Kutschenschlag und sagte: »Besten Dank für den Reiseschutz, Herr von Hammersmid, für die ritterliche Begleitung. Vergnügte Wochen bei Ihren Verwandten.«

Immer die kleine Hand im Wildlederhandschuh festhaltend, trabte er nebenher. »Es werden sehr frohe Wochen, wenn ich Sie wiedersehen darf, Fröken Rottmann. Mein Ajax wird den Weg nach Schmalebek bald kennen.«

»Dann wird er das Schmalebeker Pflaster verwünschen.« Die Hand wurde mit leichter Energie befreit. Ein leichtes Winken – eben stieß Schwager Pedersen zum erstenmal in das Horn – man war getrennt.

Dann rumpelte es auf besagtem Pflaster –, dann kamen die Geschwister, dann wehte Kleinstadtluft um sie her. – Ein Seufzer, der ein inneres Frohsein war, ein letzter Blick hinüber zum blauweißen Wimpel –, von drunten rief die Mutter –, Ilse Rottmann sah sich erwachend im Zimmer um und bemerkte erst jetzt vor dem Toilettenspiegel die große Rosenschale und auf dem Bett die neue Spreitdecke, sagte zärtlich vor sich hin: »Mutter« und lief die Treppe nieder.

War das Leben nicht schön? War es nicht ein Wunder von Glück und Seligkeit? Konnte man je unglücklich werden? – Andere Menschen – ja. Aber eine Ilse Rottmann –! Unmöglich, einfach unmöglich. – »Du Sonntagskind«, sagte der Großvater immer. Und die Freundinnen in der Schule hatten gesagt: »Sogar einen Engel von Stiefmutter hast du. Gar nicht auszudenken.«

Unten auf dem Flur stand Fiete Eggers. Als sie vorbeiwutschen wollte, sahen seine Augen sie so seltsam an, so hungrig, daß sie stehen blieb.

»Na, Fiete, was hast du auf dem Herzen?«

»Ich wollt' nur wissen, ob die Kinder heute keinen Unterricht haben sollen. Ich war schon einmal hier zu fragen, da fand ich Frau Doktor nicht.« Die wasserblauen Augen wandten sich nicht für eine Sekunde von ihrem Gesicht.

»Ich weiß es auch nicht, Fiete. Aber wollen wir ihnen nicht einen freien Nachmittag gönnen? Und dir auch?« Und mit jähem Erinnern, daß solch freier Nachmittag für ihn einen Abend ohne Abendbrot bedeuten würde, setzte sie hinzu: »Du mußt aber um sieben kommen und mit uns essen. Halb sechs ist es ja schon. Heute nimmst du dir dein Brot nicht mit, heute sitzt du mit unten in der Lindenlaube, nicht? Erdbeeren gibt es und Rührei –, magst du das?«

»Ja«, stotterte der lange Junge, und sein Gesicht wurde ordentlich einen Schein röter. »Wenn Sie erlauben.«

»Na, nun wird es Tag. Seit wann bin ich Sie für dich?«

»Sie sind so fein, so –« Lieber Gott, wenn man so ungeschickt ist mit Worten. Wenn ein so schönes, vornehmes Mädchen vor einem steht, und man weiß, die Jacke ist überall zu kurz, und die Hosen haben Flicken auf den Knien. Wenn man so ganz dürftig und armselig aussieht und sich auch in diesem Augenblick so fühlt. – Am liebsten sänke man in die Erde. Aber dann sah man sie ja nicht mehr.

Fiete Eggers glaubte gerade so fest an seine lebenslange Armseligkeit wie Ilse Rottmann an ihr strahlendes Glück.

Und weil sie nicht nur in glücklichen Stunden, sondern aus tiefstem Herzen heraus gut war, hielt sie ihm die Hand hin. »Wiedersehen, Fiete. Aber das ›Sie‹ laß zuhause.«

Ganz benommen ging der Junge heim. Ging über den sandigen, staubenden Marktplatz, als ginge er über Rosen, ging in sein windschiefes Zuhause, als käme er in einen Palast, atmete erleichtert auf, als drinnen in der Stube, die immer nach Müff und billiger Seife roch, die Mutter nicht vorhanden war, setzte sich an den Tisch und kramte aus der Schublade ein Stück Papier und einen Bleistift hervor. Man hätte nicht gedacht, daß diese hageren, knochigen Hände einen Stift so weich und leise über den Bogen führen könnten. Ganz zart huschte er hin und her, und auf dem schlechten Papier entstand ein Mädchenkopf. Ein zierliches Profil, das Näschen ein wenig keck, der Mund in leichter Fülle, die Schläfe unter das Haargekräusel verborgen.

Aber das Auge! Wie oft hatte er schon versucht, dies Antlitz nachzubilden – wenn er zu den Augen kam, versagte seine Kunst. Nie wurden sie so, wie er sie sah. So lieb und doch so voll Hoheit. So heiter und doch so still im Blick –, die Augen konnte er nicht wiedergeben.

So tief versunken war er in sein Tun, daß er den Schritt der Mutter nicht hörte. Plötzlich stand sie hinter ihm im Zimmer und sah sofort, was er da begann.

»Nee, Fiete. Nee, was en Jung. – Das sollst du doch nich. O nee, wenn ich doch man bloß jeden Bleifeder gleich wegkriegen könnt'. Immer zeichnen und immer man zeichnen. So'n unnützen Kram! – Was hat en Paster woll vom Zeichnen. Hast all mal gesehen, daß Paster Jessen zeichnet oder der alte Herr? Ich denk' nu, du sitzt und lernst dein Latein für den alten Herrn, und denn machst du lauter dummes Zeug. Und das schöne Papier verdirbst da auch man mit. Nee, was hab' ich für 'ne Last mit dir.«

Fiete zog verdrossen die Schultern hoch. »Pastor. Ich werd' im Leben kein Pastor. Wie soll ich dazu kommen?«

»Da kannst du ganz gut bei kommen. Kriegst Stipendien und studierst in Kiel und wohnst bei meine Swester. Und wenn du man erst das Examen hast für die Universität –«

»Ja wenn –«

»Kannst doch so fein lernen, mein Fiete. Hast doch so'n klugen Kopf. – Dein Vater war auch so klug. Was der beim alten Herrn für'n Stein im Brett gehabt hat! – Du hast en guten Vater gehabt, Fiete. Und en klugen. Und wenn er auch dreißig Jahr älter war als ich – er war ja all an sechzig, als wir heirateten, weil du doch kommen wolltest, Fiete –«

Da warf Fiete Eggers sein Papier und den Bleistift wütend zurück in die Schublade und stand auf: »Das war recht dumm von mir.«

»Aber Fiete. Nee, aber Fiete. Wie du heut einmal bist. – Wo willst denn nu schon wieder hin?«

»Zu Rottmanns. Ich soll da mit Abend essen.«

»Na, das wär' auch besser, sie hätten dir dein Abendessen mitgegeben. Nu rennst du wieder weg, und wann soll denn dein Latein fertig werden: Morgen früh hast du doch Stunde beim alten Herrn? – Und denn hör' mal –«

Fiete hörte nicht mehr. Er hatte die Tür hinter sich zugeworfen, daß Tischler Rübesam von der anderen Seite des Flures rief, er möge das Haus nicht einreißen. – Nun stand er in der Küche, putzte die vielgeflickten, groben Stiefel und wusch die mageren Hände im Eimer. Dann wieder hinüber über den Platz. – Bei den ersten Schritten waren die Schultern noch verdrossen nach vorn gedrückt, aber je näher er dem Doktorhaus kam, um so mehr richtete er sich in die Höhe, mühte sich, eine straffe Haltung anzunehmen, setzte die Füße auswärts, hob sich auf die Spitzen – ach, wenn die Stiefel nur nicht so gräßlich plump gewesen wären –, und nun hatte er wieder ganz den Gang und die Haltung, die Schmalebeks Jugend zu dem jauchzenden Zuruf antrieb: »Fiete Eggers geht auf Eiern.«

Seine Mutter sah ihm nach, schwankend zwischen Stolz und Sorge. »So ein Jung. Geht da zum Abendbrot. Als wenn das man so sein muß. Wenn das sein Vater doch noch sehen könnt'. Geht da einfach zwischen die studierten Leute.« Sie sah nach einem Schattenriß, der über dem dürftigen Sofa hing. »Ja, ja, Eggers, sollst sehen, ich bring' ihn so weit. Sollst mal sehen, er wird Pastor. Der Postmeister hat es gestern noch gesagt, Lehrerssöhne werden am liebsten Pastöre.« Und vor ihrem inneren Auge sah sie Fiete im Talar und der großen, weißen Krause auf der Schmalebeker Kanzel stehen und sah sich selber drunten im Kirchenraum, die Hände um das Gesangbuch geschlossen, ganz zitternde, selige Erwartung.

Plötzlich schrak sie zusammen. Sie vergaß ja wohl rein alles. Stand am Fenster und besah sich die Straße, als wenn Frau Pastor Jessens Haube nicht zu morgen nachmittag fertig sein sollte. Und die alte, schwarze Tüllmütze von der Krämersfrau wartete auch seit drei Tagen. Und Frau Pastor Rottmann hatte heute aus dem Fenster gerufen: »Madam Eggers, Sie muß mir mal wieder meine Fladusen richten.« – Na, es war ja gut, daß man zu tun hatte. Sie trug den ganzen Nähkram an das Fenster, das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden, und während ihre Augen blitzgeschwind immer einmal über Markt und Straße huschten, trennte und nähte sie, lief dazwischen in die Küche, holte das Kohleneisen, plättete die zerdrückten Spitzen, wusch weiße in Seifenlauge und färbte schwarze mit Kaffeesatz auf, steckte zwischen die Krausen der Spitzen gelbe oder violette Schlupfen von Seidenband, und erst, als es dunkel war, daß sie auch gar nichts mehr sehen konnte, zündete sie das Talglicht im Messingleuchter an.

»Was 'ne Verschwendung. Nu ich ganz allein beim Licht. Wo doch fünfe gut von haben könnten. Nu könnt' Fiete doch so fein noch Latein bei lernen. Aber der kommt ja auch überhaupt nicht wieder.«

Unaufhaltsam ging der Faden durch Band und Tüll und Spitzen und fügte und machte aus allerlei Fludderkram neue Damenhauben. Denn wenn Fiete auf den Pastor studieren sollte, mußte mancher Groschen zusammengetragen werden. Aber für Fiete – – Für ihren Fiete hätte sie stehlen können. – Wenn sie auch nicht immer in Einigkeit mit ihm lebte.

»Lieber Gott, ja. Man ist ja wie solch braves Huhn, das 'ne Ente ausgebrütet hat«, dachte sie. Und weil sie doch in den geheimsten Gedanken wirklich keiner belauschen konnte, setzte sie still hinzu: »Ente? Nee, Enten sind zu gefräßig und dumm. Ein Schwan! Ein Schwan wird mein Fiete.«

* * *

Die kleine Schmale gluckste und plätscherte in ihrem Wiesenbett. Jede blanke Welle hatte ein Goldkettchen umgehängt. Jeder Kiesel war von einem sprühenden Diamantenring umwirbelt.

Am Ufer drüben, jenseits der Stadtgärten, stand der Sauerampfer rot wie Millionen Granaten gegen den Himmel. Das Sumpfgras flockte dazwischen mit weißen Fähnchen, alle Kuckucksnelken und Butterblumen hatten Sommerkleider an, und der ganze Rand am Flüßchen war himmelblau von Vergißmeinnicht. Eine Idylle in reinster Form.

Schmalebeks Wiesen waren berühmt in der ganzen Marsch.

Diesseits stieß der Doktorgarten an den Fluß. Seine Lindenlaube war immer voll Wasserfeuchte und Grasgeruch. Neben dem Garten lag ebenfalls eine Wiese, die zugleich den Abschluß des Pfarrgartens bildete, denn der ging nur bis zur Hälfte am Doktorgrundstück hin. Und die Wiese war beiden Familien zugleich die Bleiche für Wäsche und frischgewebtes Leinen.

Jauchzen und Lachen war am Wasser und im Wasser.

Änne, Gitta und Hans planschten in der Schmale herum, füllten die Gießkannen und sprengten das Leinen, das Weber Kempe vor drei Tagen abgeliefert hatte. In der Laube saß Ilse und beaufsichtigte die Gesellschaft. Sie hatte einen Stoß Handtücher vor sich und nähte feine Hohlsäume an die Abschlußränder. Nähmaschinen kannte man nicht, und alle Wäscheschätze wurden mit zierlichen Stichen wie ein kleines Kunstwerk behandelt.

Sie träumte dabei, bis ein lauteres Geschrei ihrer Trabanten sie auffahren ließ. Der Apfelschimmel! Mitten in der Schmale stand er, das Wasser blitzte um seine Hufe, sein Reiter schlug mit der Reitgerte nieder, daß die Tropfen stoben, und die Rottmannskinder jubelten vor Vergnügen.

»Hier darf keiner herüber«, rief Änne. »Hier ist ein Privatgarten.«

»Keiner darf rüber«, echote Hans.

»Ich will aber gerade in den Garten. Der sieht mir so aus, als wohnt eine Prinzessin hinter den Rosen.«

»Die Prinzessinnen sind wir«, rief Brigitte dreist.

»Ach, ihr seid nur die kleinen Hofdamen. Eure Herrin – sie ist dunkel wie eine Italienerin. Und ihre Augen sind wie schwarze Edelsteine. Und wenn sie lacht, trillern alle Lerchen im Himmel.«

Da lachte das Trio schmetternd los. Lachte so arg, daß der braune Hans die Balance verlor und sich mitten in die Schmale niedersetzte. Die Wellen spritzten hoch, schalten leise, rannten eiliger – die Schwestern einzuholen –, und hinten hinein in die blauen Leinenhosen und vorn wieder heraus strömten die flinken Gesellen.

»Steh doch auf, du wirst ja ganz naß«, rief der Reiter.

»Leg' ich mich auf die Wiese und trockne wieder.«

»So. Nun, wenn du solche Sachen gewohnt bist –« Er brach jäh ab. Da stand ja seine Prinzessin in der Laube, sah herüber zum Bach, und ihre Augen funkelten vor Vergnügen. So hatte sie sicher schon die ganze Zeit gestanden. Hatte alles mit angehört –

Olaf Hammersmid ließ den Ajax mit drei Schritten an das Ufer traben, schwang sich herab, warf den Zügel über einen Ast und neigte vor seiner Herrin das Knie.

»Der blonde Page meldet sich zum Dienst bei seiner Königin.«

»Stehen Sie doch auf. Was für ein Unsinn. Die Kinder! –«

Änne und Gitta starrten mit großen Augen die Szene an.

»Euer Hoheit Damen wollten mir den Eintritt verwehren, aber ich drang siegreich über Gräben und Mauern.«

»Wenn Sie meinen Eltern einen Besuch machen wollen –, mein Vater ist auf Praxis, und meine Mutter kocht Erdbeeren ein.«

»Aus der Romantik in die Prosa. – Nein, ich werde mir erlauben, den Besuch am Sonntag in der vorgeschriebenen Toilette zu machen. Alles zu seiner Zeit. Und jetzt eben –, ich meine, es war nun die Zeit für ein wenig Sommersehnsucht.«

»Sehnsucht ist kein gangbarer Artikel in Schmalebek, Herr von Hammersmid. Dazu ist die Kost zu real und der Tag zu sehr voll Arbeit. Sehnsucht ist etwas für Leute, die zuviel Zeit haben.«

Der schlanke, junge Mensch, schmal, blond, elastisch wie die dänischen Kavaliere seit manchem hundert Jahr schon gewesen, setzte sich auf die Rindenbank neben seine Prinzessin, und als sie mechanisch nach der Näherei griff, legte er seine Hand zwingend auf ihre Finger.

»Nicht die Nadel rühren, wenn das Herz – es spricht so süß von Sommer und Sehnsucht. Und von all der blauen Ferne – O eure deutschen Dichter, sie kennen die Sehnsucht. Eichendorff – lieben Sie Eichendorff? – Und der Heine, der so süße Lieder singen kann! – Lesen Sie Heine?«

»Er redet mir zu viel von Blumen und Sternen und Tauben und –«

»Frauen sollen immer reden davon. Von Blumen und Sternen! Frauen sind Blumen und Sterne.« Seine heißen, schlanken Finger wichen nicht von den ihren. Immer fester wurde ihr Druck. Das Blut pulste so stark gegen die Haut, daß jeder Herzschlag hinüberglitt in ihre Nerven.

Ilse versuchte, die eigenen Finger fortzuziehen. Es wurde ihr heiß und unruhig bei diesem Gefangensein. Aber sofort faßte der Jüngling fester zu.

»Soll ich Ihnen nicht ein kleines Verschen sagen von ihm? Ich liebe es sehr.«

›Die Rose, die Lilie, die Taube, die Sonne,
Die liebt' ich einst alle mit Liebeswonne.
Jetzt lieb' ich von allen nur noch die eine –‹«

Gellendes Geschrei auf der Bleiche. Ilse federte förmlich in die Höhe. Die verstrickten Hände flogen von selber auseinander, beide stürzten aus der Lindenlaube. Und ihnen entgegen kam Änne gejagt, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen, den Mund verzerrt, Schreitöne fürchterlichster Angst ausstoßend. Sie warf sich Ilse um den Hals, klammerte ihre Arme eisenfest und stieß verzweifelt hervor: »Nimm ihn weg! Nimm ihn weg!«

»Was denn? Was denn? – Änne, um Gotteswillen, was ist dir passiert? Besinn dich doch!«

»Nimm ihn weg, nimm ihn weg. Huh, oh, huh –, auf meinem Rücken. Er krabbelt. Er hupft! – Ilse, o – ah – der Heuschreck –«

Von der Wiese ein höhnendes Geschrei: »Ist ja all lang weggesprungen. Ätsch! Ätsch!«

»Dumme Gören!« So zornig war die große Schwester noch nie gewesen. »Immer müßt ihr einen in Angst jagen. – Verzeihen Sie, Herr von Hammersmid, Sie müssen einen netten Begriff von uns bekommen. Sei doch endlich still.« Ein derber Puff in Ännes Seite ließ die sich von der Schwester lösen. »Du bist die Älteste und schämst dich gar nicht?«

»Und du knuffst einen noch, wenn man zu dir kommt. I gitt, i gitt, du bist ja nett geworden in Kiel.«

Wütend ging sie zu den Geschwistern zurück und packte Hans in die Haare.

»Du hast ihn mir angesetzt. Du faßt immer all das widerliche Zeug an. Weil ich dir die große Gießkanne nicht gegeben hab'. O du gräßlicher Junge.«

Der Braune hatte die dicken Patschen vor den Magen gefaltet. Seine dunklen Beerenaugen blitzten vor heimlicher Freude trotz der zerrenden Schwesternfinger. »Das war die gerechte Strafe Gottes.«

»Wollen wir uns nicht wieder in die Laube setzen, Fröken Rottmann?«

Aber Ilsebill sah die Frau Pastor Jessen über die Bleiche kommen und hinter ihr Friederike, und sie wußte, diese Schäferstunde hatte ein Ende gefunden, eh' sie noch recht begonnen. »Ich muß nach dem Leinen sehen, Herr von Hammersmid. Jetzt ist der Junge schon mit den Füßen auf den neuen Tischtüchern. Kommen Sie gut nach Hause und grüßen Sie bitte Ihre verehrte Frau Tante.« Die letzten Worte wurden mit erhobener Stimme gesprochen. Frau Pastor Jessen machte schon so lange Augen. Mochte sie hören, daß es hier nichts zu vertuschen gab.

Wieder spritzte das Wasser blitzend auf, die Hufe klappten auf den Kieseln. Ajax warf den Kopf, und von drüben her grüßte der schlanke Reiter noch einmal mit tiefem Kopfneigen und einem Heben der Reitpeitsche.

Ilse ging auf die Bleiche.

* * *

»War das nicht der Herr von Hammersmid?« fragte Helene Jessen und schickte ihre Blicke hinter dem Reiter her. »Was für ein merkwürdiges Benehmen, hier durch den Fluß zu reiten. Wollte er euch besuchen?«

»Es war mehr Zufall. – Guten Tag, Riekchen. Schlepp' dich doch nicht allein mit dem schweren Korb. Ich fass' mit an.«

»Geh, laß nur. Ich hab' ihn ja schon so weit getragen –« Sie setzte nieder und stand, starkknochig und gesund, mitten zwischen der Wiesen- und Wäschepracht. »Soll ich hier gleich auslegen, Mutter?«

Frau Pastor Jessen sah sich unschlüssig um. Unschlüssigkeit war der Stempel ihres Lebens. Riekchen fragte auch nur der Form wegen. Fest hineingreifend in die Wäscheballen, warf sie einen auf den Boden, rollte ihn mit schnellen Händen auseinander und befestigte die Enden an den eingeschlagenen Pflöcken.

»Wie dir das von der Hand geht, Riekchen. So mit drei Griffen. Ich wollte, ich könnte wirtschaften wie du.«

»Du hast anderes. Was die Leute noch lieber mögen.« Es klang kein Neid aus den Worten. Riekchen Jessen konstatierte einfach eine von ihr selbst längst anerkannte Tatsache. Wer so aussah wie Ilse Rottmann und so süß singen konnte und dazu das reichste Mädchen der Stadt war –, mußte der auch noch derbe Knochen haben?

»Laß doch, Mutter. Heb doch nicht so schwer. Ich mach' das ganz gut allein.«

Helene Jessen richtete sich wieder auf, sie hatte nur der Form wegen in den Korb gegriffen. »Was ich wieder für Rückenschmerzen hab'. Und die Beine sind so lahm. Ich weiß gar nicht, was das immer mit mir ist.«

Die beiden Mädchen antworteten nicht. Ilse half ausbreiten und rief den Geschwistern zu, Wasser zu tragen. Dabei schickte sie einen schnellen Blick in die Weite, sah hinter den Hecken drüben Staub steigen und im Sonnenlicht aus dem Staub eine goldene Wolke werden, stellte sich ihren Verehrer vor, lichtübergossen mitten in der goldenen Wolke, und lächelte in sich hinein.

»Zu lachen ist nichts dabei, wenn ich Schmerzen hab'.«

»Ich lache doch nicht, Tante Helene.«

»Ich sah es doch, verstellen brauchst du dich nicht. Dein Vater lacht auch, wenn ich ihm was klage.« Schweres Seufzen. »Diese Nacht hab' ich wieder nicht schlafen können. Nicht eine Minute. Und am Tag soll man seine Arbeit machen. Und immer für alle Leute da sein. Heirat' du mal keinen Prediger, Ilse, der ist nie sein eigener Herr. Jedermann meint, er wär' gerade für ihn da, und seine Frau auch.«

»Das ist im Hause eines Arztes gerade so, Tante.«

»Da kommt deine Mutter. Der sieht man das nicht an, daß sie es sauer hat. Gott ja, sie ist ja auch zehn Jahr' jünger als ich. Und wenn man alles an sich wenden kann –«

Hanse Rottmann kam aus dem Garten, und wie sie unter die Hängebirke trat, die neben der Pforte stand, dort, wo Garten und Bleiche zusammenstießen, wie die tanzenden Schatten der Zweige und die huschenden Sonnenlichter auf ihrem Gesicht und der großen, schlanken Gestalt spielten, war sie der verkörperte Sommer. So hell, so froh, so gesund. Blond wie ihre Kusine Helene, von gleicher Größe, wenig voller in der Figur, aber in Gang und Haltung, in Blick und Rede das gerade Gegenspiel.

»Nun, Lene, auch mit deinem Leinen hier? Hat Kempe es gut gemacht? Lauter Lakenbreiten? Willst du dir neue nähen lassen, oder ist es für Riekchen?«

»Ja, das soll für Riekchen. Man muß doch einmal daran denken. Wenn es auch hier in Schmalebek – Und Johannes ist auch einer von den Neuen, die darüber lachen, wenn man die Aussteuer richtet, eh der Bräutigam im Hause steht. Aber es könnte doch einmal sein. Und so wie wir mit jedem Groschen rechnen müssen –«

»Ihr habt doch eine ganz gute Einnahme, Lene.«

Seufzen. Anklage und Vorwurf im Ton. So ungefähr: Du hast gut reden. Was weißt du von Sorgen? – Aber sie sprach es nicht aus.

»Montag ist der Whistclub bei euch, nicht? Kommt Fräulein Rosen eigentlich noch?«

»Ich glaube, die reist schon übermorgen. Und Herr Mampert mit ihr. Und Madam Reimer als Ehrendame. Lene, wenn die abfahren, bin ich auf der Post. Kannst dich drauf verlassen. Ganz Schmalebek wird dasein.«

»Es ist namenlos unpassend. Johannes sollte dagegen auftreten. Ich sag' es ihm jeden Tag. Es ist doch sein Onkel.«

Hanse Rottmann lachte. »Ich finde es so entzückend. Die zwei alten Leute, die sich in der Jugend nicht haben sollten und die nun auf ihre alten Tage die versäumte Hochzeitsreise als Freunde nachholen. Und doch nicht über Schmalebek hinaus können und sich die dicke Reimers als Elefanten mitnehmen. Damit man doch hinterher kontrollieren kann, was sie zu jeder Stunde getan und gesagt haben. Lene, ob sie wohl im gleichen Hotel wohnen? Oder ob Onkel Mampert immer in ein anderes muß? Sicher teilt sie ihr Zimmer mit der Reimers. Obgleich die fürchterlich schnarchen soll. – Lene, daß du darüber nicht lachst! Ich finde es einmal niedlich.«

»Niedlich? Schamlos. – Sie könnten ja heiraten. Warum tun sie es nicht?«

»Mit ihren sechzig und fünfundsechzig Jahren? – Das wäre lächerlich. Aber den vierzigjährigen Brautstand mit einer Rheinreise krönen – wenn ich nicht Hanse Rottmann wäre, ich möchte für die nächsten vier Wochen Melanie Rosen sein.«

Ein blasses Lächeln auf Helene Jessens Zügen. »Was du für Einfälle hast.« Sie wandte sich um nach den jungen Mädchen, die den letzten Ballen ausgelegt hatten. »Ich geh wieder hinein, Riekchen. Mir ist es hier zu warm. Ich bin schon ganz benommen von der Sonne.«

Sie ging mit ziehenden Schritten dem Hause zu, wandte sich noch einmal und sah zurück. Und es war Bitterkeit in ihr. Da stand ihr einziges Kind und schwenkte die große Kanne, daß sich das Wasser brausend über die Wäsche ergoß, und trug ein helles Sommerkleid und die zierlichste Schürze, die Fräulein Rosen im Geschäft gehabt hatte, und sah neben Ilse Rottmann aus wie eine Magd. Ja – sie wiederholte es sich selber mit einer Art Trotz: Wie eine Magd. Keine Schneiderin und kein Tanzlehrer konnten darüber hinwegtäuschen.

Und das Mädchen schien es nicht einmal zu empfinden. Liebte die Kusine und bewunderte sie, und wenn Georg Grützmann nur Augen für die Doktorstochter hatte, sagte Riekchen ganz ruhig: »Kann man sich darüber wundern? Gegen Ilse kommt keine andere auf.« Und die Mutter hatte doch Augen im Kopf.

Helene Jessen hatte viel zu leiden.

* * *

»Tante Hanse,« fragte Riekchen, »was ist das eigentlich mit dem alten Fräulein Rosen und Organist Mampert? Mutter sagt, das wäre nichts für junge Ohren. Was haben die beiden alten, netten Leute denn Böses begangen?«

»Die? Böses? – Kind, an denen ist Böses begangen worden. Oder vielleicht – ja, sie haben sich verlobt vor vierzig Jahren, als Mampert in die Stadt gekommen war und den Posten als Kantor und Organist bekommen hatte. Viel zu brechen und zu beißen hatte er nicht, aber darum war es ihr wohl nicht zu tun. Sie hatte ihn lieb. Und ihre Eltern hatten schon immer das Geschäft, und sie hätten ganz leidlich leben können. Die Alten hatten auch Ja gesagt, und alles sah sich nach Hochzeit an. Da soll mal eine Zigeunerin in der Stadt gebettelt haben und hat den Leuten allerlei prophezeit. Grützmanns soll sie erzählt haben, sie kämen zu Geld, und Schlachter Timms am Markt drüben, den alten Timms natürlich – ich hab' es nur erzählen hören –, sie würden was Liebes verlieren, und zuletzt der Mamsell Rosen, sie würde – wenn sie heiratete – im ersten Kindbett sterben.

Bald darauf hat Grützmann hundert Taler in der Lotterie gewonnen, und dem Schlachter ist ein Pferd gefallen, und da war es eine ausgemachte Sache, daß die Melanie Rosen dem Tod entgegenginge. Ihre Mutter soll entsetzlich gebarmt haben. Und der gute Mampert ist sich wohl schon wie ein zukünftiger Mörder vorgekommen. Und zuletzt haben sie beschlossen, sie wollten mit der Heirat warten, bis man ganz gewiß sein könnte, daß kein Kindersegen mehr eintreffen würde.

Mit fünfzig ist sie ihrer Mutter noch nicht alt genug gewesen, und dann haben sie auch wohl gedacht: Es hat nicht sollen sein. Ewiger Brautstand in Liebe und Frieden ist besser als eine Ehe mit allerlei Sorgen und Nöten. Da sind sie verlobt geblieben.«

»Arme Leute.«

»Ich weiß nicht,« meinte Ilse, »ich find' das beneidenswert. Nie hat sie seine Strümpfe stopfen müssen. Nie hat er ihr ein brummiges Gesicht gemacht. Ihr Jungfernstübchen ist immer fein ordentlich und sauber geblieben, keiner hat die Gardinen verqualmt. Und immer jemand, der galant und aufmerksam ist –, und immer noch etwas, worauf man wartet – so eine letzte kleine Freude – Und nun diese Rheinreise –

Aber die dicke Reimers hätte ich nicht mitgenommen, und wenn der ganze Whistklub vor Empörung in Ohnmacht gefallen wäre.«

Friederike sah sie zärtlich an. »Du hast den Mut, zu tun, was du willst.«

»Den hab' ich von der Mamme. Nicht du, Mamme, Liebste?«

»Du sollst nicht immer Mamme sagen. Gräßlich klingt das. Sag' Mutter. Oder sag' einfach Hanse, wir sind ja unter uns.«

»Ich werd' dich wieder nennen wie als Kind: Schatzliebste. Weißt du noch?«

»Ja. Und du wolltest nie sagen, woher du das Wort hattest.«

»Soll ich es jetzt?« Sie lächelte von unten her die schöne Frau an. »Ich hab' es gehört. Von einem andern. Der dich so nannte. – Jawohl. Von meinem sehr gestrengen Herrn Vater. Und ihr meintet, ich schliefe. Standet an meinem Bett, und er legte den Arm um dich und sagte so. O Hansemutter, du wirst rot wie ein junges Mädchen.«

Was war das, was Friederike am Herzen riß? Neid, Eifersucht? – Sie war doch noch nie mißgünstig gewesen. Aber es tat weh tief innen. – Hätte es nicht auch so im eigenen Hause sein können? Wärme und Liebe und frohe Zärtlichkeit? Hatten sich die Eltern nicht auch aus Liebe geheiratet? – Warum war ewig Nörgeln und Mißstimmung und soviel Schwerfälligkeit? Und so selten ein freies, helles Lachen? – Lag es nur an der Nervosität der Mutter? Lag es nicht auch an ihr? Wenn sie so heiter gewesen wäre wie Ilsebill! Wenn sie es so verstanden hätte, ihr Herz auszuströmen in liebevollen Worten! Wenn sie nicht so gräßlich schwerfällig gewesen wäre! Innerlich so derb und ungewandt wie äußerlich! – Und das gute große Kind machte sich die eigene Not noch zum Vorwurf.

Niemand spürte die stille Tragödie. Ruhig ging Riekchen Jessen hin und wieder zwischen ihren Bettlaken, goß und spannte, und dazwischen scherzte sie mit ihrem Liebling, dem braunen Hans, der wie eine Klette an ihr hing.

»Da sind sie wieder. Da sind sie wieder!« Änne und Brigitte schrien vom Fluß her und deuteten nach den jenseitigen Wiesen. Sie wandten alle die Köpfe dorthin.

Da ging Eitel Bostrup, der Zeichenlehrer, mit seinen Schülern und gestikulierte und deutete in die Landschaft, stand still, zog den Stift aus der Tasche, nahm den Zeichenblock unter dem Arm hervor, riß Linien, und nun – wie auf Kommando bogen sich alle nach vorn, spreizten die Beine und sahen zwischen ihnen hindurch.

»Was heißt das? Um Himmels willen, was heißt das? Sind sie alle verrückt geworden?«

»Das ist Bostrups neuester Trick. Die Schüler müssen sich von hinten her und über Kopf die Landschaft betrachten. Dann erst geht ihnen ›das Bild in der Landschaft‹ auf.«

Eben kamen alle Köpfe wieder empor, und um Eitel Bostrups Haupt wehte das Haar wie eine gelbe Löwenmähne. Jetzt sah er drüben die Frauen und Kinder, schwenkte die Hand zum Gruß und jodelte, kraftvoll und falsch; denn er war nur ein Jahr in München gewesen und hatte es nicht gelernt.

»Heute nacht haben die Nachtigallen gejauchzt«, rief er hinüber. »Süßer sangen sie den seligen Göttern nicht auf des Olympos Höhen. Mir ist noch wonnetrunken davon zu Sinn.«

»Ob er immer durch die Beine sieht, wenn er wonnetrunken ist?« murmelte Ilse.

Bostrup sah nur die fröhlichen Gesichter, nicht ahnend, daß diese Heiterkeit auf seine Kosten ging.

»Wie die Nausikaa und ihre Gefährtinnen dem göttlichen Dulder Odysseus – sind die Herrinnen dort, gehüllt in Schönheit und Jugend«, improvisierte er.

»Falsch, falsch«, rief Hanse zurück. »Wer da will dichten, soll sich nach gültigem Versmaß richten.«

Die Zeichenschüler, die ungeduldig geworden, setzten sich in Bewegung und ließen ihren Meister zurück. »Täuw, täuw«, schrie Bostrup und machte lange Schritte. »Wollt ihr auf mich warten, ihr Bande. Wer da mit Göttinnen spricht, versäumt an den Hammeln die Pflicht.« Und er setzte sich wieder an die Spitze der kleinen Schar.

Vom Doktorhause her tönte eine Glocke. »Mittag, Mittag«, stürmten die Kinder davon. Die Mutter folgte ihnen. Nur die zwei jungen Mädchen blieben zurück und gossen noch eine tüchtige Flut über das Linnen, eh' sie durch die heiße Sonne nachgingen.

Arm in Arm kamen sie die lange Lindenallee des Doktorgartens hinauf, wie durch eine hohe grüne Tempelhalle. All die Millionen Blattherzen zitterten, und ihre Schatten tanzten über den Kies. Ein weißer Schmetterling flog nieder aus der Höhe, leuchtete auf im einfallenden Sonnenstrahl, kreiste um Ilses Haupt und stieg wieder empor.

»Ein seliger Geist grüßte dich«, flüsterte Riekchen.

»Ich bin mehr für Menschen als für Geister.«

»Was Wunder! Wo dir alle Herzen zufliegen.«

»Ach, Riekchen! –« Und eine Pause. Dann, schnell zusammengerafft: »Und wie geht es Grützmann?«

Arme Menschen, die ihre Gefühle so gar nicht verbergen können. Über Riekchens Gesicht liefen ganze Purpurwogen. »Ich weiß nicht. Er war seit neun Tagen nicht in der Stadt. – Ich meine – ach, Ilsebill, ich mein' doch nur, ich hab' ihn so lange nicht gesehen.«

»Die Tage zählst du schon? Aber Riekchen!«

»Nun wird er schon öfter kommen, wo du wieder da bist. Ilse, wenn du ihn doch lieben könntest.«

»Beste, wenn! – Und es wäre gar kein Glück. – Von ihm ist es eine Verirrung. Er wird schon einsehen, wo er sein wahres Glück finden kann.«

Riekchen lächelte. Ein freundlich hilfloses Lächeln. So eins: »Du bist gut, aber das weiß ich besser.«

Nun standen sie an der Pforte, die beide Gärten verband. Über ihnen die leise raunenden Baumkronen, neben ihnen blühender Flieder, alles voll Duft und Sonne und Jugend, – und da kam es fernher wie ein dumpfes Murren – ebbte hinweg –, schwieg für Sekunden und stieg noch einmal drohender und herrischer an.

Aber droben am Himmel war noch keine Wolke zu sehen.

* * *

Whistklub! –

Zwölf Mitglieder waren es, die seit Jahren am Donnerstag um sechs, Winters wie Sommers, sich zum Spiel zusammenfanden. Die alten Rottmanns, das Fräulein Rosen, der Kantor Mampert, Pastor Jessens, die beiden Fräulein Schnäpel, Herr Nilius, Fräulein Moorwood, Herr und Frau von Krog. Krogs kamen dazu von Eichtal herein und spannten im Blauen Kater aus.

Es war auch Sitte, daß in einigen der Häuser allerlei Jugend an dem Tage sich dazufand und die guten Dinge: Mürbekuchen, Sandtorte, gefüllten Kringel und ein reichliches Abendbrot mitgenossen. Da aber nicht alle in der Lage waren, eine so weitgehende Gastfreundschaft zu üben, war das nur bei Krogs draußen der Fall, bei Melanie Rosen, die in sehr auskömmlichen Verhältnissen lebte, und bei Rottmanns. Da traf sich die Jugend in den Doktorstuben unten und das Alter oben beim alten Herrn.

Heute waren Rottmanns an der Reihe.

Den ganzen Tag zogen die Küchendüfte schon durch die Etage. Mile, zwanzig Jahre in ihrem Dienst, schnaufte vor Eifer und Hitze, Frau Pastor Rottmann hatte wenigstens kleine Röschen auf den Wangen, und die Spitzenhaube rutschte immer ein bißchen nach rechts, ein Zeichen der Erregung, aber der alte Herr saß drinnen am Fenster, sah in die Kastanien des Marktplatzes und traktierte seinen Homer. Er las ihn immer noch griechisch, von Vossens Übersetzung hielt er nicht viel. Leise skandierte die Rechte auf der Fensterbank, halblaut murmelten seine Lippen die klingenden Verse.

Und wie er sie sprach, sah er die ferne Ebene am Skamander vor sich, sonnenüberglüht, staubdurchwogt, lärmdurchbraust. Sah die funkelnden Streitwagen der Griechen heranbrausen gegen die todesmutigen Troer, Helmbüsche flatterten, Speere klangen, heißblütige Männer rangen um Tod und Leben. – Und alles um Helena.

Das Weib!

Seit Jahrtausenden der ewige Kampf um das Weib. – Hunger und Liebe regieren die Welt. – Da sank der Lederband auf die Knie, der alte Herr sah jetzt ganz hinaus in das Baumgrün, aber er sah es gar nicht mehr.

Es kam auch jetzt wieder.

Nur daß man es Politik nannte und Recht der Länder und schöne Namen erfand für das, was einfach Hunger war.

Dänemark brauchte die Herzogtümer, denn Jütland war arm, hatte schlechte Häfen, konnte nie ersetzen, was verloren ging, wenn Schleswig-Holstein sich von dem Reich löste. Und weil man nicht schlechter leben wollte als bisher, hockten in Kopenhagen die gelehrten Herren über alten Pergamenten und lasen sie rechts und links und vor- und rückwärts, bis sie herausgelesen, daß das heilige Wort »Up ewig ungedeelt« eine Farce sei. Daß dänisches Recht und weibliche Erbfolge auch in Schleswig gültig seien, daß – wenn der Kronprinz Friedrich – der nur zu bald seinem hinsiechenden Vater auf dem Thron folgen mußte – kinderlos verstarb, über kurz oder lang der Tag vor der Tür war, der die Herzogtümer auseinanderriß. Wenn nicht – und sie hofften das alle in Kopenhagen – dann ein günstiger Wind auch Holstein der dänischen Krone zuführen würde.

Kronprinz Friedrich aber – da steckte das Weib! – würde kinderlos sterben. Sein wildes Jugendleben – das war das eine. – Die Mamsell Rasmussen, die ehemalige Putzmacherin – das war das andere. Man sagte, er hätte sie sich schon in der Stille antrauen lassen. Nur so lange würde es noch inoffiziell bleiben, bis König Kristian die Augen geschlossen. Der alte Herr hielt auf Form. Es war das einzige, was er noch vom Sohn erzwingen konnte, der die Nächte mit seinen Saufkumpanen vergeudete und den revolutionären Buchdrucker seinen besten Freund nannte.

Schmalebek war holsteinischer Grund und Boden, aber die Fäden zogen sich tausendfach hinüber ins Schleswigsche. Eine Sprache, eine Heimat, ein Denken und Fühlen, eine einzige große Familie. Verschwippt und verschwägert untereinander aller Adel und alle Bürgerschaft. Keiner, der nicht seine Angehörigen auch jenseits der Eider suchen konnte. Holstein verließ den schleswigschen Bruder nicht. – – –

Auf der Treppe draußen ein tanzender Schritt, eine summende Stimme.

Der alte Herr hob den silberweißen Jupiterkopf und griff zum zierlichen Hämmerchen aus Glas, das neben der Hand auf der Fensterbank lag. Er klöpfelte an den Scheiben, sie hatten verschiedenen Klang, und das zarte Geklöpfel wurde zur Melodie.

»Sah' ein Knab' ein Röslein stehn –«

Draußen hielt der Schritt an, wandte sich, kam an die Tür. »Immer herein!« Ilsebill stand auf der Schwelle. Der alte Herr hatte für jeden in der Familie seinen eigenen Ruf.

»Großpapa!? – Haben sie dich allein gelassen den ganzen Tag? – Ja, unten bei uns ist auch alles schon Whiststimmung.« Sie war herangekommen, hatte die welke Hand an ihre Wange gehoben und rieb sich leise an ihr. »Was sollte ich?«

»Dich mal hierhersetzen. Ich hab' dich noch nicht einen Augenblick allein gehabt, seit du zurück bist. Sag' mal, Kind – gestern ist da auf der Post wieder ein Gerede gewesen von den Handlungsreisenden –, du hast doch gewiß in Kiel so viel gehört, – was sagen sie denn da über unsere Lage? Die Herren von der Universität wissen doch immer Bescheid.«

»Ja, Großvater – Onkel Dithmer war sehr verschlossen. Er ist ja immer so. Aber unter den Studenten soll gewaltig politisiert werden. Sie meinen, der König würde das neue Jahr kaum erleben, und dann ginge es los.«

»Es ginge los? Wie meinen sie das?«

»Das konnten sie auch nicht sagen. Einige redeten, als wenn der Deutsche Bund dazwischenkommen würde. Und andere sagten, die Herzogtümer würden sich schon selber helfen. Aber Herr von Hammersmid lachte über alles. Er sagt, der Kronprinz würde alles lassen, wie es immer gewesen, und er könnte vierzig Jahre regieren, und man sollte nicht so viel über ungelegte Eier kakeln. In vierzig Jahren wäre immer noch Zeit dazu, die Erbfolge zu regeln.«

»So, so. – Und was glaubst du?«

»Ja, ich denke, eigentlich hat er recht. Wir müssen doch so lange bei Dänemark bleiben, bis der Kronprinz mal ohne Söhne gestorben ist und sich die Glücksburger und die Augustenburger drum vertragen müssen, wer Schleswig-Holstein –«

Wie die alten Augen noch aufflammen konnten. Blaue Blitze zuckten aus ihnen.

»Sich drum vertragen müssen? Es geht nicht ums Vertragen, mein liebes Kind. Es geht um das alte heilige Recht. Um unsere deutsche Vergangenheit und Zukunft geht es. Das sollte euch Jungen vor allem klar sein. Denn eure Zukunft ist es, um die wir sorgen. Wir gehen wohl bald zur Ruhe, wir Alten. Wir werden den Tag der Entscheidung nicht erleben. Aber für euch heißt es: Deutsch bleiben oder nicht.«

»Ja, Großpapa.« Es kam lau. Das lag doch alles noch so in unendlicher Ferne. Und die Gegenwart war so wunderwunderschön. Und es gab doch unter den Dänen so reizende Menschen. Man hatte ja auch Verwandte in Kopenhagen. Die halben Herzogtümer hatten Verwandte da drüben auf den Inseln und jenseits der Königsau. Die Studenten – natürlich, die waren immer voll wilder Begeisterung. Es machte Spaß, ihre aufgeregten Reden zu hören. Daß die Ernst werden könnten – ach nein, das glaubten sie doch wohl selber nicht.

Der alte Herr sah nachdenklich in das schöne, junge Gesicht. Auch er spürte in Zügen und Augen etwas Fremdes seit der Heimkehr. Aber die Jugend lag zu weit hinter ihm, und dann – er sah immer noch das Kind in der Enkelin.

Wieder draußen ein Schritt. Fest und ruhig. Sein Sohn kam. Breit und hoch stand er in der Tür und lachte behaglich, als er Vater und Tochter zusammenfand. »Na, Vater, hat sie ausgekramt? Ich will euch nur die Whisttische aufstellen. Heute sind es wohl nur zwei Partien.«

Er trug die leichten Spieltische herbei, schlug sie auseinander, holte aus dem Wandschrank die Whistmarken, setzte silberne Leuchter auf die Ecken, je zwei auf jeden Tisch, – tat, was er schon als Schüler getan, wenn die Eltern Abendbesuch erwarteten. Man war sehr konservativ und pietätvoll in Schmalebek.

Ilse aber nahm die Gelegenheit wahr und entwich. Sie lief in ihr Zimmer und holte das Blumenkleid aus dem Schrank, das rosenrote mit den weißen Röschen, viel gekraust und im Gürtel von langen, lichtgrünen Bändern umschlungen. Die Taille schloß zierlich mit einer Spitze vorn, an der das Gürtelband die Schleife bildete, um den Ausschnitt lag das schimmernd weiße Mulltüchlein, zwei halboffene Zentifolien, die ersten, die im Boskett aufgebrochen waren, wurden hinter das rechte Ohr in die Locken gesteckt. So stand sie vor dem Spiegel, knickste vor dem Gegenbilde, freute sich, wie der Rock so breithin bauschte, und trällerte vergnügt: »Ihren Schäfer zu erwarten« – brach ab und lauschte. Sprachen da unten im Flur nicht schon Gäste? Frau von Krogs Stimme? Und jetzt eine junge – helle. – Nun antworteten die Geschwister, – aha, die hatten Order, auf die Tür zu achten. Jetzt kam Hanses warmer Alt – es wurde Zeit, daß die Tochter des Hauses hinabging.

Einmal schwenkte sie sich noch um sich selber, daß Röcke und Locken flogen, dann schritt sie fein zierlich wie ein allerliebstes Kätzchen die breite alte Treppe hinab und trat, ganz Sittsamkeit und feines Benehmen, in die gute Stube.

Und knickste vor Frau von Krog und fragte den Herrn Oberjägermeister a. D. höflich nach den Schmerzen und reichte dem jungen Herrn die Fingerspitzen, die er in vollendeter Courtoisie an die Lippen führte. Und Hanse lachte im stillen über die große Tochter, und der Vater dachte: »Wie die Großmama, kompletemang wie die Großmama«, denn von der alten Pastorin Rottmann pflegte der Herr Oberjägermeister zu sagen: »Die vornehmste Dame, der ich je im Leben begegnet bin, das ist die Pastorin Rottmann.« Und er war den vornehmsten Damen begegnet.

Wieder bimmelte die Haustür und immer wieder, die Stuben füllten sich, Mile kam mit Tee in chinesischen Tassen, Doktors Meta reichte Kuchen, die alten Herrschaften zogen sich nach oben an die Whisttische, die Jugend wanderte in den Garten.

Riekchen Jessen war da in einem lichtblauen Musselinkleide, Rüschen ringsum am Rock, Rüschen an den Ärmeln, am Ausschnitt, fest geschnürt und glutheiß vom engen Mieder. Und daß Georg Grützmann, der Neffe von Herrn Nilius – Herr Nilius hatte die Brauerei draußen vor der Stadt, und der Neffe war sein Pflegesohn und Erbe –, ja daß Georg Grützmann auch da war, mußte die Röte auf den Wangen noch erhöhen.

»Was sie nur an ihm findet?« dachte Ilse. »Dieser schwere und schwerfällige Mensch! Unterhalten kann er sich nicht. – Witze muß man ihm erklären! – Wenn er lacht, denkt man, es donnert, und wenn er geht, zittert der Boden. Daß er schwarze Augen hat und einen dicken Schopf? – Ist es das? Denn auf Geld sieht Riekchen nicht.« Und wieder Gebimmel, da kam Eitel Bostrup und füllte gleich Haus und Garten mit seiner Kommandostimme. Seine 45 waren für ihn nur ein Grund mehr, sich durchaus zu der Jugend zu halten. Zuletzt noch die Staffage, ein paar Schulkameradinnen von Ilse, der Kandidat, ein junger Lehrer, und dann nahm der Garten alles auf in seine schattige Kühle, und seine Ecken hallten nach von dem frohen Lärm auf Rasen und Wegen.

Oben saßen sie an den Spieltischen. Nur Hanse und Frau Helene und das eine Fräulein Schnäpel, das lieber unendliche Meter Hemdenspitze häkelte als Whist spielte, hatten sich hinter den Sofatisch gezogen und redeten halblaut. Pastor Jessen aber ging zwischen den Spielern und dem Sofa hin und her, und sein freundliches Gesicht, das so gern lachte und so wenig lachen durfte, wurde immer ernsthaft gefaßt, sobald er in die Nähe seiner Frau kam, und blühte auf zu einer sanften Heiterkeit, wenn er neben dem alten Herrn stand, der sich mit dem ganzen Eifer seiner Natur an das Spiel gab.

»Nilius! Aber Nilius! Bester! Verehrtester! Sie spielen ja immer meine Fausse an. Da – da geht mein Atoutkönig hin. O Mann, o Mann – und spielt seit dreißig Jahren.«

»Siebenundzwanzig«, sagte Herr Nilius. »An meinem vierzigsten Geburtstag hab' ich erst begonnen. Ja, Ihnen fehlt unser Kantor, verehrter Freund. Der sah es an Ihren Augen, was er spielen sollte. Aber der leichtsinnige junge Mann ist auf der verspäteten Hochzeitsreise.«

»Hochzeitsreise,« sagte Fräulein Moorwood, die aussah wie ein aus dem Rahmen gestiegenes Ahnenbild, und obgleich sie gar nicht laut sprach, horchte doch alles auf, »man sollte es nicht so nennen. Es hat einen Beigeschmack von Frivolität.«

»Na, na. Die gute Rosen und unser alter, braver Mampert! Frivol.«

»Sie lachen natürlich, lieber Rottmann. Sie stehen wie Zeus über allem, was uns andern Menschenkindern ernst und heilig ist.«

»Ja,« fiel Adine Schnäpel, die ältere Schwester, eifrig ein, »Sitte und Anstand – wir haben immer darauf gehalten in Schmalebek. Und so allein in das Land hinaus zu fahren. Gleich bis an den Rhein –«

»Sie haben die Madam Reimers bei sich.«

»Die schläft ja immer.«

»Vielleicht kommen sie als Ehepaar zurück«, warf Pastor Jessen dazwischen. Er suchte immer zu vermitteln. Der alte Herr stiftete lieber ein bißchen Wirrwarr.

»Als Ehepaar –« Alle Karten lagen plötzlich auf den Tischen. Alle Gesichter wandten sich ihm zu. »Hat er Ihnen etwas gesagt, Herr Pastor?«

»Können sie sich da anderswo trauen lassen? – Hatten sie wohl Papiere bei sich? –«

»Es wäre das einzig Richtige. Wenn sie schon einmal so weit gegangen sind.«

»Tatsächlich. Meine Schwester und ich« – das war wieder die Schnäpel –, »wir haben schon zu einander gesagt, – es gehört sich doch nicht, daß sie danach noch im Whistklub – Warum lachen Sie immer, Rottmann?«

»Lachen? So ernst ist mir. Ja, ich finde, wir müssen alle austreten. Das wollten Sie doch sagen, Fräulein Adine?«

»Ach, Sie verdrehen wieder alles.«

Die Sonne, im Sinken nach Westen, warf lohendes Licht in die Stube. Die blanken Tischplatten funkelten vom Widerschein. Jean Paul Friedrich Richter, der, zierlich in Goldbronze gegossen, auf der Pendule saß, lachte ordentlich. Die Schäfer und Amoretten im Spiegelschrank spähten aufgeregt durch die Scheiben – so lebhaft war es noch nie zugegangen im Whistklub.

»Gegen die Sitte? Jawohl«, sagte der alte Herr. »Aber gegen die Sittsamkeit? Nicht mit einem Gedanken.«

»Herrlich, noch mit sechzig Jahren so zarte Liebe zu finden«, pflichtete Frau von Krog bei. »Uns andern ist sie früh gestorben.« Sie war einmal eine berühmte Schönheit am Kopenhagener Hof gewesen.

Wieder ernst und gewichtig die Stimme der Moorwood: »Der einzelne hat sich der Sitte zu fügen, die immer die Hüterin der Sittsamkeit war.«

»Wenn mich Melanie Rosen mitgenommen hätte, ich wäre auch noch an den Rhein gefahren.«

Da schrien die Damen alle: »Herr Nilius! Aber Herr Nilius!« Und die Herren lachten.

Unten im Garten lauschte Ilse zum Fenster hinauf. »Was die nur heute haben. Sie scheinen ja ganz ihren Whist zu vergessen.«

Und dann vergaß sie auch den Lärm droben, denn sie spielten »Eins, zwei, drei, letztes Paar vorbei«, und sie lief los mit Georg Grützmann, und der blieb bald genug zurück. Sie aber wurde von Olaf Hammersmid, der so flink war wie ein Jagdhund, um den ganzen großen Rasen gehetzt und bis hinter die Fliederhecke, und als sie ausbrechend durch die Pforte in den Nachbargarten flüchten wollte, war er plötzlich vor ihr, und sie flog geradezu in seine Arme.

Er hielt es nie mit zu langem Besinnen. Blitzschnell war sie umfaßt, in der nächsten Sekunde – sein Mund war ihrer Wange schon bedenklich nah – hatte sie die Hände gegen seine Brust gestemmt, und ihr Kopf warf sich nach hinten.

»Das steht nicht in den Spielregeln, Herr von Hammersmid.«

»O Ilse! O geliebte, süße Ilse.«

»Soll ich ihn hauen?« fragte Hans und drängte sich durch die Büsche. »Will er dich nicht wieder loslassen?«

»Ja, hau' nur, Hansel.« Aber eh' der kleine Bruder sich ganz herangemacht, lag ihr Arm schon sittsam in dem des Blonden, und Hans sah ihnen verdutzt nach. Große Leute waren immer komisch.

»Kommt ihr endlich wieder?« scholl es ihnen entgegen. Und Ilse sah neben der wartenden Jugend ihre Mutter und Frau Helene, und Frau Helene hatte ordentlich heitere Augen, und der verdrossene Zug am Mund war gar nicht zu sehen. Sie stand bei Georg Grützmann, der langsam, ohne seine Dame, zurückgetrottelt war, und redete auf ihn ein. »Wir sahen die neuen Wagen, Herr Grützmann. Gestern kamen sie hier vorbei. Ich sag' zu meinem Mann – er saß am Schreibtisch, – die Prediger sitzen ja ewig am Schreibtisch und über den Büchern, freuen Sie sich, daß Sie keiner geworden sind –« Sie hatte sich verheddert, – suchte den Faden, – ja so, die Wagen. »Und mit einemmal draußen solch Gerumpel, – ich ging an das Fenster, da kamen sie vorbei. Und gar drei. Die müssen Ihrem Herrn Onkel ein schönes Stück Geld gekostet haben.«

»Onkel hat sie von Wagenbauer Frerichs in Hamburg. Jeder kostet hundertundsieben Taler, ja. Aber fest sind sie, da können zwanzig Zentner drauf verladen werden.« Wenn es auf das Geschäft ging, wußte er ganz gut Bescheid. »Mit der Eisenbahn, die sie nun von Hamburg aus bauen wollen, das war Onkel zu riskant. Und er sagt, wenn das was wird, – bis dahin haben sich die Bierwagen längst rentiert.«

»Sie schicken Ihr Bier bis nach Hamburg, nicht wahr?«

»Ja, und nach Kiel und Schleswig und Lübeck. Wir wollen jetzt noch ein neues Brauhaus bauen lassen. Onkel sagt, Schmalebeker Bier bekommt Weltruf.«

Helene lächelte ihn so freundlich an, daß er ganz auftaute. Die meisten Menschen hatten keine Geduld, wenn er vom Geschäft erzählte. »Wie interessant Sie es auseinandersetzen können, Herr Grützmann. Aber ich muß nun wieder zu meiner Kusine, wir wollen oben den Tisch für das Abendbrot richten. Die Jugend ißt ja wohl hier unten im Garten? – Sie müssen das mal meiner Friedrike erzählen, die hat so viel Sinn für diese Dinge. Die praktischen Fragen des Lebens liegen uns Frauen doch immer am nächsten.«

Riekchens Gesicht wurde dunkel. Mußte die Mutter immer hineintappen in Dinge, die ihr selber heilig waren? Wenn sie das wollte – es wäre ja nicht so schwer gewesen, den schwerfälligen Georg zum Tischherrn zu erhalten. Nur ein Wort zu Ilse, nein, nur ein Blick – die verstand so leicht, dann wäre das geschehen. Aber was ihr nicht entgegengetragen wurde, das wollte Riekchen Jessen nicht. Liebe – das muß sein wie ein Wunder. Das darf nicht mit Kniffen und Listen gewonnen werden. Und wenn sie alle sagten, er sei dick und langweilig und schwerfällig – sie hatte ihn eben lieb. Sie hatte einmal gesehen, wie er im Winter vor dem Stift, in dem die alten Leute wohnten, Mutter Siemers aufgehoben hatte, die da ausgeglitten war, und hatte der alten Person den Schnee vom Rock gestäubt, und ihr die Krücke wieder in die Hand gedrückt, und dabei wohl noch etwas anderes, denn als er sich davonmachte, murmelte er von »Kaffee und heißer Suppe«, und die Alte rief Gottes Segen hinter ihm her. Riekchen, die im Dunkel hinter der Pumpe stand und keinen Mucks von sich gab, hatte er nicht bemerkt. Gut war er. Und gut war mehr als schön und amüsant. Und wenn Ilse ihn nahm – der trug sie auf Händen. Aber Ilse hatte keine Augen für ihn, und nun war noch der Baron von Hammersmid da, der ihr gar nicht von der Seite ging. Aber diese eleganten dänischen Herren – vorne fix und hinten nix, sagte Madam Eggers von ihnen.

Mutter Eggers war nicht weit. Sie half bei solchen Gelegenheiten in den Häusern. Rührte die Mayonnaise, schnitt Heringssalat, spülte Tassen, hatte Augen und Ohren überall und sorgte, daß sie ihrem Fiete immer einen guten Happen mitbrachte. Heute war es besonders nötig. Fiete war aus der Arbeitsstunde gekommen und hatte sein Abendbrot nicht gehabt. In der Unruhe des Nachmittags war er vergessen worden. Und der dösige Bengel – könnt' er sich nicht melden? Was sagt er: »Wenn der alte Herr mir Griechisch und Lateinisch gibt, das ist schon viel mehr, als daß ich die Gören arbeiten lass'. Ich werd' auch so noch satt werden.«

Angeline Eggers wutschte oben in der Küche herum und schwatzte mit Mile. Mile war ihre Kusine, und diese Verwandtschaft, wenn sie auch Frau Schulmeister geworden war und Mile Köchin geblieben, die kultivierte sie doch. Es war eine nahrhafte Sache. Hatte der alte Pastor auch nur seine Pension, – der Sohn hatte die gute Praxis, und seine beiden Frauen hatten viel Geld mitgebracht. Wer mal die Ilse heiratete – Bisweilen spann Madam Eggers an tollen Träumen. An so tollen, daß sie nicht einmal zu Mile davon sprach.

Aber wenn einer Prediger ist – man hat doch Beispiele von Exempeln. – Die Schwester von Herrn von Krog – adelig war die doch sogar – hatte einen Professor der Theologie in Kiel geheiratet. War ihr Fiete schlechter als der?

»Mile,« sagte sie und roch an der Essigflasche, »ich mach' hier die Platte in Ordnung. Aber euer Essig – der ist jawoll kanig? – Du, sag' mal, will der Neffe von Krogs eigentlich lange bei ihnen bleiben? Ist doch auch man fipsig.«

»Fipsig? Schlank ist er, das ist gerade fein.« Sie trug ein Tablett mit Tassen in die Eßstube, und als sie zurückkam, hörte man die vielen Stimmen in lebhafter Unterhaltung.

»Die reden ja heut so viel, Mile. Spielen sie gar nicht?«

»Ja, die haben die Rosen vor und den Kanter. Daß die noch miteinander in der Welt rumreisen. Na ja, was sollen sie nicht, so viel Geld wie sie hat. Und er muß sich doch auch was übergespart haben. Gibt ja den ganzen Tag Musikunterricht.«

»Hat Ilse noch immer Gesang bei ihm? Ja? Ist doch man schade um das schöne Geld. Das könnt' der Doktor doch lieber anders anlegen, daß sie da mal was von zur Aussteuer hat.«

»Die hat ja so viel Geld, was soll sie da noch mehr von sammeln.«

»Nee, was einmal verrückt geht das zu in der Welt. Eggers sagte immer: ›Ist alles gegen die christliche Lehre. Wer da zwei Mäntel hat –‹ Sag' mal, hat der Doktor woll nich mal wieder ne abgelegte Hose? Ich kann Fiete rein nich mehr zusammenflicken. Was der wächst. Der wird wie sein Vater. Sein Vater war en stattlichen Mann. Was, Mile?«

»Weiß ich nicht. Als ich ihn sah, wie ihr Hochzeit machtet, da war er schon mächtig zusammengefallen. Da haben wir uns alle über gewundert, wie daß er –«

»Da war gar nichts zu wundern«, sagte Madam Eggers, und ihre Augen wurden so spitz wie ihre Stimme. »Ich weiß, wo du raus willst. Aber wirtschaft' du mal sieben Jahre beim ledigen Mannsmenschen. Und er hat auch gewußt, was er an mir hatt'. Und wenn ich man ne Wirtschafterin war, er hat immer gesagt, den Sinn fürs Höhere, den hätt' ich mitgebracht. Den konnt' er nur fördern, sagte er. All seine Briefe an die Schulbehörde hab' ich geschrieben in den letzten Jahren, als er so doll die Gicht in den Fingern hatt'. Ich schreib' noch ne feine Hand, Mile.«

Auf dies Thema ging das Mädchen nicht ein, denn die eigenen Künste in Lesen und Schreiben waren sehr gering. »Gib mal die Petersilie rüber, Line. Hier untern Schinken muß noch so was.«

»Angeline heiß ich.«

»Weiß ich. Steht ja auf deinem Schild. So, trag mal eben die Teller rein, ich will nu decken.«

»Reintragen tu' ich nicht. Ich helf' dir aus Gefälligkeit, aber das ist mir gegen den Stand, daß ich Teller reintrag'. Nee, meine liebe Mile, ich bin die Frau von einem –«

Die dicke Mile hörte nicht mehr zu, sie war schon mit ihren Tellern verschwunden. Angeline verhalf sich noch zu ein paar belegten Brötchen, die für die Jugend bestimmt waren, trank aus einer henkellosen Tasse – ein Glas war nicht zur Hand – einen ordentlichen Löffel heißen Punsch und hing das bunte Umschlagetuch über die mageren Schultern. Ohne Tuch über den Markt gehen – das war auch gegen den Stand. Unten begegnete ihr Eitel Bostrup.

»Na, Mam Eggers, wie geht es? Was macht der Jung'? Geht er immer noch auf Eiern? Neulich hab' ich ihn mal im Horner Holz erwischt, da hockte er und zeichnete 'ne alte Kiefer ab. Gar nicht übel. Soll ich ihn mal mitnehmen, wenn ich mit meinen Schülern zeichnen geh'?«

»Daß er noch mehr Allotria in den Kopf kriegt, was?« Vor Eitel Bostrup hatte Madam Eggers gar keinen Respekt. Er war der Küstersohn aus ihrem Heimatdorf. »Soll er vielleicht auch durch die Beine kucken? Wo einmal kann so'n gesetzter Mann so einen groben Unfug angeben?«

»Ich bin noch gar kein gesetzter Mann, Mam Eggers.«

»Denn sollten Sie zusehen, daß Sie das bald werden. Die Jahre hätten Sie woll dazu, Eitel Bostrup.« Ganz krötig, die Nase spitz in die Luft gehoben, ging sie über den Markt.

»Geht er noch immer auf Eiern?« murmelte sie vor sich hin. »Dummer Snack. Mein Fiete ist noch lange so gut als ihr. Und der kann noch ganz was anderes werden als so'n poveren Zeichenlehrer.«

Die Türglocke zeterte ordentlich, als sie in ihr Haus trat.

* * *

Wie die Nachtigallen schlugen. Drunten an der Schmale hatten sie seit hundert Jahren ihr Liebesreich. In allen Bäumen und Büschen der Gärten und jenseits an den Buchenhecken zwischen den Wiesen bauten sie Nester und schmetterten und jauchzten in die hellen Sommernächte hinein.

Ilsebill konnte nicht schlafen. Morgen wurde sie einundzwanzig Jahre. Einundzwanzig! Was für ein Alter! – Einundzwanzig, und man hatte noch nichts geleistet und eigentlich auch noch nichts erlebt.

Die Kinderjahre waren so hingegangen, wie ein Weg in ebenem Lande hingeht zwischen Wiesen und Gärten, und die Mädchenzeit war nur die Fortsetzung gewesen. Alles so nett, alles so freundlich und alles so ein ganz klein bißchen langweilig. Ach ja, wenn man allein in seinem Stübchen im Bette lag, konnte man sich das ruhig eingestehen, ein bißchen langweilig war es. Bis vor zwei Monaten. Bis sie zu Onkel Dithmer nach Kiel fuhr, um Georg Grützmann aus dem Wege zu gehen, der etwas dringlich geworden war.

Da war das Abendessen bei Propst Lilie. – Sie hatte nicht mit wollen: »Was soll ich zwischen den alten Herrschaften?« und war mitgegangen, weil die Tante darauf bestand. Hatte den einzigen jungen Herrn, einen Verwandten der Pröpstin, zum Tischnachbarn gehabt –, hatte ein paar spitzbübisch ehrbare Augen gesehen und eine höchst ehrbare Ansprache vernommen: »Gestatten mir das Fräulein Rottmann zu fragen, sind immer noch so viele Kaulquappen im Büffelteich zu Schmalebek?« Und dann Lachen und Vergnügtsein.

Ja, das war einmal etwas anderes gewesen, als sie auf der großen Viehweide Indianer spielten, drüben in Eichtal, und der dänische Neffe die Kaulquappen fing im Wasserloch, und sie die kleinen Scheußlichkeiten im weißen Spitzenkleid sammelte und so zu den Damen auf die Veranda trug. Dies Entsetzen der Schnäpels und der Moorwood. Und dies Lachen von Krogs. Und Hanse immer zwischen Lachen und Ärger. –

Aber nun war es eine nette Erinnerung. Man fing gleich da wieder an, wo man vor acht Jahren aufgehört hatte, und aus der Vergangenheit stieg frohe Gegenwart, und aus der Gegenwart spannen rosenrote Fädchen hinein in eine noch viel rosigere Zukunft.

Und über die heimlichen Träume hin ging das Liebeslied der Vögel. Die Linden rauschten. Nur gerade so viel, daß es den Sang wie ein tiefer Harfenton begleitete, der Mond sah zwischen ihren Kronen hindurch, füllte die Stube mit bläulichem Licht –, irgendwo rauschte es wie ein Brunnen, irgendwo war es wie Lachen –, jetzt ein leises Schnurren an der Hauswand –, da liefen wohl die Igel und raschelten im Efeu – halb schon im Traum war es noch, als hörte man eine sehr liebe Stimme sagen: »Ilse! Süße Ilse –«, und unter Lächeln glitt die junge Seele in Schlaf.

Einmal das Wiehern eines Pferdes vom Flusse her. Ein leises Plantschen, ein leichtes Klappern auf Kieseln im halbleeren Bachbett –, irgendwo durch den Mondschein glitt ein Reiter, verschwand im Dämmer der Hecken, tauchte auf am Haferfelde –, hob sich in den Bügeln, stieß einen Jauchzer aus, der etwas ganz Fremdartiges war in dieser Gegend und zu dieser Stunde –, dann war wieder Nacht und Ruhe, und nur die Nachtigallen sangen unermüdlich, bis das Licht aufging im Osten.

Ilse hob den Kopf ein wenig, denn es schauerte kühl herein in das weit offene Fenster, und da spürte sie Rosenduft und setzte sich in die Höhe. Fuhr mit der Hand über die schlafschweren Lider, sah zum Fenster, blinzelte, ein letztes Müdesein in den Augen zu verscheuchen –, immer sah sie das gleiche: dort auf dem weißen Holz Rosen – Rosen –

Ein kurzes Lauschen – draußen und drinnen noch Nachtschweigen –, sie huschte mit nackten Füßen hinüber, sah in den Garten – nichts. Aber am Spalier der Wein hatte zwei gebrochene Ranken, und die Gartenbank vor dem Eßzimmer stand schief. Sie faßte ihre Rosen und lief zurück. Vier waren es. Eine rahmweiße, eine gelbe mit roten Rändern an den Außenblättern, eine zartrosa und eine tiefrote. Jede ein Wunder in ihrer Art. An den Rosen ein Zettelchen:

Rosen leg' ich zu deinen Füßen;
Die Schwestern sollen die Schwester grüßen.
Könnt' ich mein ganzes Leben lang
Rosen streuen auf deinen Gang.
Und wenn mein Herz ein Röschen wär',
Ich legt' es zwischen die Rosen her.

Sie lachte. Leise und selig. – Einundzwanzig Jahre! Das Erleben begann! – Und war wie dieser Sommermorgen. Lauter Licht, lauter Duft, lauter heimliches Lachen.

Mittags kam Georg Grützmann und hatte aus den Gewächshäusern des Onkels einen Strauß seltener Nelken mit Tuberosen umgeben. Tuberosen hatte noch kein Mensch außer Herrn Nilius –, und die ganze Stube war voll betäubendem Duft –, aber seine kostbare Herrlichkeit bedeutete nichts gegen die vier Blüten, die in Eichtal auf dem großen Rasenplatz in freier Luft, in Sonne und Wind aufgebrochen waren.

* * *

»Da is en feiner Herr im Blauen Kater angekommen«, berichteten Änne und Brigitte, die die lebende Zeitung Schmalebeks waren. »Mit der Post. Hat 'ne lederne Tasche bei sich. Und en Reisesack mit Rosen und Tulpen drauf.«

»Und en großen Koffer«, schrie Hans, der gerade eine halbe Frikadelle in den Mund geschoben hatte. »Pedersen sagte –«

»Erst auskauen«, befahl der Vater. »Je voller der Mund, desto reiner die Aussprache, was?«

Mit Energie wurde der ganze Happen hinabgewürgt, »Pedersen sagt, so'n großen Koffer hat er noch gar nicht auf der Post gehabt.«

»Auf dem Koffer steht mit so runden, blanken Knöpfen: Thomas Raben. Hamburg. Ich hab' es gelesen.«

»Ich hab' es auch gelesen. Madam Eggers kam grad' vorbei, die sagte: ›was der man einmal in Schmalebek wollte?‹«

»Wenn Madam Eggers sich der Sache annimmt, wird Schmalebek das bald genug wissen. Übrigens, wie ist das mit euch, ihr macht mir manchmal reichlich Lärm in eurer Arbeitsstunde. Fiete scheint euch zuviel Willen zu lassen.«

Sie hatten es plötzlich sehr eilig mit dem Essen. Nur Hans sah nach einem Zögern vom Teller auf und sagte: »Fiete Eggers sitzt immer und zeichnet. Aber wenn ich es sehen will, reißt er es fix kaputt.«

»Du kannst nachher mal mit deiner Fibel in mein Zimmer kommen. Als ich sechs Jahr alt wurde, konnte ich schon sehr gut lesen.«

»Du bist ja auch en Vater.«

»Das hat da gar nichts mit zu tun. – Ilse, dich möchte ich auch noch mal alleine sprechen.«

»Mich?«

Änne und Brigitte knufften sich unter dem Tisch. Ilse bekam auch was ab? Was die wohl ausgefressen hatte? Komisch, daß der Vater mit einemmal so kurz geworden war. Als man sich hinsetzte zum Essen, war er ganz vergnügt gewesen. Sie waren froh, als sie aufstehen konnten.

Doktor Rottmann stand in seinem Zimmer und sah hinaus auf die Straße. Drüben lag die Post und zwei Häuser weiter der Blaue Kater. Vor der Tür die grüne Bank zwischen den Oleanderbäumen war leer. Hinter den offenen Fenstern der Gaststube schienen Menschen zu gehen, aber man konnte nichts Genaueres unterscheiden.

Der Doktor legte die Hände auf den Rücken und begann ein langsames Aufundabgehen. »Thomas Raben«. Der Name war keiner, der oft vorkam. Und dazu »Hamburg«. – Was wollte der hier in der Einsamkeit der kleinen Landstadt? Er hatte das Aufhorchen in Hanses Zügen gesehen. Er war kurz geworden gegen die Kinder, der plötzlichen Erregung Bahn zu geben. Und er wußte, sie hatte ihn durchschaut. Dann aber kam sie her. Oder – kam sie nicht? – Ja, dann wußte er auch Bescheid.

Schon war ihr schneller Schritt vor der Tür. Er trat an das Fenster und besah den Wein, der in junger Blüte stand.

Es half nichts. Hanse kannte ihren Alten viel zu gut.

»Muff, muff!« machte sie. »Red' mal mit dem Mund und nicht nur mit Schultern und Rücken. – Na? – Bist du nicht wert, daß ich dein Antlitz schaue? Herrgott, was hat man 'ne Last mit den Männern.«

Detlev Rottmann wandte sich mit einem Ruck zurück. »Was will er hier?«

Seine Frau sah ihn an, hatte ein überlegenes Lächeln in den Augen, so wie Frauen haben, die denken: »O du törichter Mann! O du ganz großer, ganz törichter Mann!« und ihr Mund sagte: »Wenn ich es wüßte! Meinst du, der Herr Rechtsanwalt berichtete mir über seine Reisen?«

»Es ist doch seltsam, elf Jahre sind wir nun verheiratet, und nie war er in Schmalebek. Nun mit einemmal – Was will ein Hamburger Rechtsanwalt ausgerechnet in Schmalebek?«

»Was will er in Heide und Marne und Krempe, wenn er dahin fährt? Er wird schon seine Gründe haben.«

»Eben die wüßte ich gern.«

»Du, Detlev – nein, wie kann man nur. Solch energischer Herr! Solch kluger, selbstbewußter Herr wie der Doktor Rottmann! – Du kannst doch nicht im Ernst glauben, daß etwas anderes als der reine Zufall ihn hierher führt?« Ihre Augen wurden ernst und dunkel. »Oder traust du mir zu –«

»Scht! – Das mußt du gar nicht aussprechen. – Nein, dazu kenne ich doch meinen guten Kameraden zu gut. – Aber – Hanse, wer dich einmal lieb gehabt hat – Du bist noch immer so jung! Du bist noch immer eine Frau, die sehr begehrenswert ist. Kann ihn nicht die Erinnerung –«

Sie schüttelte nachsinnend den Kopf. »Ach nein, Lieber. – Erinnerung? Was ist sie, wenn so viele Jahre vergangen sind? Es ist keine Bitterkeit in ihr, aber auch keine Sehnsucht. Man denkt zurück wie an einen hellen Frühlingstag. Schön war er, gewiß. Aber der Sommer hat reichere Erfüllung. Und was eine Frau überwunden hat, so restlos überwunden, das wird einem Manne nicht mehr zu schaffen machen. Vielleicht ist er selber längst glücklicher Gatte und Vater.«

»Ich bin in deinen Augen vielleicht komisch, wie? Du mußt denken, daß ich im nächsten Jahr fünfzig werde. Und er ist –?«

»Genau so alt wie ich, bald vierunddreißig. Er war damals noch so jung – Viel jünger als ich. In den Jahren sind wir Mädchen die älteren. – So, nun setz dich da in deinen Sorgenstuhl und halte deine Mittagsruhe.«

Aber der Doktor, als er sich setzte, zog sein Weib auf die Knie, und in ihr junges, leuchtendes Gesicht sehend, fragte er: »Ist es dir nie leid gewesen, Hanse? Antworte nicht aus Güte, antworte aus offenem Herzen.«

»Es ist mir nie leid gewesen, Lieber. Um des Kindes willen bin ich gekommen, um des Mannes willen bin ich geblieben, würde ich bleiben, und wenn alles gegen ihn stände. Sind denn dir die elf Jahre nichts gewesen als Kameradschaft?«

»Ich glaub' es dir, mein Hans. Aber –«

»Aber?«

Er wollte nicht mehr sagen. – »Nun, wenn er länger hier bleiben will, was der große Koffer ja vermuten läßt, wird sich ein Zusammenkommen nicht vermeiden lassen. – So, nun schick' mir mal Ilsebill, mit der hab' ich ein Hühnchen zu rupfen.«

»Muß das sein? Sei vorsichtig, daß du nichts verwirrst.«

»Traust du dem jungen Manne? Gestern morgen, als ich früh im Garten war, waren da unten an der Schmale Pferdespuren, die führten hinein in den Bach und wieder heraus, oder vielleicht richtiger erst heraus in unseren Garten und wieder hinein in das Wasser. Und im Kies unter dem Rotdorn sah es aus, als sei dort ein Gaul angebunden gewesen. Was heißt das? Gibt meine Tochter sich wie eine Magd heimliche Stelldicheins bei Nacht im Garten? – Da faßt man gleich fest zu, daß kein Skandal daraus wird.«

»O du schrecklicher Mann. – Nichts hat sie gewußt von dem Pferd, und das Ganze läuft auf eine Huldigung heraus. – Ja, wir haben höchst verständig gefreit und unsere Seligkeiten erst nach der Hochzeit kennengelernt, aber wenn es anders ist – gönne ihr das erste junge Glück. Rosen hat er ihr in das offene Fenster gelegt, und heimlich, wie er gekommen ist, hat er sich wieder davongemacht. Ist das Sünde?«

»Hm. – Und wenn ihn jemand gesehen hätte? Der Klatsch schläft nicht. Und der Ruf eines Mädchens ist wie Glas. Jeder Hauch kann es trüben.«

»Glaubst du nicht, daß er es ernst meint?«

Rottmann zuckte die Achseln. »Der Herr Baron? Armer Adel –, eine sandige Heideklitsche –, aber doch immerhin alter jütischer Adel. – Daß er verliebt ist, glaube ich ihm. Daß vielleicht Ilses Vermögen den fehlenden Stammbaum ersetzt, halte ich für möglich. Soll meine Tochter nur darum in seiner Familie willkommen sein? Und heute, wo sich die Gegensätze so zuspitzen? Ich wünsche mir keinen dänischen Schwiegersohn, Hanse.«

»Es geht nicht um dich, es geht um Ilse.«

»Glaubst du, daß er für Ilse der Richtige ist? Ich nicht.«

»Er ist ein netter Mensch.«

»Ist er. Aber sie verliert zu viel. Hanse, das bleibt nicht, das erste verliebte Glück. Und wenn sie da mit ihm auf seiner Klitsche sitzt und alles ist stockdänisch und ihre Heimat soll ihr nichts mehr sein und zwischen uns und ihr wird eine große Entfremdung – ist er auch der Mann, sie dann über alles fortzuheben?«

»Muß denn das sein? Das Fremdwerden? – Sie ist gar keine politische Natur. Man könnte doch das Reden über diese Dinge vermeiden.«

»Wie lange noch? Es wird wohl bald mit dem Reden vorbei sein. Und dann? – Wie lange will er noch hier bleiben?«

»So wie ich Frau von Krog verstand, soll er ein Jahr lang bei ihnen in der Wirtschaft tätig sein. Daß er mal in einen großen Betrieb hineinsieht.«

»Dann wäre es gut, Ilse ginge für den Winter wieder nach Kiel.«

Seine Frau schwieg. Was sollte man dazu sagen? Mochte sein, es war das beste, aber Ilse ließ sich nicht leicht ablenken von Dingen, die sie einmal erfaßt hatte.

Hans störte. Er steckte den dunklen Lockenkopf in die Tür und sagte: »Soll ich nu mit der Fibel kommen?«

Der Doktor seufzte innerlich, er sehnte sich nach seinem Ohrenstuhl, wenigstens für eine halbe Stunde. Da er aber selber seinen Herrn Sohn zitiert hatte, mußte er ihn auch vornehmen.

»Also – setz' dich hierher. Wo bist du denn jetzt?«

»Beim großen L. –«

»Denn lies mal.«

»L–e– Le. a. Lea. –« »Weiter.« »L–e Le. o. – Leo.« Pause. »Na ja, nu man weiter.« »L–e –a. Lea.«

»Warum fängst du denn dasselbe noch mal an?«

»Bei Fiete Eggers muß ich es immer zwanzigmal lesen.«

»Zwanzigmal? Dem ist wohl nicht zu helfen! – Hört er denn immer zu?«

Hansels Augen glummerten. »Nee, zuhören tut er nicht. Wenn ich sag': Löwe und Lina, das merkt er gar nicht. Er sitzt immer und döst, oder er zeichnet.«

»Was zeichnet er?«

»Och, man immer so Gesichter. Am meisten zeichnet er Ilse.«

»Ilse?«

»Ja. Und denn so Rosen rundum. Und wenn Änne es sehen will, wird er fünsch. Aber ich sitz' so dicht, ich schul' immer mal 'rüber. Das merkt er nicht.«

»So, so.« Dummer Bengel, dachte Rottmann. Wenn du so anfängst, hast du hier am längsten Unterricht gegeben. Ich werd' mal mit deiner Mutter reden. »Na, Hans, lauf nur in den Garten, mit dem Lesen wird es wohl nicht viel. Du mußt bald in die Schule zu Tante Schulz. Die kommt dir mit dem Stöckchen, wenn du Unsinn liest.«

Hans polterte vergnügt hinaus. Rottmann sah sich nach Hanse um. Sie lehnte am Schreibtisch und hatte der kleinen Unterhaltung zwischen Vater und Sohn mit Vergnügen zugehört. »Was sagst du zu dem neuesten Verehrer unserer Tochter? – Auf den kann sie stolz sein, was?«

»Ach Gott, Detlev, laß den Jungen. Was hat der vom Leben? Hunger und Arbeit und die verdrehte Mutter, die ihn mit Gewalt zum Studium zwingen will. Vater sagt, er hätt' zum Latein so wenig Talent wie der Esel zum Lautenschlagen, aber ich mag es ihr nicht sagen. Ich denk' immer, er bekommt hier Kaffee und ein tüchtiges Abendbrot, das hält ihn noch zusammen. Er hängt ja nur in den Gräten.«

»Laß man, der ist zäh'. Ich kenn' diese langen Schlakse. Wenn sie erst mal richtig ausgefuttert werden, werden es ganz stramme Kerle. Na, ich werd' mir Mam Eggers mal vorknöpfen.« Er huschelte sich in seine Stuhlecke, Hanse lachte ihm zu und ging aus dem Zimmer. In der letzten Nacht hatte er zweimal herausmüssen, und zum Nachmittag stand eine weite Landfahrt bevor. Sie jagte die Kinder, die auf dem Flur halloten, in den Garten und ließ das Mädchen frischen Kaffee rösten. Der munterte doch ein bißchen auf vor der Fahrt.

Dann ging sie zu Ilse hinauf und fand sie auf der Fensterbank hocken, ganz in sanfte Mittagsfaulheit versunken. Und über die Baumwipfel herüber grüßte das blauweiße Wimpel von Eichtal.

* * *

Die Turmuhr schlug sechs. Sie ließ sich Zeit dabei. Alles in Schmalebek hatte Zeit, warum hätte sich die Turmuhr beeilen sollen. Man konnte zwischen zwei Schlägen immer bequem bis sechs zählen, und wenn man sich eilte, bis zehn, Brigitte behauptete, sie käme sogar bis zwölf. Aber das bestritten die Geschwister.

Endlich hatte sie ihre Pflicht getan. Ilse, die sich behaglich noch ein bißchen in den Federn dehnte, hatte mitgezählt, und wie der letzte Schlag vorüber war, lauschte sie auf.

Ein Glockenspiel setzte ein. Hell und froh schwebte die Melodie über die Dächer und Giebel und flog durch das offene Fenster in ihr weißes Zimmer. Sie sang leise mit.

»Geh aus mein Herz und suche Freud'
In dieser schönen Sommerzeit
An deines Gottes Gaben.
Schau' an der schönen Gärten Zier
Und siehe, wie sie dir und mir
Sich ausgeschmücket haben.«

Der Kantor war wieder da und zog sein Glockenspiel. Auf dem Dach seines winzigen, uralten Häuschens, hart an der Kirchenmauer, hatte er es nach eigenen Angaben anbringen lassen. Die Fäden der einzelnen Glöckchen gingen hinunter in seine Schlafstube. Wenn er im Bett lag, konnte er sie, die an Tasten befestigt waren, spielen, daß droben die kleinen Hämmerchen auf die in zwei vollen Oktaven abgestimmten Glocken schlugen und alles hinaussangen in die Gottesluft, was ihm durch Herz und Sinn ging.

Aber daß er schon wieder hier war! – Kam man in vierzehn Tagen hin zum Rhein und wieder zurück? Wohl kaum, auch wenn man Extrapost fuhr. Gestern nachmittag, als sie bei Lisette Rosen, der kleinen, schiefen Schwester der schönen Melanie gewesen, hatte die noch kein Wort von Heimkehr der Reisenden gesagt.

Ein anderer aber brachte das Spiel nicht in Gang, ganz abgesehen davon, daß das Häuschen verschlossen war.

Wie Ilse zum Kaffee hinabkam, fragte Hanse auch schon: »Hast du es gehört? Sie müssen wieder dasein. Vater hat sicher recht gehabt. Er sagte gleich: Das halten die alten Leute nicht mehr aus, die weite Reise. Das ist eine Kateridee. – Ja, dann üb' nur noch, dann wird Mampert sicher heute zur Stunde kommen, es ist ja Freitag.«

Um elf sah Ilse den alten Herrn auf das Haus zukommen. Groß, dick, mit dem rosigen Gesicht unter dem breiten, grauen Zylinder. Die langen, weißen Haare lockten sich über dem Rockkragen, das feine Batisthemd blitzte wie Schnee, der Spazierstock mit dem goldenen Knopf schwang vergnügt hin und her.

Sie hatte schon das Klavier geöffnet und seinen Stuhl mit dem Kissen herangetragen, einen schraubbaren Klavierbock kannte man in Schmalebek noch nicht, und nun lief sie ihm entgegen, nahm ihm Hut und Stock ab und fragte: »Wie ist's am Rhein, Herr Kantor?«

»Ich denke, ganz wunderherrlich, liebes Kind. Gerade so wie der Wandsbeker Bote singt: Am Rhein, am Rhein, da wachsen unsere Reben, gesegnet sei der Rhein –« Ein kleines Lächeln: »Ich werde sie in diesem Leben nicht dort wachsen sehen. Wir – aber das sag' ich dir nur in das Ohr, kleine Ilse –, wir kamen nur bis Hamburg. Da haben wir schöne Tage an der Elbe verlebt. In Nienstedten. – Ja. – War für alte Leute auch sehr nett. – Wenn man in den Sechzigen ist, tut es auch die Elbe, es braucht nicht mehr der Rhein zu sein.«

»Ach«, sagte das Mädchen nur leise, und etwas Wehes war in ihr. Resignation! – So sah die aus! – So gütig, ein bißchen heiter, ein bißchen schwermütig. – Lieber Gott, vierzig Jahre gewartet haben auf die Rheinreise mit der Geliebten, und dann bleibt man zehn Meilen von daheim sitzen, und irgendwo in weiter Ferne braust der schöne, stolze Strom. Und man kehrt zurück und läßt die Glocken singen: »Geh aus mein Herz und suche Freud –«

»Es war da ein nettes, kleines Wirtshaus«, erzählte der alte Kantor. »Wir bekamen zwei saubere Zimmerchen. Ich unten im Hause, die beiden Damen oben. Und alles war sehr idyllisch. Die Hühner flogen uns auf den Tisch, wenn wir Kaffee tranken. Die Eier waren frisch aus dem Nest, die sie uns da kochten. Und wenn wir ein Stückchen die Straße hingingen, kamen wir an den Deich und konnten den Fluß hinuntersehen. Da gehen jetzt Dampfschiffe. Das war recht interessant. – Ja. – Ja. – So, und wie ist es inzwischen mit Schubert gegangen? Fleißig geübt? – Singen wir erst einmal einige Tonleitern.« – Er schlug leise an: Do re mi fa sol – »Famos, famos. Die Stimme sitzt à la merveille. Sie ist ein gottbegnadetes Kreatürchen, kleine Ilse.«

Hanse lauschte vom Garten her, wie die zwei musizierten. Kleine Ilse! Wer sie singen hörte, konnte nicht glauben, daß ein zierliches zwanzigjähriges Mädchen am Klavier stand. So tief und voll war die Stimme, so voll Ernst und Hoheit. Die Winterreise, die so selten von einer Frau gesungen werden kann, schien geradezu geschaffen für diesen tiefen und doch so weichen Alt.

Hanse pflückte die ersten Johannisbeeren, die in diesem warmen Sommer sehr früh reiften. Irgendwo in der Gartentiefe hörte sie die Stimme ihres Jungen. Er rief mit einem Kuckuck um die Wette. Sommerlich froh klang es zwischen dem Buschwerk her. Und dann wieder aus dem Hause der Gesang. Sonst kein Geräusch. Friedlich war es in Schmalebek. Nicht einmal das Rumpeln eines Wagens kam von der Straße her. Einmal ging die Hausglocke, da kam wohl der Schwiegervater von seinem Morgenspaziergang heim. Dann war es also bald zwölf Uhr, denn der alte Herr war sehr pünktlich.

Der Kantor fand heute kein Ende. Jetzt sang Ilse den »Wegweiser«. Hanse richtete sich auf von ihrem Beerenbusch, stand unbeweglich und fühlte jeden Ton und jedes Wort in tiefster Seele.

Wer gab dem Kinde das Empfinden für die dunkle Tiefe dieses Liedes? Für dies Lied der Lebensmüden, der Einsamen, der Weltverlassenen? – Lag – ihr selber unbewußt – noch das Leid des Kindes um die verlorene Mutter in ihr? Waren damals dunkle Tage für das kleine, zärtliche Geschöpf gewesen, die lange in Vergessenheit versanken und doch in solchen Augenblicken des Gehobenseins aufwachten und in Wort und Stimme hineinklangen?

Der alte Kantor saß eine Weile still und sann dem Liede nach.

Es war nicht so einfach, Musikunterricht in Schmalebek zu geben. Die Gesangstunden im Doktorhause waren Oasen in einer großen Wüste.

Endlich stand er auf, strich Ilse über die Hand und sagte väterlich zärtlich: »Vor dir liegt noch eine lange, helle Straße, Ilsebill. So lang und – will's Gott – so hell, daß man nicht einmal die Schatten der Ferne ahnt. Und unsereiner, der schon das große Dunkel sieht, der hat keine Furcht mehr vor ihm. So schafft der gütige Himmelsherr seinen armen Menschenkindern immer den Ausgleich.«

»Und die gehen müssen, eh' sie die Angst vor der Dunkelheit überwunden haben? So wie meine Mutter gehen mußte?«

»Auf die wartet im ewigen Garten der hellste Fleck, und ihre Engel stehen dem Thron des Herrn am nächsten. Die jung gehen dürfen, denen ist viel Staub und Lärm und Streit und Neid erspart, liebes Kind.«

Er nahm Hut und Stock und ging. Ilse sah ihm vom Flurfenster nach, wie er die Straße hinunter und vom Markt abwärts in seine kleine Gasse hineinwanderte. Nun würde er wieder das Glockenspiel ziehen. Mittagsläuten. Und seine still gewordene Seele hörte hier auf Erden schon Harmonien, die einmal in einem Jenseits noch tausendmal herrlicher klingen würden.

Der Großvater hatte von ihm erzählt, wie er vor langen Jahren in die Stadt gekommen. Ein armer Offizierssohn, der zur Musik gegriffen, weil ihm das Studium unmöglich war. Und weil er seine Kunst liebte. Schmalebek sollte die erste Station der großen Lebensreise sein.

Schmalebek aber war das ganze Leben geworden.

Ein Schauer überflog das Mädchen. Nur nicht so steckenbleiben in der Enge. Nur nicht immer diese kleinen Straßen, diese niedrigen Häuser, diese herzensguten und so arg beschränkten Menschen. Hanse war ein Mensch voll Kraft und Frohsinn und tausend Gedanken, die andere Frauen nie dachten. Aber auch Hanse ließ manches Mal die Arme sinken und stöhnte auf: »Schmalebek erwürgt mich.«

Ein Geräusch, als ginge jemand im Wohnzimmer hin und her, ließ sie aufhorchen. Wer ging da? Sie schritt schnell zur Tür und sah in die Stube. Ein dunkler Herr in grauem Gehrock, stattlich gewachsen, wenn er auch den Vater nicht erreichte, wandte sich – im Gehen einhaltend, zu ihr herum. Dunkle Augen sahen sie fest und sondierend an, Juristenaugen. Sie prüften den Menschen mit dem ersten Blick auf sein moralisches Soll und Haben.

Dies hübsche, zierliche Kind konnte nur Wohlgefallen erregen. Der Fremde verneigte sich und sagte: »Fräulein Rottmann? – Rechtsanwalt Raben. – Aus Hamburg. Ich wollte mir erlauben, Ihren Eltern meinen Besuch zu machen. Das Mädchen sagte mir, Ihr Herr Vater würde sogleich erscheinen.«

»Unsere Meta? Verzeihen Sie, Herr Rechtsanwalt, die ist sehr töricht. Sie hat es noch nicht gelernt, einen Unterschied zwischen Besuchern und Patienten zu machen, und da mein Vater Krankenbesuche macht –« Man hörte draußen die Glocke gehen. »Das wird er aber sein. Wenn Sie noch einige Minuten Zeit haben –«

»Stören möchte ich nicht. Ihr Herr Vater wird ermüdet sein.«

»O nein, Vater ist nie müde. Und Besuch, Besuch aus der großen Stadt. – Sie wissen nicht, was der für ihn bedeutet.«

Sie huschte hinaus, rief den Vater, lief in den Garten. »Du, Mutter, Liebste, drinnen ist ein feiner Herr. So einer, wie er sich nur alle sieben Jahre einmal nach Schmalebek verirrt. Er will dir seine Aufwartung machen. Unser Trampel hat ihn in die Wohnstube gesetzt und da sitzen lassen.«

»Thomas Raben«, sagte Hanse, und das Herz tat doch einen kurzen Ruck.

»Raben. Ja. Das war der Name. Wußtest du, daß er kommen würde?«

»Es war anzunehmen. So, er ist also drinnen. Trag die Beeren hinein, Kind. Ich will mir nur die Hände waschen.«

Einen Augenblick vor ihrem Manne trat sie in das Zimmer. Der Besucher, der ihr seit einer Viertelstunde entgegenwartete, sah keine Erregung in den freundlichen Zügen. »Thomas. – Herzlich willkommen. Was führt denn dich einmal nach Schmalebek?«

»Eine geschäftliche Angelegenheit. Und da sie sich nicht in einigen Tagen erledigen wird –, ich werde häufig herfahren müssen –, sagte ich mir, ich wollte doch an eurem Hause nicht vorübergehen.«

»Das hätten wir dir auch nicht vergeben. Wie geht es zu Hause bei euch?«

»Danke. Wie so das Leben geht. Meine Schwestern sind verheiratet. Mein Vater seit fünf Jahren tot. Die Mutter lebt mit mir zusammen, aber sie kränkelt. Sie ist ja auch den Siebzigen näher als den Sechzigen. Aber du kennst sie ja, kein Mädchen kann es ihr zu Dank machen.«

»Du solltest ihr eine Tochter geben.«

Er sah sie eine Sekunde prüfend an, dann hinaus in den Garten. »Ich habe wenig Zeit. Morgens in das Büro, zum Essen nach Hause, dann wieder in die Stadt, und abends sitzt man über den Akten. So gehen die Tage hin. Geselligkeit? – Die wenigen alten Freunde, die uns damals treu geblieben sind, und die Klienten, mit denen man einmal hier und da frühstückt – damit ist der Verkehr zu Ende.«

»Gönnst du dir nie Ferien?«

»Vielleicht einmal im nächsten Jahre. Bisher hieß es sparen. Es waren immer noch Verbindlichkeiten –« Er brach ab. Besann sich, daß Hanse um die ganze Vergangenheit wußte und sagte offener: »Ich habe es meinem Vater versprochen, es sollte keine Schuld ungetilgt bleiben. Durch einen Raben sollte niemand sein Geld verlieren. Jetzt im Herbst werde ich die letzte Schuld abtragen können.« Eine leichte Handbewegung, als schöbe er das alles fort. »Sprich mir lieber von dir, Hanse. Wir sahen uns nicht seit damals –«

»Was soll ich von mir erzählen? Ich bin eine alte, verständige Frau geworden, habe vier Kinder, drei Töchter und einen Jungen, einen richtigen kleinen Strolch, habe einen Mann, der sehr gut mit mir ist, und das Leben verfließt in Schmalebek in einem Gleichmaß, von dem man sich in Hamburg keinen Begriff machen kann. – So, da kommt mein Mann.« – Detlev Rottmann trat ein, und nur Hanse erkannte in seinen Augen den scharfen Blick, mit dem er den Besucher gleich auf Herz und Nieren zu prüfen schien. Aber die Prüfung mußte wohl günstig ausfallen, die beiden Männer kamen schnell in ein lebhaftes Gespräch, und sie begnügte sich mit stillem Zuhören.

Eine Bahn sollte gebaut werden von Hamburg an der Küste hin, ein ganz neues Unternehmen. Schmalebek sollte Knotenpunkt werden, und dann würde Leben in das Städtchen kommen, Verkehr, vielleicht sogar Hamburger Sommergäste. Raben hatte als Syndikus der Gesellschaft die Ankäufe von Land zu erledigen, die mit großen Schwierigkeiten verbunden waren, weil das Landvolk dem Unternehmen sehr mißtrauisch gegenüberstand. Gerade um Schmalebeks Umgebung ging es, wo ein Marschbauer am anderen saß und keiner von seinen Weiden auch nur einen Fuß Landes hergeben wollte. »Und durch die Luft können wir ja leider unsere Schienen nicht legen.«

»Wir werden Sie also längere Zeit hier haben. Da hoffe ich, Sie kamen heute nicht zum letztenmal«, sagte Rottmann. »Viel los ist hier ja nicht in unserem Nest, aber was wir Ihnen bieten können – Sie sollten draußen in Eichtal Besuch machen, da ist immer Verkehr.«

»Ich war dort. Es geht auch um einen Streifen Land in Herrn von Krogs Schafweiden. Man hat mich zu übermorgen gebeten, da sei großes Sommerfest auf dem Gut.«

»Dann werden Sie also gleich alles kennen lernen, was es in Schmalebek und Umgebung gibt. Und wenn Sie sich noch nicht zu den Alten zählen – also jedenfalls tun Sie das noch nicht –, so wird man Sie mit der gesamten Schmalebeker Jugend auf bekränzten Leiterwagen abholen. Hier auf dem Markt ist Abfahrt. Was Beine und Augen hat, versammelt sich und sieht der Einschiffung zu. Es ist alles sehr vergnügt, sehr tanzfreudig, sehr hungrig. Man sagt, manche Schmalebeker fasten drei Tage, um all die guten Dinge würdigen zu können, die in Eichtal auf den Tisch kommen. Na, Sie werden ja selber sehen.«

Er geleitete den Gast hinaus. Hanse stand noch nachdenklich im Wohnzimmer, als ihr Mann zurückkam.

»So! – Das war er also! –«

»Ja, das war er.« Und ganz vor sich hinsinnend: »War er das wirklich? – Hat er sich so verändert, oder sah ich ihn anders?«

»Was ist dir denn fremd geworden an ihm?«

»Ich weiß nicht. – Damals war er ein Brausekopf. Na ja, das gibt sich. In Hamburg schon ganz gewiß. Dies –« sie lachte –, »dies ist ein Hamburger Herr wie viele, aber mein alter Jugendkamerad, der ist es nicht.«

»Das ist gut so, Hanse.«

»Ist es? – Ich weiß es nicht. – Aber wenn es dir lieb ist, mein Alter, soll es gut sein.«

* * *

Es war Sonnabend nachmittag.

Fiete Eggers saß in der Rottmannschen Kinderstube und ließ das Kleeblatt die Schularbeiten zu Montag erledigen. Änne und Brigitte, die in die Töchterschule von Madam Baumann gingen, hatten einen Aufsatz zu schreiben: »Meine Heimatstadt.«

Hans, der noch nicht in die Schule ging, lernte bei Fiete die Anfangsgründe des Lesens und Schreibens.

Es war draußen glühend heiß. Die Sonne sengte, daß ihre Glut durch die Linden brach und im ganzen Garten kein kühles Fleckchen zu finden war. Fiete rann der Schweiß über die Stirn. Änne und Gitta rieben immer wieder die Finger mit den Taschentüchern, die längst wie Scheuerlappen aussahen, Hans schmierte auf seiner Tafel und murrte, wenn Fiete einen mühsamen Versuch machte, ihn zum Schreiben eines u zu veranlassen.

»Änne, lies mal vor, was du geschrieben hast.«

Änne fing verdrossen an. »Meine Heimatstadt –, schreibt man Stadt mit zwei t, Fiete?«

»Gott bewahre, mit d und t.«

»Wenn das man wahr ist.«

»Was ich dir sage, das ist allemal wahr.«

»Och Gott, hab dich man nicht. So gräßlich weise bist du auch nicht.« Sie fing wieder an: »Meine Heimatstadt heißt Schmalebek. Schmalebek ist ein Nest.«

»Ihr sollt doch schreiben: Ist eine kleine, aber hübsche Stadt. Das hab' ich euch doch dreimal gesagt.«

»Pappe sagt, es ist 'n Nest. Der lebt hier nu all bald fünfzig Jahre.«

»Aber das schreibt man nicht im Aufsatz.«

»Ich schreib' es und Gitte auch.«

»Ja, ich auch.«

»Lies weiter. – Hans, was schreibst du da?«

»Er schreibt gar nichts, er malt Schweinchen. Immer ein fideles und ein trauriges.«

»Du sollst doch keine Schweinchen malen.«

»Du malst auch immer. Du malst immer unsere Ilse.«

Fiete wurde puterrot. »Du dummer Junge!«

»Gitte hat es auch gesehen. Neulich hast du den Zettel verloren, wo sie auf ist. Änne hat ihn.«

»Gib ihn sofort wieder her, Änne.«

»Nee. – Wo du immer mit uns schimpfst!«

»Ich schimpf' auch nicht.«

»Doch,« sagte Gitta, »du schimpfst immer mit uns. Und deine Mutter auch.« Sie zog den Mund zusammen und kopierte Madam Eggers. »Oh, was seid ihr einmal für slechte Kinder. Immer und immer ärgert ihr mein Fiete.«

Dem langen Jungen flogen die Nerven bis in die Fingerspitzen. Aber er zwang sich. Sie hatten einen Zettel mit Ilses Zeichnung, sie konnten ihn bei den Eltern verklatschen, sie konnten ihn unmöglich machen im Hause – er schluckte und würgte und sagte mit erzwungener Sanftmut: »Lies weiter.«

»Schmalebek liegt an der Schmale. Fiete, weißt du, warum sie die Schmale genannt wird?«

»Das ist immer so gewesen, das braucht ihr nicht zu schreiben.«

»Ob du das aber weißt. Ich weiß es.«

»Weil sie man so schmal ist«, schrie Hans. »Oh, du kannst aber auch gar kein Rätsel raten.«

»Wollt ihr nun gefälligst –« Nein, sie wollten gar nicht.

»Fiete, was ist das: Es liegt was Rotes unterm Kirschbaum? Na, sag' es doch.«

»Görenkram.«

»Du weißt es nicht. Du weißt es nicht.«

»Also: Eine Kirsche. Und jetzt liest du –«

»Falsch, falsch, falsch! Ein roter Husar. – Aber nu liegt was Blaues unterm Pflaumenbaum. Was ist das?«

Der verzweifelte Fiete stöhnte: »Ein blauer Husar.«

Gellendes Triumphgeschrei. »Wieder falsch. Eine Pflaume.«

Die Tür ging auf. Doktor Rottmann sah in die Stube. Änne und Gitta fuhren mit den Köpfen über die Bücher, Hans spuckte eilig in die Hand und wischte die ganze Schweineherde von der Schiefertafel.

»Nennt ihr das arbeiten?« fragte der Vater. Er hatte sein Autoritätsgesicht aufgesetzt, und nicht das leiseste Zwinkern in den Augenwinkeln deutete auf Versöhnlichkeit.

Niemand antwortete.

»Sag' mal, Fiete, warum sitzt du hier eigentlich? Wenn du die Bande nicht besser in Zucht halten kannst –«

Fiete wand sich innerlich vor Angst. Wenn jetzt die Gören schwatzten – wenn sie ihn jetzt preisgaben, um sich selber zu retten. – Er ahnte nicht, daß Hans längst in seiner Dummheit alles ausgeschwatzt hatte.

»Komm doch mal zu mir herauf, wenn sie fertig sind, hörst du.«

Das war ungefähr so schlimm wie die Posaune des jüngsten Gerichts. Nein, schlimmer, denn da hat man Millionen von Mitschuldigen, aber hier hieß es, dem gestrengen Doktor ganz allein gegenübertreten. Fiete hatte – wie alle Schmalebeker – eine Heidenangst vor Rottmann. Er verstand es nie, daß die Frau Doktor mit ihrem Manne umging wie mit jedem anderen Sterblichen. Daß sie zu ihm sagte: »Nu reg' dich nur nicht auf«, oder: »Bester Mann, das ist doch meine Sache«, – er begriff einfach nicht, wo jemand den Mut hernahm. – Aber gehen mußte er, und er wünschte von Herzen, die Kinder möchten heute nie fertig werden.

Rottmann ging hinauf zu seinen Eltern. Da traf er auf Madam Eggers, die eine große Haubenkonferenz mit der alten Pastorin abhielt. »Und die Blendenhaube, Madam Eggers, die bekommt wieder weißes Seidenband. Und dazwischen die kleinen, weißen Fliederzweige.«

»Die sünd all en büschen lose, Frau Pastorin. Ich hab' so hübsche vigelette Stiefmütterchen –«

»Nein,« sagte die kleine Dame sehr energisch, »die will ich nicht. Rein weiß soll die Haube sein. Sie will mir immer so etwas Buntes anschnacken, Madam Eggers. Ich trag' das nicht, ein für allemal nicht.«

»Ich mein' ja man. Ob Frau Pastorin das nicht mal versuchen möchten.«

»Ich möchte es nicht.«

Pastor Rottmann sah über seine Brille amüsiert auf seine kleine Frau. Wie sie auf ihrem Stück bestand. Und die Eggers hätte so gern ein bißchen an den Stiefmütterchen verdient. Er mußte ihr einen kleinen Trost schenken. »Na, Madam Eggers, wie wird es denn nun mit Fiete? Wollen Sie den immer noch zum Geistlichen machen?« Wenn sie von ihrem Jungen reden konnte, war sie restlos glücklich.

»Herr Pastor, es steht geschrieben, dein Wille geschehe –, und abermals: Wollen habe ich wohl, aber Vollbringen des Guten fehlet mir – Ach, wenn ich das erleben könnt', daß mein Jung – Und steht hier mal auf der Kanzel. – Ach nee, Herr Pastor, ich sag' ihm jeden Abend: Fiete, sag' ich, reiß dich zusammen, Jung', sag' ich, daß und so Herr Pastor an dir Freude hat und an dein Lernen. Wo du so Gaben hast von deinem Vater her –« Pastor Rottmann zog die Stirn hoch. Die Gaben seines alten Landschulmeisters hatten ihm nie imponiert, aber Madam Eggers sah es nicht. »Und von mir – ich hab' immer so nach dem Hohen gestrebt. Kann Herr Pastor mir zu glauben. Und wenn ich denn so mit ihm red', wie das mal werden kann –«

»Ja, aber wenn wir ihn wirklich bis zum Examen bringen, daß er auf die Universität könnte –, wovon soll er da leben?«

»Och, wenn Herr Pastor – und intressiert sich en büschen weiter für ihn – Wo es doch Stipendien gibt, wenn einer so'n guten Kopf hat. Und ich leg' alle Monat was auf die Sparkasse –«

»Aller Ehren wert, Madam Eggers. Aber sollte es nicht besser sein, der Junge würde ein bißchen mehr gepäppelt?«

»Wie meint Herr Pastor?«

»Ich meine nur, er sieht recht blaß und schmal aus –, und ist stark im Wachsen –«

»In den Jahren sehen die Jungen alle so aus, Herr Pastor. Das soll sich wohl geben. Wenn er man durch das schwere Examen ist.« Sie sah den alten Herrn sondierend an. »Sollt' es wohl ander Jahr möglich sein?«

»Im nächsten Jahr? Daran ist nicht zu denken. Ich bitte Sie, Madam Eggers, unsere Primaner werden achtzehn, neunzehn, zwanzig –, eh sie dran denken dürfen. Und Fiete – wie alt ist er nun?«

»Siebzehn.«

»Also. Und die gehen den regelrechten Gang. Fiete muß sich alles hier am Ort mühsam bei mir und dem Rektor Friedrich mit Privatstunden zusammenholen.«

»Ich kann's nich machen, daß – und geb' ihn fort.«

»Es soll doch kein Vorwurf sein. Aber sehen Sie mal, wenn er nun wirklich das Examen bekommt –, wenn –«

»Wieso wenn?«

»Das Lernen wird ihm ungeheuer schwer.«

»Das Lernen –« Madam Eggers blieb der Mund offen stehen. Sie faßte sich aber schnell. »Nee, das erste, was mir einer sagt. Das glauben Herr Pastor man ja nicht, swer wird ihm das nicht. Bloß so'n büschen schüchtern ist mein Fiete, das ist das ganze. Der kann! Oha, wie der kann!«

»Ja, Madam Eggers, das glauben Sie nun, weil Sie ja von den fremden Sprachen und allem, was von einem jungen Mann verlangt wird, keinen Bescheid wissen. Und der Junge mag Sie nicht enttäuschen. Der mag Ihnen das nicht sagen, wie sauer er sich plagen muß.«

»Wollt' ich ihm auch nicht raten. So'n Jung'! Wo ich strapzier mich so ab, und alle Monat einen Taler auf die Sparkasse, und denn – was denkt Herr Pastor sich denn, was mein Fiete werden sollt'? Möcht' ich doch wissen.«

»Hm,« sagte der alte Herr und sah gar nicht, daß seine kleine Frau mit den Augen blinkerte, »wenn Sie mich ehrlich fragen, Madam Eggers, ich würd' ihn in Ihrer Stelle ein solides Handwerk lernen lassen. Handwerk hat goldenen Boden. Lassen Sie ihn bei Meister Grosse in die Lehre gehen, oder – er malt ja wohl gern ein bißchen –, geben Sie ihn zu Maler Kolbe. Da hat er auch seine gute Pflege. Kolbe hält seine Lehrjungen wie seine eigenen, und sie –«

So weit hatte er nur reden können, weil der beleidigten Mutter die Sprache im Halse stecken blieb. Nun aber brach sie los.

»Mein Jung'! Mein Fiete! – Und soll sich mit so'n Volk gemein machen! Mit sein Kopf! – Was hat Herr Pastor sich denn gedacht, daß er ihn – und hat ihm so lang den Unterricht gegeben. Und wo der Jung sich so mit den Gören abplagt alle Tage. Daß er doch mit sein' ehrliche Arbeit das wieder gut machen will, was Herr Pastor ihn lehrt! Wo das so'n böse Kinder sind! –« Rottmann horchte auf. Madam Eggers hatte noch nie ein Wort über sein Trio verloren. »Jawohl, so'ne bösen Kind! Was schreien sie immer hinter ihm her? Fiete Eggers geht auf Eiern, jawoll, das schreien sie. Hab' es oft genug gehört. Die anderen Bengels haben es sich auch all angenommen! Soll ihn das nich kränken? – Weil man kein reicher Mensch ist, muß man still sein und sich allens gefallen lassen. Aber Herr Pastor hat uns das oft genug in der Kirche gelehret: Irret euch nicht, Gott läßt sich nicht spotten –, und: Mit welcherlei Maß ihr messet, soll euch gemessen werden.«

»Ach, Mam Eggers,« der alte Herr schwankte zwischen Ärger und Lachen –, »das Sprüchezitieren lassen Sie lieber bleiben. Die soll man nicht anwenden, wenn es sich um ein paar unartige Kinder handelt. Junges Volk neckt sich, und Fiete sollte sich seine Empfindlichkeit abgewöhnen. Aber was das heißen soll: sich mit solchem Volk gemein machen, das versteh' ich nicht. Unsere Handwerker sind alles ehrenhafte Leute. Was war denn Ihr Vater, Madam Eggers?«

Darauf einzugehen, fand Madam Eggers nicht für angemessen, sie verzog sich und murmelte Unverständliches vor sich hin, als sie aus der Tür ging. Den Doktor sah sie gar nicht an, und ihr kleines, verknittertes Gesicht war eitel Galle.

Als Doktor Rottmann eine halbe Stunde später herunterkam, wollte Fiete sich gerade aus der Haustür drücken. »Stopp! Hiergeblieben! Du solltest doch noch in mein Zimmer kommen.«

»Sie waren nicht drin.«

»Denn komm jetzt mal mit. Brauchst gar nicht die Hände so zu ballen, ich fress' dich nicht.« Und als er den langen Jungen drinnen in seinem Allerheiligsten hatte, wies er auf einen Stuhl neben dem Schreibtisch, auf dem die Patienten sitzen mußten. »Nun also zu dir, mein lieber Fiete. Sage mal, du siehst ja man recht jämmerlich wieder aus. Wirst du wohl manchmal nicht satt?«

»Doch. Doch.«

»Sieht mir gar nicht so aus. Und wie ist es eigentlich mit deiner Neigung zum Lehrer oder Prediger? Hm?«

»Ich soll es doch werden.«

»Nämlich, zum Lehrer hast du gar keine Anlagen, und etwas davon muß ein Geistlicher auch besitzen. Meine Gören sind bei dir ganz aus Rand und Band geraten. Warum nimmst du sie nicht stramm?«

»Wie soll ich denn das machen?«

»Eins hinter die Löffel. – Wie siehst du mich an? Dem Jungen ist es sehr gesund, und den Mädchen würde es auch nicht schaden.«

»Ich hab' es einmal versucht«, stammelte Fiete. »Da hat Hans so gräßlich gebrüllt –«

»So laß ihn doch brüllen. – Du Bengel, wie willst du durch das Leben kommen. Ich kann dir nur raten, werd' Handwerker. Mein Vater hat es eben auch deiner Mutter gesagt, es wird mit deiner Lernerei doch nichts. – Na, das ist nicht meine Sache, das bered' mit ihr. Aber meine Sache ist es, dir mal deutlich zu machen, daß solch großer Kerl wie du, der vorwärts muß, keine Zeit mit Allotria vertrödeln soll. Wenn du die Gören arbeiten lassen sollst, und du zeichnest dann junge Mamsellchen auf dein Papier, – na, daß sie dann keinen Respekt vor dir haben, das kannst du dir wohl selber denken.«

Fiete wurde flammend rot. Täte sich doch die Erde auf, ihn zu verschlingen. Aber die holsteinische Erde hatte durchaus keine derartigen Anwandlungen. Sie stand bombenfest, obgleich es Fiete schien, als schwankte sie unter seinen Füßen, als er hinaus aus dem Hause und auf den Markt kam.

»Na, haben dir die Mäuse die Butter vom Brot gefressen?« fragte Madam Eggers. »Wie siehst du denn aus?«

»Der Doktor schimpft mit mir. Daß ich die Gören nicht in Zug halten kann. Und ich soll man Handwerker werden. Und satt kriegt' ich auch wohl nicht. Und –«

Herrje, fuhr die kleine Frau in die Höhe. »Sag' ich doch! Sag' ich doch! Das sind die Vornehmen! Oha! Handwerker werden. Und nicht satt kriegen, wo ich mich so – und spar' mir das Brot vom Munde ab.« Sie drohte mit der Faust zum Doktorhaus hinüber. »Die kriegen es auch noch. Tüchtig kriegen es die. Laß man sein, Fiete, und du wirst doch noch Pastor. Kannst ihnen allen noch mal die Leichenreden halten. Kannst es ihnen allen noch mal ordentlich sagen in deinen Predigten. Das kannst du.« Sie wischte sich die Stirn. Es war wieder ein heißer Tag gewesen, und die Luft lag noch immer dick und schwül über der Stadt.

»Wo hast denn nun dein Abendbrot?«

»Brot? Ach so, das hab' ich vergessen.«

»Wenn ich mir – und denk' mir das nicht. Nu kann ich hinlaufen zu Bäcker Böttcher und hol' uns en halbes Brot.« Sie ging mit kleinen zornigen Schritten zum Wandschap, kramte zwei Schilling hervor und lief aus der Tür. Kam wieder und war noch aufgeregter als vorher.

»Soll man das glauben? Sie zanken sich da, daß Böttcher – und hat Mehlwürmer in sein Brot gebacken. So ne Smutzerei. Und wie ich sag' – ich sag': Haar war da auch schon ein, – oha, aus'n Laden wollt' sie mich smeißen. Was gibt das einmal für slechte Menschen.« Sie schnitt drei dünne Scheiben vom Brot, eine für sich, zwei für Fiete, kratzte ein Restchen Schmalz darüber hin und sagte, kauend: »Wenn du Pastor bist, mein Fiete, da essen wir alle Sonntag Butter.«

»Wenn«, murrte der Junge.

* * *

An diesem Sonnabend abend, wo die Wetterwolken drohend über Stadt und Land hingen, hatte Ilsebill wieder versonnene Augen, saß in der Lindenlaube und strahlte vor sich hin. Und irgendwo in den Feldern jenseits der Schmale verschwand ein weißes Pferd, und der Reiter, den es trug, der lachte über das ganze Gesicht, denn er hatte das Versprechen des hübschesten Mädchens von Schmalebek und sieben Meilen in der Runde, den ländlichen Ball auf Eichtal mit ihm zu eröffnen. Nun konnte der dicke Grützmann am andern Tag auf der Fahrt vergebens bitten und werben.

Ach ja, dieser heiße Sommer, der das Bett der Schmale so herrlich zum Hindurchschreiten ausdörrte, dieser ganze selige Sommer voll Rosen und Lindenduft und junger Liebe, der sollte gesegnet sein.

So oft hatte Olaf Hammersmid schon sein Herz in Flammen gefühlt, aber gegen den Schmalebeker Brand waren selbst Kopenhagens Gluten nichts gewesen.

Und zu denken, daß dieses Mädchen reich war. Und daß Eriksgabe, das heimatliche Gut, eine reiche, junge Herrin geradezu forderte, – daß die Eltern sich aus diesem schwerwiegenden Grunde auch in eine bürgerliche Schwiegertochter mit liebenswürdigem Gesicht finden würden –

Der brave Schimmel keilte erschrocken aus, sein Herr hatte sich hoch im Sattel gehoben und einen klingenden Jauchzer in die weite Welt geschickt.

Die Sonne sank hinter dicken Bänken, und es murrte weither von Westen, wo das Meer seine ruhelosen Wogen gegen die Deiche schob. Die Flut lief an und schob das Wetter heran, und als es Zeit war zum Schlafengehen, war in allen Häusern Schmalebeks Licht hinter den Fenstern, die Menschen liefen auf den Höfen, füllten die Tröge und Eimer, der Nachtwächter hatte die Feuerspritze vorsichtshalber schon aus der alten Scheune gezogen, Pastor Rottmann stand am Fenster und freute sich über die blauen Flammen, die den Himmel durchjagten, bis sie von weißen und schwefelgelben Brüdern abgelöst wurden, und er sagte zu seiner kleinen Frau: »Willst du dir nicht die Blitze ansehen, Luise? Sie baden die ganze Stadt in Licht.«

Aber Gewitter konnte Frau Luise nicht vertragen. Beide Hände vor das Gesicht gelegt, hockte sie in der Ofenecke und stieß kleine, schrille Schreie aus, wenn es trotz der vorgelegten Hände hell in ihren Augen wurde.

Ilse kam herein, faßte die Großmutter zärtlich um und küßte sie.

»Wenn du den Blitz siehst, Großmutter, ist er schon vorbei. Das haben die Gelehrten herausgebracht. Darum brauchst du dich nicht zu ängstigen.«

»Ach, deine Gelehrten. Die haben schon viel herausgebracht, und nachher war es ganz anders. – Oh! Oh! – Lieber Herrgott, was für ein entsetzlicher Schlag! Rottmann, das hat eingeschlagen.«

Aber die Feuerglocke tönte nicht, und nach geraumer Zeit, als die Spannung zwischen Himmel und Erde ihre Lösung gefunden, als der Regen einsetzte und die Linden zu rauschen begannen wie tiefer Orgelklang, nahm Luise Rottmann die Hände von den Augen und wurde wieder ein beruhigter Mensch. Aus dem Fenster sah sie und konstatierte nach Kleinstadtart, wer noch Licht hatte, und als sie drüben bei Madam Eggers einen schwachen Schein bemerkte, sagte sie: »Die arme Seele, die kann auch kein Gewitter vertragen. Und hat niemand bei sich als ihren schlappen Fiete. Sie hat es doch recht schwer, wir sollten sie gut behandeln, Rottmann. Du könntest ihm die Stunden wirklich weiter geben.«

»Luise, es ist Unsinn. Der Junge wird im Leben kein Studierter.«

»Nein, das wird er wohl nicht. Aber sie hat die Hoffnung. Und Hoffnung brauchen wir alle im Leben. Die ist viel notwendiger als die Erfüllung.«

»Da hast du recht, kleine Frau. Was machst du für ein verstimmtes Gesicht, Ilsebill?«

»Verstimmt? – Nein. Aber ihr habt alle so traurige Ansichten vom Leben. Wenn ich nur hoffen soll und nie kommt das Glück wirklich – So wie bei Fräulein Rosen und dem Kantor – Wenn man an den Rhein will und bleibt in einem kleinen Elbdorf sitzen –« Sie schüttelte sich. Sah, daß die Großeltern lachten, und lachte mit. Aber als sie in ihrer Stube stand und hinauslauschte in das sanfte Rieseln und Rauschen des Regens und fernher noch stille Flammen am Horizont flackern sah und alles so beruhigt war und doch so voll neuer sehnender Hoffnung, da preßte sie beide Hände gegen die Brust und sagte ganz laut in die Nachtstille hinein: »Ich nicht. Ich will nicht resignieren. Ich nicht.« Es klang wie ein Schwur.

Das Rieseln aber verstummte, als die Turmuhr Mitternacht meldete. In ganz Schmalebek wachte niemand mehr. Nachtwächter Sonnebom, der doch amtlich dazu verpflichtet war, schnarchte neben dem Feuerschuppen, und nur die Regenpfeifer schrien noch irgendwo in den Feldern: Geuß, gieß, giet. – Geuß, gieß, giet.

Die Wolken waren weit hinweggezogen, fernab röhrte die See, – die kleine Schmale, vom Gewitterguß geschwollen, plätscherte geschwätzig durch die Wiesen, – und der Vollmond goß aus silberner Schale weißes Licht in das Land.

Wiesen und Gärten standen in Dunst. Die tagwarme Erde ließ die niedergegangenen Fluten in zarten Schleiern wieder emporsteigen zum nachtblauen Dom droben. Aus den wallenden Massen hoben sich Giebel, Dächer, Baumkronen wie Inseln aus einem Märchensee. Der Hahn auf dem Kirchturm hatte ein Funkelkleid an, so gleißte er im Mondlicht, aber niemand sah seine Pracht. Niemand sah die ganze schlichte und doch so feine Schönheit dieser stillen Welt, die da weltverlassen im flachen Lande lag und von den eigenen Reizen nichts wußte.

Als die ersten Hähne krähten, wurde Kantor Mampert wach, sah aus dem Fenster neben seinem Bett, das Tag und Nacht offen stand, hinaus in sein Gärtchen, und wie die Rosen in Tau standen und an allen Büschen Knospen hingen, die ersten Lichtstrahlen oben am Kirchturm aufblitzten und die ganze Welt so recht sonntäglich und herrlich da lag, griff er zu seinen Glockensträngen und ließ das kleine Werk auf dem Dache erklingen.

Erst, dem Sonntag zu Ehren, den Jubelpsalm: Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren.

Da lauschte Ilsebill auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen, und dann begann sie vor sich hin zu lächeln und zu summen, denn was nachkam, war Beethovens unsterbliches Liebeslied:

Ich liebe dich gleich wie du mich
Am Abend wie am Morgen,
Noch war kein Tag, wo du und ich
Nicht teilten unsre Sorgen.

Der arme alte Mann! Nie war ihm geworden, was er so lange ersehnte. Was für ein schweres Schicksal. – Aber vielleicht war seine Liebe immer so sanft und beruhigt gewesen wie jetzt. Leidenschaft – ach, die hatte er wohl nie empfunden. Ungerecht wie die Jugend ist, und ohne Verständnis für die, die welk und still geworden, glaubte auch die schöne Ilse nur an die eigene junge Liebe. Und mit dieser jungen, ungeprüften Liebe in Sinn und Herzen legte sie sich zurück in das Kissen und dämmerte noch ein bißchen hinüber in Träume.

Auch Frau Pastor Jessen hatte das Glockenspiel vernommen, hatte nicht wieder einschlafen können und saß am Frühstückstisch sehr verstimmt ihrem Johannes gegenüber.

»Am Sonntag sollte er so was nicht spielen. Du mußt ihm das sagen. Als Kantor ist er doch so etwas wie eine geistliche Person. Und dann immer die dummen Liebeslieder.«

»Liebes Kind, du sprichst von Beethoven.«

»Das weiß doch von den Leuten hier kein Mensch.«

»Die wissen ja überhaupt nichts von diesem Liede. Halten es wahrscheinlich für einen Choral.« Pastor Jessen hatte nicht die geringste Neigung, den alten Herrn zu maßregeln.

»Ja, wenn man dich hört – du willst auch so werden wie Rottmann, der immer fünf grade sein ließ. Mir ist es doch nur um dein Ansehen in der Gemeinde.« Sie strich sich mit nervöser Bewegung durch das früh ergraute Haar. »Das müßtest du mir doch Dank wissen. Aber bei niemand hat man Dank. Weder bei dir noch bei Riekchen.«

»Was ist es mit Riekchen?« Jessen konnte das Gescholtenwerden stundenlang mit Gleichmut ertragen, solange es nur gegen ihn selber ging, aber die Tochter durfte nicht angerührt werden.

»Ich hab' ihr ein neues Kleid machen lassen, weiß mit Streublumen, wie Ilse Rottmann es sich aus Kiel mitgebracht hat, – was soll die immer allein so fein gehen? – und nun will sie es nicht anziehen und sagt, für ein ländliches Fest wäre das zu fein, und sie wollte nicht gegen die andern abstechen.«

»Laß sie doch anziehen was sie will.«

»Das ist so recht, wie ihr Männer seid. Kein Auge hast du offen, wenn es um die ganze Zukunft deines Kindes geht.«

»Bitte, sprich deutlicher.«

Aber Frau Helene wollte nicht. »Und ich kann nicht immer alles allein tragen an Sorgen und, – und – Ja, du solltest nur mal meine Nervenschmerzen haben. Der rechte Arm ist ganz lahm, seit ich gestern die große Wäsche geplättet hab'.«

»Du sollst ja auch nicht plätten. Wozu sind die beiden Mädchen da?«

Er antwortete fast mechanisch. Seit fünfzehn Jahren und länger führte er den aussichtslosen Kampf großer Güte und Nachsicht gegen eine verwöhnte, verzärtelte, immer jammernde, immer nörgelnde Frau. Sie war seine Schülerliebe gewesen, und als sie ihm, dem armen Kandidaten, das Jawort gab, schien ihm die Erde schon ein Paradies. Jetzt kamen Stunden, wo er das Paradies gern nie besessen hätte.

»Nicht selber plätten! Ich möchte nur wissen, was aus unserer Wäsche würde, wenn ich nicht selber immer mithülfe. Wir können uns doch nicht alle Jahre neue Sachen kaufen. Wenn ich denk', wie es werden soll, wenn Riekchen eine Aussteuer braucht. – Du denkst natürlich nicht über so was nach. Dir gefällt es nur, wenn eine Frau immer vergnügt und elegant ist. So eine, die mehr für die Bewunderung der Herren da ist als für ihre Wirtschaft, die ist so was für dich.«

Da mußte Pastor Jessen, im Besitz des besten Gewissens von der Welt, doch lächeln. »Helene, du redest dich in die wunderlichsten Ideen hinein. Solche Frauen kenn' ich gar nicht.«

»Da braucht man gar nicht lange zu suchen. Meine liebe Kusine Hanse, die ist immer so, wie ihr Männer euch die Frauen wünscht. Glaub' nur nicht, daß ich es nicht oft genug gesehen hab', wie eifrig du dich mit ihr unterhältst.«

»So, nun aber Schluß.« Pastor Jessen stand auf. Heute war kein Reden mit seiner Helene. Und doch mußte man einen klaren Kopf und ruhige Gedanken behalten, wenn man in einer Stunde auf die Kanzel steigen sollte. »Daß du ohne Grund eifersüchtig bist, habe ich nicht für möglich gehalten. Du glaubst doch auch selber nicht, was du sagst. Bitte, nimm dich zusammen, –« als er sah, daß sie auffahren wollte, »Riekchen braucht wirklich nicht immer Zeuge deiner Szenen zu sein.«

Riekchen kam gerade in die Tür, schon im sonntäglichen dunkelblauen Foulardkleidchen, zum Kirchgang gerüstet. Ihre Augen gingen unsicher zwischen den Eltern hin und her, sie hatte auf dem Flur die Stimme des Vaters und den bestimmten Ton gehört, den er anschlug, wenn es mit der Mutter nicht zum Aushalten war. Lieber Gott, wenn doch wenigstens die Sonntage in Frieden verlaufen wollten. Der Vater war so gern einmal heiter und guter Dinge. Er konnte sich so amüsieren, wenn gute Bekannte zusammensaßen. Er steckte voll Schnurren und Liedern, etwas vom alten Studenten war immer in ihm geblieben, wie hätte man fröhlich sein können, wenn nicht immer die Reizbarkeit der Mutter Mißstimmung geschaffen hätte.

Vielleicht hätte er besser getan, einmal scharf aufzutreten, aber das lag ihm nicht. Er dachte auch wohl, ein Prediger müsse doppelte Geduld beweisen, und diese Geduld reizte die hysterische Frau nur noch mehr.

»Ilse war eben hier«, meldete sie. »Ob Tante Hanse heute mit euch nach Eichtal fahren kann. Onkel Rottmann ist eben nach Perlebach gerufen worden, da ist ein Mann vom Bullen angerannt. Er weiß nicht, wann er zurückkommt. Vielleicht fährt er gleich nach Eichtal. Er ist mit seinem Wagen fort, und ihr müßtet denn schon mit Postmeisters Stuhlwagen fahren, die Eichtaler Wagen sind alle besetzt.«

»Natürlich fährt sie mit uns«, sagte Jessen, der an die Reden seiner Frau bereits nicht mehr dachte. »Ich sitz' bei dem Kutscher vorn und Tante Hanse mit Mutter hinten. – So, nun muß ich mich fertigmachen für die Kirche.«

Seine Frau wollte etwas sagen, besann sich und zog nur die Mundwinkel höhnisch abwärts. Riekchen sah es, und es machte ihr Sorge.

Mittags um ein Uhr sammelte sich die ganze Schmalebeker Jugend auf dem Markt. Die erwachsenen Söhne und Töchter der Honoratioren, um nach Eichtal zu fahren, die Kinder der kleinen Leute, um der Abfahrt zuzuschauen. Drei Leiterwagen, mit grünen Zweigen besteckt, die Pferde mit Blumensträußen geschmückt, hielten dicht vor der Kirche, und von allen Seiten nahte das geputzte Jungvolk. Weiße, blaue, rosa Kleider, weit ausladend mit ihren steif gestärkten Falten, reich besetzt mit Rüschen, Falbeln, Bändern, – große Schutenhüte, aus denen die jungen Gesichter wie lachende Blumen hervorblühten, Jünglinge mit blauen und braunen Galaröcken zu hechtgrauen Beinkleidern, Rosen und Nelken im Knopfloch, ein paar späte junge Mädchen als Ehrendamen, und endlich Kantor Mampert, der Ehrenwächter der ganzen Schar.

Als die weißen Locken des alten Herrn in der Nebengasse aufleuchteten, steckten die Jungen die Köpfe zusammen. Da ging ja neben ihm der Hamburger Herr, der im Blauen Kater wohnte und wegen der Eisenbahn hier war. Man wußte ganz genau Bescheid über ihn. Wie fein der aussah! Hamburg bleibt doch Hamburg! – Dagegen kam Schneider Max nicht auf. Und wie er ging! So ganz sicher und selbstbewußt, und als sei es ihm ganz gleichgültig, daß vierzig Augenpaare seinem Kommen entgegensahen. Wenn er mitfuhr nach Eichtal, mußte er dort gewesen sein und Besuch gemacht haben. Bei Rottmanns war er auch gewesen. Aber sonst bei niemand. Den Bürgermeister hatte er im Rathaus aufgesucht. Mit gemacht unbefangenen Gesichtern wurde er begrüßt. Der Kantor stellte vor. Er hatte Raben in der Post, wo er selber aß, kennengelernt.

»Sind wir denn nun alle beisammen?«

Eben kam Ilse mit Riekchen Jessen über den Markt, und damit war die junge Schar vollzählig. Unter Hallo ging es auf die Wagen. Der Kantor leitete die Einschiffung und verstaute die bunte bewegliche Fracht, wobei er es so einzurichten wußte, daß er selber in den letzten Winkel des letzten Wagens kam und vor sich auf dem Sitzbrett den Hamburger zwischen Ilse und Riekchen untergebracht hatte. So, nun konnte es losgehen.

An allen Türen standen die Leute und sahen zu. Lieber Himmel, man hatte nicht viel Abwechslung in Schmalebek, und selbst Pastor Jessen und seine Helene betrachteten sich die Abfahrt, und Frau Helene sah, daß Ilse Rottmann gar nicht das neue Kieler Kleid anhatte, sondern ein rosa Perkalkleidchen vom vorigen Jahr, denn Ilse wußte, die Kleider wurden an diesem Tage nicht geschont. Trotzdem war sie die reizendste der Damen, selbst Apothekers mit den Grünseidenen konnten nicht gegen sie aufstrahlen.

Thomas Raben hatte die Absicht gehabt, erst mit den alten Herrschaften hinauszufahren, aber der Kantor hatte ihn verlacht. »Fühlen Sie sich so alt, daß Sie mit dem Whistklub fahren wollen? Wie alt sind Sie denn, bester Herr? Älter als ich? Ich bin allerdings erst 65, aber ich meine, viel mehr dürften Sie auch nicht haben.«

Da hatte Raben gelacht und sich zur Jugend gesellt. Und wie er nun zwischen den beiden Mädchen saß, der großen Blonden und der zierlichen Dunklen, und vor sich und in den andern zwei Wagen lauter vergnügte Gesichter, war das so gegen alle ehrsam steife Hamburger Geselligkeit, daß er es sich ganz gern einmal gefallen ließ.

Hinaus in das freie Land.

Zwischen den Knicks lag die Sonne und ließ alle Staubwolken in Licht aufflammen. Hinter den Knicks aber lagen die blühenden Roggenfelder, voll von süßem Sommerduft, und zwischen den Nußhecken wand sich Jelängerjelieber, in dessen Ranken die Vögel nisteten. Dann taten sich die Hecken auseinander, die weiten Marschwiesen lagen da in ihrer Üppigkeit, das fette rotbunte Vieh brachte leuchtende Farbentupfen in die grüne Weite, und irgendwo ahnte man hinter all dieser stillen Ebene die große Herrlichkeit der See.

Alte Deiche zogen sich durch das Land. Sie dienten zugleich als Fahrstraßen, denn sie hoben sich auch im Frühling und Herbst, wenn das Wasser Herr wurde auf Wiesen und Feldern, sicher heraus aus all der Nässe. Und auf einem solchen Deich, wie er vor den Augen der Fahrenden jetzt heranwuchs, stand ein wunderliches Etwas, war an den Beinen wie ein Mensch gebildet, hatte aber nur die halbe Höhe.

»Was ist das?« fragte Raben und schirmte die Augen mit der Hand.

Der Kantor, der noch trotz seiner 65 Jahre Falkenaugen hatte, erkannte die Erscheinung. »Das ist Fiete Eggers, ein Schmalebeker Jüngling, der steht und sieht durch seine Beine. Er muß von dort die See sehen können. Warum? – Herr Raben, das ist kein stiller Wahnsinn, das ist Methode, von unserem Zeichenlehrer, Herrn Bostrup, ausgebrütet. Für Maler soll die liebe Gotteswelt erst auf diese Weise das rechte Gesicht bekommen. Ja, Sie lachen, aber wie Sie sehen, ist Fiete so in sein Tun versunken –«

Da war Fiete wohl das Blut zu stark in den Kopf gestiegen, er schnellte in eine normale Stellung zurück, wandte dabei sein Gesicht dem Lande zu, sah die Wagen, sah die lachenden Gesichter, die alle ihm zugewandt waren, und flog, so schnell seine langen Beine ihn trugen, vom Deich nieder und in die jenseitige Wiese, wo er sich im langen Gras niederwarf und verschwand.

Aber statt seiner tauchte jemand anders von dort her auf und entpuppte sich als Georg Grützmann, der seine schwere Leiblichkeit auf einem der Brauereifüchse herantragen ließ. Ein anderes Reitpferd hätte unter ihm versagt. Man schrie ihm entgegen, versuchte, den Gaul wild zu machen, ein ganz vergebliches Unternehmen bei dem schweren Flamen, und die jungen Mädchen in den ersten zwei Wagen riefen ihn an und verlangten sein Geleit für sich. Sie wußten doch alle, wohin sein Herz ihn zog.

Georg ließ sie rufen, nickte gnädig und wartete, bis der dritte Wagen neben ihm war, da schloß er sich an, leider aber kam er an die Seite, an der Riekchen saß, und da Ilse gar nicht auf ihn achtete, sondern sich sehr eifrig mit dem Kantor und ein bißchen gesetzter mit dem Hamburger unterhielt, mußte er auch dort bleiben.

Dann kam Eichtal in Sicht, und vom Turm wehte die blauweiße Flagge, und Herr von Hammersmid wartete, ebenfalls zu Pferd, am Tor, und man fuhr weiter und immer weiter durch das Land, bis es rauschte hinter Damm und Deich und über den Deich her Wimpel grüßten, denn dort am Strande war die erste Tagesstation für die junge Welt, mit Fischerbooten und Sandburgen, mit einem Kaffeezelt und weißen Tischtüchern auf weißem Sand, mit viel Kuchen und viel Erdbeeren, mit lauter Vergnügen und Sonnenschein.

Während aber die Jugend dort am Strande ihrem Vergnügen nachging, machte sich Schmalebeks Alter und Mittelalter auf den Weg nach Eichtal, den Kaffee auf der großen Terrasse am Herrenhaus einzunehmen. Und wieder hielten drei Wagen auf dem Kirchplatz, aber diesmal waren es zwei Landauer und ein offener Stuhlwagen, und vor dem Pastorat wartete ein vierter, auf dem Jessens und Hanse Rottmann die Fahrt antreten wollten.

Der Doktor war nicht an sein Haus gekommen, jedenfalls fuhr er mit dem eigenen leichten Wagen direkt von der Praxis zu Krogs. Es hatte ja auch keine Schwierigkeiten, da Hanse mit den Verwandten ebensogut aufgehoben war.

Sie kam jung und hell und heiter aus ihrem Hause. Das Trio stand natürlich auf der Schwelle und mußte die schöne Mutter zum Abschied noch einmal tüchtig küssen und drücken. Helene Jessen beobachtete es von der Haustür aus. Sie sprach noch mit Madam Eggers, die im letzten Augenblick den neuen Kopfputz gebracht hatte, weiße Spitzen mit heliotropfarbenen Rosetten. Lange Spitzenbarben fielen an beiden Seiten des Kopfes nieder, und das Ganze stand nicht übel zu Frau Helenes immer noch vollem grauen Haar. Sie hatte es eben vor dem Spiegel aufprobiert und sich sehr hübsch damit gefunden, da sah sie Hanse vor ihrem Hause. Auf dem Kopf den großen Florentiner mit schwarzem Sammetband, einen Rosenkranz um das Band gelegt.

Helene Jessen bekam starre Augen. Wieder etwas Neues. Wieder etwas, wie es hier in Schmalebek noch kein Mensch getragen! – Ja, wenn man eine reiche Hamburgerin war! – Wenn man einfach alles mit der Post kommen lassen konnte, was schön und teuer war! – Ihr Kopfputz machte ihr plötzlich gar keine Freude mehr.

»Sehen Sie den Hut, Madam Eggers? – Ja, ja, wer so kann! – Als wenn Rottmanns gar nicht an die Zukunft der Kinder zu denken brauchen.«

Man nahm sich vor Madam Eggers nicht in acht. Die ging aus und ein in allen Schmalebeker Häusern und war die lebendige Chronik. »Daß eine Frau, die vier Kinder hat, noch so putzsüchtig sein kann. Wem zu Gefallen? – Mein Mann hat gar keine Augen dafür, wenn ich mir etwas Neues machen lasse.«

»Ist immer so bei den Männern, Frau Pastorin. Eigene Frauen – lieber Gott! Wo mein Eggers, – ja – und war so'n guter Mann, – aber was ich auf'n Kopf hatte – nicht angesehen. Steckt aber doch so in vielen Frauen, daß sie sich – und müssen sich rausstaffieren. Ist nicht jede so wie Frau Pastorin, die jedes Band dreimal wäscht«, das konnte sie sich doch nicht versagen. Da aber Hanse nur die Dinge zweiter Garnitur bei ihr arbeiten ließ, und weil sie es mit der Frau Pastorin um keinen Preis verderben wollte, setzte sie hinzu: »Ich sag immer zu mein Fiete: Fiete, sag' ich, nimm dir da ein Beispiel an, wenn du mal – und wirst en Pastor. Daß du dir ne Frau nimmst, die sparsam ist und bescheiden. So was erfreut des Mannes Herz und ist eine Wohltat vor der Gemeinde.«

Helene Jessen verzog den Mund. Fiete Eggers als Bewunderer ihrer Tugenden – das war doch nicht ganz das Richtige. Sie hörte ihren Mann die Treppe herunterkommen. Feierlich im schwarzen Rock, aber sehr weltlich mit den frohen Augen. Einmal hinaus in das Land zu guten Freunden, – die Freuden des Lebens wurden ihm nicht zu dick gesäet.

»Sieh,« sagte er, »da hält ja der Wagen. Himmel, hat sich Hanse fein gemacht. Das ist wohl wieder ganz etwas Neues. – Willst du dir nun nicht den Mantel holen, Helene? Es wird staubig sein auf der Landstraße.«

»Ich fahre nicht mit.«

»Du fährst nicht –? Na aber – was heißt denn das plötzlich? Guten Tag, liebe Kusine. Denken Sie, eben sagt Helene –«

»Ach, das ist ja nur Spaß. Sie ist ja schon in Wichs. Komm, Lene, hilf mir in meinen Mantel, dann helf' ich dir auch in deinen. War der Regen heute nacht nicht herrlich? Aber stäuben wird es doch wohl wieder. Also, Lene, komm, mach', die andern Wagen sind ja schon fort.«

»Ihr könnt ja fahren, wenn ihr durchaus dabei sein müßt. Ich bleibe hier. Ich merke schon wieder, wie meine Migräne kommt. Da kann ich nicht unter Menschen.« Tiefes Seufzen, es war echt, sie bekam Atemnot, wenn sie sich ärgerte.

Hanse sah in ihre Züge und sah den verkniffenen Zug am Munde, den sie von Jugend an an ihr kannte. Wenn der zu sehen war, gab es keine Hilfe. »Ja, wenn du durchaus nicht willst. Dann müssen wir eben allein fahren. Aber es ist nicht recht von dir, daß du deinen Mann nicht begleiten willst.«

»Oh, mein Mann wird sich schon sehr gut allein amüsieren. Wenn er will, kann er ja hier bleiben.«

»Das kann er nicht. Krogs erwarten euch beide, Riekchen ist dort und rechnet auf euer Kommen, soll das Kind vielleicht zurückmüssen, weil du Launen hast?«

»Launen? Ich habe keine Launen. Du –« Rote Flecke kamen auf die Backen. »Du mußt immer alles nach dir beurteilen.«

Da begann Hanse zu lachen. »Jedenfalls ist meine Laune an solch' schönem Tag glänzend, und ich will sie mir nicht verderben lassen. Lieber Vetter, da Lene mir nicht hilft –« sie hielt ihm den leichten Mantel hin, »bitte.«

Ungeschickt, aber eifrig griff der Pastor zu. »Ist es so recht? Ja, ich habe wenig Übung. Helene läßt sich immer von Riekchen helfen. Der Ärmel – ach, wie ungeschickt ich bin. Aber so – ja?« Sie lachten beide, und es war eine verwickelte Geschichte, bis Hanse glücklich fertig war. Helene stand dabei mit zusammengekniffenen Lippen, sagte nichts, lachte nicht, und als ihr Mann auch noch der hübschen Kusine auf den Wagen half, funkelte es böse in ihren Augen.

»Leg' dich hin, wenn du eine Migräne fürchtest«, rief Jessen noch im Abfahren. »Ich komme auch nicht spät nach Hause.«

Da trabte der Gaul hin.

Die Pastorin sah sich nach Madam Eggers um. Nicht von der Stelle war die gewichen. Und wie die zwei Frauen Blick in Blick tauchten, sagte die kleine Putzmacherin: »Hätt' Herr Pastor nicht müssen. Ist nichts für Schmalebek, wo sie so ne hübsche Frau ist, – nee, und fährt allein mit Herrn Pastor da raus. Wo die andern Wagen all auf'n Eichtaler Damm sein müssen.«

Tränen standen plötzlich in den Augen der hysterischen Frau. »Meinen Sie, das ist das erste Mal, daß er bloß Augen für meine Kusine hat, Mutter Eggers? Die weiß, warum sie sich putzt. Die vergißt es nicht, daß ihr Mann sechzehn Jahre älter ist als sie. Ja, ja, es gibt viel heimliches Leid in der Welt.« Und wieder dachte sie nichts dabei, ihre aufgeregten Gedanken vor der kleinen Frau auszusprechen. Erst als sie im verdunkelten Zimmer lag, kölnisches Wasser an die Schläfen wischte, sich immer mehr hineinredete in einen unsinnigen Verdacht, erst da kam es ihr für einen Augenblick, wie unklug es gewesen, dergleichen laut zu sagen. Aber es war ja nur Mam Eggers. Mam Eggers, wie ganz Schmalebek rief, die in allen Häusern alles sah und hörte, aber nie – das mußte ihr ein Feind lassen – Klatsch herumtrug.

Nein, was vor der gesagt war, war so gut wie nicht gesagt.

* * *

Als die frohe Jugend an diesem Abend tanz-, lach- und tagesmüde durch weiche Dämmernacht heimfuhr, saß wieder Ilse neben Raben, und er sah sie einige Male still von der Seite an. Es war ihm so wenig entgangen wie allen anderen, daß der junge Baron leidenschaftlich verliebt war, daß auch sie seine Huldigung mit hellen Augen ansah, und er – der in der großen Stadt doch mehr vom politischen Leben der Zeit hörte als die Schmalebeker in ihrer Abgeschiedenheit –, er fragte sich: »Kann dies junge Geschöpf, aus einem so ausgeprägt holsteinischen Hause stammend, wirklich die Frau eines dänischen Landjunkers werden? Ist sie so seicht, die nahende Not nicht zu spüren, oder ist sie eine so große Seele, daß ihre Liebe über alles hinweggehen kann?« Und er wurde sich nicht klar, war aber geneigt, mehr an Seichtheit zu glauben, Seichtheit, gemildert durch jugendliche Schönheit und Liebenswürdigkeit.

Vorn sangen sie das Heidenröslein, und Ilse lächelte verstohlen. »Meine wilde Rose«, hatte Olaf Hammersmid gesagt, als sie durch den Park gingen und Begegnen spielten. »O meine süße wilde Rose«, und hatte abbrechen müssen, denn Georg Grützmann war ihnen mit Riekchen in den Weg getreten und hatte den schlanken Dänen gezwungen, die Damen zu tauschen. Zu niemands Zufriedenheit wie zu der eigenen. Und auch die hatte nicht lange gewährt, da Thomas Raben ihm seine vielbegehrte Dame sehr schnell abjagte. Aber in ihrem Ohr klang es immer noch: Meine süße wilde Rose. – Er hatte das Wort schon so manchesmal gesprochen, dänisch und deutsch, es tat immer seine Wirkung. Kleine Mädchen sind so leicht beglückt.

»Aber jetzt singen wir«, störte der Kantor ihren Gedankengang, und er stimmte an:

»Der Mond ist aufgegangen,
Die goldnen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar.
Der Wald steht schwarz und schweiget,
Und aus den Wiesen steiget
Der weiße Nebel wunderbar.«

Man war leicht geneigt zu sentimentaler Stimmung, und niemand von seinen Schutzbefohlenen, mochte er Stimme haben oder nicht, entzog sich der Singpflicht. Über alle hin aber ging voll und sieghaft Ilses herrlicher Alt.

Thomas Raben lauschte auf. Was war das? Hatte dies junge Ding vor zwei Tagen den »Wegweiser« gesungen? So gesungen, daß es ihn schauernd überlief? Und er hatte geglaubt, es müßte Hanse sein, denn nie hätte er in diesem fast kindhaften Mädchen solch Empfinden gesucht. Er hatte selber einen guten Bariton, und leise erst, langsam stärker einsetzend, ging seine Stimme neben der Nachbarin auf. Wie gut sie zusammen klangen. Als wären sie seit Jahren zusammen eingesungen. Der Kantor horchte, ließ den eigenen Baß sinken und freute sich an dem Zweiklang. Und wie er, so ließen einer nach dem andern der Mitfahrenden ihren Sang verklingen, bis nur die beiden auf der letzten Bank übrig blieben. Vers für Vers sangen sie, das ganze lange Lied. Die Wagen fuhren ganz langsam, die Kutscher lauschten auch. Nur Grillensingen war im Felde, sonst kein Ton, und es fuhr sich weich und süß durch die heimliche Nacht.

Riekchen hatte die Hand der Freundin in ihrer gehalten. Auch sie war in ihrer stillen Art glücklich an diesem Abend. Georg Grützmann ritt wieder an ihrer Seite, sagte bisweilen: Was war das ein netter Tag, oder: Na Riekchen, Sie sollen sehen, wir tanzen bald wieder zusammen in der Ressource, und sie war dankbar für die Brocken seiner Freundschaft.

So fuhren sie ein in die schlafende Stadt.

Kurz vor ihnen waren die alten Herrschaften eingetroffen, und als Doktor Rottmann vor dem Pastorat anhielt und seinen Vetter Jessen vom Wagen steigen ließ, sah Helene Jessen hinter der Gardine hervor und lauschte, was die da unten noch redeten.

»Gute Nacht, altes Haus,« das war Rottmann, »laß es dir gut bekommen.«

»Schlafen Sie schön, Kusine, träumen Sie gut.«

»Ich träume nie. Gruß an Helene. Wenn sie morgen ihre Migräne verschlafen hat, soll sie sich mal sehen lassen.«

Dann kam der Pastor in das Haus. Seine Frau war hastig wieder in ihr Bett gestiegen und tat, als wenn sie schliefe. Aber im stillen würgte sie an heimlichem Zorn. Solch einsamer Sonntagnachmittag ist kein guter Berater für eine hysterisch eifersüchtige Frau.

* * *

Pastor Rottmanns Mile kam zu Bäcker Böttcher die Morgensemmeln holen und traf eine Gesellschaft aufgeregter Weiber, die alle durcheinander redeten. Die Frau Bäckermeister mit heißem Kopf stand zwischen ihnen, war nah am Weinen und rief ihr entgegen: »Mile, sag' eins, hast Dreck im Brot gehabt, was von uns war?«

»Was's denn los?«

Etwas ganz Unerhörtes war geschehen. Am Morgen, als der Meister die Ladentür öffnete, hatte – unter der Tür durchgeschoben – ein Brief auf dem Boden gelegen. Ein zusammengeknifftes und mit einem Siegel versehenes Blatt. Das Siegel war mit einem Fingerhut festgedrückt. Adresse: Herrn Bäcker Böttcher.

Inhalt: Es soll sich keiner einbilden, arme Leute darf man betrügen. Auch ist Schmutz im Brot und Mehlwürmer sehr eklig.«

Weiter nichts.

Das war doch eine Gemeinheit. Ein anonymer Brief! Eine Beleidigung ohne Unterschrift. Und kein Mensch ahnte, wer das geschrieben haben konnte. Man sah, die Buchstaben waren verstellt. Ganz steil lagen sie. Fehler waren nur zwei oder drei, und die hatte der Bäcker selber nicht festgestellt, die erkannte erst Eitel Bostrup, der Zeichenlehrer, der in aller Frühe sich die ersten Brötchen holte.

Mile hielt sich nicht lange auf. Der alte Herr mochte nicht warten. Sie brachte die Geschichte mit heim, fand aber wenig Interesse dafür. »Solche dummen Briefe kommen immer einmal«, sagte Rottmann. »Hätte Böttcher sauberer gewirtschaftet, wäre ihm das Ding wohl nicht ins Haus geflogen.«

Um so interessierter war Madam Eggers, die vormittags in die Küche kam. »So'n Brief? Und die Böttcher hat geheult? – Nee, was alles einmal – und muß grad in Schmalebek passieren. Aber 'ne Drecksuse ist sie, das ist nu mal gewiß, Mile.«

Der gute Erfolg des Schreibens war, daß die Semmeln acht Tage lang auffallend groß waren, und daß drei Scheuerweiber die ganze Woche in Laden und Backstube, im Zimmer und auf der Treppe schrubbten und spülten. Dann vergaß man den Brief, und die Semmeln kehrten auf ihr Normalmaß zurück.

Aber als der nächste Montag da war, hielt Melanie Rosen, die schöne feine alte Dame, einen ähnlichen Wisch in der Hand, und sie sah ihn ganz entgeistert an. Das ihr!? –

Sie war am Sonntag nicht mitgefahren nach Eichtal, denn ihre kleine schiefe Schwester hatte ihre bösen Rückenschmerzen, und da ließ die schöne Melanie sie nicht allein. Das mußte der Schreiber erfahren haben. Ja, was erfuhr hier in Schmalebek nicht einer vom andern? In dem Schreiben stand: Wenn Mamsell Rosen mal nachdenken wollte, so sollte sie sich doch schämen, noch mit solchem alten Sünder verlobt zu sein, der lieber junge Mädchen ansieht als seine alte Braut. Weiße Haare schützen nicht vor Sünde und allerlei Torheit.«

»Lisette, verstehst du das?«

Lisette, mit den scharfen Augen und der scharfen Stimme, faßte den Zettel nur mit zwei Fingern, las ihn und sagte voll Verachtung: »So was gehört in den Herd. Wer Pech angreift, besudelt sich. Sag' niemand was davon.«

»Ich sage gewiß nichts«, antwortete das alte Fräulein verstört. »Aber wer kann das getan haben? Über Mampert so abscheulich zu reden. So gut, wie er ist.«

»Die Leute haben sich daran gestoßen, daß ihr zusammen gereist seid. Ich sagte es dir ja vorher. Aber du hörtest nicht darauf.«

»Lisette, wenn ich denke, er bekommt auch solche Briefe, – was soll er denken?«

Lisette zuckte die Achseln. Sie liebte die schöne Schwester von Kind auf abgöttisch. Sie hatte immer im Schatten gestanden, glücklich, wenn nur Melanie alles bekam, was das Leben Gutes gab. Sie stand nach dem Tode der Eltern dem großen Geschäft vor und verwaltete das Vermögen –, sie spielte seit vierzig Jahren den Elefanten, wenn der Kantor in das Haus kam –, aber eins vertrug sie nicht: Böse Nachrede. Die durfte an Leute wie die Rosens nicht heran. »Jedenfalls wirst du nicht mit ihm davon sprechen. Er könnte denken, wir glaubten solche Gemeinheiten. – Mampert! – Der anständigste Mann in ganz Schmalebek. – Denken wir nicht mehr daran.« Was natürlich nicht hinderte, daß beide Schwestern unausgesetzt daran dachten.

Als der Whistklub wieder seinen Sonnabend hatte, dieses Mal gerade bei den Rosens, traf Mampert am Tage vorher Madam Eggers, wie sie in ihrer wieselhaften Art durch die Straßen huschte. Er hielt sie an. »Wie gerufen, Mam Eggers. Morgen ist Whistklub bei Fräulein Rosens. Ob sie nicht ein bißchen helfen kommen?« Sein Blick flog über ihr fadenscheiniges Schultertuch. »Ich hab' so was munkeln hören von Lisettes dickem, grauem Umhang, der gern die Besitzerin wechseln möchte. Der Herbst ist ja nicht mehr allzuweit.«

»Umhang? Wieso Umhang? Meinen Sie, ich lass' mich mit alten Sachen bezahlen, wenn – und ich komm' und helf'? Das tu' ich rein aus Gutem, Herr Kantor. Und das hab' ich nicht nötig, wenn ich nicht will. Die Fräulein Rosens, die sind auch nicht mehr als unsereins, die Mutter war auch 'ne Lehrerstochter, und ich bin 'ne Lehrersfrau. Und wenn ich mal in die Häuser geh' und geb' 'ne Hand her zur Hilfe, das ist keine Pflicht, Herr Kantor. Und so 'ne Damen sind eigentlich gar keine Fräuleins, sind eigentlich man Mamsells. Das ist man 'ne neue Mode, jede Fräulein zu nennen, wenn sie auch en Geschäft hat. Und ich sag' ja man, Herr Kantor –«, da flogen Mamperts Rockschöße um die Straßenecke, und Madam Eggers konnte heimgehen und ihrem Zorn vor Fiete Luft machen.

Aber Fiete war ein undankbarer Zuhörer. »Was regst dich darüber auf? Wo du doch immer helfen gehst. Und läßt dir zustecken, was du mitkriegen kannst. Wurst und Fleisch und alte Sachen. Die alte Pastorshose hast du auch wieder von Rottmanns mitgebracht. Die Gören ärgern mich alle Tage, wenn ich sie anhab'. Viel zu weit ist sie mir.«

»Fiete! – Nein, aber Fiete! So'n Jung'! Und ärgert seine eigene Mutter! Wo ich es mir so blutsauer werden lass'. Und das ist ein großer Unterschied, wenn ich da von allein hingeh', oder wenn sie bitten, ich soll doch so gut sein. Und von Bezahlen ist nicht die Rede. Und nachher liegt da mal ein Paket, oder bei Rottmanns – ja, wo du dich so abstrapzierst, da kann man schon von alleine fordern. Das ist da kein Almosen, das ist ehrlich verdient, ob das 'ne Wurst ist oder 'ne Hose. Aber bestellen wie'n Dienstmädchen lasse ich mich nicht.«

»Kann keinen Unterschied sehen. Ob du dir nun Hauben bezahlen läßt oder wenn du abwäschst –«

»Du hast nicht den Sinn für's Höhere, Fiete. Der geht dir ab. Den muß dir mal deine Frau beibringen, deine alte Mutter ist dir woll zu gering dazu.«

»Frau?«

»Brauchst gar nicht über zu lachen. Was, ist en Pastor nicht einer, der anfragen kann, wo er will, und braucht sich nicht zu schämen? Und wenn die Frau aus der feinsten Familie ist! Und wenn sie noch so viel Geld hat! – Und wenn sie auch en paar Jahr älter ist –«

Da stockte sie. Aber Fiete hatte verstanden, scharlachrot war er, als er aufstand und sagte: »Nu muß ich noch arbeiten. Das Griechisch ist verdammt schwer.«

»Fiete, wie darf ein fluchen, der Pastor werden will.« Er hörte sie aber schon nicht mehr. Während sie über ihre Mützen und Kragen ging, brummelte sie vor sich hin. Dem Kantor vergab sie so bald nicht. Und daß er ausgerissen war vor ihrer Rede, das wog ebenso schwer wie seine Worte.

Aber zu Rosens ging sie den anderen Tag doch, und den Umhang, den sie bei ihrer Heimkehr von dort als sauberes Paket im Zimmer fand, den schickte sie auch nicht zurück.

* * *

Es war an einem Sonntagnachmittag, da kam der Kantor in das Rottmannsche Haus. »Ist der alte Herr zu sprechen?«

Aber der alte Herr war mit seiner Frau zum Friedhof vor der Stadt gegangen, und der Doktor war trotz des Sonntags über Land geholt worden. Nur Hanse saß hinter dem Haus im Garten und hatte ein Auge auf das Kleeblatt, das am Reck turnte. Da setzte er sich zu ihr, denn sie waren gute Freunde. Und nachdem sie die täglichen Ereignisse der kleinen Stadt mit Humor besprochen hatten, sagte der alte Herr: »Ich wollte meinen alten Vorgesetzten in einer Sache um Rat fragen, die mich tief berührt. Vielleicht fahre ich noch besser, ich frage eine kluge, junge Frau.«

Damit zog er einen Brief aus der Tasche, faltete ihn auseinander und legte ihn vor Hanse auf den Gartentisch. »Wollen Sie das bitte lesen.«

Sie las und sah ihn ganz verwirrt an. »Das haben Sie bekommen?«

»Das bekam ich. Vor zwei Tagen. Und habe seitdem immer bei mir erwogen, ob ich überhaupt nicht darauf reagieren sollte, oder was zu tun sei.«

Hanse sah zum zweitenmal auf die Zeilen, die in steifer, gerader Schrift lauteten: »Wenn Sie Anstand haben, heiraten Sie jetzt die ewige Braut. Sonst will der Whistklub Sie beide nicht mehr haben.«

»Das ist ja unerhört.«

»Es geht nicht nur um mich, liebe Frau Doktor, dann würde ich einfach drüber lachen. Es geht um Melanie, die mir der liebste, ja, wenn ich so sagen darf, der heiligste Mensch auf der Welt ist. Und darum bitte ich Sie von Herzen, sagen Sie mir ehrlich, hat man im Whistklub so scharf über unsere gemeinsame Reise geurteilt? Haben auch Sie irgendein – wie soll ich sagen – also etwas nicht ganz Erlaubtes darin gesehen?«

»Aber Herr Kantor! Wir haben doch vorher davon gesprochen und uns mit Ihnen und Fräulein Rosen über Ihren Plan gefreut. Und im Whistklub –« Da fiel ihr ein, daß dort sehr aufgeregt geredet worden war, gerade an jenem Abend, als die Mitglieder oben bei den Schwiegereltern zusammenkamen.

»Aha. Da ist also doch etwas gewesen.«

»Lieber Herr Kantor, Sie kennen ja die alten Herrschaften, und wie sie sich über alles aufregen. Wie froh sie sind, wenn sie etwas finden, worüber sie reden können. Ich war nicht viel oben, ich sah ja überall nach dem Rechten, hier unten bei uns war an dem Abend auch viel Besuch. Mein Mann sagte mir nachher, man hätte allerdings zum Teil, aber nur sehr zum Teil, den Kopf geschüttelt über diese Reise. Die alten Fräulein Schnäpels –«, eine fortstreichende Handbewegung Mamperts –, »ja, sehen Sie, die zählen nicht für Sie. Ebenso das alte Fräulein Moorwood, die Ahnfrau, wie mein Mann immer sagt –«

Sie dachte nach. »Aber meine Schwiegereltern und Krogs und Herr Nilius – ja, Jessens haben sicher auch nichts Schlimmes darin gesehen, im Gegenteil.«

»Sie glauben nicht, daß es jemand aus dem Whistklub gewesen ist –?«

»Aus dem – unmöglich. Nein, wie können Sie das nur denken.«

»Ja, aber warum dann dieser Wisch? Wen geht es etwas an? Sagen Sie mir – soll ich Melanie fragen, ob sie jetzt noch –«

»Tun Sie das nicht. Wozu jetzt um der Leute willen etwas tun, was Sie beide nicht als das Richtige einsehen. Denn wäre es das Rechte, hätten Sie es längst getan. Nur der Menschen wegen – nein, jetzt erst recht nicht.«

»Und wenn man auch ihr zu nahe tritt? Wenn sie vielleicht von mir erwartet, daß ich für sie eintrete?«

»Das tun Sie ja durch Ihr ganzes Leben.« Sie sann vor sich hin.

»Soll man so wenig Selbstsicherheit haben, daß anonyme Gemeinheit uns beeinflussen kann?«

»Sie haben recht, Frau Hanse. Ich dachte das gleiche, aber ich entschied ja nicht für mich allein. Ich danke Ihnen, daß Sie mich verstehen, und mein altes Herz ist wieder leicht. Ich wäre doch nicht wieder in den Whistklub gekommen, wenn man dort Melanie über die Achsel angesehen hätte.«

Ganz beruhigt ging er heim, und wie ein Gruß an die sonnige Doktorsfrau sandte sein Glockenspiel ihr an diesem Abend Goethes Nachtgruß in Schuberts Komposition:

Über allen Gipfeln ist Ruh!

Hanse verstand ihn. Sie hatte ihm wieder Ruhe gegeben. Von ganzem Herzen hoffte sie, die möchte bleiben.

Aber es währte nicht allzu lange, da gingen in der Stadt allerlei Reden um, daß es mit den »Vornehmen« auch nicht so weit her sei, wie sie täten. Schneider Max hatte einen Brief bekommen, er möge nur dafür sorgen, daß Apotheker Braun seine Rechnungen nicht zu lange stehen ließe, der hinge schon in Kiel und Hamburg. Und Steinmetzmeister Bahlke bekam ein Schreiben, in dem stand, Bürgermeisters Else hätte seinem Sohn, der doch noch nicht einmal Student sei, auf dem Ressourcekränzchen so schöne Augen gemacht –, der Vater hätte ihr dafür eins an die Ohren gegeben. Er möchte seinen Sohn nur auch an die Stange nehmen. Aber das schlimmste war, wie plötzlich über Rottmanns geredet wurde. Daß die Ilse ein ganz schamlos kokettes Mädchen sei, und die Frau Doktor putze sich auch noch für fremde Männer. Dabei fiel ein Seitenhieb auf den Hamburger Herrn, der alle paar Wochen in der Stadt war und im Rottmannschen Hause ganz ungeniert aus und ein ging.

All diese Briefe kamen an kleine Geschäftsleute, an Handwerker, an einzelne alte Damen, die nicht ganz zu den oberen Dreißig gehörten. So kam es, daß man im Rottmannschen Hause nichts von dem allen ahnte, als schon die ganze Stadt voll war davon.

Endlich erfuhr es Mile. Sie hörte es bei Bäcker Böttcher im Laden und rannte im ersten Zorn zu ihrer Kusine. Madam Eggers saß wie meist am Nähtisch und machte Putz. Sie flog zusammen, als die dicke Mile wie eine Kanonenkugel in das Zimmer brach. »Mile! Willst du das Haus einreißen!«

»Und du hast es ganz gewiß längst gewußt. Und red'st nichts davon. Meine Herrschaft! Mit der sollen sie so umgehen! Unsere junge Frau! Und die Ilse! So eine gibt es nicht wieder in Schmalebek – Was bist nicht längst gekommen und sagst: Mile, so und so –«

Madam Eggers kniff die Lippen zusammen. »Hätt'st mich gefragt – aber so. Ich verbrenn mir auch nicht gern den Mund. Und es wird schon was dran sein. Die Ilse hat ja alle Tag en andern an der Strippe. Erst den Grützmann und denn den Danske, und nu den Hamburger –, sollst mal sehen, mit der bleiben Rottmanns noch mal sitzen.« In Gedanken fügte sie hinzu: Wenn mein Fiete sich nicht noch mal erbarmt.

»Och du«, höhnte die dicke Köchin. »Unsere Ilse! Gibt's ja gar nicht. Die und sitzenbleiben – Du hast dir auch schon den Kopf dick reden lassen. – Ich weiß aber, was ich tu'. Ich geh' gleich und sag' es dem alten Herrn, der redet mit Pastor Jessen, der soll es all den dämlichen Schmalebekern ordentlich geben. Auf der Kanzel. Daß es sich gewaschen hat.« Sie drehte kurz um, warf die Tür hinter sich zu und trampste über den Markt davon.

Eine Viertelstunde später wußte das ganze Doktorhaus, was sich die Stadt erzählte.

»Siehst du,« sagte Rottmann und sah seine Hanse sehr ernsthaft an, »ich hab' es immer gewußt. Das kommt davon, wenn solche junge Frau solchen alten Mann nimmt. Der wird ihr langweilig, und dann wirft sie ihre Netze nach amüsanteren Fischen aus.«

»Ich hab' das bisher nicht gewußt«, antwortete sie ebenso ernsthaft. »Aber da du es mir so vorstellst –, die Sache hat entschieden etwas für sich. Sehen wir uns nach Männern um, bei denen das Fischen lohnt.« Doch dann, den Kopf an seine Schulter legend: »Ach, Detlev, uns reden sie nicht auseinander, höchstens fester zusammen, aber Ilse – Das darf nicht an sie heran. Der müssen wir die häßlichen Reden ersparen. Damit kann viel Unheil gesät werden.«

»Mile können wir den Mund verbieten, und die Eltern sagen es ihr nicht. Aber ob es nicht doch an sie herankommt –«

Es war schon an sie herangekommen, denn als sie in das Pastorat kam an diesem Morgen und wie gewöhnlich bei solchen Gelegenheiten gleich in Riekchens Zimmer gehen wollte, trat ihr die Pastorin auf dem Flur entgegen. »Du kommst mir wie gerufen, Ilse. Bitte, komm doch in das Eßzimmer.« – Und drinnen: »Du weißt vielleicht nicht, wie die Stadt in Aufregung ist, liebes Kind, durch die anonymen Briefe, die mit einemmal überall auftauchen. Ich halte es für meine Pflicht, dir das zu sagen. Gerade wir, die auf Plätzen stehen, wo jedermann uns und unser Tun sieht, wir sollten sehr vorsichtig sein und alles vermeiden, was den Leuten zu häßlicher Auslegung dienen kann.«

Sie machte eine kleine Kunstpause, Ilse sah sie erstaunt an. Ihr Gewissen den Schmalebekern gegenüber war kristallrein.

»Du scheinst mich nicht zu verstehen?«

»Nein, Tante Helene, tatsächlich nicht.«

»Man knüpft allerlei Bemerkungen an deinen Namen, liebes Kind.«

»An meinen – Ja, was in aller Welt habe ich denn verbrochen?«

»Von ›verbrochen haben‹ rede ich nicht. So schlimm wird es ja nicht gleich sein. Aber sehr unvorsichtig bist du. Deine Art, mit den jungen Herren umzugehen – Ich denke immer, deine Mutter müßte dich einmal darauf aufmerksam machen, wie wenig angebracht sie ist. Aber Hanse ist selber noch zu jung und zu lebenslustig –« ein bitterer Zug um den Mund –, sie verstummte.

Ilse sah sie ernsthaft an. »Ist das alles, Tante Helene? Ich weiß nicht, daß ich kokett bin, ich bin es gewiß nicht mit Absicht. Aber wenn es dich beruhigt,« da konnte sie sich doch nicht eine kleine Rache versagen, »so will ich künftig kein Wort mehr mit Georg Grützmann reden. Nicht einmal mit seinem Onkel, Herrn Nilius.«

Helene Jessen bekam ihre roten Flecke im Gesicht. »Ich hab' es gut gemeint mit dir, deshalb brauchst du nicht unverschämt zu werden. Dein Benehmen gegen mich ist unverschämt –, jawohl –« ihre Stimme wurde scharf. »Und ich werde mit deinen Eltern reden und mir das verbitten.«

»Ich habe dich nicht beleidigen wollen, Tante Helene. Das weißt du ja auch. Entschuldige, wenn es dir so vorkam. – Kann ich jetzt zu Riekchen gehen?«

Am liebsten hätte die aufgeregte Frau gesagt: »Du brauchst überhaupt nicht zu meiner Tochter zu gehen«, aber das schluckte sie doch lieber hinunter. »Geh zu ihr. Du brauchst nicht mit ihr über diese Sache zu sprechen.«

Ilse sprach aber sofort über diese Sache. Und erfuhr, daß Riekchen längst darum wußte. »Wie konnt' ich dir das sagen, meine Ilse. Ich weiß doch, wie erlogen das alles ist. Kümmere dich nicht drum, was Mutter sagt, sie redet sich immer in Dinge hinein, die gar nicht sind. Ach nein, du bist nicht kokett. Es ist nur zu begreiflich, daß sie dich alle gleich so gerne mögen. – Ilse, wenn du doch bald Braut wärest. Er kommt sicher bald zu deinen Eltern, glaubst du nicht?«

»Wer kommt?« fragte Ilse und tat ganz harmlos.

»Du weißt es schon. Und wenn du erst Frau Baronin bist – wirst du mich auch noch ansehen?«

»Für die Frage verdienst du einen Strafkuß, Riekchen. Du bist mir immer die beste und liebste Freundin gewesen, wie kannst du auch nur im Scherz so reden. Aber bis dahin – ich glaube, er hat schon vielen Mädchen schöne Augen gemacht und schöne Worte gesagt. Sie sind so drüben hinter der Königsau. Die Franzosen des Nordens, sagte Onkel Dithmer in Kiel.«

»Mit dir spielt er ganz gewiß nicht, Ilse. Darum ist mir gar nicht bange. Nur wie das für dich wird, wenn du da in Dänemark lebst, und sie hassen doch uns Schleswig-Holsteiner.«

»Seine Mutter ist doch auch Schleswigerin. Das hat doch immer herüber und hinüber geheiratet. Darum mach' ich mir gar keine Gedanken.«

»Aber gestern hat Vater einen Brief aus Altona bekommen von Propst Lilie. Der kommt diesen Winter wieder zur Visitation. Der schrieb, man sehe die Sache in Altona sehr ernst an. König Kristian ist elender, als man erfährt. Er kann das Zimmer nicht mehr verlassen. Und was man sich von seinem Sohn zu versehen hätte, das wäre nicht gut für die Herzogtümer.«

»Es ist schon seit zwanzig Jahren so«, sagte die sorglose Ilse. »Seit ich denken kann, ist immer davon die Rede gewesen.«

»Jetzt wird es Ernst.« Riekchen war viel überlegsamer, und ihre Gedanken gingen bei allen Dingen auf den Grund. »Kannst du dir vorstellen, daß Krieg zwischen Dänemark und den Herzogtümern wird, und du lebst da drüben, und hier gehen die Freunde und Verwandten gegen euch? Ich würde verrückt, wenn ich das erleben müßte.«

Ilse wurde blaß. »Ich weiß nicht – so hab' ich mir das nicht vorgestellt. Ich dachte immer – sieh mal, die Studenten da in Kiel, die redeten ja auch viel. Doch Hammersmid sagte, das hätte keine Not. Studenten rasselten gerne mal mit dem Säbel, den sie nicht hätten. Schleswig-Holstein hätte ja gar keine Soldaten und keine Waffen, und Dänemark dächte nicht an irgend etwas Gewaltsames. Und – Riekchen, das kann doch nicht kommen.«

»Es wird schon kommen. – Wenn du ihn aber so über alles lieb hast, wie eine Frau das soll, daß du sagst: Dein Land ist mein Land, und dein Gott ist mein Gott –«

»Sei still. Bitte, sei still.«

Eine ganze Weile sprach keine von ihnen. Dann fragte Ilse leise: »Könntest du jemand so lieb haben?«

Keine Antwort.

»Riekchen –, sag' doch – mir kannst du es sagen –, könntest du – zum Beispiel Georg Grützmann – Ja? – Das könntest du? Alles um ihn verlassen, Eltern und Heimat und –«

Wieder Schweigen.

»Ja, gehen mit ihm, das könnte ich auch. Das glaub' ich schon. Aber eine Dänin werden –« Sie riß sich zusammen. »Er ist ja noch nicht gekommen. Ich muß noch nicht ja oder nein sagen. Es wird sich alles schon historisch entwickeln, wie Vater sagt.« Aber während sie lachte, waren ihre Augen ernst. »Komm, meine Alte, wir wollen hinausgehen in den Garten, zwischen den Bäumen wird mir leichter werden.« Und wie sie die stillen Steige hingingen, über die von allen Seiten die Rosenbüsche ihre blütenschweren Zweige hingen, legte sie den Arm um die Kusine. »Das wußte ich nicht, daß du ihn so tief im Herzen hättest, Liebe.«

»Red' nicht davon. Es hat keinen Sinn. Er fragt nichts nach mir. Er wird nie nach mir fragen.«

»Dann verdiente er Prügel. Jawohl. Du bist so gut, so treu, so warmherzig, so selbstlos –, suchen soll er, bis er ein zweites Riekchen Jessen findet.«

Aber Riekchen lächelte nur traurig. So jung sie war, die Erfahrung hatte sie doch gemacht, daß den Männern die hübsche Außenseite viel mehr bedeutet als ein schönes Innenleben.

* * *

Der Herbst kam in das Land. Der Wind blies über die Stoppeln. Die Schmalebeker Jungen liefen über die Felder und ließen Drachen steigen. Die Doktorsgören hatten einen großen Zeugdrachen, aus rotem Glanzkattun, in der Mitte die Hamburger weißen Türme tragend. Solch herrliches Untier hatte Schmalebek noch nicht gesehen. Thomas Raben hatte ihn bei seinem letzten Besuch mitgebracht, auf dringenden Wunsch von Änne und Gitta, die gerade so sehr die Herbstfreuden der Jungens mitmachten, wie sie bei allen Streichen dabei waren. Sie waren ihm zum Dank um den Hals gefallen, eine Kundgebung, die ihm sehr neu war, die er aber mit guter Haltung über sich ergehen ließ. Am Sonnabend nachmittag zogen sie mit Fiete hinaus, ihn aufzufieren.

Der Wind ging kräftig. Am blaßblauen Himmel waren lange Federwolken, ein Zeichen, daß er noch auffrischen würde. Der große Drachen begann gewaltig zu ziehen, und Änne, die ihn allein am Tau hatte, schrie gellend, als ihr die Schnur in den Fingern riß und die Beine so merkwürdig leicht wurden über der Erde. »Gitta, Gitta, fass' mit an, ich kann ihn nicht halten.« Doch auch zu zweien konnten sie das Untier nicht bändigen, und Hans, der zur Hilfe kommen wollte, verwickelte sich in das nachschleppende, noch nicht aufgefierte Bott und schoß kopfüber auf den Sturzacker, ein wildes Gebrüll ausstoßend.

»Fiete! Fiete!«

Fiete hatte sich verschlafen und gedankenlos abseits gehalten, im Innern sehr verdrossen, daß ihm Hanse die drei auf die Seele gebunden hatte. »Als wenn man ein Kindermädchen ist.« Langsam, mit schlaksigen Schritten, kam er heran. Da riß bei Hansens Gestrampel das Tauwerk, Änne fühlte, wie es ihr durch die Finger glitt, stieß einen letzten Schrei aus, und kopfüber, vom Halt befreit, schoß der Vogel der Lüfte irgendwo in die Tiefe.

Auf allen Äckern, wo die Bengels mit ihren Papierdrachen neidvoll die Sache beobachtet hatten, begann ein gewaltiges Rennen, denn jeder wollte die Beute bergen.

»Renn' doch, Fiete, renn' doch, Fiete,« riefen die drei Geschwister, »du hast doch die längsten Beine«, und sie schossen selber davon wie die Hasen.

Ebenda kamen Hanse, Ilse und Raben von der Straße heran, sich die Sache anzusehen. Als Fiete, der nicht die geringste Neigung hatte, hinterher zu sausen, sie sah, hielt er es doch für besser, nachzulaufen. Aber schon flog es an ihm vorüber, lichtrot, mit dunklen, wehenden Locken, rief ihn an: »Schlappschwanz« und tauchte in einer Ackerfurche unter. »Ich hab' ihn, ich hab' ihn.«

»Himmel, kann deine Tochter laufen. Wie der Wind.«

»Ja, sie ist in allen Dingen so behende. Nicht so schwerfällig wie ihre Mutter.«

» Fishing for compliments, Hanse?«

»Nicht nötig zwischen uns, Thomas. Nein, so leicht und graziös war ich nie. Auch Eveline, Ilses Mutter, nicht. Sie hat es von ihrer Großmama. Die ist noch die Frau Marquise aus einem Watteaugemälde. Wenn sie im goldenen Kranz zur Kirche gehen wird, du sollst sehen, da wird sie all uns Junge ausstechen.«

»Wann ist die goldene Hochzeit?«

»Am zweiundzwanzigsten Januar. Gerade noch vier Monate. Wirst du dazu kommen?«

»Wenn ich es ermöglichen kann, gewiß. Schmalebek fängt an, mir etwas wie eine zweite Heimat zu werden. Der Ruhehafen, wenn Hamburg mich zu sehr hetzt.«

»Wie gehetzt siehst du nicht aus.«

Sie sah ihn von der Seite an und dachte, was sie schon manches Mal in den letzten Monaten gedacht: »Er hat ein Gesicht wie der ewig junge Dichter deutscher Freiheit, wie Theodor Körner.« So dunkel lockte sich ihm das Haar in die Stirn, so gerade geschnitten waren die Züge, und an den Wangen zeichneten sich die kleinen, dunklen Bartstreifen, das schmale Oval des Kopfes noch betonend. Als er das erste Mal von Hamburg gekommen, war sein Gesicht mit Stubenfarbe gezeichnet, wie es alle die haben, die in den Büros und Kontoren ihr Leben hinbringen. Doch bei jedem Besuch in Schmalebek mit den vielen Fahrten auf Güter und Dörfer war die blasse Farbe mehr einem gesunden Bronzeton gewichen. Jetzt sah er so gesund aus, so jung und frisch, wie nur ein Mann von vierunddreißig aussehen konnte, der seine Nerven und Muskeln nicht in Faulheit erschlafft und nicht in Üppigkeit verschwendet hatte.

Es war einmal Gefahr gewesen, daß dies eintreten könnte. Hatte ihm das Schicksal mit dem Unglück seiner Jugend zugleich den Erfolg und die Tüchtigkeit der Mannesjahre geschenkt?

»Was denkst du?« fragte Raben.

Und als sie es ihm gesagt, nickte er. »Wie immer bist du die kluge Hanse. Ja, damals, als Vater fallierte, war ich ein unreifer Junge. Verwöhnt, verzärtelt, immer überzeugt, mir müßte überall eine Extrawurst gebraten werden. Es hat mich hart gerüttelt. Daß ich dich so leicht aufgab damals, Hanse – es geschah in der ersten Verwirrung. Und nachher, als ich einsah, was ich mit dir verloren hatte, da warst du mir wirklich verloren.«

»Es ist besser gewesen so«, sagte die blonde Frau. »Ich wäre zu alt gewesen für dich. Lache nicht, wenn ich auch an Jahren nicht älter war, wir Mädchen sind gerade in den Jahren den Männern voraus. Wir wissen schon, wie unser Leben gehen wird, immer in den gleichen Geleisen, und wir sind darauf erzogen, daß wir ganz damit zufrieden sind. Aber ihr jungen Männer, ihr wollt erst die Kräfte am Leben wetzen und erproben. Für euch ist es noch nichts, euch an den Ofen zu setzen und Hausvater zu spielen. Ich brauchte schon damals, meiner Natur nach, eine feste Tätigkeit, du brauchtest noch die weite Welt. So wie es gekommen, wollen wir es gut heißen, dann sind wir Herren unseres Lebens, nicht seine Knechte.«

»Die kluge Hanse! – Wir nannten dich immer so. – Es ist gut, daß ich hierher gekommen bin. Alles, was Anfang hatte im Leben, soll auch seinen Schluß haben. Nicht ein Ende, versteh' mich recht. Der Schluß unserer Jugendzeit ist nur der Anfang einer echten Freundschaft. Oder denkst du anders?«

»Nein, ich denke wie du. Und wünsche dir von Herzen einen neuen Anfang und einen besseren Schluß dazu.«

Thomas Raben sah über das Feld, wo Ilse in ihrem rosenroten Kleidchen wie eine große Mohnblüte zwischen den Geschwistern und ihrem ungelenken Mentor stand. »Ja, ein neuer Anfang – Und wenn der schon seinen Schluß gefunden hat, eh' er noch recht begonnen?«

»Thomas? Ach, Thomas! –« Er sah ein Erschrecken in ihren Augen.

»Bin ich nicht gut genug für deinen Liebling? – Sei unbesorgt, zu einer verliebten Torheit bin ich denn doch nicht mehr jung genug. Wenn man weiß, da ist schon ein anderer, dann macht man ganz still die Tür zum Festsaal zu, durch die man eben nur ein bißchen hineingespäht hat.«

»Ich wüßte keinen, dem ich unser Kind lieber gäbe als dir.«

»Das ist freundlich gesagt, aber es kann mir nicht viel helfen. Auch wenn der Danske nicht wäre, der außer seiner Jugend auch noch seine Munterkeit und den Baron in die Wagschale werfen kann, wäre ich wohl nicht der Mann, diese Libelle zu fangen. – Laß dir bitte nie etwas merken, auch nicht gegen deinen Mann. Da kommen sie. Hanse, lach' doch. Du kannst doch sonst lachen, wenn deine Kinder kommen.«

»Du, Onkel Thomas,« schrien die Kinder, »lauf du eins mit dem Drachen. Ilse sagt, du hast die längsten Beine. Und Ilse will ihn werfen. Mach', Onkel Thomas.«

Ilse drückte ihm bereits den Bindfaden in die Hand und stellte sich mit dem roten Luftkobold bereit, was blieb ihm übrig, als querfeldein zu galoppieren, bis jauchzend das Kindergeschrei kündete, daß der Drachen stieg? Nun ließ er, immer tapfer weiter laufend, mehr und mehr von dem Bott ablaufen und dachte dabei: »Sie läßt mich schon an ihrem Seil laufen, als müßte das so sein. Aber wenn es der Baron wäre, liefe sie am Ende neben ihm.« – –

Gegen Abend gingen Mutter und Tochter noch zusammen die Lindenallee auf und ab und horchten nach dem Rollen aus, das den nahenden Doktorwagen kündete. Da fragte Ilse: »Sag' mal, Hansemutter, du kennst doch Thomas Raben von Kind auf. Er sieht doch immer noch sehr gut aus –, ja wirklich, für seine Jahre sehr gut.« (Armer Thomas, dachte Hanse.) »War er dir nicht gefährlich damals?«

Und kurz entschlossen sagte Hanse: »Wir waren ein halbes Jahr lang verlobt.«

»Ach!«

»Die Rabens waren von den ganz großen Hamburgern. Wir reichten trotz unseres Vermögens nicht entfernt an sie heran. Da verkrachte das Haus. Sie hatten zu großen Kredit im Ausland gegeben, das riß sie mit. Schiffsverluste –, schlechte Ernten – sie waren in der Hauptsache Kornhändler –, man sagte auch, der alte Raben sei kein vorsichtiger Kaufmann gewesen – es kam eins zum andern. Ein furchtbares Aufsehen gab es in der Stadt, als das bekannt wurde. Ein Bankerott – die Schande war schlimmer als jeder Verlust. Der Vater hat die Sache nicht lange überlebt, kaum zwei Jahre. Unsere Verlobung löste sich von selber, Thomas ließ sich nicht mehr sehen und antwortete auf keinen Brief. Da sie noch nicht bekanntgemacht war – er sollte erst ausstudieren –, brauchten sich die Menschen wenigstens darüber nicht aufzuregen. – Er ging fort aus Hamburg und kam erst zurück, als er alle juristischen Examina hinter sich hatte. Da war ich schon zwei Jahre hier in Schmalebek.« – Sie zögerte eine Weile, eh' sie wieder anfing. »Es ist wohl besser so gewesen. Damals schon hatte ich das Gefühl, daß wir nicht zusammenstimmten, wie zwei Menschen, die das ganze Leben miteinander gehen wollen, es müssen. Ich war der antreibende, der tragende, der handelnde Teil. Er ließ sich treiben und vom Leben verwöhnen. Liebenswürdig, leichtlebig, leicht aufbrausend –«

»Aufbrausend? Thomas Raben?«

»Ihn hat das Leben erzogen. Und doch, wer ihn so kennt wie ich, der sieht noch bisweilen den roten Funken in seinen Augen, wenn er innerlich erregt ist. Aber er hat sich in der Hand. Ein ganzer Mann ist er geworden. Einer, der jetzt das volle Recht hat auf ein volles Glück.«

»Ich finde ihn ja sehr nett, aber ich hielt ihn doch für solchen Hamburger Pedanten. Immer so ein bißchen über den Menschen stehend. Immer so mit Staatsanwaltsaugen die Menschen betrachtend. Na, er wird nichts nach meiner Meinung fragen. Solche Eintagsfliegen wie unsereins sind nichts für diese Herren.«

Als sie aber auf ihrem Zimmer beim Zubettgehen noch einmal an Hanses Worte dachte, kam ihr doch ein ganz leichtfertiges Gelüste, den eleganten Hamburger mit dem geraden, unbewegten Profil einmal ordentlich in Zorn und Hitze zu sehen. Man steigt in der eigenen Achtung, wenn so ehrenwerte Leute sich ein bißchen vermenschlichen. Daß Hanse diese Jugendliebe so ganz ausgeschaltet hatte! Der Vater war doch immerhin kein junger Mann mehr, die Praxis nahm ihn sehr in Anspruch, was hatte eine junge Frau von ihm? – Sie hörte den Wagen kommen, endlich. Ging auf den oberen Flur, der ein Fenster nach der Straße hatte, und sah hinaus. Der Kutscher fuhr eben mit dem Fuhrwerk um die Ecke in den Stall, der Vater rief ihm noch ein Wort nach. Dann wandte er sich Hanse zu, die aus der Tür getreten war, legte den Arm um sie, und so gingen sie in das Haus. Ahnungslos, daß die große Tochter oben an der Treppe stand, sagte er drinnen: »Ein endloser Tag war das heute. Wie hast du es denn so lange ohne mich ertragen, Schatzliebste?«

»Das will ich dir lieber nicht sagen. Es ist gegen mein Prinzip, einen Mann eitel zu machen. – Ach, mein Mann, mein lieber Mann, hast du es denn nicht gefühlt, daß ich immer neben dir auf dem Wagen saß die ganzen langen Stunden? Du mußt mich öfter mitnehmen, man soll keine Stunde mehr als nötig getrennt sein.«

Leise glitt Ilse in ihr Zimmer zurück. Mehr als die Worte hatte deren Klang gesprochen.

Elf Jahre waren die Eltern verheiratet –, fünfzig wurde der Vater im nächsten Jahr –, sprachen sie nicht zusammen wie Menschen, die ein ganz junges Glück zu hüten hatten?

Wenn sie selber einmal –

Sie versuchte sich Olaf Hammersmid vorzustellen als reifen Mann – das wollte durchaus nicht gelingen. Den konnte man sich nicht anders denken wie so als halben Jungen, übermütig, leichtherzig, ritterlich, amüsant. – Ja, aber wenn man doch das ganze Leben miteinander gehen wollte –

Wollte sie es denn? – Ganz ernsthaft? – Mit ihm gehen in guten und bösen Tagen und sprechen: Dein Volk ist mein Volk, dein Gott ist mein Gott, wo du bleibst, da bleibe ich auch – –

Immer dachte man doch nur an das Verloben. Oder andere nicht? Aber Ilse glaubte, daß sie es täten, sie hatte – wo sie eine junge Liebe gesehen – immer so empfunden –, ja, und an die Ehe dachte man so wenig. Die Mütter sagten: Das findet sich schon alles, wenn ihr erst verheiratet seid, und sorgten für Leinen und Kleider und Möbel –, ob die zwei sich nachher wirklich ineinander fanden, darum sorgten sie wenig.

Mit einemmal hatte das Leben, das immer so hell und heiter gewesen, einen ganz dunklen Schatten. Pfui, jag' ihn fort. Will er nicht weichen? Du wirst doch Herr werden über einen Schatten? Ach, Schatten sind viel schwerer zu fassen als wirkliche Dinge. Ilse schlief ein und vergaß im gesunden Jugendschlaf Schatten und Zukunftssorgen, wußte nur am Morgen, daß sie etwas geträumt hatte von Olaf, der so unbändig lachte, während sie weinen mußte, und von Thomas Raben, der wilde Augen dazu machte. Einen Zusammenhang konnte sie nicht mehr finden.

* * *

Herbststürme jagten über das Land. Den ganzen Tag schob der Nordwest die dicken, grauschwarzen Wolkenballen heran über die See, hinüber über den Deich, hinein in das Land. Die letzte Heuernte war kaum geborgen, die großen Ochsenherden nach Hamburg südwärts getrieben worden, da brach er heran über das Meer. Kam aus den unendlichen Wogengründen des Atlantik, hatte sich droben an den schottischen Inseln vollgesogen mit Nebel und eisiger Kälte, war ganz erfüllt von Menschenhaß und Vernichtungswillen und faßte mit seinen harten, kalten Händen hinein in die Städte, riß an den Dächern, stieß gegen die Mauern, brüllte Wutgesänge an allen Türen und Fenstern. Man kannte den groben Gesellen an der Küste.

Alle Fenster waren mit Wattestreifen versichert, dem Zugwind zu wehren. Alle Dächer waren über Sommer geflickt, und die frischen, roten Ziegelecken leuchteten lustig zwischen den bemoosten Flächen auf. Alle Fischerboote lagen in den Prielen, schaukelten gemächlich, ließen sich aber auf gar keine Fluchtpläne der reißenden Wasser ein. Pfähle und Ketten waren von guter Arbeit.

Die Menschen redeten vom Dreschen, vom Obstdörren, vom Schweineschlachten. Man brachte die erste Stoppelgans auf den Tisch, und Frau Pastor Rottmann buk den ersten Apfelkuchen. Kann man irgendwo solchen Apfelkuchen backen wie in den Herzogtümern? Immer eine Schicht leicht mit Butter angeschmorter Apfel und eine Schicht gestoßenen Zwieback, und jedesmal auf die Zwiebackschichten viel Zucker und lauter Butterflöckchen und viel, recht viel herrliches, dunkelrotes Johannisbeergelee. – Und zu oberst noch einmal Zucker gestreut und Butter gelegt, und dann gebacken, daß alles zu einem herrlichen Etwas zusammenschmort. Kalt oder warm gegessen, er schmeckt immer wunderbar. Aber billig ist er nicht, besonders dann nicht, wenn man die guten Gravensteiner hineinbäckt, statt sie nach Hamburg zu verkaufen. Rottmanns hatten ein Dutzend der echten Gravensteinerbäume, die nirgend so gut gedeihen wie nahe der Küste, denn sie wollen Seeluft, um ihre Art zu haben, aber mochten die Kronen zentnerweise ihre Last tragen –, verkauft wurde nicht ein Apfel.

»Wenn man es so gar nicht nötig hat«, sagte Helene Jessen, die nur einen kleinen Bort voll von solchen guten Dingen behielt und alles andere dem Händler auslieferte. »Eh' sie mir verfaulen, nehme ich lieber das bare Geld. – Aber Siggelkow bezahlt jedes Jahr schlechter.«

Immerhin, als sie die Herbsteinnahme zählte, reichte es zu zwei Dutzend Handtüchern für Riekchens Aussteuer. – »Sie wird ja nie heiraten. Sie ist ja so merkwürdig Männern gegenüber –, aber immerhin, eine Mutter muß vorsorgen.«

Bei Rottmanns liefen die Gören alle Tage mit Taschen voll Äpfeln. Man wußte nicht, wie Hans es machte, daß er nicht platzte, denn er kaute den ganzen Tag. Sie trugen aber auch in alle bekannten Häuser, und eines Nachmittags erschienen sie mit ihrem kleinen Handwagen und luden drüben bei Madam Eggers ab.

»Nicht, daß – und lass' mir was schenken«, sagte Madam Eggers zu ihrem Hauswirt. »Nein, verdien' ich alles ab. Mit Frau Pastorin ihren Hauben. Und näh' nu noch Taschentücher für die Kinder. Schenken lass' ich mir nichts. Das kann ich nie vergessen, daß Eggers immer sagte: ›Vornehm aussehen kann nicht jedwerein, Angeline. Aber vornehm denken kann jeden.‹ Ob das 'ne alte Hose ist oder en Wagen Äpfel –, mein Fiete und ich, wir bezahlen alles.« Mit selbstzufriedenem Gesicht barg sie einen Korb nach dem anderen in ihrem Keller.

»So, nu fahrt auch ordentlich zurück und werft Hans nicht wieder um, wie ihr das immer macht. I gitt, Gitta, wie sieht dein Taschentuch all wieder aus. Wischt dir woll die Schuh' mit ab, nicht? Näh' ich sie dazu? Alle mit en Hohlsaum? Euer Mutter sollt' sie euch annähen in'n Taschen. Ihr verliert sie doch man überall.«

»Ich brauch' gar keins«, sagte Hans. »Ich kann's mit den Fingern.«

»Na aber, daß du – und schämst dich gar nicht, großen Jung'. So was hat mein Fiete nie getan. Der hat all als kleinen Jung immer gewußt, was ein zu tun hat. Nu geht man. Und ich komm' noch rüber und bedank' mich und bring' Großmutter die neue Haube. Und Änne ihre Schulmütze bringe ich auch.«

»Ist die wieder so groß und dick?« fragte Änne mißtrauisch. »Letzten Winter haben sie alle über mich gelacht.«

»Da laß die dummen Gören man lachen. Das war 'ne schöne Mütze, die ich gemacht hab'. Könnt' sich 'ne Prinzessin in sehen lassen.«

»Hast all mal 'ne Prinzessin gesehen, Mam Eggers?« fragte Gitta.

»Dumme Deern.« Sie warf die Haustür zu, die Kinder setzten Hans in den Wagen, die Schwestern ergriffen die Deichsel. Thomas Raben, der seit zwei Tagen wieder in der Post wohnte, rief sie aus dem Fenster an. »Wollt ihr einen Dreiling verdienen?«

Wann wollten sie keinen Dreiling haben!

»Hier ist ein Brief, nehmt ihn mit.« Der Brief war an den alten Herrn und enthielt nur die Mitteilung, daß Herr Raben zu seinem großen Bedauern eilig zum Sechsjahrskoog hinaus müßte, da sei eine Landverhandlung. Daß er also erst abends gegen neun kommen und am Whist teilnehmen könnte.

»Süh,« sagte Mutter Eggers drinnen zu Fiete, »was der nu schon – und gibt den Kindern seine Briefchen mit. Aber die schöne Ilse hat es nu mal mit dem Danske. Auf der Ressource hat er drei Tänze mit ihr getanzt. Nehmen tut er sie doch nicht, mein Fiete, denn hätt' er längst Ernst gemacht. Und Georg Grützmann, der kommt auch man selten jetzt – na, die kann noch lange warten. Muß am Ende noch warten, bis einer kommt, an den sie jetzt noch lang' nicht denkt.«

Seit einiger Zeit konnte sie ihre geheimen Hoffnungen nicht mehr ganz in der Stille herumtragen.

Fiete kniff den Mund zusammen. Sie sollte ihn mit solchen Reden in Ruhe lassen. Sie schmeichelten und regten auf, und er wußte doch, daß es nicht lange mehr währen würde mit ihren Hoffnungen. In keiner Weise. – Wie nahe aber der Sturm war, der ihren ganzen Herbstsegen fortfegte, das ahnte auch er nicht.

Madam Eggers nahm den dicken, grauen Umhang von Lisette Rosen, der war bei dem Wind und dem ewigen Regen dieser Wochen wirklich eine Wohltat, nahm ihr Paketchen mit den fertigen Sachen und ging ebenfalls hinüber zu Rottmanns.

Es war mal wieder ein guter Küchenduft im Hause. Der Apfelkuchen! – Sie roch ihn sofort. Und ging zu Mile in die Küche und sagte: »Leg' mir man en orndliches Stück zurück. Ihr habt doch die große Form genommen, was? Fiete ißt ihn man einmal gern. – Ja, denn will ich man das Silber noch mal überreiben, daß du drinnen decken kannst. Kommt denn der Danske auch heute abend?«

»Weiß ich nicht. Laß das Silber man, der alte Herr hat gesagt, ich soll dich erst mal zu ihm schicken, wenn du kommst. Er wollt' ein ernstes Wort mit dir sprechen.«

»So als mit mir? Herr Gott, was wird denn nu wieder?«

Sie erfuhr es schnell genug.

»Sehen Sie mal, Madam Eggers, es hat doch keinen Zweck mehr, daß wir uns blauen Dunst vormachen. Fiete hat nun mal nicht das Zeug zum Studieren. Ich hab' mich redlich mit ihm geplagt, das kann ich wohl sagen. Und man hat mir früher nachgesagt, daß ich ganz gut verstände, den jungen Leuten die alten Sprachen mundgerecht zu machen. Es will nicht in ihn hinein. Ich muß es ihm lassen, er gibt sich Mühe. Aber was er den einen Tag in seinen Kopf hineingequält hat –, am nächsten Morgen ist es fortgeblasen. So können wir noch zehn Jahre fortmachen – und das Examen besteht er nie.«

»Das kann doch woll gar nicht möglich sein –, so als mein Fiete –. Nee, nee, Herr Pastor, wo er den guten Kopf hat –«

»Sie sehen in Ihren Fiete wie in einen goldenen Kelch, Madam Eggers. Na, das geht uns Eltern allen so. Jedem ist sein eigen Kind das beste und klügste und schönste. Aber jeder will doch auch sein Kind glücklich machen. Und so, mit dieser Quälerei, glauben Sie mir, machen Sie den Jungen unglücklich und verdreht.«

»Ja,« – sie kniff die Mundwinkel ein, »da läßt sich ja nichts mehr sagen, wenn Herr Pastor das über ist und lohnt ihm nicht. Obgleich mein Fiete – er hat sich mit den Gören richtig geplagt, das kann ich Herrn Pastor woll sagen. Die machen en orndlichen Jungen das Leben sauer.«

»Das weiß ich. Aber das andere – als wenn ich nicht mehr will –,« der alte Herr, der sich redlich abgemüht hatte mit seinem Schüler, war ärgerlich, »also, das verbitte ich mir. Es hat keinen Zweck, und ich hätte ihn längst entlassen sollen. Ich mocht' es nur Ihnen nicht antun, Mam Eggers. Ich weiß, was Sie für Hoffnungen hegten. Trotzdem kann Ihr Fiete etwas Tüchtiges werden. Lassen Sie ihn Stubenmaler werden. Ich hab' es Ihnen ja wohl schon mal gesagt. Eitel Bostrup meint auch, er würde etwas Tüchtiges darin leisten und könnte einmal viel Geld verdienen, denn er wäre ein ganz netter Zeichner und –«

»Eitel Bostrup!« Die Verachtung, mit der sie den Namen nannte! – »Der kann sich begraben lassen. Da pfeif' ich auf, was der sagt. Ich werd' mein Fiete schon allein durchbringen, kann Herr Pastor sich auf verlassen. Der wird doch noch, was er will.«

»Eine ganz verschrobene alte Person«, sagte Rottmann nachher zu seiner Luise. »Wie will sie das denn machen und den schlaffen Jungen zum Studium bekommen? Ist ja heller Wahnsinn.«

Madam Eggers hatte sich gar nicht wieder in der Küche sehen lassen. Zurück über den Markt und wie ein aufgeregtes Huhn hineingeflattert in ihr Zimmer. »Er will nicht mehr, Fiete. Der alte Herr will dir kein Latein mehr geben und kein Griechisch. Weil du zu dumm bist! So als du! – Oha, wenn das nicht ihr eigen Kinder sind, denn haben sie das leicht, so'ne Sachen zu sagen.«

»Gott sei Dank«, antwortete der Junge. »Es war 'ne gräßliche Quälerei. Nu hat das endlich ein Ende.« Aber als ihm dann klar wurde, was doch alles mit dieser Entscheidung an Zukunftshoffnungen versank, wurde ihm wehleidig um das Herz, er legte den Kopf auf den Tisch und heulte ein bißchen.

Die Mutter strich ihm über das dünne, fahle Haar. »Laß man sein. Sie meinen es übel, aber der Herr wird es schon machen.«

Doch auf ihre geistlichen Zureden gab Fiete nicht viel, die nahm sie immer, wie sie ihr gerade für den eigenen Gebrauch paßlich schienen. Er schniefte und schnupfte, faßte sich und sagte: »Ich will die ollen Bücher man verkaufen bei Krämer Schulz, daß man wenigstens vier Schilling dafür kriegt.«

»Fiete, all die klugen Bücher für vier Schilling. Du kannst doch vielleicht noch bei den jungen Kandidaten –«

»Was der alte Herr mir nicht beibringen konnt', kriegt mir der Kandidat auch nicht in den Kopf. Nu laß man. Nu muß man eben anders rum mahlen.« Nahm seine Bücher und ging zu Krämer Schulz.

Und drei Tage später ging er mit dem Anstreicherkittel und war Lehrling bei Maler Kolbe.

* * *

An diesem Abend hatte der Whistklub noch ein Erlebnis.

Fräulein Lydia Moorwood, die aussah wie ihre eigene Ahnfrau, und die auch die strengen Ansichten und das ernste Benehmen einer Ahnfrau hatte, legte, als sie kaum am Whisttisch saß, einen Wisch auf den Tisch und sagte: »So etwas hat man mir in das Haus gesandt. Ich kann das nicht mit Stillschweigen hinnehmen. Bitte, lieber Rottmann, wollen Sie das einmal lesen. Bitte laut, daß unsere Mitglieder alle daran teilnehmen.«

Der alte Herr setzte sich die Brille auf die Nase und las:

»Das nennt sich Whistklub und tut so, als wenn es Wunder was ist. Und will jawohl die gute Sitte beschützen und hat Manieren, wo sich ein armer Mann drum schämen muß. Die ledigen Leute reisen zusammen rum im Land. Und geschlemmt wird und gepraßt. Und die jungen Dinger treffen sich mit ledigen Mannsleuten, und die verheirateten Frauen gehen auch mit fremden Herren auf der Landstraße und lachen sie an. Daß die ganze Stadt davon redet.«

»Donnerwetter«, sagte Rottmann und ließ den Lappen fallen.

»Aber Mann,« rief seine Luise, »wie kannst du so fluchen.«

»Es hat mich übernommen. – Das hab' ich bisher nicht gewußt, daß unser braver Whistklub solche Rotte Korah ist.«

»Sie lachen, Herr Pastor, aber ich hab' nicht gelacht, als ich den Zettel fand.«

»Wann fanden Sie ihn denn, Fräulein Lydia?«

»Eben als ich hergehen wollt'. Da lag er an der Haustür auf der Erde. Meine Marie hob ihn auf und sagte, der ist an Fräulein. Ich las ihn durch und nahm ihn mit. Allein wäre ich gar nicht damit fertig geworden. Wie sehen Sie mich denn an, lieber Kantor?«

»Was stand da von ledigen Leuten, die miteinander im Land herumreisen?« fragte der Kantor, und sein mildes Gesicht sah drohend aus.

»Dafür kann ich doch nichts. Ich meine ja auch, Sie hätten das nicht tun sollen –, man soll auch den bösen Schein meiden –, aber dies ist doch zu viel.«

»So, so, wir hätten das nicht tun sollen. – Melanie –, aber liebe Melanie –« denn Fräulein Rosen war so weiß geworden, daß es aussah, als wollte sie in Ohnmacht fallen.

Frau Pastor Rottmann kam mit flüchtigem Salz, und das schlanke Fräulein mit den Silberscheiteln über dem Griechenprofil, dessen Feinheit kein Alter zerstören konnte, besann sich und sagte leise: »Ich wollte es nie sagen. Mir hat man auch geschrieben.«

»Dir auch?« fragte ihr alter Verlobter. »Ich dachte, der Briefschreiber hätte nur mich bedacht.«

Jetzt brach die Aufregung los. Also schon drei Briefe, und das so in der Stille, während man dachte, diese dummen Schreibereien, von denen die Dienstboten redeten, die liefen nur unter den kleinen Leuten um.

»War das die gleiche Handschrift wie diese?« fragte Pastor Jessen. »Wo haben Sie die Briefe? Man sollte das vergleichen.«

Ja, die Briefe waren verbrannt im ersten heiligen Zorn. Aber so ungefähr mochte die Schrift ausgesehen haben.

»Sie ist augenscheinlich verstellt.« »Aber es sind kaum Fehler in der Orthographie. Das spricht dafür, daß ein ganz Ungebildeter es nicht gewesen ist.« – »Das Papier? Ja, das ist das gewöhnliche, das hier jeder Buchbinder führt.« – »Es muß jemand sein, der uns alle kennt.« – »Wer kennt hier in Schmalebek nicht den anderen?« – »Und wer weiß hier nicht Bescheid über jedermanns Tun und Lassen.« Sie redeten alle durcheinander.

Helene Jessen nahm das Schreiben wieder vor.

»Auf wen soll denn das gehen, von jungen Dingern, die sich mit ledigen Herren treffen? Und von verheirateten Frauen und fremden Männern auf der Landstraße? Man kann ja wirklich um den Ruf seiner Tochter in Sorge kommen. Obgleich – nein, Riekchen kann niemand etwas nachsagen. Nein, Riekchen kann unmöglich gemeint sein.«

»Fass' es doch nicht gleich persönlich«, sprach Hanse. »Wenn man sich über solche Schmutzereien noch den Kopf zerbrechen will – das wären sie doch nicht wert.«

»Du setzst dich zu leicht über alles hinweg.«

»Wer ein gutes Gewissen hat, braucht doch nichts auf Verleumdungen zu geben.«

»Hab' ich vielleicht kein gutes Gewissen?«

»Himmel, Lene, da ist doch wirklich kein Grund zur Aufregung. Wer spricht denn von dir? Ich sag' doch gerade, du sollst es nicht persönlich nehmen.«

In all die Aufregung hinein kam die junge Welt. Es waren an diesem Abend nur Riekchen und Ilse, Olaf Hammersmid und Georg Grützmann. In der Ressource zeigte sich ein Taschenspieler und hatte alles Jungvolk dorthin gezogen.

Ilse hatte etwas Suchendes in den Augen, als sie hereinkam, sie wußte es wohl selber nicht, aber sie spürte, es war heute nicht alles, wie es sein sollte. Jemand fehlte ihr. Olaf war auch nicht recht in Stimmung und hatte ihr zugeflüstert, er müsse sie durchaus einmal alleine sprechen. Aber bisher waren Riekchen und Grützmann ihnen nicht von der Seite gewichen.

»Das Abendessen ist fertig, Großmutter. Wollen die Herrschaften so freundlich sein?«

Dreimal mußte sie die Einladung wiederholen, ehe die erregten Gemüter sich soweit gesänftigt hatten, ihren Ruf zu verstehen und ihm zu folgen. Doch kaum saß man an der Tafel und Pastor Rottmann, die weiße Serviette im Knopfloch befestigt, zerlegte den Kalbsbraten, da begann das Stimmengewirr von neuem. »Wer war der infame Briefschreiber? Und was in aller Welt bezweckte er mit seinen Briefen?«

Es gab keinen Menschen in ganz Schmalebek, der die Feder führen konnte, den man nicht unter die Lupe nahm. Immer fanden sich Ankläger, immer fanden sich Verteidiger. Einer nach dem anderen wurde freigesprochen, und die guten Dinge, die Frau Luise und ihre Mile mit so viel Butter und Zucker und Eifer hergerichtet hatten, fanden lange nicht den genügenden Beifall. Bis der Apfelkuchen kam und der goldene Niersteiner, den Doktor Rottmann seinem Vater zum Geburtstag verehrt hatte. Da endlich glätteten alle alten Damen und Herren das gesträubte Gefieder, Herr von Krog erhob sich und ließ die verehrten Wirte leben, und als eben in dem Augenblick allgemeinen Gläserklingens Thomas Raben in das Zimmer trat, hatte er den Eindruck vollendetster Harmonie und Lebensfreude. Schmalebek war doch eine zu nette, kleine Stadt.

Was war das mit Ilse, daß sie plötzlich ganz froh war? Hatte sie sich nicht so vergnügt mit Olaf Hammersmid unterhalten? Hatte sie es nicht verstanden, Georg Grützmann so an Riekchen heranzuleiten, daß die beiden ganz in ein Gespräch über den Neubau des Altenleutestifts versunken waren? Hatte sie nicht im stillen sich amüsiert, wie die alten Herrschaften aufgingen in der Sensation ihres Stillebens? – War doch noch irgendwo ein leerer Platz in ihren Gedanken gewesen? Und der war angefüllt, als der dunkle Hamburger sich neben sie setzte? – Sie sah ihm interessiert in die Augen, in diese Augen, von denen Hanse sagte, sie könnten noch den roten Funken aufzüngelnder Hitze zeigen. Sie suchte nach dem Funken. Aber Rabens Augen waren ganz ruhig und nichts in ihnen zu lesen als die höfliche Liebenswürdigkeit, die sie immer zeigten.

Da wandte sie sich enttäuscht ab und ihrem Tischherrn zu und sagte: »Was ist es denn eigentlich, was Sie mir anvertrauen wollen, Herr von Hammersmid?«

Der senkte die Stimme. »Mein Vater hat geschrieben, ich soll schon jetzt zurückkommen. Man fürchtet die politischen Verwicklungen.«

»Stehen die so dicht vor der Tür?«

»Es scheint so. Auch hat er selber eine schwere Grippe überstanden und will mich dort auf dem Gut wissen.«

»Wann wollen Sie fahren?«

»In zwei Wochen wird es sein müssen. Wir müssen uns noch oft sehen, sehr oft in diesen letzten Wochen, Fröken Rottmann.«

»Zwei Wochen sind noch eine lange Zeit, und nachher – Jütland ist nicht aus der Welt.« Aber es tat doch weh, dieser Gedanke an die Trennung. Man war so seelenvergnügt gewesen in den schönen hellen Sommertagen.

Thomas Raben, der nur wenige Worte des leisen Gesprächs aufgefangen hatte, verhielt sich ganz passiv. – Wenn man weiß, da ist schon ein anderer, zieht man sich zurück von der Tür des Festsaales. Eh' etwas auflebt, das unbequem werden könnte.

* * *

Erst am andern Tage kam es Ilse richtig zum Bewußtsein, daß es wirklich bald Abschied heißen sollte. Waren erst acht Monate vergangen, seit sie Olaf in Kiel getroffen hatte? Und wann sah sie ihn wieder? Ganz gewiß, das würde weh tun, wenn er ging. Recht weh. Konnte noch ein anderer so lachen wie er? – Konnte ein anderer so tanzen, jeden Ton der Musik genießend und sich ihm anpassen, daß der ganze Tanz eine Bewegung gewordene Musik war? – Konnte ein anderer so innig sagen: »Süße Ilse! Allerliebste süße Ilse! –« Und wenn er auch wie jeder von jenseits der Königsau sagte: »Süße Ilse«, was tat das? Es war gerade so nett, daß sein Wortklang eigene Art hatte.

Sie dachte an seine Eltern. Waren es wirklich die politischen Verwicklungen, die sie den Sohn zurückrufen ließen? Dachten sie nicht vielmehr an Herzensverwicklungen, die zur jetzigen Zeit unwillkommen waren? Etwas trotzte auf in ihr. Oh, wenn man sie nicht wollte, wenn sie den Herrschaften nicht gut genug war, wenn ihre bürgerliche Herkunft oder ihr Deutschtum da im Wege waren – aufdrängen taten sich die Rottmanns im Leben nicht.

Waren das nasse, stürmische Tage. Alle Gassen patschten von Schmutz, alle Regenrinnen läuteten, bis man verdreht wurde von ihrer monotonen Musik. Sobald eine Tür geöffnet wurde, zog es naßkalt in die Stuben – nichts Helles, nichts Munteres war da, die verstimmten Menschen ein bißchen aufzumuntern.

In vierzehn Tagen kam Weihnachten. Abends saßen die Schmalebeker Mütter und Schwestern und nähten und stickten, und Mamsell Niebuhr mußte ganze Ballen von Stramin, Wolle und Seide aus Hamburg kommen lassen. Madam Eggers nähte die ganzen Tage, sie hatte alle Hände voll Arbeit, sogar Puppen mußte sie anziehen, und abends brannte ihr Talglicht oft bis Mitternacht. Wenn es auch keinen Zweck mehr hatte, wenn ihr Fiete auch nie ein studierter Mann werden würde, – sie schuftete doch für ihn. Konnte er nicht gelehrt werden, sollte er reich werden. Kleines Vieh gibt auch Mist, und ihre Dreier und Schillinge, einer auf den andern gelegt und in die Sparkasse getragen, sollten schon einen Grundstock bilden für seine bessere Zukunft.

Immer magerer wurde sie, immer spitzer die Nase, immer schärfer der Blick, und an manchem Morgen hatte sie verweinte Augen. Waren es auch nur wenige Tränen, die ihr von bitteren Gedanken ausgepreßt wurden, – sie brannten um so schärfer.

Und dann, als sie eines Abends wieder saß und stichelte und Fiete in der Kammer nebenan schnarchte, fiel ihr auf, daß die Rinnen nicht mehr läuteten. Der Regen mußte aufgehört haben. Sie warf das Tuch über und sah aus der Haustür. Es war klar geworden und bitter kalt. Am nächsten Morgen würde Reif liegen.

Der Reif war da am andern Tag und hatte blauen Himmel mitgebracht und Ostwind und rote Nasen und frostblaue Fäuste. Die teilte er freigebig aus.

Aber die Schmalebeker Jugend nahm sein Geschenk bereitwillig an, denn alle Rinnsteine waren zugefroren, und an den Pumpen ließen sich herrliche Glitschen herstellen. Daß die dummen Deerns, die mit den Wassereimern kamen, immer gleich Asche mitbrachten und die drüber stäubten, war niederträchtig, aber man konnte die Asche abfegen, und abends frisch begossen war die Eisbahn am Morgen wieder spiegelblank. Alte Leute konnten sich Arme und Beine drauf brechen.

Es war aber kein alter, sondern ein junger Mann, der dort sehr übel zu Fall kam, weil sein Pferd ausglitt und ihn aus dem Sattel warf, und wenn man neunzig Kilo wiegt wie Georg Grützmann, ist solcher Fall auf gefrorenem Boden keine leichte Sache.

Frau Helene Jessen jedoch segnete diesen Fall, denn er war gerade vor ihrem Hause geschehen, und sie hatte am Fenster gesessen, als das Unglück eintrat, war hochgeflogen, hatte sich gar nicht Zeit genommen, auf ihre erschrockenen Nerven zu achten, sondern war draußen vor der Tür und neben Georg, eh der noch recht wußte, wie ihm eigentlich geschehen. So recht besann er sich erst, als er drinnen in Pastor Jessens Arbeitsstube auf dem Kanapee lag und Frau Pastorin ihm mit Wein und kölnischem Wasser und allerlei lebhaften trostreichen Worten unter die Augen ging. Der Kopf brummte gewaltig, und der eine Fuß war dick geschwollen, er wußte selber nicht, wie er damit hatte in das Haus humpeln können, und im ganzen war ihm recht schlecht.

So ließ er sich die Pflege der freundlich aufgeregten Frau ganz gern gefallen, wünschte nur, sie möchte dabei ein bißchen weniger reden, lag zwei Stunden und ruhte sich und war sehr nett gegen Riekchen, die ihm einen Teller Suppe um die Mittagszeit an sein Lager trug.

Gegen Abend kam sein Onkel Nilius, von Jessens benachrichtigt, mit dem Wagen und holte ihn ab. Dann wurden zwei Tage später herrliche Blumen aus den Niliusschen Gewächshäusern abgegeben und ein Korb mit ausgesucht schönem Obst, und acht Tage vor Weihnachten kam Georg selber und machte einen Dankbesuch. Riekchen war nicht zu Hause, das war der Mutter ganz recht. Nun konnte sie ihre Minen legen, und sie legte sie so vorsichtig, aber so gründlich, daß der dicke Jüngling, als er heimfuhr, sich verpflichtet hatte, bei der Armenbescherung am Tage vor Weihnachten nicht nur die üblichen Gaben zu senden, sondern selber beim Aufbau in der Post zu helfen. »Denn ich bin immer so erschöpft, wenn all die Vorbereitungen zum Fest geschehen sind, und Riekchen, das rührende Kind, mag niemand um Hilfe angehen.«

»Wenn ich nur wüßte, wie die Mutter das angefangen hat«, sagte Riekchen zu Ilse. »Es ist mir so peinlich. Und die Leute werden wieder reden. Was soll so etwas? Er mag doch einmal nur dich, und ein Mann, der Augen im Kopf hat, der kann auch nicht anders.«

»Tu mir die Liebe und laß mich mit ihm in Frieden. Ich hab' wirklich allein meine Sorgen.« Sie wollte aber nicht sagen, was das für Sorgen seien.

Doch als um die Zeit nach dem Mittagessen jedermann im Hause seinen eigenen Gedanken Audienz gab, nahm Ilse den wattierten blauen Seidenmantel und die blaue Samtkapuze mit Iltisfell umrandet, zog sich Überschuhe über die leichten Stiefelchen, band einen Schleier vor das Gesicht und ging leise aus der Hintertür in den Garten. Durch die verschneiten Steige schritt sie hinunter zum Fluß. Der lag unter einer Eisdecke und knisterte ein bißchen, als sie über ihn hinging. Sie ließ sich davon nicht stören, trat jenseits auf den schmalen Feldsteig und ging in die stille Winterwelt hinein.

Mußte sie das nicht tun? Gestern war mit dem Milchmann von Eichtal ein Briefchen in ihre Hände gekommen, das war ein Schrei um Erhörung.

 

»Es ist ganz schnell gekommen, geliebte Ilse. Ich soll schon morgen früh fahren. Und werde Sie nicht mehr sehen. Unmöglich, ganz unmöglich zu denken. Alle guten Geister, die sehnende Herzen beschirmen, mögen mir beistehen, daß Sie meinen flehenden Worten Gehör geben und morgen nachmittag die Landstraße zwischen Schmalebek und Eichtal hingehen. Sie ist um diese Zeit verlassen wie ein Kirchhof. Aber sie soll kein Kirchhof meiner Liebe werden, sondern ein Rosenhain mitten im Winter, wenn es mir gelingt, in Ihnen das gleiche Feuer zu entzünden, das in meinem Herzen lodert.

Werden Sie kommen? Werden Sie einem verzweifelten Mann Mut geben zum Harren auf eine bessere Zukunft?

Immer Ihr bis in den Tod getreuer

Olaf Hammersmid.«

 

Mußte man nicht gehen? Wem davon sagen? – Hanse? – Nein, Hanse war gut, aber Hanse war doch immer Vaters Frau und sagte stets, zwischen Eheleuten dürfe es kein Geheimnis geben. Daß Vater aber mit diesem Gang nicht einverstanden war, das konnte sie sich sagen.

Sie sah schon von fern eine schlanke Gestalt herankommen, grau gekleidet, den eleganten Handstock im Kreise wirbelnd, wie es ein gewisser Jemand zu tun pflegte. Für einen Augenblick kam es ihr erschreckend zum Bewußtsein, daß sie etwas tat, was ganz und gar ungehörig war, daß sie einem Herrn ein Stelldichein gewährte. Aber nun war es nicht mehr zu ändern.

Sehr ruhig, keinen Schritt beeilend, ging sie vorwärts, und als der blonde Baron mit hastigen Tritten näher kam und schon bei zehn Schritt Entfernung begeistert ausrief: »Süße Ilse, o meine süße Ilse!« sagte sie ganz gemessen: »Bitte, wenn Sie sich nicht durchaus als Kavalier benehmen, Herr von Hammersmid, gehe ich sofort zurück.«

»Wo mein Herz in hellen Flammen steht. – Es ist unmöglich.«

»Dann tut es mir leid, daß ich kam.«

»Aber Sie kamen.«

»Jetzt muß ich wohl sagen: leider. Ich dachte bei mir – wir sind so gute Freunde gewesen, ganz ohne einen Abschiedsgruß soll er doch nicht gehen. Obgleich ich nicht weiß, warum Sie nicht in unser Haus kamen, um Adieu zu sagen.«

»Oh, Sie wissen es. Wem hätte ich Adieu sagen müssen? All den alten Herrschaften. Und Sie hätten sich so verneigt, so aus der Ferne – jawohl, so, – und ich hätte nicht ein Wort sagen dürfen von meinem Herzen und von allem, was da drinnen brennt.«

»Sie hätten ja –« Ilse brach ab. Das konnte sie doch nicht sagen: »Sie hätten ja meinen Vater um Erlaubnis bitten dürfen, mir alles zu sagen. Dann wäre es wohl gegangen.«

Er hatte ihre Gedanken erraten. »Wenn ich wiederkomme, dann darf ich anders kommen, darf ich? Wissen Sie, warum ich schweigen muß, jetzt noch? Es steht sehr viel zwischen uns, die Menschen und die Politik und meine Eltern –«

»Ihre Eltern?« Sie horchte auf.

»Oh, meine Eltern kennen Sie nicht. Und man hat ihnen geschrieben von hier und hat Unkraut gesät –«

»Wer hat geschrieben?«

»Der all die schlimmen Briefe schreibt. Ohne Namen. Daß ich – nein, davon wollen wir nicht reden.«

»Doch, gerade das möchte ich wissen.«

Aber Olaf legte den Arm um sie, zog sie trotz der dicken Wattierung fest an die Brust und flehte: »Wir haben nur diese eine Stunde, da wollen wir an nichts Häßliches denken. Wenn ich dort bin, und ich habe mit meinen Eltern gesprochen, und ich habe ihnen gesagt, was für ein liebes, süßes Mädchen meine Ilse ist, –«

»Ich bin doch gar nicht Ihre Ilse.«

»Du bist meine Ilse. Meine ganz allein. Oder ist da ein anderer? Ist der dicke Grützmann mit seinen harten Talern besser? Oder der korrekte Hamburger? Oder sonst einer, den ich nicht weiß? Sag', ist da einer?«

»Nein, nein – da ist keiner –« In diesem Augenblick, wo er so bat und seine Augen noch viel mehr bettelten als seine Worte, war sie ihm wirklich von ganzem Herzen gut. Nur daß sie einen klaren Kopf behalten wollte, wenn es auch schwer wurde.

»Wenn ich dich mitnehmen könnte. Gleich, meine Ilse. Und für immer und alle Tage. Da würdest du mit mir wohnen ganz tief in unserem Wald. Da hab' ich ein kleines Jagdhaus, mitten in der Heide, da sind rings lauter hohe Tannen – die Hirsche schreien und nachts die Eulen, – da ist es so einsam, – nur der Jäger wohnt da. Der heizt uns den Ofen und brät uns Wildfleisch, – und abends, wenn der Schnee fällt, sitzen wir vor dem Feuer und vergessen Schmalebek und das ganze Sleswig-Holstein, und du wirst meine kleine Danske Frau, und niemand weiß, wo wir sind –«

Langsam gingen sie vorwärts, während er redete. Ilse atmete tief auf.

»Müßte das sein? Daß ich deine Danske Frau würde? Geht es nicht anders?«

»Willst du denn das nicht? Wenn du meine Frau wirst, da ist mein Land dein Land –«

»Ja, und dein Gott mein Gott –« Sie blieb stehen. »Das kann doch nicht sein.«

»Warum kann es nicht sein?«

»Ich muß bleiben, was ich bin.«

»Meine Mutter ist auch ganz eine Dänin geworden. Sie liebte meinen Vater, so liebte sie auch sein Land.«

»Ich kann dein Land lieben, aber ich kann mein Land nicht vergessen. Wenn du das verlangst –«

»O nein, nein, ich will nichts verlangen, ich will warten. Ich will geduldig sein, so sehr geduldig. Bis du es nicht anders mehr weißt, als daß Jütland deine Heimat ist.« Er stand wieder still, sie waren nahe an Eichtal herangekommen, hob ihr Gesicht ein wenig mit der Hand und bat: »Soll ich gehen ohne einen Kuß von meiner lieben, schönen Braut?«

Da litt sie es, daß er den Schleier von ihrem Gesicht schob und sie küßte.

Die kleinen Flocken, die immer wieder einmal trotz des blauen Himmels durch die Luft gestäubt waren, wurden dichter. Droben zog es sich zusammen, die Dämmerung kam früh.

»Laß uns umkehren«, bat Ilse. »Wenn mich jemand hier mit dir gehen sieht, ist das Geklatsch fertig. Das darf ich den Eltern nicht antun.«

Arm in Arm schritten sie zurück nach Schmalebek, immer einmal stehen bleibend, wenn Olaf durchaus noch einen einzigen Kuß haben mußte, und als die Stadt dämmerig gegen den Himmel stand, als die ersten erleuchteten Fenster über die Felder schienen, war es schon fast dunkel geworden. Plötzlich fuhr von hinten her ein Wagen an ihnen vorüber. Jemand hockte neben dem Kutscher, vermummt bis an die Nasenspitze, wandte den Kopf ganz zurück und lachte laut auf. So voll Hohn war das Lachen –, es ging dem Mädchen durch und durch.

»Wer war das?« fragte Olaf.

»Ich weiß nicht. Es kam mir vor, als müßte ich den Ton kennen, aber nein –. Wenn es Schmalebeker sind, haben sie uns erkannt.«

»Der Mann – oh, er war der Knecht von unserem Müller von Eichtal. Aber die Frau – mach' dir keine Sorgen, mein liebes Mädchen, es war zu dunkel, sie kannte dich nicht.«

»Geh' jetzt zurück, Olaf. Ich geh' quer über das Feld und über die Schmale, da bin ich am schnellsten zu Hause. Und vergiß mich nicht da in deinem Jütland. – Ich glaube, es werden schlimme Zeiten kommen für uns beide.«

Sie drängte ihn zurück, als er sie wieder an sich ziehen wollte. Denn über das Feld heran kam jemand gegangen, und sie wollte nicht wieder überrascht werden.

»Auf Wiedersehen, Olaf. Wenn nicht mehr in diesem Winter, dann zum Frühjahr. Dann kommst du wieder.«

»Dann komme ich wieder. Darauf kannst du dich verlassen, süße Ilse.«

Sie ging über das Feld. Olaf wandte sich zurück, die Landstraße zu erreichen, und traf auf den Jemand, der ebenfalls nun den Feldweg eingeschlagen hatte. Er ruckte zusammen. War das nicht der korrekte Hamburger? Das war fatal. Der hatte einen tüchtigen Schritt am Leibe und wollte wohl ebenso wie Ilse die überfrorene Schmale überschreiten, denn die Landstraße, die eine Brücke dicht vor der Stadt hatte, machte einen Bogen. Und wenn er mit diesem Schritt noch drei Minuten so weiterging, war er neben Ilse. Dann konnte er sich einen deutlichen Vers machen.

Olaf blieb stehen und sah ihm nach. Sollte er mit langen Sprüngen hinterher eilen und ihn bitten – Teufel, nein, das ging auch nicht. Das machte erst etwas aus der Sache. Ein Ehrenmann schwieg auch ohnedem, und der Hamburger machte den Eindruck eines solchen. Nun war es auch schon zu spät, nun hatte die Dunkelheit das Mädchen und den Mann eingeschluckt. Olaf Hammersmid machte sich auf den Rückweg nach Eichtal.

Heiß war ihm von den Küssen. Dies entzückende kleine Mädchen. Ach was! Mochten die Eltern reden, mochte Dänemark einen siebenjährigen Krieg mit den Herzogtümern beginnen, mochte die Mutter zehnmal eine Gräfin Schimmelmann zur künftigen Baronin Hammersmid ausgesucht haben – er wollte seine Ilse, seine süße, kleine Ilse. Bisher hatte er noch wenig Gelegenheit gehabt, seinen Willen durchzusetzen, der war ihm immer ohne Umstände gewährt worden, nun kam es einmal darauf an, nun wollte er zeigen, daß er ein Mann war. Und sehr begeistert von der eigenen Energie pfiff er den »tapperen Landsoldaten« vor sich hin, bis das Gutshaus mit hellen Fenstern aus dem Schneetreiben auftauchte.

Ilse hörte die Schritte, die hinter ihr herkamen, ging schneller, glitt und wäre fast gefallen, wenn nicht jemand hastig zugesprungen wäre. »Hallo«, ein Arm legte sich um sie, sie zitterte ein bißchen, denn der linke Fuß war bös umgeknickt, aber mehr als der Schmerz ließ das Erschrecken sie beben. Thomas Raben! – Ausgerechnet der! – Es hätte nicht schlimmer sein können. Obgleich sie im gleichen Augenblick sich ganz sicher war, daß über seine Lippen nie ein verräterisches Wort kommen würde. Aber sie schämte sich vor ihm. Oh, wie sie sich schämte!

Als sei es das Selbstverständlichste von der Welt, daß sie sich in Dunkelheit und Schnee hier draußen im Felde begegneten, bot er ihr den Arm. »Das Tauen heute in der Mittagsstunde und das Frieren hinterher hat eine abscheuliche Glätte geschaffen. Ich wollte darum auch den Wagen aus Neukrug nicht annehmen, denn ohne geschärfte Eisen fallen die Pferde heute leicht. – Lehnen Sie sich nur fest auf meinen Arm, Fräulein Rottmann, ich gleite nicht so leicht. – Ja, wir waren heute zusammengekommen in Neukrug, die letzten Kontrakte aufzusetzen. Nun ist hier in der Gegend der Bau der Bahn gesichert, nun bin ich in Schmalebek überflüssig geworden. Aber im Januar zur goldenen Hochzeit Ihrer Großeltern, da komme ich noch einmal wieder.« Er redete ruhig und gewandt, sie hatte Zeit, sich zu fassen und das Herzklopfen zu überwinden.

Jetzt waren sie an der Schmale. Der Wind hatte den Schnee über das blanke Eis hingepustet, daß der Flußlauf sich wie ein dunkles Band aus all dem Weiß ringsum heraushob.

»Wollen wir einmal glitschen?« fragte Raben und lachte dazu. »Ich spüre ganz knabenhafte Gelüste.«

»Dann will ich Sie darin nicht stören«, und Ilse sauste leichthin auf der spiegelblanken Bahn. Raben folgte, sie glitten – immer ein Streckchen laufend und wieder rutschend, mit Windeseile über das Eis, wurden ganz vergnügt, lachten und machten erst nach einigen Minuten Kehrt.

Da sahen sie am Doktorgarten den Schein einer Laterne, und Ilse sagte verstört: »Man sucht mich. Es ist gewiß schon spät. Mein Gott – Vater kann so heftig werden.«

»Wenn man solchen alten Beschützer bei sich hat wie mich, darf man sich schon einmal auf dem Eis verspäten. Morgen laufen wir zusammen Schlittschuh. Sollte Ihre Mutter nicht auch mitkommen?«

Sie sah dankbar zu ihm auf. Es war gerade noch so viel Licht im sinkenden Abend, daß er ihre dunklen Samtaugen leuchten sehen konnte.

»Ilse«, kam ein Ruf vom Garten her.

»Ja, Vater«, ein letztes Gleiten, im Schein der Laterne stand Doktor Rottmann vor ihnen. Er hatte die Tochter am Kaffeetisch vermißt, hatte im Schnee ihre Spuren bis zum Fluß verfolgt, und etwas sehr Unbehagliches war in ihm aufgestiegen. An Rabens Seite aber hatte er sie nicht erwartet.

Der kam mit der heiteren Sicherheit des Mannes aus der großen Welt auf ihn zu. »Sie sind natürlich sehr ärgerlich, Herr Doktor. Ich muß für Fräulein Ilse um Entschuldigung bitten, denn als ich sie hier auf dem Eise traf, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, auch einmal wie ein Junge die alten Künste zu üben. Dabei haben wir die Zeit versäumt. Wenn man lange draußen ist, gewöhnt sich das Auge an die Dunkelheit, daß man sie gar nicht so merkt. Morgen will Ihr Fräulein Tochter mir erlauben, sie beim Schlittschuhlauf zu begleiten.«

Er ging wie selbstverständlich dabei neben dem Arzt her durch die stillen Gartenwege, und als sie an der Haustür standen, reichte er ihm die Hand. »Wollen Sie Ihrer Frau Gemahlin einen Gruß von mir sagen, ich kann leider nicht mit in das Haus kommen. Wie ich Fräulein Ilse schon erzählte, komme ich von Neukrug herüber mit den letzten Kontrakten. Ich möchte jetzt gleich für ihre Absendung nach Hamburg sorgen.« Ein letztes Ziehen des Hutes, da ging er hin über den Markt.

Rottmann sah zweifelnd auf die Tochter. Er hatte es im Gefühl, daß irgend etwas nicht ganz stimmte, doch sie ließ ihm keine Zeit zu langen Fragen, sondern lief hastig die Treppe zum eigenen Zimmer empor und kam erst wieder herab, als er noch einmal ausgegangen war.

* * *

Georg Grützmann hatte tapfer geholfen bei der Armenbescherung, hatte Tannenbäume mit Lichtern versehen, hatte Teller mit braunen Kuchen gefüllt, hatte den alten Weibern ihre Tücher und Pantoffel zusammengepackt, hatte sich von Frau Pastor Jessen ganz als Laufbursche benutzen lassen und hatte zu seinem eigenen Erstaunen Gefallen an der Sache gefunden. Man war ordentlich ein bißchen in Bewegung gekommen und hatte sich doch nicht anzustrengen brauchen mit geistreichen Reden und liebenswürdigen Komplimenten. Riekchen verlangte so etwas nicht, die war ungeheuer bequem, man vergaß eigentlich ganz, daß sie eine junge Dame war. Und dann hatte Ilse ihm am Abend nach der Bescherung, als er die Lichter ausblasen mußte, gesagt: »Nein, Georg, das hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut, daß Sie so tüchtig wären«, und für dieses Lob hätte er gleich noch einmal die ganze Plackerei auf sich genommen.

Er durfte sie und Riekchen nach Hause bringen, und wenn der Weg auch nur sehr kurz war –, Ilse hatte solche Sehnsucht nach ein bißchen frischer Luft gehabt, denn in der Post war richtig Kleinleutemüff gewesen, und da waren sie noch fünfmal um den ganzen Marktplatz gegangen, ganz gemächlich, und Riekchen hatte erzählt von allerlei Vorbereitungen zur goldenen Hochzeit, und die beiden Mädchen hatten gefragt, ob er nicht der Bär sein wollte in ihrer Aufführung. Nämlich in Pastor Rottmanns Freierzeit war ein entsprungener Zigeunerbär in Meldorf umgegangen, wo er damals Kandidat gewesen, und da hatte er seine Luise immer vom Abendgottesdienst heimbringen müssen, und wie gern hatte er das getan.

Dieser Bär sollte nach fünfzig Jahren wieder aufleben. Wollte Georg nicht so nett sein und in sein Fell kriechen?

Georg wollte alles, was man von ihm verlangte. Sein gutes Jungengesicht war ganz verklärt bei der Aussicht, als Fellträger zu Ilses Füßen ruhen zu dürfen, denn Ilse – das verjüngte Ebenbild der Großmutter – mußte natürlich diese darstellen. – Sicher wollte er der Bär sein. Höchst natürlich wollte er brummen. Alles überhaupt könnte man von ihm verlangen. Er war im Begriff, sich zu den wunderbarsten Ritterdiensten zu verpflichten, da waren sie einmal wieder bei ihrer Rundfahrt vor dem Pastorat, und Helene Jessen sah aus der Tür, wo in aller Welt denn ihr Riekchen bliebe.

»Siehst du,« sagte Ilse am anderen Tag, »er wird schon warm. Ach, Riekchen, ich hab' ja so gefroren. Das war wirklich ein Freundschaftsdienst, daß ich durchaus noch Luft schöpfen mußte.«

»Du bist so gut, Ilse. – Aber sag' doch, ist Olaf Hammersmid wirklich abgereist.«

»Wirklich.«

»Und – wird er dir schreiben? Hat er dir nicht ein bindendes Wort zum Abschied gesagt?«

»Davon reden wir, wenn es Frühling ist. – Vergnügtes Fest, Riekchen.«

Und das Fest ging vorüber und brachte Ilse viele und kostbare Geschenke, aber das, was sie erwartete, einen Brief von Olaf, brachte es nicht. Doch daran konnte viel schuld sein. Man munkelte ja auch, daß die Grenze schon gesperrt sei für alle Post. Nichts ging herüber und hinüber, was nicht von dänischen Beamten genau visitiert worden. Wenn man das weiß, ist man sehr vorsichtig mit seinen Briefen. Neujahr kam, und Krogs erschienen zum Gratulieren im Doktorhaus, und Frau von Krog sagte sich für einen Nachmittag zum Kaffee bei Hanse an, und Ilse hatte solch heimliches Gefühl, daß diese Ansage aus einem ganz bestimmten Grund erfolge.

Darum richtete sie den Kaffeetisch besonders hübsch, stellte einen Strauß von Stechpalme und Christrosen in die Mitte, zog das violette Taftkleidchen an, das so hübsch zu ihrer bräunlichen Haut stand, und setzte ihr süßestes Lächeln auf. Hanse betrachtete sie und fragte:

»Machst du dich so hübsch für Frau von Krog oder für Olaf Hammersmids Tante?«

Eine Frage, die ohne Antwort blieb.

Frau von Krog hatte aber gar nichts Absichtliches, als sie nun an dem hübschen Tisch saß. Sie redete von allerlei Dingen, nur nicht von ihrem lieben Neffen, und erst, als es bald Zeit wurde zum Heimfahren, sagte sie so nebenbei: »Wir hätten Olaf so gern noch bis zum Sommer bei uns behalten. Aber meine Schwester gehört zu den Müttern, die ihren Sohn verheiraten wollen. Obgleich er doch noch so jung ist. So mußten wir ihn schon wieder hergeben.«

»Das klingt, als hätten wir bald eine Verlobungsanzeige zu erwarten.«

»Es scheint fast so. Da ist eine junge Gräfin Schimmelmann, sie haben Kronsborg, das Nachbargut meines Schwagers, aber sie haben auch auf Seeland noch große Güter –, nun, die junge Gräfin hat ein wenig zuviel getanzt im letzten Winter in Kopenhagen und soll sich in der Stille erholen. Das scheint der Anlaß zu seiner Rückberufung gewesen zu sein.«

Ihre Augen glitten wie zufällig über Ilse hin. Die saß und stickte an einem Pointlacedeckchen, setzte einen Stich genau an den anderen und verzog keine Miene.

»Ich weiß nicht, ob meine Schwester Glück haben wird mit ihren Projekten«, fuhr Frau von Krog fort. »Olaf ist ein verwöhnter Prinz und hat bisher von den Eltern nie Widerstand erfahren. Ob er sich durchsetzen kann, wenn das einmal eintritt – wer will es sagen?«

»Warum sollte er auch gegen den Wunsch der Mutter handeln?« fragte Hanse liebenswürdig unbefangen. »Ihre Frau Schwester wird ihm gewiß etwas Liebes und Hübsches ausgewählt haben.«

Sie sah Ilse an, und Ilse hob ein wenig nur den Kopf, als sei sie ganz in ihre Arbeit versunken gewesen, und setzte beistimmend hinzu: »Das denke ich mir auch.«

Als Frau von Krog gegangen war, blickten Mutter und Tochter einander nachdenklich an. »Das war Absicht«, sagte Hanse. »Diese verschlossenen Aristokratinnen erzählen werdende Familienereignisse nicht ohne besonderen Grund.«

Ilse machte ein Hochmutsgesicht. »Grund? Sie mag gedacht haben, da wär' ein Grund, aber sie hat sich wirklich ganz getäuscht.« Langsam und ordentlich legte sie die Handarbeit zusammen, fragte: »Kann ich wohl noch einen Augenblick zu Riekchen herumgehen?« und verließ das Zimmer.

»Haltung! Haltung!« sagte sie sich innerlich, wie sie das Haus verließ, wie sie nebenan eintrat, die Tante begrüßte und mit Riekchen in deren Zimmer ging.

»Es ist aber gar nicht warm bei mir, Ilse.«

»Das ist ganz gleich. – Ich muß nur einen Augenblick mal allein sein. Zu Hause kommen gleich die Kinder in meine Stube. – Nein, du störst mich nicht, Riekchen. Ich setz' mich an das Fenster –«, sie legte den Kopf auf die Fensterbank, aber weinen tat sie nicht. Nur einen Augenblick nichts sehen und nichts hören.

Wie das fraß. Wie das drinnen riß im Herzen.

Das ihr! – Und sie hatte sich küssen lassen! – Und sie hatte sich als Braut gefühlt! – Und sie wartete geduldig, daß seine Eltern geruhen sollten, die bürgerliche deutsche Braut anzuerkennen. Und die hatten eine schöne, reiche, junge Gräfin für ihn an der Hand.

Was tat da so weh? Das Herz oder der Stolz? – Fast schien es, als sei der Stolz noch viel tiefer gekränkt als die Liebe.

Ein bitteres Stöhnen.

Von hinten legte Riekchen den Arm um sie. »Liebe, Liebste. Mein' Ilsebill, wer hat dir was getan?«

»Frag' nicht. Frag' nicht.«

»So gern' möcht' ich dir helfen.«

»Ich helf' mir schon allein. Nur ein bißchen Zeit. Nur erst das runterwürgen. – Rieckchen – ach, Riekchen –« Und nach einem tiefen Aufatmen: »Du sagtest mal, Georg ist nicht gewandt und nicht schön, aber er ist so ehrenhaft und gut. Das ist mehr. – Du hast recht, Riekchen, das ist mehr als Witz und Laune.«

Da ahnte das gute Riekchen, was die Freundin bedrückte, setzte sich still neben sie, sprach nichts mehr, strich ihr nur von Zeit zu Zeit leise über die Hand.

* * *

Fiete hatte einen schweren Stand. Er kam mit Malergerätschaften – Leiter, Farbtopf und Pinselkorb – über den Markt, und sofort sausten ihm drei Schneebälle um die Ohren. Zwei gingen vorbei, der dritte saß vorn auf der Brust. Die Dreizahl der Angreifer verriet die Doktorskinder. Hinter der Kirche sahen sie vor, griffen wieder in die dicken Schneehaufen und jagten ihm neue Geschosse entgegen. Wenn er nicht ein ohrenbetäubendes Hohngeschrei entfesseln wollte, mußte er sich zur Wehr setzen. Leiter, Topf und Korb standen im Schnee, Fiete griff hinein in die weiße Masse und sandte einen faustgroßen Klumpen zurück. Aber gellendes Gelächter überzeugte ihn, daß er doch zu sehr im Nachteil war. Die drei saßen versteckt hinter Pfeilern und Ecken und ließen sich nicht erwischen. Ihm aber flogen die nassen Ballen sausend um den Kopf und die Brust. Jetzt traf ihn einer an der Kehle und stäubte seine Feuchtigkeit tief hinein in das Hemd.

Wütend griff der lange Junge nach seinen Gerätschaften. Kaum war er wieder in Bewegung, jagte das Kleeblatt hervor und umtanzte ihn mit spottenden Zurufen. »Fiete. Fiete. Warum kommst du nicht mehr? Fiete, wenn du malst, malst du denn Ilse an die Wände? Fiete, du gehst ja gar nicht mehr auf Eiern. Erlaubt Meister Kolbe das nicht?«

Heulend vor Wut kam Fiete bei der Mutter an. Alles hätte er ertragen, aber daß sie sein tiefstes Geheimnis über den ganzen Markt ausschrien, das ertrug er nicht.

»Wart' nur, mein Fiete,« sagte Madam Eggers und stand von ihrer Näherei auf, »das will ich doch sehen – und daß du dein Recht kriegen sollst.«

»Du gehst nicht zu Rottmanns. Ich will es nicht. Die frechen Gören machen mich da nur noch lächerlicher.«

»Laß du mich man gehen. Ich weiß schon, wohin.« Sie ging in das Pastorat und gleich in die Studierstube von Johannes Jessen.

»Nun, Madam Eggers, was bringen Sie mir? Sie wollen wohl meine Frau sprechen?«

»Nee, Herr Pastor, ich komme zu Ihnen. Denn warum? Sie sind gesetzt, daß Sie ein Helfer sein sollen in der Not und ein Berater für die Armen.«

»Dann sprechen Sie sich aus.« Johannes Jessen hatte eine rührende Geduld. Sie wurde deshalb oft mißbraucht.

»Ich komm' wegen mein Fiete. Das kann so nicht gehen. Dabei geht er mir zu Grunde. Er muß da wieder weg von Maler Kolbe und muß nach Heide, und muß auf die gelehrte Schule, und muß sein Examen machen für die Universität. Das hat mich man zuerst so benommen, als wie Herr Pastor Rottmann – ja und sagt mir so bautz vor den Kopf, daß ich en dummen Jungen hab'. – Nee, so geht das nicht.«

»Ja, aber –, das ist eine teure Sache, Madam Eggers. Auf eine auswärtige Schule – so leicht geht das nicht.«

»Muß aber gehen, Herr Pastor. Ich hab' da nu meinen Kopf aufgesetzt, und denn so soll das woll werden. Aber Herr Pastor muß mir Beistand tun. Herr Pastor kann das.«

»Ich? Ja, wie von Herzen gern. Aber ich weiß wirklich nicht, wie das gemacht werden sollte.«

»Das gibt so 'ne Dinger, heißen Stipendier –, was? Ich hab' es mir schon eher sagen lassen. Sind für fleißige Studenten. Sollt' es so was nicht auch für fleißige Schüler geben? Denn fleißig ist mein Fiete, das kann ich woll sagen. Und läßt sich keine Arbeit verdrießen. Was kann ich ja auch tun, ich kann immer noch 'ne Stunde länger nähen bei Nacht, bloß daß die alten Talglichter so teuer sind. Und denn –« sie fingerte aufgeregt an ihren Hutbändern, – »es sind doch reiche Leute in der Stadt –, wenn Herr Pastor – ja und stellt es ihnen man richtig vor –«

Pastor Jessen wurde es schwül. Er wußte auch nur zu gut von seinem alten Amtsbruder, wie wenig Fiete für die Gelehrsamkeit geschaffen war. »Das ist alles viel schwieriger, als Sie sich das denken, Madam Eggers. Von den Summen, die da zusammenkommen müssen, haben Sie nicht die rechte Vorstellung. Zuerst muß er doch irgendwo in Pension, oder wenigstens ein Zimmer haben und Essen und Kleidung, und wenn es noch so bescheiden ist. Dann die Bücher, das Schulgeld – und dann dauert es Jahre –«

»Wenn Sie und wollten man richtig, Herr Pastor.«

»Und vor allen Dingen, es wird ihm bitter sauer. Sehen Sie, es gibt hochbegabte Schüler und Studenten, die sich ihren Lebensunterhalt mit Stundengeben an jüngere Schüler erwerben –«

»Hat mein Fiete hier all bei Rottmanns getan.«

»Ja, na ja. Aber Voraussetzung ist, daß ihnen das eigene Studium Zeit dazu läßt. Daß sie selber leicht fassen und behalten. Und Ihr Fiete dürfte seine Zeit dringend für sich selber nötig haben.«

Aber Madam Eggers wiederholte störrisch: »Wenn Sie – und wollten man richtig, Herr Pastor.«

»Ja, und wissen Sie denn, ob das zum Segen Ihres Sohnes ist? Denn nach allem, was ich bisher hörte, wird er das Ziel, das Sie ihm gesteckt haben, nie erreichen.«

»Oha, das sollt' sich man erst zeigen.«

»Ja, es wird sich zeigen, wenn er körperlich und geistig überanstrengt und zusammengebrochen ist. Lassen Sie sich zum Guten raten, Madam Eggers, lassen Sie Ihren Sohn ruhig in seiner Lehre und reden Sie ihm nicht den Kopf dick. Besser ein tüchtiger Handwerker als ein ewiger Student.«

»Herr Pastor will das nicht? – So – na, denn man nichts für ungut. Hätt' ich mir ja denken können. Schöne Worte vor der Gemeinde, und wenn es auf ankommt –« Bautz, flog die Stubentür, Pastor Jessen stand ganz verdonnert und sah der aufgeregten kleinen Person nach. Das hätte er nie gedacht, daß die so rabiat werden könnte.

Kopfschüttelnd ging er wieder an seine Predigt.

* * *

Ilse war ein bißchen blaß geworden, fanden die Großeltern. Sicher hatte das gute Kind entsetzlich viele Arbeit mit den Vorbereitungen zur goldenen Hochzeit. Wenn sie auch beide taten, als merkten sie nichts, sie spürten doch die Heimlichkeiten unten im Hause, und da sie frisch und gesellig waren, freuten sie sich auf ihren Ehrentag. Sogar der Propst Lilie aus Altona hatte geschrieben, daß er kommen werde, um seinen lieben alten Amtsbruder, bei dem er einmal Kandidat gewesen, einzusegnen.

Wie ein Lauffeuer ging diese Nachricht durch ganz Schmalebek.

Ja, der alte Herr –, man wußte, was man an ihm hatte.

Bisweilen fuhr in all die kleinen, fröhlichen Proben und die vielen Beratungen ein Wind aus der großen Welt, der sagte: »In Kopenhagen rechnet man von einer Woche zur anderen mit dem Ableben des Königs. In Kiel finden Versammlungen statt. Die jungen Studenten und ihre Professoren singen nicht nur ›Schleswig-Holstein meerumschlungen‹, nein, sie sind auch durchaus geneigt, dies Schleswig-Holstein mit dem Schwert in der Hand gegen alle dänischen Übergriffe zu verteidigen.«

Und Olaf Hammersmid, der doch jetzt mehr denn je daran hätte denken müssen, seine Ilse unter allen Umständen seiner Treue zu versichern, der ließ noch immer nichts von sich hören.

Die anonymen Briefe waren wochenlang verschwunden. Die Schmalebeker machten untereinander ab, das wäre die Kieler Nähmamsell gewesen, die bei den Fräulein Rosen die Nähstube geleitet hätte und kurz vor Weihnachten abgereist wäre. So eine hergelaufene Fremde, der war es auch zuzutrauen. Ein Schmalebeker tat das nicht. – Man atmete auf und beruhigte sich.

Da kam es an Herrn Nilius.

Herr Nilius, der so ungeheuer, so ganz peinlich exakt war, der auf seinem Ruf so wenig ein Stäubchen duldete wie auf seinem Chemisett, dessen kaufmännische Ehre so unantastbar war wie seine persönliche, Herr Nilius bekam einen ganz infamen Brief. In dem stand: Er sei ja als Ehrenmann in der Stadt bekannt gewesen, aber nun lege er darauf wohl kein Gewicht mehr. Da doch sein Herr Neveu, von ihm wie ein Sohn erzogen und gehalten, die jungen Mädchen in das Gerede bringe. Erst hätte er im Doktorhaus herumscharmuziert, dann im Pastorat, und das Mamsellchen Riekchen, das immer so täte, als könne es die Augen nicht aufschlagen, heulte ihm nun bittere Tränen nach. Und die Frau Pastorin hätte am letzten Sonntag früh einen Schreikrampf gehabt und würde zum Gespött in der Stadt, weil der erhoffte Schwiegersohn ihr so im letzten Augenblick aus dem Netz gegangen sei.

Herr Nilius wurde krebsrot vor Aufregung, als er das las.

So etwas ihm! – So etwas über seinen guten Georg, der gewiß nichts Unehrenhaftes getan. –

Ja, aber wenn die Leute es so auslegten? –

Wenn das brave Riekchen darum ein zerbrochenes Herz durch das Leben tragen sollte? –

Er griff zum perlengestickten Klingelzug und hieß den eintretenden Diener seinen Neffen sofort herbeirufen.

Der kam treuherzig und eifrig aus der Brauerei herangelaufen. Es kam selten vor, daß man ihn aus der Arbeit holte.

»Lies.« – Und er las.

»Was sagst du dazu?«

Er sagte gar nichts, er starrte nur entgeistert den Onkel an.

»Hast du dem Riekchen Jessen Hoffnungen erweckt?«

»Hoffnungen erweckt?«

»Ihr seid ja jetzt da bei euren Hochzeitsaufführungssachen viel zusammen. Hast du etwas gesagt, was sie so auslegen kann, als wolltest du dich um sie bewerben?«

»Ich wüßte nicht.«

»Und die Mutter?«

»Ja, die – die –. Ich dachte doch, das bildete ich mir wohl ein. Sie wurde so sehr nett, so –. Weißt du, seit ich vor Weihnachten bei ihrem Hause gefallen war. Sie tat so, als sei etwas Auffallendes, daß du die Kamelien schicktest. Wo es doch nur ein Dank war. Sie fing immer wieder davon an, und daß alle Leute sich darüber wunderten, und daß der Strauß viel zu kostbar gewesen sei. – Ja, ich bin ihr in der letzten Woche immer aus dem Weg gegangen. Aber Riekchen – Riekchen ist nicht so. Die ist ganz natürlich und ehrlich.«

»Glaubst du denn, daß Riekchen ein kleines Sentiment für dich hat?«

Der große Junge wurde rot. »Es möchte so scheinen.«

»Und die Leute reden. – Wenn es dir so scheinen will, hättest du vorsichtiger sein sollen. – Ich habe immer geglaubt, du inkliniertest in das Rottmannsche Haus.«

Da wurde er zur Päonie.

Herr Nilius tat, als sähe er das nicht. »Ja, dann mußt du sehen, die Sache zu redressieren. Denn durch uns darf kein junges Mädchen in ein häßliches Gerede kommen. Ich brauche dir wohl nicht erst zu sagen, wie du das anstellen sollst.«

»Nein.« –

Am Abend hatten sie Probe in der Post. Es war ein gewaltiges Rumoren im großen Saal, wo auf Fässern und Böcken ein Fußboden gelegt war, der die Bühne vorstellte. Kulissen hatte Eitel Bostrup gemalt, und Fiete Eggers hatte helfen müssen, die Farben mit gewaltigem Pinsel auf Wagenbretter zu streichen. Wasserfarben – man konnte sie wieder abwaschen. Unter einer anderen Bedingung hatte der Postmeister sie nicht hergegeben.

Acht Kinder sollten tanzen, und vier junge Mädchen kamen als die Damen des Kartenspiels, wobei Ilse die Coeurdame traktierte. Sie wurden aber überfallen von dem Bären, der wieder durch den Coeurkönig verjagt wurde. Der König wurde vom jungen Lateinlehrer gemimt und trug ein Schild auf der Brust: Kandidat Rottmann, zum Zeichen, daß er den goldenen Bräutigam vergangener Zeit präsentierte.

Es war großes Hallo auf der Bühne und noch mehr hinter den Kulissen, aber Riekchen war still, denn sie hatte nur zu wohl gemerkt, wie Georg, verscheucht durch das allzu offene Entgegenkommen der Mutter, sich zurückzog, und Ilse war mit den Gedanken fern in Jütland bei einem, der jetzt, nach vier Wochen, noch nicht ein Lebenszeichen gegeben hatte. Aber diese Gedanken waren heißer von Zorn als von Liebe.

Sie achtete darum nicht auf den Bären, der zum erstenmal im Kostüm steckte, einem Büffelfell, das Apothekers von einem Neffen aus Wisconsin geschenkt bekommen hatten. Es war eine Strapaze, dies Büffelfell, aber Georg trug es mit Geduld, und Ilse versicherte ihm, jeder Schweißtropfen, den es ihm entlockte, wäre ein Vorteil für seine Erscheinung. Also – man dulde.

Und endlich gelang es ihm, die Herzenskönigin in einem Winkel der Bühne zu fassen, wo sie allein auf einem Bock hockte und müde vor sich hinträumte, während die acht Kinder zum siebenundzwanzigsten und allerletzten Male ihren Tanz durchprobten.

»Fräulein Ilse.« – Sie fuhr zusammen. »Haben Sie fünf Minuten Geduld für mich?« –

Er würde doch nicht? – Wo sie es mit Riekchen so nett in ein günstiges Fahrwasser gebracht hatte! – »Fünf Minuten? Sagen wir drei. Oder wollen Sie auch in die anonymen Briefe hinein?«

»Ich bin ja schon drin.«

»Wie?«

Er berichtete. »Und nun will mein Onkel –. Sehen Sie, es ist ja für Riekchen unsagbar unangenehm, wenn sie das erfährt, und sie weiß nicht, wie ich mich dazu stelle. –« Er sah sie flehend an. So, als hoffe er noch immer auf ein Wort, das ihn aus dem Gemüsegarten in den Rosenhain riefe. Aber Ilse war nicht im geringsten geneigt, den Rosenhain zu öffnen. Im Gegenteil, sie schob ihn noch viel tiefer in den Gemüsegarten.

»Ja, da bleibt Ihnen doch nur ein Weg, Georg. Sie müssen mit Riekchen verlobt sein, eh' sie etwas von diesem Brief weiß. Denn wenn Sie und Ihr Onkel auch strengstes Stillschweigen bewahren, der Schreiber, der dem armen Riekchen entschieden einen Possen spielen will, wird sein Gift auch schon vor anderen ausspritzen. Hat es vielleicht schon getan. Soll Riekchen darunter leiden? Die ist viel zu gut dazu. Ich glaube, Sie haben überhaupt keine Ahnung, wie gut sie ist. So ehrlich, so treu in Freundschaft und Liebe, so selbstlos –, ich fürchte nur eins, daß sie viel zu gut ist für Sie.«

»Oh, aber –«

»Sie würde Sie maßlos verwöhnen. Sie werden dick und bequem werden. Sie werden nie wissen, was für einen Schatz Sie sich da gewonnen haben, denn Riekchen würde es Ihnen nie vorhalten, und das muß man tun, wenn die Männer in ihrem Egoismus –«

»Bin ich so egoistisch?«

Da mußte Ilse lachen. Nein, der gute Junge würde seiner Frau das Leben nicht schwer machen. »Sie gewinnen das große Los, Georg, wenn Sie Riekchen heimführen. Ich kann Ihnen das eidlich geben, denn sie steht mir so nah' wie keine andere Freundin.«

»Ja, ja –, aber die Mutter –«

»Die fällt Ihnen um den Hals. – Warum sehen Sie denn so unglücklich aus? Tante Jessen ist eine sehr nette Dame. Sie dürfen nur nicht dulden, daß sie in Ihrem Hause gleich Herrenrechte beansprucht. Und überhaupt, wenn einer solch' Glückspilz ist, daß ihm das Schicksal Riekchen Jessen geradezu in die Hand spielt, der kann auch wohl eine aufgeregte Schwiegermutter in Kauf nehmen. Etwas ist überall dabei.«

Da sagte Georg Grützmann mit einem allerletzten Versuch: »Und Sie, Fräulein Ilse? Ich dachte einmal –«

»Sie dachten, ich würde mich auch bald verloben, nicht? Haben viele Leute gedacht und dachten alle vorbei. Nein, ich werde eine nette, alte Familientante, und wenn wir dreißig Jahre älter sind, komm' ich jeden Donnerstag zum Whist, und – So, da klingelt Eitel Bostrup, die Kinder sind fertig. Nun bringen Sie uns nach Hause, ich geh' mit Eitel Bostrup voran, und Sie können mit Riekchen nachgehen. Und wenn wir dreimal um den Markt sind – oder wollen wir viermal sagen? –, dann brauchen Sie keine Angst mehr vor anonymen Briefen zu haben. Hand drauf?«

Georg schlug ein, wenn es auch nicht sehr mit Eifer geschah. Ja, ja. Dann war es also nicht anders. Ilse nahm ihn nicht. Auch dann nicht, wenn der kleine, infame Däne nicht mehr um den Weg war. Und heiraten mußte er wohl, das gehörte einmal zum Leben, und zu Schmalebek ganz gewiß. Und Riekchen war ein gutes Mädchen, ein ganz ausgezeichnetes Mädchen. – Ein versöhnendes Licht ging über der Stunde auf.

»Kommen Sie«, sagte Ilse und legte die Hand auf den Arm des Zeichenlehrers. »Sie dürfen mich führen, denn es ist abscheulich glatt heute abend, und mir schwant, Georg Grützmann wird wohl genug mit Riekchen Jessen zu bereden haben. Die scheinen noch eine Extraüberraschung für morgen in Szene setzen zu wollen. – Ach, ist die Luft herrlich. Da im Saal ist ein ewiger Müff. Gehen wir noch ein bißchen um den Markt.«

Was tat der fidele Zeichenlehrer lieber, trotz seiner Fünfundvierzig, als Arm in Arm mit einem hübschen Mädchen beim matten Sternenlicht durch die Nacht zu wandern. Wenn er auch keinen Mantel trug, er trug nie einen, so wurde ihm warm genug von der reizenden Nachbarschaft. Er fing an zu improvisieren.

»Glück ist nicht Glück allein, man muß es auch fangen,
Mir ist ein reizendes Glück in die Arme gegangen.«

»Höchstens an den Arm. Und dann hinken auch wieder verschiedene Versfüße.«

»Laßt sie hinken. Bei meinem Eid,
Das sieht man nicht in der Dunkelheit.«

»Nein, Herr Bostrup, wenn Sie unerträglich werden, kürze ich den Weg ab. Trotz Georg Grützmann und Riekchens Überraschung.«

»Wovon befehlen gnädigste Mamsell, daß ich reden soll?«

»Erzählen Sie mir von Ihren Schülern. Gucken Sie noch durch die Beine?«

»Das ist gar kein Grund zum Hohn. Man sieht die Welt erst richtig, wenn man sie verkehrt herum sieht. Passen Sie mal auf –« Wie der Blitz beugte er sich nach vorn hinüber und sah zwischen den gespreizten Beinen durch nach den beiden Nachfolgenden aus. Als er, durch einen kleinen Puff von Ilse zurückgerufen, wieder eine gerade Stellung angenommen, sagte er tiefernst: »Das war der Beweis. Ich habe eben auch zwei Menschen erst richtig gesehen.«

»Das werden die zwei Menschen gar nicht gewünscht haben.«

»Oh, der dicke, gute Georg! Oh, das brave, gute Riekchen. Was werden das für Musterkinder werden. – Immer aufrecht, nie kopfüber in der Welt.«

Aber Ilse reagierte nicht. »Hat Fiete nun abends bei Ihnen Zeichenunterricht?«

»Hat er. Der Bengel hat mehr Talent für den Stift in seinen Fingerspitzen als Verstand in seinem ganzen Schädel. Aber die verdrehte Alte! Die war schon ein verrücktes Huhn, als sie noch in unserem Dorf steckte und Line Pimpernelle hieß. Mich konnte sie nie leiden. Ich hatt' ihr mal, als sie zum Konfirmandenunterricht ging, die Röcke mit ihrer Nachbarin von hinten zusammengenäht. Ich war drei Jahre jünger und mußte beim Pastor die Stuben mit Sand streuen, weil mein Vater doch Küster war. Und der Herr Pastor ließ auf sich warten. Und dann blieb ich hinter der Tür, bis sie aufgerufen wurde, und es gab einen großen Hallo. – Sie ging mir nachher aber mit den Nägeln in das Gesicht – ich war acht Tage lang geschunden. Jetzt ärger' ich sie damit, daß ich den Jungen umsonst abends zeichnen lehre. Sie ist Gift und Galle gegen mich.«

»Also nur um Mam Eggers zu ärgern, tun Sie ein gutes Werk.«

»Ganz richtig. Aus lauter Bosheit bin ich zu einer guten Tat gekommen.«

»Ich glaube, nun könnten wir auch wohl heimgehen.«

»Soll ich noch 'mal durch die Beine gucken?«

»Ist nicht nötig.« Ilse hatte sich gewandt, und als sie Georg und Riekchen Hand in Hand herankommen sah, lächelte sie ihnen entgegen.

»Darf ich morgen herumkommen und Glück wünschen, Riekchen?«

Die strahlte so, daß man es selbst im matten Nachtdämmern sehen konnte. »Wünsch' mir jetzt schon Glück, Ilse. Du bist die erste, das bringt mir Gutes.«

»So glücklich können nur Leute sein, die Geld haben«, murmelte Eitel Bostrup im Tragödienton, als er Ilse an ihre Tür brachte. »Wenn ich mein Herz entdecken würde – mein Herd würde kein Feuer haben für ein häusliches Glück.«

»Ihnen würde solch häusliches Glück bald genug zuviel sein. Gute Nacht, Herr Bostrup.«

Wie sie in das Haus kam, trat Hanse ihr auf dem Flur entgegen. »Es liegt oben ein Brief für dich, mein Herz.« Der Ton sagte genug. Ilse wußte, dieser Brief trug dänische Marken. Sie lief aber nicht hinauf, sie ging mit schweren Füßen. Was stand in dem Brief? Und was wünschte sie, daß in ihm stehen möchte?

Langsam riß sie ihn auf, stellte das Licht dicht heran und las.

 

Meine geliebte süße Ilse!

So lange hab' ich gezaudert. Sollte ich schlimme Nachricht geben? Meine Ilse soll nicht traurig sein um mich. – Wir müssen viel Geduld haben, süße Ilse. Es ist dunkel zwischen Dänemark und Holstein, und sie sagen, es wird noch viel dunkler. Und meine Eltern sind so sehr Dänen, sie sprechen kein deutsches Wort mehr, sie wollen keinen deutschen Knecht mehr auf dem Hofe.

Meine geliebte Ilse, wie soll es werden? Die Welt ist nicht hübsch. Ich möchte Dir die Augen küssen und die süßen Lippen und möchte mit Dir im Schnee gehen, und in der Ferne spielt der Kantor: Du, du liegst mir im Herzen. – Ich liebe deutsche Volkslieder und ein deutsches kleines Mädchen, aber man gönnt es mir nicht. Man will mich verheiraten mit einer Gräfin, einer schönen, stolzen Gräfin. – (Das Wort ›schönen‹ war wieder ausgestrichen.) Sie sieht auf mich herab, denn sie hat zwar weniger Ahnen, aber großen Besitz, und ich sehne mich nach einem lieben Mädchen ganz ohne Ahnen, aber das besitzt mein Herz. Was wollen wir tun, kleine Ilse? Es ist keine Freude, zu leben.

Dein sehr trauriger Olaf.

 

Sie ließ den Brief auf den Tisch fallen und starrte in die Flamme, bis ihr die Augen brannten. War das der Brief, den sie erwarten konnte? Der Brief, den ein Verlobter seiner Braut schrieb? Wenn der Vater diesen Brief las –, wie würde er den Mund verziehen und sagen: »Liebenswürdig elegant und nichts dahinter. Ganz der Kopenhagener Kavalier.« – Aber der Vater würde den Brief nie lesen. Sie hielt das Blatt an das Licht, und als es zu brennen begann, warf sie es in den Ofen, sah zu, bis es ganz verkohlt war, ging – immer mit den starren, tränenlosen Augen –, an den Tisch zurück und entzündete eine zweite Kerze. Dann setzte sie sich hin und schrieb die Antwort. Das Zimmer war bitter kalt, aber sie spürte es nicht.

 

Lieber Olaf!

Wir wollen nicht unnütze Worte machen, wenn es jetzt heißt, einander Lebewohl sagen. Dein Brief hat mich nicht überrascht, Frau von Krog hatte schon bei uns für Aufklärung gesorgt. Tu nach dem Willen Deiner Eltern, es ist sicher das Beste für Dich, und ich glaube, es wird Dir auch nicht allzu schwer werden. – Du hast die bittere Pille, die Du mir gegeben, sehr überzuckert, ich habe doch die Bitterkeit durch den Zucker geschmeckt. – Ja, es ist dunkel in der Welt, sie sagen es alle, und Du weißt nichts mit dunklen Stunden zu beginnen. So lebe wohl und mach' es mit diesem Brief wie ich mit dem Deinen, überlaß ihn den Flammen. – Es ist ein Sommertraum gewesen – solche Träume erfrieren leicht.

Ilse.

 

Sie las ihn nicht durch, kuvertierte ihn, siegelte, nahm den abgeworfenen Mantel um die Schultern und ging wieder hinüber zur Post. »Der Brief muß mit der Morgenpost fort, Herr Postmeister«, und ohne zurückzuschauen wieder aus dem Hause und heim.

Hanse, die ihr Gehen und Kommen belauscht, trat wieder aus der Wohnstube. »Komm' herein, Vater sitzt noch über den Büchern.«

»Laß mich zu Bett gehen. Morgen wird ein unruhiger Tag, und ich bin müde.« Sie legte einen Augenblick den Kopf auf die Schulter der Mutter und atmete tief auf. »Wie du mich ansiehst. Nein, krank werde ich nicht. Nicht im Kopf und nicht im Herzen. Wir Rottmanns sind eine feste Art. Ich lass' mich nicht werfen, Hansemutter. Ja, du. Du hast mich lieb, hast du nicht? Mutterliebe ist die einzige, auf die Verlaß ist.« Und schnell, sich zusammenreißend: »Nebenan singt Tante Helene jetzt Halleluja! – Eben ist es zwischen Riekchen und Georg zum Schluß gekommen. Schlaf schön, Schatzliebste.«

Sie ging auf ihr Zimmer und schlüpfte in das Bett und sah durch die Fenster hinaus in die Nacht. Sah die Sterne, frostklar, über den Himmel wandern, glimmern und funkeln, sah die Mondsichel sich zum Horizont neigen, dorthin, wo das Meer hinter den Deichen sang, dachte an den Strand und die leuchtenden Möwen, die an einem wundervollen Sommersonntag über lachendes Jungvolk hinsegelten, und da stieg es ihr doch plötzlich siedend heiß in die Augen. Sie preßte den Kopf tief in die Kissen und weinte wie ein verzagtes Kind.

Das Leben hatte die kleine Ilse lange sehr liebgehabt, hatte ihr kein Spielzeug zerschlagen, nach dem sie Verlangen trug –, und zu dem ersten jungen Herzeleid kam die bittere Erkenntnis, daß sie – die bewunderte, vielbegehrte, immer sieghafte Ilsebill Rottmann dem jungen Baron auch nur ein etwas ernsthafteres Sommervergnügen gewesen war.

Wenn der Vater wüßte von jenem Zusammentreffen auf den Feldern, von den heißen Küssen, von den heimlichen Liebesworten – Gott sei gelobt, er wußte es nicht. Das hätte sie nicht überlebt.

* * *

Der große Tag war angebrochen.

Dunkel lag noch über der Stadt, die Turmuhr schlug sechs.

Pastor Rottmann war wach geworden, wühlte behaglich in den warmen Federn und gedachte noch ein kleines Stündchen in dieser stillen Beschaulichkeit seinen Gedanken Audienz zu geben. Er war ein Frühaufsteher, aber was tut der Mensch im Winter bei Dunkelheit und in ungeheizten Zimmern? – Eben schlurfte Mile draußen über den Flur, jetzt knackte es im Wohnzimmer, sie hatte wohl Herdglut in das Ofenloch geschoben und legte harziges Kienholz auf. So anheimelnd klang das. Man sah ordentlich die spitze, grellrote Flamme aufzüngeln.

Nun ein anderer Ton. – Der Kantor grüßte seinen alten Vorgesetzten und Freund. Die Glocken auf seinem Häuschen sangen:

Was Gott tut, das ist wohlgetan,
Es bleibt gerecht sein Wille.
Wie er fängt meine Sachen an,
Will ich ihm halten stille.

»Luise,« flüsterte der alte Herr und tastete in der Dunkelheit nach der Hand seiner Eheliebsten, »hörst du ihn? Er weiß doch immer, was mir durch den Kopf geht. Durch den Kopf und das Herz. – Wir haben viel durchlebt, Luise, aber was Gott tut – nicht wahr?« Und seine Stimme klang bewegt und gerührt.

»Ja, Rottmann, ja«, aber er sah ihr Gesicht nicht in diesem Augenblick, und vielleicht war das gut. Luise Rottmann konnte sich noch immer nicht damit abfinden, daß Gott ihre beiden Töchter vor ihr abgerufen hatte, daß die Gräber fern der Heimat lagen, daß im fremden Land – denn nicht wahr, Hannover und Mecklenburg waren doch fremde Länder? – Enkelkinder aufwuchsen, die sie nicht kannte, denen ihr Großmutterherz keine zärtlichen Worte geben konnte. – Doch sie widersprach dem alten Lebensgefährten nie, wenn er eine Meinung äußerte. Sie war noch nach alter Art erzogen worden, und ihre Schwiegertochter, die so unbekümmert mit ihrem Mann umsprang, die hatte sie nie begriffen. Leise verhallte das sanfte Klingen, die Minuten gingen still eine hinter der andern her durch die dunkle Stube, langsam kam ein matter Schein von den Fenstern her. Und die alte Turmuhr rief sieben. Dröhnen und Schmettern. Sie fuhren beide in die Höhe –, dann brach der alte Herr in Lachen aus. Die Schmalebeker Stadtkapelle brachte ein Ständchen. Und sie bliesen gewaltig die Backen auf, und ihre Lungen gaben her, was an Luft in ihnen war.

Die Menschen liefen zusammen auf dem Markt. Rottmann trat aus der Haustür und dankte im Namen seiner Eltern, und Frau Hanse ließ dampfenden Punsch bringen, und Änne und Gitta, warm angezogen, liefen mit Kuchenkörben, und Ilse erschien und schenkte die Gläser immer wieder voll, und als die Musikanten gegangen, kamen schon die ersten Boten mit Blumen und Geschenken, und der Trubel des großen Tages begann. Von elf Uhr an war Gratulationscour, zu der sogar Propst Lilie antrat, Propst Lilie, eigens aus Altona mit der Post eingetroffen, gewissermaßen als Glanzpunkt des Tages.

Wie er dastand, das Gläschen mit Madeira in der zierlichen, weißen Greisenhand, den schmalen Kopf mit dem silberweißen Scheitel ein wenig dem Jubilar zugeneigt, und mit seiner gütigen Stimme sagte: »Der Segen Gottes und die Liebe Ihrer Freunde möge Ihr Leben so wie heute auch fernerhin jeden Tag in Sonne tauchen«, da wurden Frau Luisens Augen feucht, und sie sah ihren Rottmann an und gelobte sich ihm für die letzte Lebensspanne noch einmal und viel ernster und tiefer an als an jenem Tag vor fünfzig Jahren.

Unruhe und Lachen und Sprechen. Gäste und Gaben. Enkel, die sangen, Freunde, die es so grenzenlos gut meinten, Lieferanten, die bei dieser Gelegenheit ein bißchen Gutes erwischten –, in der Küche Mile und Madam Eggers, und überall Blumenduft und Kuchengeruch und nirgends ein ruhiges Fleckchen für ein paar alte, müde Leute. Bis endlich Hanse durchgriff und die alten Herrschaften in das Sprechzimmer des Doktors brachte. »So, Vater, so, liebe Mutter, nun ruht euch erst ein Stündchen hier auf dem Sofa. Bis es Kirchzeit ist. Sonst haltet ihr nicht durch den ganzen Tag.«

Ihr selber schwirrte der Kopf. Und immer einmal sah sie unruhig nach Ilse aus, denn die wollte ihr gar nicht gefallen. Was für dunkle Schatten das Mädchen um die Augen hatte. Wie es oft ganz in Gedanken versank, dreimal angerufen werden mußte und sich dann mit übertriebenem Eifer in ein Gespräch oder eine Arbeit stürzte.

Nur einmal war sie ganz dabei gewesen, als Georg Grützmann eintrat, sein Riekchen am Arm, und hinter ihnen Pastor Jessen mit seiner glückstrahlenden Frau. Da hatte Ilse die Freundin in die Arme geschlossen und gesagt: »Du sollst so glücklich werden, mein Riekchen, wie du es verdienst, und kein Mensch verdient es so wie du.«

Für Schmalebeker Verhältnisse war es ein bißchen viel auf einen Tag, eine goldene Hochzeit und eine Verlobung. Man mußte sich erst daran gewöhnen. Das Leben nahm ja plötzlich ein Tempo an – Und als wollte es die Menschen aus einer Aufregung in die andere stürzen, kam Mittags die Post und brachte die langerwartete und nun doch alles erschütternde Nachricht, daß Kristian VIII. zwei Tage zuvor heimgegangen sei.

Die Menschen, die das Rottmannsche Haus nach dem Gratulieren verließen, blieben auf der Straße stehen und redeten aufgeregt weiter.

Vor der Post stauten sich die Wißbegierigen, denn es war ein Schneider aus Kiel in der Kutsche gewesen, der hatte es dort als sicher gehört, und man konnte zum Abend schon den Hamburger Korrespondenten erwarten, der immer alle großen Ereignisse schwarz auf weiß brachte. Und dann – was wurde dann?

Madam Eggers, mit fieberroten Wangen und heißen Augen, wutschte immer hin und her zwischen Küche und Stube. Sie reichte Wein herum – an solchem Tag, wo die Haustöchter auch präsentierten, war das keine Erniedrigung, sie schnitt Torten, sie bot hier an und nötigte dort, und ihre Augen und Ohren waren überall.

Zitternd vor Erregung kam sie heraus. »Mile. Mile. Er hat sie genommen. Der dicke Grützmann – Hat sie richtig am Arm.«

»Unser Ilse?«

»Ach was, euer Ilse! Riekchen hat er. Und die Mutter! Sollst mal die Mutter sehen. – Na, wo er Geld hat wie Heu! Und sie hat mir drei Schilling abgezogen von der Gesellschaftshaube. Die alte Geizkruke. Das kann ihr so passen.« Sie lachte so laut und gellend, daß Mile ganz erschrocken herumfuhr. »Ja, wo was ist, da fällt was hin. Und mein Fiete – och, der soll nicht mal auf die Schule. – Mile, ich sag' man, 'ne große Schweinerei ist das Leben.«

»Was redst du denn? So sprichst du doch sonst nicht. Tust doch sonst immer so fein. Angeline –«

Madam Eggers hörte nicht mehr auf sie. Sie hatte bemerkt, daß von der Sandtorte nur noch ein Eckchen übrig war, und packte das eilig in ihren Korb. Fiete aß so gern Sandtorte.

»Nu haben sich die Alten büschen hingesetzt zum Schlafen. Nachher gehen sie ja in die Kirche. Was der Propst woll für 'ne Rede hält? Seit drei Tagen hat der Küster die Kirchenöfen geheizt, euer Doktor hat das Holz dazu geschickt. Ich war vorhin mal drin in der Kirche. Ist schön warm. Und am Altar alles voll Grün, hat Herr Nilius geschickt. Und en großer Teppich vor dem Altar, und –« Sie verstaute schnell ein Gläschen Gelee mit in den Korb. Gelee hielt sich, das konnte man immer brauchen, und hier stand der ganze Keller voll von Eingemachtem. Es kam auf ein paar Gläser mehr oder weniger gar nicht an. Die Gläser – natürlich, die Gläser brachte sie bei Gelegenheit wieder. – O lieber Gott, nein, man war doch ein ehrlicher Mensch. Wie hätt' sie woll mal eins von Frau Pastors Gläsern behalten können. – Da hatte auch noch ein Paket belegter Brötchen Platz. Waren vom Frühstück übrig geblieben, wären morgen doch man trocken gewesen. Und Fiete hatte immer solchen Hunger, wenn er abends von der Arbeit kam.

»Mile, nu kuck, nu geht jawoll der Propst mit Jessens weg. Hat ja en großen Pelz an. Ja, das rentiert sich, in Altona der Erste bei der Kirche zu sein. – Na ja, na ja, ist noch nicht aller Tage Abend. Ob er woll zu Jessens mit reingeht?«

Der kleine, zierliche Propst mit dem klugen Kopf ging mit hinein zu Jessen. »Wenn Sie ein Stündchen für mich Zeit haben, lieber Amtsbruder?« Wer hätte für solche Ehre keine Zeit gehabt?

Sie saßen in den roßhaarbezogenen Sorgenstühlen dicht am Ofen und rauchten eine Zigarre, und der Propst gab sich sehr menschlich und gar nicht als Vorgesetzter, versank dazwischen immer einmal in seine Gedanken, und Johannes Jessen konnte das Gefühl nicht los werden: Irgend etwas hat er auf dem Herzen. Er will nur nicht mit der Tür in das Haus fallen. –

So nach einer kleinen halben Stunde, da kam es. »Was ist das eigentlich hier in Schmalebek, lieber Amtsbruder, für ein wunderliches Treiben mit anonymen Briefen? Man hat schon bei uns in Altona davon erfahren.«

»Ja, ja, das ist eine häßliche Sache. Anständige Menschen werden angegriffen, und aus den kleinsten Harmlosigkeiten werden böse Klatschereien gemacht.«

»Sind die Dinge immer harmlos?«

Jessen berichtete von der Reise an die Elbe, die eigentlich an den Rhein hätte gehen sollen, und wie der Whistklub wegen seines Prassens angegriffen sei, was doch gewiß Verleumdung, »wenn man ja auch sagen muß, daß die alten Herrschaften, die sonst nicht mehr viel vom Leben haben, sich gern bei der Gelegenheit einen guten Happen gönnen«. Und daß verschiedene Kaufleute böse heruntergemacht wären, wegen schlechten Gewichts, und der Bäcker wegen seiner Unsauberkeit –

»Nun also,« sagte der Propst »es ist, wie überall bei solchen Dingen, ein Körnchen Wahrheit ist an der Sache. Man hätte auch dies Körnchen vermeiden sollen. Aber wir sind allzumal Sünder.« Und plötzlich, scharf betont: »Das würde mich nicht erregen, wenn es sich nicht um einen Diener der Kirche handelte. Man hat auch Sie, lieber Amtsbruder, mit einem häßlichen Verdacht beworfen?«

»Mich?« Johannes Jessen fuhr ordentlich hoch aus seinem Stuhl. »Was in aller Welt habe ich denn verbrochen?«

»Sie können sich denken, daß ich auf anonyme Zuschriften nichts gebe. Doch diese haben sich dreimal wiederholt, und da ich befürchten mußte, daß man Sie auch an anderen Stellen in ähnlicher Weise angreifen möchte, kam ich herüber. Die goldene Hochzeit war nur der willkommene unauffällige Vorwand.«

»Aber um des Herrn willen, was kann man mir vorwerfen? Bin ich zu lax im Amte? Meine Frau meint es oft. Aber ich bin kein Streiter, ich habe mehr Mitleid und Erbarmen als Zorn –«

»Nein, es handelt sich nicht um Ihr Amt. Man spricht von Ihrem Privatleben.«

Da hatte er überhaupt keine Antwort mehr.

»Es wird angedeutet, daß eine Dame in Ihrer nächsten Nachbarschaft sich Ihrer besonderen Neigung erfreuen dürfte. Daß Ihre Familie unter dieser unerlaubten, hm – Liebe litte. Daß Sie sogar mit dieser Dame einsame Fahrten über Land machten. Daß man nicht wissen könne, wie weit das alles ginge, sintemalen die Gärten durch ein Pförtchen verbunden wären und man unauffällig herüber und hinüber schlüpfen könnte. Es heißt, daß bereits Gemeindemitglieder an dieser Sache Ärgernis genommen –«

Da hielt sich Johannes Jessen nicht mehr. Auch ihn erfaßte einmal gerechter Zorn. »Das ist unerhört. Das kann nur auf eine einzige Frau gehen, denn die kleine Pforte zwischen den Gärten ist nur einmal vorhanden. Aber diese Frau anzugreifen, ist geradezu eine Gemeinheit. Jawohl, eine Gemeinheit. Der kann kein Mensch etwas nachsagen. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer.«

»Ihr Eifer ehrt Sie, lieber Bruder, aber ist er nicht etwas reichlich stark?«

Reichlich stark? Nun sah seine Unschuld am Ende schon wie Schuld aus? Jessen wußte nicht mehr, was sagen. Ganz verdonnert starrte er seinen Vorgesetzten an, riß sich zusammen und sagte ganz klar und bestimmt: »Ich weiß mich frei von jedem schlechten Gedanken. Und Frau Doktor Rottmann, denn die ist gemeint, ist mir eine liebe Verwandte, wie mir das ganze Nachbarhaus lieb und zugehörig ist, weiter nichts. Und was die Fahrt betrifft –«

Sie saßen noch eine weitere halbe Stunde beieinander, dann erhob sich der Propst. »Ich muß gehen. Um vier ist die Einsegnung, drei hat es schon geschlagen. Es tut mir leid, Ihnen vielleicht den Tag verdorben zu haben, aber da ich morgen in aller Frühe fahren muß – Und schweigen konnte ich nicht.«

»Ich danke dem Herrn Propst, daß ich nun weiß, was man redet. Ich hoffe, es wird mir gelingen, den Schreiber zu entlarven.«

Wie er den Propst an die Haustür geleitete, kam Herr Nilius herein und wollte sein Recht als Verwandter zum erstenmal der Nichte gegenüber wahrnehmen. Aber Riekchen und die Mutter waren schon beim Ankleiden, er mußte sich mit dem Hausherrn begnügen. Und weil dem Prediger noch das Blut kochte, und weil Herr Nilius nebenan dem Madeira zugesprochen, waren sie bald da, wo eigentlich keiner von ihnen hatte sein wollen, bei den anonymen Briefen.

»Sie auch?« fragte Herr Nilius. »Hat denn dies Unding nicht einmal vor der Kirche Respekt? Wenn ich auch d'ran mußte –« Und ehe er sich recht überlegt hatte, was er tat, hatte er den Brief gebeichtet.

»Also darum – also nur darum hat Ihr Herr Neffe –«

Da bekam Herr Nilius einen Schrecken. Er, der so peinlich korrekt war, wie hatte er so entgleisen können? »Darum nicht. Oh, mein lieber Jessen, gewiß nicht darum. Das war nur der letzte Anstoß. So geschah schon gestern abend, was heute in dem fröhlichen Hochzeitstrubel geschehen sollte.« Er log einfach darauf los, so wenig ihm das lag. »O nein, wenn Sie das so ansehen, muß ich ja bedauern, Ihnen überhaupt davon gesprochen zu haben. Bitte, erwähnen Sie es doch Riekchen gegenüber nie. Sie könnte an der Liebe ihres Verlobten zweifeln.«

»So,« sagte Johannes Jessen zu sich selber, als auch dieser Besuch gegangen, »das sind ja angenehme Dinge. Aber wer in aller Welt hat ein Interesse daran gehabt, Riekchen und Grützmann auseinander- oder zusammenzureden?« Und wie er das dachte, erschrak er doch.

»Helene!« –

Hatte er es laut gerufen? – Hatte es jemand gehört? – Das Zimmer war leer. Jetzt kam die Stimme seiner Frau über den Flur: »Johannes, es wird Zeit zum Umkleiden.« – Wie froh die Stimme klang. So hatte er sie seit Jahren nicht gehört. Ja, diese Verlobung war endlich ein Glück, wie sie es ersehnt hatte. Morgen würde sie anfangen, über Aussteuersorgen zu klagen, aber heute war sie wunschlos glücklich. Konnte sie – Himmel, das durfte man nicht einmal denken. Trotzdem – man dachte es immer wieder. Wie er hinüberging in die Schlafstube und die Frau im violetten Seidenkleid, schon fast fertig, aufgeregt herumhantieren sah, hier steckte noch eine Blume nicht richtig, dort mußte eine Spitze mehr hervorgezupft werden, spürte er die immer in ihr gärende Aufregung, die sich jetzt nur einmal in Freude gewandelt hatte. Was hatte Rottmann einmal gesagt, als er mit ihm über ihr Wesen gesprochen und über all die Leiden, die sie plagten: »Verdreht ist sie. Unerzogen und unbeherrscht. Da entgleisen die Nerven. Paß auf, daß sie nicht noch mal allerlei Unfug angibt. Man weiß nie, worauf solche Frauen verfallen.«

Während er sich umkleidete, flogen ihm die Gedanken im Kopf. Sie hatte diese Partie brennend gewünscht. Sie hatte auf Hanse eine ganz unberechtigte alberne Eifersucht. Sie hatte ihm eine böse Szene gemacht, als er damals mit der Kusine zu Krogs gefahren war. Sie redete sich in tausend Dinge hinein, die nur in ihrer Einbildung existierten. Sie war der Ansicht, er sei viel zu nachsichtig als Geistlicher, es müßte ganz anders hineingeleuchtet werden in all die Schmalebeker Dummheiten und Sünden. – Sie hatte oft gesagt, es sei Unfug, wie im Whistklub aufgetafelt würde, denn das machte ihr selber Kosten und Mühe. Sie –

»Was hast du denn nur«, fragte Helene. »Du wirfst ja alles durcheinander. Nun fällt noch der Kragenknopf hin. Da unter dein Bett ist er gerollt. Komm her, ich will ihn dir einknöpfen. Sieh mal, die ersten Leute gehen schon in die Kirche.«

Er ließ sich den Knopf befestigen, er ließ sich in den Rock stecken, sich den Hut in die Hand drücken –, immer ging es ihm durch den Kopf: »Ich muß es ihr sagen. Gleich muß ich es ihr sagen. Und dann – dann darf diese Verlobung nicht zur Heirat führen. Herr, mein Gott, daß unser Kind auf solche Weise zu seinem Glück kommen soll. – Erschlichen von der Mutter – Und wenn es herauskommt, daß meine Frau – meine Frau – meine Stellung ist unhaltbar. Wie sie auf uns herabsehen werden! Unausdenkbar! – Mein Riekchen, mein Riekchen.«

Da faßte ihn gerade sein Riekchen um und sagte: »Du bist heute ja ganz verwirrt, Vater. Wie gut, daß du nicht die Rede halten mußt. Du hast Georg ja gar nicht Guten Tag gesagt.«

Nun gingen sie über den Markt, die Eltern voran, das junge Paar, Arm in Arm, hinterher.

Von allen Seiten strömte es in die Kirche. Olle, der Polizist und Nachtwächter, Schmalebeks ungekrönter Herrscher, stand vor der Kirchentür und scheuchte mit seinem Knotenstock die Jungen, die sich eindrängen wollten. Die Orgel sang schon leise, der Kantor spielte heute als Vorspiel eigene Kompositionen. Und wie er sie spielte, sah er vor Augen die eigene Trauung, die nie stattgefunden hatte, sah sich jung und hoffnungsfroh neben der goldblonden, schlanken Melanie Rosen – Vor vierzig Jahren hätte das sein sollen. Nie war es gewesen, nicht einmal die Erinnerung an diesen Höhepunkt hatte er. Und warum? Weil ein albernes Zigeunerweib dummen Tratsch geredet hatte, weil kleinstädtischer Aberglaube wilde Angst schuf, weil er nicht den Mut hatte, demgegenüber ein Glück zu erzwingen, das vielleicht an innerer Angst der Geliebten zum Elend geworden wäre. Wußte er nicht mehr, was seine Hände griffen? Ganz mechanisch war er hineingeglitten in den Choral: »Wer nur den lieben Gott läßt walten und auf ihn hoffet alle Zeit –«

Er auch, er, der einmal ein Freigeist gewesen, er war in dieser stillen Kleinstadtluft wieder ganz kindgläubig geworden. Man kämpfte hier nicht, man rang nicht mit wilden Gefühlen, man lag unter einer Decke, die alles gleichmäßig einhüllte, und die Luft war lau, und die Wünsche waren lau, und wer das nicht ertragen konnte, der mußte eben fortgehen aus Schmalebek. Oder er mußte von ganz besonderem Holz sein und ein heiliges Feuer in der Seele tragen.

Die Chorjungen, die an der Tür Wache gestanden, polterten die Chortreppe herauf. »Sie kommen, sie kommen.« – Da griff er fester hinein in die Tasten und spielte seinem alten Pfarrer dessen Lieblingslied: Allein Gott in der Höh sei Ehr.

Alle Schmalebeker standen in den Stühlen, wie das alte Paar durch die Kirche den langen Gang heraufkam. Und es war, wie Hanse vorhergesagt, die Großmutter in dem Grauseidenen, den goldenen Kranz im weißen Haar, den Schleier über den silbernen Seitenlöckchen, die lieben, alten Augen immer noch wie dunkle Sterne, war so von innenher durchleuchtet, so verklärt, daß sie schöner war als alle jungen Mädchen und alle geputzten Frauen.

Denn es ist die Seele, die das Antlitz schafft.

Sie traten vor den Altar, der Propst selber, über dem Talar die gewaltige Halskrause, das goldene Kreuz, das Zeichen seiner Würde auf der Brust, trat heran –, alles wurde totenstill in der Kirche. »Dein Volk ist mein Volk, dein Gott ist mein Gott, wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben sein –«

Ilse hörte die Worte an ihr Ohr klingen, die ihr einmal – eine Sommernacht lang – den Sinn nicht verlassen hatten. Damals hatte sie gefragt und gehofft – nun war das alles vorbei. Schon trabten die Postpferde, die ihren Brief trugen, der dänischen Grenze zu. – In zwei Tagen würde er ihn haben. Würde ein wenig empört sein –, würde sagen: »Oh, süße Ilse, mußte das sein?« – würde drei Tage mit einem Mund herumgehen, dessen Winkel nach unten gezogen waren in tiefstem Selbstbedauern, und dann – dann würde er mit der stolzen Gräfin auf die Fuchsjagd reiten und im gefrorenen Sumpf auf Enten schießen. – Sie riß sich zusammen, denn sie spürte, daß sie beobachtet wurde. Die Augen zur Seite wendend, erkannte sie Thomas Raben. Er war eben erst mit Extrapost gekommen und gleich in die Kirche gegangen. Das war ein gutes Empfinden. Dies energische, braune Gesicht, diese klaren Augen –, es war gut, daß er gekommen war. Der raspelte kein Süßholz, und wenn er bei Tisch neben ihr saß, und sie mochte nicht reden, dann würde er das verstehen und sie gewähren lassen.

Es gibt so wenig Menschen, die uns gewähren lassen. So wenige, die es spüren, wie die heimlichen Wasser in unserer Seele rinnen. Ordentlich froh legte sie, als es nach der Einsegnung hinüberging zur Post, ihre Hand auf seinen Arm und ließ sich führen.

In den Vorderzimmern war für vierzig Personen die Tafel gedeckt, in dem großen Saal, wo sich ganz Schmalebek versammelte, so weit es nur einen sauberen Rock anzuziehen hatte, spielten sie danach dem alten Paar Erinnerungen aus ferner Jugendzeit. Dann begann der Tanz, und Pastor Rottmann führte mit seiner Luise die Polonäse an und ging alle schönen, altmodischen Touren durch und ließ sich mitten hineinwickeln in das große Knäuel und kroch durch all die erhobenen Hände hindurch und tanzte einen ganz zierlichen, langsamen Walzer mit der greisen Lebensgefährtin durch den Saal.

Da hatten sich all die Jungen an die Wände zurückgezogen und schauten zu, und Ilse tat wieder das dumme Herz weh, sie wußte selber nicht, warum. Sie stand dicht an der Saaltür und neben ihr Thomas Raben, und Riekchen stand da mit ihrem Georg, der schon ganz bräutigamsmäßig aussehend wurde, ordentlich glücklich, und Hanse und der Vater standen da und in der Tür die Bedienten aus der Post, Hausknecht und Mamsell und Mägde, und dazwischen auch Madam Eggers.

Und Madam Eggers ärgerte sich, daß sie nur Zuschauer war, und daß ihr Fiete zwar bei der Aufführung hatte helfen dürfen, aber dann mit allerlei jungen Handwerkern und Ladenjungen – ehemaligen Konfirmanden des alten Herrn – im Vorzimmer die Tafel gedeckt fand, statt drinnen zwischen der Familie zu sitzen. »Wo er doch – und hat sich alle Tag' mit den Gören abärgern müssen. – Wie die wieder aufgeputzt sind. Weiße Spitzen für die Mädchen und der Jung' in braunem Samt und hat en Spitzenkragen um. Und wenn ich reden wollt' –«

Die Mamsell gab ihr einen Stups, denn der Doktor sah sich um, er hatte die letzten Worte verstanden. Aber Madam Eggers hatte Wein getrunken, all die verschiedenen Neigen, die aus dem Saal kamen, hatte Mamsell zu einem kräftigen Punsch zusammengegossen, und nun ging es mit ihr durch.

»Soll ich nicht sagen dürfen, was ich selber gesehen hab'? Draußen auf dem Weg nach Eichtal, jawohl, da war es. Da kam ich mit dem Müllerwagen, und da ging sie, ja, die junge Mamsell da vorne – die mein' ich,« sie nickte Ilse zu, »und hatte einen Galan bei sich, und sie waren sich einig, o ja, sehr einig –«

»Wissen Sie eigentlich, was Sie da reden, Madam Eggers?« Die Stimme des Doktors fragte in einem Ton – nicht laut, aber so drohend – Madame Eggers wurde plötzlich nüchtern. Und sah, wie alle ringsum sie anstarrten, und sah Ilses blaßgewordenes Gesicht und schwankte zwischen ihrem inneren Ärger und der großen Schmalebeker Furcht vor Detlev Rottmann. Sie verstummte gänzlich.

»Das ist doch kein Grund zur Aufregung«, sagte Thomas Raben, und nun wandten sich ihm alle Blicke zu. »Das war doch der Abend, wo Sie, Herr Doktor, Ilse und mich auf der Schmale abfingen, als wir wie die Kinder über das Eis glitschten. Sie wissen, ich mußte damals am anderen Morgen zu einer dringenden Sache nach Kiel, und da versprach Ilse mir, zu warten, bis ich heute kommen würde. Und morgen früh hätte ich um eine Unterredung gebeten, wenn mir Mam Eggers nicht eben etwas zuvorgekommen wäre.« Er hatte beim Sprechen, wie selbstverständlich, Ilses Hand durch seinen Arm gezogen und drückte ihre vor Erregung eisigen Finger beruhigend mit den seinen.

»Darf ich morgen kommen?«

Doktor Rottmann fühlte, das war nicht so, wie man ihn glauben machen wollte, doch hier vor aller Welt war kein Ort zur Aussprache. So sagte er: »Sie dürfen jederzeit kommen«, nahm Rabens Hand und wandte sich dann zu seiner Hanse. »Komm, wir wollen doch auch einen Walzer tanzen, wo die Eltern mit so gutem Beispiel vorangehen.«

»Und wir?« fragte Raben und sah Ilse an, die er einige Schritte von der Tür fort und in eine Saalnische gezogen. »Darf ich auch um einen Tanz bitten?«

»Herr Rechtsanwalt – ich – ich kann jetzt nicht tanzen.«

»Dann setzen wir uns still hier in die Ecke, hier beachtet uns niemand.«

»Sie dürfen morgen nicht kommen. – Ach, bitte nicht. – Sie wollen mir helfen –, ja, ich hab' alles begriffen. Aber ich sage es heute abend noch meinen Vater, und dann –«

»Warum ist er nicht hier?« fragte Raben. »Wenn er es ehrlich gemeint hätte, hätten Sie nicht diese traurigen Augen.«

»Er hat es wohl ehrlich gemeint, da an dem Abend. Oh, denken Sie, ich wäre sonst mit ihm gegangen? – Aber nun sind seine Eltern gegen mich, und die Zeit und daß er Däne ist und ich Holsteinerin, und – Diese Nacht hab' ich es ihm geschrieben, daß er auf mich keine Rücksicht zu nehmen braucht.« Sie schluckte kurz und trocken, sie wollte es nicht wieder in die Augen steigen lassen.

»So ungefähr habe ich mir die Sache gedacht. Und nun müssen Sie schon tapfer sein und müssen mir erlauben, für einige Wochen dem Namen nach als Ihr Verlobter zu gelten, bis – Morgen fahre ich ja wieder, und dann werde ich nicht kommen, und die Zeit wird lösen, was Ihnen eben aufgezwungen wurde. Oder hätte ich besser getan, nicht dazwischen zu treten? Aber ich habe bereits Schmalebeks Zungen kennen und fürchten gelernt, und ich glaube, eine gelöste Verlobung – ich verspreche Ihnen, daß ich durchaus als der Schuldige dastehen werde – ist besser als ein hämisches Geschwätz.«

»Das kann ich nicht von Ihnen annehmen. Dazu habe ich kein Recht.«

»Vielleicht doch«, sagte Thomas Raben langsam.

»Ich versteh' Sie nicht. Wie meinen Sie das?«

»Vielleicht sage ich es Ihnen einmal – in einigen Wochen. Vielleicht nie. Aber ich glaube, Ihre Mutter wird es verstehen.«

Riekchen kam durch den Saal. »Oh, Ilse, ist es wahr? Es läuft wie eine Welle durch den Saal. Du auch? Oh, wie glücklich bin ich.«

»Wir möchten Sie bitten, Fräulein Jessen, den guten Leuten zu sagen, daß wir im Augenblick noch nicht Gratulationen in Empfang nehmen möchten. Sehen Sie, ich stehe in allerhand geschäftlichen Unternehmungen, die es mir unmöglich machen, länger hier in Schmalebek zu bleiben. Durch die Indiskretion der guten Eggers ist unser Einverständnis etwas zu früh an den Tag gekommen. Ich hoffe, im März spätestens für längere Zeit herüberkommen zu können. Dann wollen wir alles nachholen, wozu im Augenblick keine Zeit ist. Und nun, bitte, sagen Sie doch Frau Doktor, daß ich meine liebe Ilse heimbringen will. Sie hat heftige Kopfschmerzen, sehnt sich nach Ruhe und möchte hier den vielen Fragen entgehen. Ich glaube, das können Sie ihr nachfühlen.«

Riekchen konnte alles begreifen und nachfühlen, was ihre geliebte Ilse betraf. Sie ging selber mit ihr auf den Flur, packte sie in den Mantel und küßte sie zärtlich. »Solche Kopfschmerzen hast du, du Arme? Ja, ich hab' mich schon den ganzen Tag gewundert, wie still du warst und wie blaß du aussahst. Morgen komm' ich herum, dann wird dir wohl besser sein.«

Ilse zwang sich zu einem Lächeln, nahm Rabens Arm und ging mit ihm fort aus dem Trubel des Tages. Wie sie unter den mondklaren Himmel traten, erkannten sie drüben jenseits des Platzes zwei vermummte Gestalten, die die Treppe des Doktorhauses hinaufstiegen. Das Jubelpaar hatte sich auch heimlich davongemacht, müde und satt all der Feier.

»Sie sind gut«, sagte das Mädchen wieder. »Wie klug haben Sie das erraten, was mir in dieser Stunde am besten war. Ich allein hätte gar nicht den Mut gehabt, fortzugehen.«

»Es war nicht die Klugheit, die mich das erraten ließ, Ihr Gesicht war leicht zu lesen.«

»Ja? War es? Aber Riekchen schien es doch nicht lesen zu können, und Riekchen hat mich so lieb.«

Es kam keine Antwort. Raben öffnete die schwere Haustür, und als sie ihm die Hand zum Abschied reichte, hob er die an den Mund und küßte sie leise. Dann fiel die Tür zu, Ilse stand im dämmerigen Flur, wo nur ein Öllämpchen brannte, sah die altvertrauten Wände an, horchte auf die große Stille des schlafenden Hauses, als sprächen da geheime Stimmen zu ihr, faßte sich mit der Hand an den Kopf und sagte vor sich hin: »Er schmerzt wirklich, als wenn er platzen soll.«

Und als sie oben im eigenen Zimmerchen stand und die Kerze unruhige Schatten auf die Wand malte, fragte sie wieder: »Bin ich das eigentlich noch? Gestern die Braut des einen und heute die Braut des anderen und niemals eines Frau?«

Dann schüttelte sie der Frost, denn der Ofen war kalt, und draußen sang der Nordwind um die Mauern.

Sie legte sich und hörte durch die verdämmernden Gedanken einen leichten, schnellen Schritt die Treppe heraufkommen. »Hanse.« Ach, der Name war wie Ruhe und Erlösung. Nun ging die Tür, nun stand Hanse im hellen Festkleid, ein Licht in der Hand, neben ihrem Bett.

»Ich bin eben drüben fortgelaufen, ich muß wieder zurück. Ich konnte dich in dieser Stunde nicht allein lassen.« Sie nahm das Mädchen, sich auf den Bettrand setzend, wie ein Kind in die Arme. »Mein Mädel, mein Liebes. Nein, red' gar nicht. Ich kann mir alles allein zusammenreimen. Morgen kannst du sprechen, wenn du willst. Heute sollst du nur still liegen und versuchen zu schlafen.«

»Ich bin todmüde, Hanse. Ich schlief die letzte Nacht nicht. Und nun dieser ruhelose Tag –, ich kann nicht mehr denken. Alles wirbelt mit mir.«

»Deine Backen glühen, du hast Fieber. Wart', ich hol' dir noch etwas aus Vaters Apotheke.« Sie lief und kam mit einem Pulver und hätschelte ihr großes Sorgenkind, drückte es in die Kissen und flüsterte: »Ich muß ja wieder hinüber. Schlaf nun gut, mein Liebes. Gute Nacht.«

Dann wieder Dunkelheit und Schweigen und tiefste Müdigkeit, aber kein Schlaf. Immer neue Bilder tauchten auf vor den erhitzten Augen, erlebte, verträumte, Töne – aus der Ferne hersingend; Rufe – jetzt ein Möwenschrei, Meerrauschen – Schnee knirschte unter den Füßen – nun eine leichte heitere Stimme: Süße Ilse. Kleine süße Ilse – Nun eine ruhig ernste: »Vielleicht sage ich es Ihnen in einigen Wochen – vielleicht – nie. Hanse weiß es.« Also, dann mußte sie doch Hanse fragen. Mußte aufstehen – da wurde ihr schwindlig, wie sie nur den Kopf hob, und das Fieber begann sie auf breiten Wogen zu tragen, hob und senkte, hob und senkte – nun verdämmerten die letzten Gedanken.

* * *

Es war keine große Sache mit dieser Krankheit. Aufregung, viel Unruhe, eine leichte Halsgeschichte, alles zusammen hatte genügt, Ilse Rottmann acht Tage an das Bett zu fesseln. Dankbar nahm sie die erzwungene Ruhe hin. Nun brauchte sie am andern Morgen nicht in Vaters Zimmer hinunter, als Rabens Stimme drunten laut wurde. Nun kamen nur die Eltern immer einmal herein zu ihr, und für wenige Minuten Riekchen Jessen, sonst niemand. Denn Hanse hatte es der Großmutter zur Pflicht gemacht, nicht etwa den Großvater anzustecken durch einen leichtsinnigen Krankenbesuch, und den alten Herrn hatte sie im gleichen Sinne bearbeitet. Ilse hatte ihren Frieden und konnte sich mit sich selber zurechtfinden.

Auf ihrem kleinen Schreibtisch stand eine zwei Fuß hohe Edeltanne, die war von Raben geschickt worden. »Denn die Schmalebeker Gärtner haben ihre wenigen Blumen zur goldenen Hochzeit spenden müssen. Aber der immergrüne Baum wird meiner verehrten kleinen Freundin besser als vergängliche Blumen sagen können, daß ich in aufrichtiger Ergebenheit ihrer gedenke und ihr alles Gute wünsche. Immer Ihr getreuester Freund Thomas Raben.«

Sie war dankbar, daß er keine schönen Reden machte, sondern sich nur als Freund gab. Daß er ihr Zeit ließ, sie nicht mit irgendeinem Zukunftswort beunruhigte, nichts vom Vater erwähnte, alles, was werden mußte, ohne Aufregung herankommen ließ. Die schöne Tanne war eine Wohltat für die Augen in ihrem tiefen Grün, schlicht und stolz. Um der Tanne willen hätte sie ihm schon gut sein können.

Der Doktor hatte strengen Befehl von seiner Frau, nicht mit der Tochter über diese Sache zu reden, eh' sie nicht selber davon beginnen würde. Raben hatte ihm genauen Aufschluß über seine Vermögensverhältnisse gegeben – »Ilse würde es gut haben als meine Frau«, hatte aber hinzugefügt, er habe wohl dem jungen Mädchen die Entscheidung über den Kopf fortgenommen. »Denn ich wußte damals doch nicht sicher, ob ich hoffen dürfte, ob nicht eine augenblickliche Überrumplung – Nun wollte ich es heute zur Entscheidung bringen, – da schwatzte diese aufgeregte Dame –« – »Hm ja, wenn inzwischen Ihre Tochter anderen Sinnes geworden sein sollte, – ich bitte, geben Sie ihr Zeit. Ich kann warten, bis ich meines Glückes sicher bin.«

»Wunderlicher Heiliger«, sagte nachher Rottmann zu seiner Hanse. »Will er sie nun eigentlich oder will er sie nicht? So sehr scheint es ihn nicht zu drängen.«

»Also, mein lieber Mann, dräng' du auch nicht. Ilse hat doch wohl so ein bißchen mit dem Danske ein kleines Sommerspiel gespielt. Das muß er doch gesehen haben, er hat doch recht klare Augen im Kopf. Ergo – laß die zwei sich miteinander zurechtfinden, wie sie selber das als das Beste einsehen. Wir sind ja nicht Jessens, Helene möchte ihrem Riekchen lieber heut' als morgen den Kranz aufsetzen. Darüber kann ich dich jedenfalls beruhigen, – sehr lieb hat er Ilse. Nicht mit solcher verliebten Regung wie der Herr Baron, sondern so wie ein Mann liebt, der seinen Gefühlen fest und klar gegenübersteht.«

»So genau weißt du Bescheid?«

»Wenn eine ihn kennt, soll ich ihn wohl kennen. Es kann ein großes Glück werden – so eine Ehe wie die unsere, mein Alter, aber laß ausreifen, was da werden will.«

»Die kluge Hanse. – Und der dumme Ehemann. – Was bekomm' ich, wenn ich mich unbedingt füge?«

»Nichts. Hättest du dich nicht gefügt, hättest du einen Strafkuß bekommen. – Laß mich los, alter Mann. Hör' mal, draußen rufen sie nach mir.« –

Der Morgen nach diesem unruhigen Tage ließ auch in anderen Häusern die Bewohner nicht zur Ruhe kommen. In der Post war den ganzen Tag ein Kommen und Gehen. Jeder fragte nach neuen Nachrichten aus Kopenhagen und Kiel, und die solidesten Leute saßen und machten einen stundenlangen Frühschoppen, um nur nichts zu versäumen. Es gingen Extraposten durch, von Altona zur Eider, Postillone und Reisende wurden ausgequetscht bis zum Letzten. Und wußten doch selber nicht mehr, als daß der König wirklich tot sei, und daß kein Mensch sagen könnte, was nun käme.

Im Pastorat saß Johannes Jessen nach schlafloser Nacht früh am Schreibtisch und grübelte immer über das eine: »Wie erfahr' ich es? Frag' ich sie? Und wenn sie leugnet? – Das wäre schlimm. – Und wenn sie nicht leugnet? Lieber Gott, das wäre noch schlimmer.« Er lauschte auf jeden Schritt draußen und hoffte immer, seine Frau solle von selber hereinkommen, daß er nicht nach ihr rufen müßte, und zitterte vor ihrem Eintritt, wenn ein Schritt sich der Tür näherte.

Dabei hatte er nicht acht auf die Straße und bemerkte Herrn Nilius nicht, der in das Haus kam. Erst als der kleine Herr in die Stube trat, fuhr er auf.

Herr Nilius hatte die weiße Tolle auf der Stirn sehr sorgsam zurechtgebürstet, hatte die weiße Halsbinde so glatt und sorgfältig geschlungen wie nur je, und doch war etwas an ihm, etwas, das gegen seine gewöhnliche steife Würde verstieß.

»Störe ich nicht so früh, lieber Jessen? Ich mußte herein in die Stadt, und da wollte ich nicht zögern – Ja ich glaube, jetzt weiß ich, wer die Briefe geschrieben hat.«

Unter den Füßen des Predigers begann der Fußboden zu schwanken.

»Es ist mir in dieser Nacht gekommen. – Was halten Sie von Träumen?«

»Was ich von Träumen – Ich weiß nicht, wie Sie das meinen. Träume sind Schäume, weiter nichts.«

»Man soll es nicht so von der Hand weisen. Bisweilen kommt uns in einem Traum eine Erkenntnis, der wir wachend umsonst nachjagten. Hm, ja. Und mir kam es eben – Wissen Sie, die Schreiberin, das ist Lydia Moorwood.«

»Wer? Das alte Fräulein Moorwood? Das ist doch nicht möglich.«

»Lieber Jessen, alte Leute werden wunderlich. Und sie ist 78 Jahre. Und sie hat immer so sehr auf gute Sitte gehalten. Und wissen Sie nicht, wie sie über die Reise des Kantors geredet hat? Und Sie – nehmen Sie es mir nicht übel – hätten nach ihrer Meinung oft die Zügel der Gemeinde viel schärfer anziehen müssen. Und gestern hört' ich, wie sie Fräulein Schnäpel erzählte, sie hätte in ihrem Brot einmal zwei Schwaben gefunden. Es mag wohl sein, daß diese Mitteilung meinen Traum beeinflußt hat. Da sah ich sie sitzen und diese Briefe schreiben. Es wird schon so sein.«

»Aber sie selber kam doch mit einem Brief in den Whistklub.«

»Weiß ich, weiß ich. Da wollte sie von vornherein den Verdacht von sich ablenken.«

Jessen sah vor sich hin. Konnte das sein? Wer gab ihm Klarheit? Es wäre Erlösung gewesen, jedenfalls war es etwas wie Hoffnung. »Ich muß Ihnen sagen, Herr Nilius, man hat mich sogar bei meinen Vorgesetzten in Altona verleumdet. Mein Leben angezweifelt, meine eheliche Treue – Ja, der Propst sagte es mir gestern. Ich war wie vor den Kopf geschlagen.«

»Unerhört, einfach unerhört. Man muß energisch einschreiten, die Sache darf nicht weitergehen.«

»Es sollen schon einige der Kaufleute, die auch angegriffen sind, beschlossen haben, an das Gericht zu gehen.«

»Das müssen wir verhindern. Um jeden Preis. Die alte Dame darf nicht vor das Gericht kommen. Sie hat es sicher nur getan, weil sie glaubte, über unsere Stadt und ihre Tugend wachen zu müssen. Sie fühlt sich als das Schmalebeker Gewissen. Töricht, sehr töricht, aber aus ihrer ganzen Art zu begreifen. Heute will ich meinem lieben Freund Rottmann noch nicht damit kommen, er muß sich von gestern erholen, aber morgen rede ich mit ihm. Er wird es am ersten aus ihr herausfragen können. Auf ihn hat sie immer viel gegeben. – So, ich will Sie nicht aufhalten, Sie haben zu tun, und ich muß in das Kontor. Mein Georg in seiner Bräutigamsseligkeit ist entschieden nicht zu brauchen. Adieu, lieber Jessen.«

Zweifelnd und doch sehr erleichtert blieb Johannes Jessen zurück. Er konnte die schwere Unterredung mit Helene einstweilen aufschieben. Denn – je mehr er darüber nachdachte – um so wahrscheinlicher schien es ihm, daß Lydia Moorwood in ihrer Sittenstrenge versucht hatte, auf diese Weise erzieherisch auf die Schmalebeker einzuwirken. Und wenn sie es gewesen – und wenn durch sie sein Riekchen zum Glück gelangt war – ach, dann war er nur zu bereit, sie zu entschuldigen.

Er richtete sich ordentlich auf und ging in die Eßstube und holte das versäumte Frühstück nach, denn das hatte ihm gar nicht schmecken wollen.

Drei Tage mindestens hatte er Zeit, eh' eine Entscheidung zu erwarten war.

* * *

Schmalebek hatte zu viel zu bereden. Man fand kein Ende. Verlobungen und Hochzeit und der tote König und die Aussichten der Herzogtümer und die verdammten Briefe, von denen schon wieder einer beim Postmeister gelandet war, – die guten Schmalebeker wurden nicht fertig mit reden, und als der Whistklub bei Herrn Nilius tagte, wurde überhaupt nicht Whist gespielt, sie hatten zu viel zu besprechen.

Zu besprechen, denn klatschen tat der Whistklub nie.

Pastor Rottmann hatte leider Herrn Nilius ausgelacht mit seiner Idee, Lydia Moorwood habe die Briefe geschrieben. Er jedenfalls werde sie nicht darüber interpellieren, und Herr Nilius war etwas beleidigt von ihm gegangen. Nur den einen Trost hatte er, daß Jessen sich ganz zu seiner Ansicht bekehrte und mit ihm über immer neue Mittel ratschlagte, wie dem Übel beizukommen sei.

Ilse stand wieder auf, ging herum im Hause, tat ihr Tagewerk, ließ sich aber wenig bei andern sehen, und Glückwünsche wurden noch nicht angenommen. Hanse hatte solche bestimmte ruhige Art, sie als verfrüht abzulehnen, daß auch die Neugierigsten davor verstummten.

Der Postmeister allerdings berichtete: Richtig müßte es sein, denn zweimal in der Woche kämen Briefe aus Hamburg, und wer würde zweimal wöchentlich schreiben, wenn nicht ein Bräutigam, wo doch das Porto vier Schilling kostete? – Ja, das sahen die Schmalebeker alle ein. – –

Draußen in der großen Welt begannen die Wellen zu brausen.

Immer schlimmer lauteten die Nachrichten aus Kopenhagen, immer sicherer wurde es, daß Dänemark nicht daran dachte, Schleswig einmal an den Deutschen Bund abzutreten, wenn auch für Holstein die Zukunft noch hoffnungsvoller schien. Aber wer dachte daran, die schleswigschen Brüder in Stich zu lassen. »Up ewig ungedeelt.« Das alte Wort stand auf und wurde zur Losung.

Schon bildeten sich heimlich Verbände von Jägern, Studenten, jungen Bauern und Kaufleuten, die exerzierten und furagierten, schon strömten aus allen Teilen des Landes Gelder nach Kiel, wo sich eine provisorische Regierung bildete, dem Herzog von Augustenburg die Landestreue zu halten, und selbst in Schmalebek kamen abends in der Post die jungen Männer zusammen, sangen »Schleswig-Holstein meerumschlungen«, schwuren, niemals dänisch werden zu wollen, legten Armbinden an und gebärdeten sich wie angehende Soldaten.

Mitten zwischen ihnen war der alte Kantor. Redete wie ein Junger, hatte blanke Augen, schwur, trotz seiner 66 noch mitgehen zu wollen, wenn es zum offenen Kampf käme.

Wenn Ilse die Post aus Hamburg erhielt, war es fast nur ein Bericht für den Vater über allerhand Neuigkeiten, die in der großen Stadt früher und sicherer bekannt wurden als in dem abgelegenen Nest. Dabei ein freundlicher Gruß für sie, bisweilen eine Kleinigkeit, die ihr Freude machen konnte, so ein paar schöne Blumenzwiebeln, eine Radierung der alten Hamburger Nikolaikirche, die vor sechs Jahren dem großen Brande zum Opfer gefallen war, einmal ein zierlich geklöppeltes Taschentuch. »Denn ich feierte gestern Geburtstag und wollte mir selber an diesem Tage eine kleine Freude machen. Was aber könnte mich mehr erfreuen, als wenn Sie, liebe Ilse, mir schreiben werden: Das Tüchlein hat meinen Beifall.«

Nie ein Wort der Liebe. Nie ein Wort von gemeinsamer Zukunft. Es war eine Kameradschaft, die eine Strecke Wegs zusammenwandert und sich dann in Freundschaft und Einigkeit wieder trennt. Nichts beunruhigte, nichts kränkte. Ja, Ilse setzte sich hin und stickte mit Goldperlen ein Monogramm, T. R., das der Empfänger in seinen Mantel heften ließ. Das war etwas ganz Neues, Riekchen machte es sofort mit Begeisterung nach, und ihr Georg hing künftig in der Post seinen Mantel immer so, daß man die bräutliche Gabe leuchten sah.

Die dummen Briefe waren anscheinend verschwunden, was Pastor Jessen zu neuer Furcht veranlaßte. War seine Helene nun, wo sie am Ziel ihrer mütterlichen Wünsche war, doch zur Vernunft gekommen?

Sie saß jetzt die halben Tage und stickte Hemden und Beinkleider, und Madam Eggers lief dreimal in der Woche aus und ein und hatte lange Konferenzen, denn sie nähte den Putz, Spitzenkragen und Häubchen und Tüllbarben und Frühlingshüte, und wenn sie aufgeregt heimkam, sagte sie zu Fiete: »Sie sind unklug, was sie für Geld ausgeben. Aber für uns ist es gut, mein Fiete. Ich pass' es immer ab, daß Grützmann drüben ist, wenn ich mit ihr reden soll, dann kann sie nicht sagen: das ist zu teuer, Mam Eggers. Sie macht denn so'n Zahnwehgesicht, aber das seh' ich nicht.«

Fiete hörte nur mit halbem Ohr zu. Seine Gedanken waren in den Postversammlungen. Er wollte auch mit, wenn es losging. Nur durfte die Mutter das nicht wissen, eh' es so weit war.

An einem Märztage, die Sonne meinte es schon ganz frühlingsmäßig, war Madam Eggers mit ihrer Rechnung hinübergegangen in das Pastorat. Es hatte sich recht nett aufgesummt. Sie war selbst etwas unsicher, wie die Frau Pastorin sich verhalten würde, wenn es nun bezahlen hieß, und darum paßte sie wieder die Gelegenheit ab, sah Georg Grützmann drüben hineingehen und wutschte eilig hinter ihm drein.

In der Wohnstube fand sie die ganze liebe Familie versammelt, denn Georg hatte Tapetenproben aus Hamburg kommen lassen für die zukünftige gute Stube seiner Frau, und die mußten von allen Familienmitgliedern bewundert werden.

Helene Jessen hatte ganz heiße Backen, sie war viel aufgeregter als die Tochter. So wundervolle Sachen. Ihr Riekchen hatte wirklich in den goldenen Topf gegriffen. Ja, das mußte man sagen, das Kind bekam es gut. »Was sagen Sie dazu, Mam Eggers?«

Madam Eggers bewunderte ausgiebig und fand die Gelegenheit über Erwarten günstig. »Ich wollt' ja Frau Pastorin nicht stören, aber wenn Frau Pastorin vielleicht meine kleine Rechnung – Ist ja man bloß, daß ich die Sachen von Sprekmann & Laubig bezahlen muß, die Bänder und Blonden. Und wo Fiete so gräsig viel Zeug verbraucht bei der Schmiererei mit den Farben.« Sie schob das zusammengefaltete Papier auf den Tisch.

Helene Jessen faltete es auseinander, und ihr Kopf wurde noch röter.

»Das stimmt wohl unmöglich.«

»Das stimmt akkrat. Und wo ich so viel Arbeit mit gehabt hab' – nee, kann Frau Pastorin ganz gewiß sein, das is sehr knapp berechnet.«

»Ich bringe es nachher hinüber,« murmelte sie, »ich muß es doch erst nachrechnen.«

Georg kannte schon die kleinen Schwächen der Schwiegermutter, griff zu und sagte: »Soll ich dir aushelfen? Wir wollen ja nachher doch noch die Möbel berechnen«, blickte auf den Zettel und bekam runde Augen. »Aber das ist doch – Haben Sie das geschrieben, Madam Eggers?«

»Wer soll sonst –«, da sahen sie alle, wie sie erschrak, nach dem Zettel griff und ihn wieder an sich reißen wollte. »Ich will das noch mal nachrechnen, wenn Frau Pastor – und meint, das ist zu viel.«

»Stopp. Lassen Sie mir die Rechnung mal.« Ihre Hand wurde energisch zurückgeschoben. Georg faßte in die Tasche und holte einen Brief heraus. »Lieber Vater, Onkel sagte mir, du wünschtest den Brief selber zu sehen, von dem er dir gesprochen hat. Hier ist er. Und wenn du mal die beiden Handschriften vergleichen willst –«

Riekchen erkannte ihren Georg gar nicht. Er sprach so sicher, mit einemmal, ja, wenn es auf ein Ziel losging, konnte er sich zusammenfassen.

Jessen begriff sofort. Was die Worte des Schwiegersohnes nur halb aussprachen, das vollendete Madam Eggers' verstörtes Gesicht. Ihre Augen starrten wie verzweifelt bald den Brief, bald die Rechnung an – sie wollte etwas sagen, das Wort blieb ihr im Munde stecken –, jetzt machte sie kehrt und rannte aus der Tür, rannte über den Markt, sah sich nicht einmal um, verschwand drüben in ihrem Häuschen.

Da erst – sie hatten ihr alle nachgestarrt, bis sie verschwunden – fand Helene das erste Wort. »Die Eggers? Georg? Was hat denn die davon gehabt?«

Ja, was hatte die davon gehabt? Man stand und schüttelte die Köpfe, verglich die beiden Schreiben –. Es war zweifellos die gleiche Handschrift, diese steile, wie verstellt aussehende Schrift. Hatte denn kein Mensch Madam Eggers' Schrift gekannt? – Woher? Sie holte sich ihre Schillinge, wenn sie etwas ablieferte, Rechnungen gab es nicht. Nur dieses eine Mal, wo es sich aufgesummt hatte und die vielen kleinen Posten ihrem Gedächtnis entschlüpfen konnten, dies eine Mal hatte sie sich zum Aufschreiben entschlossen. Und hatte wohl kaum an Entdeckung gedacht, denn bei Jessens war kein Brief angekommen, die Frau Pastorin hatte keinen im Besitz, und den Zettel hätte sie wieder mitgenommen. – Sie sagten sich das alles nach einigem Überlegen, was sie sich aber nicht sagen konnten, das war der Grund zu dem ganzen Unfug.

»Sie muß verdreht sein«, sagte der dicke Georg.

»Sie ist doch immer ganz vernünftig gewesen.«

»Was macht man nur dabei?«

»Sie muß ihre Schuld offen eingestehen.«

»Die hat sie ja gestanden, als sie so davonlief.«

»Jedenfalls müssen wir es den andern Herrschaften mitteilen, denn es könnten Unschuldige in Verdacht geraten.« Johannes Jessen sah seinen Schwiegersohn an. Gewiß, Lydia Moorwood durfte nicht mehr beargwöhnt werden.

»Und jemand anders erst recht nicht«, dachte der Pastor und atmete tief auf. Wie Zentnerlast fiel es ihm von der Seele. Jetzt erst spürte er, wie drückend der Verdacht auf ihm gelegen hatte. Leise trat er an seine Frau heran und legte den Arm um sie. Ein stillschweigendes Bitten um Vergebung. Sie wußte gar nicht, warum er mit einemmal so liebevoll wurde, schob es auf Riekchens glänzende Aussichten und lächelte ihn freundlich an.

Drüben in ihrer Nähstube stand Madam Eggers und stöhnte vor Angst und Ärger immer in sich hinein.

* * *

Wie ein Lauffeuer war es durch alle Straßen gegangen: Die Eggers hat die Briefe geschrieben. Kein Mensch weiß warum.

Wieder und immer wieder rummelte es an ihrer Tür, – die war verschlossen. Keiner kam herein. Die Rouleaux waren heruntergelassen, hineinsehen konnte man nicht.

Fiete hatte den Tag über drüben auf Eichtal mit seinem Meister gearbeitet, wo sie den großen Saal weißten. Er kam erst bei Dunkelwerden heim. In der Bachstraße, da, wo die Brücke über die Schmale führte, ging ihm ein Bauer aus Eichtal vorbei, der Korn in die Stadt gebracht hatte. »Kiek,« sagte er, »büst nich de Jung vun de Putzmakersche? Na, din Mudder hedd jo bannig veel dumm Tüg makt.«

Eh' Fiete auf diese merkwürdige Anrede eine Antwort gefunden, war er vorbei.

Am Markt, hundert Schritt von der eigenen Haustür, standen Änne, Gitta und Hans. »Fiete,« sagten sie, als er vorbei wollte, und sie sagten es leise, als trauten sie sich selber nicht, »was hat deine Mutter bloß angegeben? Hast ihr geholfen bei den Briefen?«

»Dumme Gören, was ist los? Meine Mutter? Ist ihr was passiert? Was ist mit Briefen los?«

»Och du, sie wissen es schon alle. Nu hat sie sich eingeschlossen und läßt keinen rein. Mile war all dreimal an eurer Tür.«

Fiete schubste sie kurz beiseite und lief, was er konnte. Richtig, die Tür, die nicht einmal bei Nacht geschlossen wurde, war fest zu. Er rammelte und klopfte. »Ich bin das, Mutter. Fiete. Mach' doch auf. Bist du krank? Laß mich doch rein.«

Der Tischler sah aus der gegenüberliegenden Tür. »Dschä, das sag' man. Se hat sich eingeschlossen, schämt sich woll zu doll, daß es nu rausgekommen ist. Was hat sie da bloß von gehabt, daß sie all die gemeinen Briefe geschrieben hat?«

Eh' Fiete antworten konnte, wurde die Tür einen kleinen Spalt breit geöffnet, und er schlüpfte in die Stube. »Nee, Mutter, sind die Leute denn alle verrückt geworden? Was hast du mit den Briefen zu tun? Wie siehst du aus? – O Gott, Mutter, es kann doch nicht wahr sein. Sag' doch, daß es nicht wahr ist! Wie kannst du so was machen? –«

Wieder ein Klopfen an der Tür. Hanse kam. Da Mile nicht eingelassen worden, wollte sie selber versuchen, Klarheit in diese mysteriöse Geschichte zu bringen. Eh' Madam Eggers zuspringen und den Schlüssel wieder umdrehen konnte, hatte sie schon geöffnet und stand auf der Schwelle.

»Ich muß doch nur selber kommen, Madam Eggers. Die Leute sagen« – sie wollte nicht gleich Jessens selber angeben, es sah so unverfänglicher aus –, »die Briefe, die Schmalebek so beunruhigt haben, die wären von Ihnen geschrieben worden. Das ist ja eine verworrene Sache.«

Als die Frau nicht antwortete, sie nur mit haßerfüllten Augen anstarrte, wie sie sie nie angesehen, trat sie einen Schritt näher. »Ich möchte so gern helfen, liebe Madam Eggers. Ohne Grund können Sie das doch nicht getan haben. Wollen Sie sich nicht gegen mich aussprechen? Sie wissen doch, wir Rottmanns haben es immer gut mit Ihnen und Fiete gemeint.« Erschrocken schwieg sie, die Eggers hatte so gellend aufgelacht, daß sie dachte: Sie ist ja wahnsinnig.

»Gut gemeint! – Haha! – Gut gemeint! – Sag' es ihr mal, Fiete, wie gut sie – ja, und haben uns immer wie Schuhputzer behandelt. Mein Fiete und gut gemeint! – Was haben die frechen Gören immer hinter ihm hergeschrien: Fiete Eggers geht auf Eiern! – Hoho, Fiete Eggers geht auf Eiern!«

»Sie sind dafür bestraft worden.«

»Was das für Strafen sind. Die Änne sagt – hab' es selbst gehört: ›Ohrfeigen dauern nicht lange, und Schelte tut nicht weh.‹ – So ne slechten Kinder sind das. – Und die ganze Stadt hat es nachgerufen, Kinderspott ist er gewesen.«

»Mutter, laß mich aus dem Spiel.«

Hanse sah den langen Jungen an, er tat ihr ehrlich leid. Blaß war er ja immer, aber jetzt schimmerte die Haut ganz grünlich. Armer Kerl! Sie nickte ihm herzlich zu, er schlug in Scham und Angst die Augen nieder.

»Halt du man deinen Mund. Dein Mutter weiß, was sie sagt. Immer und immer hab' ich slucken müssen an all dem Ärger. Jawoll. Is mein Mann – und war doch auch en Lehrer, und hat auch die Kinder gezogen, und mein Jung', der sollt' mit Gewalt en Handwerker werden. So'n Jung' wie mein Fiete –«

»Mutter! –« Sie hörte ihn gar nicht. »Konnt' auch mal auf der Kanzel stehen oder im Doktorwagen fahren, wenn man einer – und hätt' ihm die Hand hingehalten. Nee, ist nicht. Schicken mich so weg, als wenn man betteln will. Ich bettel nicht. Fiete hätt' allens ehrlich wiedergegeben. Man der alte Herr – weil er nicht mehr mocht, sagt er, der Jung' ist dumm. Mein Fiete! – Wo mein Mann Lehrer war und ich hab' immer en klugen Kopf gehabt. Und schreiben kann ich und rechnen und –«

»Madam Eggers –«

Sie war nicht zu bremsen. Alle lang angesammelte Wut kochte hoch.

»Ja, ja, so sind die Hohen. Tun, als wenn unsereiner froh sein soll, wenn der Jung' im Malerkittel steckt. ›En guter Handwerker ist auch was wert.‹ Sollen doch die eigenen Gören – und lassen sie en Handwerk lernen. – Pastor Jessen sagt, da kann er sich nicht für einsetzen, daß er auf die Schule in Heide kommt. Ihr Mann, jawoll Ihr Mann, der kluge Herr Doktor, der sagt, da ist kein Verstand drin, wenn ich will en Studierten aus ihm machen. Oha, und ich hab' die Ilse doch gesehen da im Schnee, und wenn der Hamburger zehnmal so tut, als wenn er das gewesen ist! Da lach' ich man über. – Der Danske war es, der Wippstert, der alle Leute auslachte, der Herr Baron. – Jawoll, ich lass' mich nicht dumm machen. Aber den feinen Leuten – und machen solche Sachen –, das geht alles gut aus. Hat sie den einen nicht gekriegt, nimmt sie fix den andern.«

Es würgte Hanse im Halse. Die Tochter sollte sie in Ruhe lassen. Doch eh' sie etwas sagen konnte, fuhr Fiete hoch. »Ich will das nicht hören, Mutter. Kein Wort sagst du mehr über Ilse –. Sonst lauf' ich aus dem Haus.«

»Dummen Jung'. Das ist nu der Dank. – Renn' du man hin zu den feinen Leuten, die lachen über dich.« – Sie verzerrte das Gesicht. »Fiete Eggers geht auf Eiern! Fiete Eggers geht auf Eiern! – Hast noch nicht genug gekriegt davon?«

Hanse wandte sich und ging hinaus. Sie konnte das Gesicht von dem jungen Menschen nicht mehr sehen.

Wie die Tür hinter ihr ins Schloß fiel, warf er sich über den Tisch, barg den Kopf in den Armen und stöhnte: »Mutter, Mutter. O du lieber Gott, wie hast du das machen können? Man kann sich nicht mehr sehen lassen vor den Leuten. Zu Tode muß man sich schämen. Ins Wasser möcht' man gehen.«

»So red' man. So red' du man. Das ist mein Dank. –« Dann, als sie sah, wie seine Schultern zuckten, wie der ganze arme Kerl gerüttelt und geschüttelt wurde von seiner Not, fing sie auch an zu weinen.

»Nu sei man nicht so, mein Fiete. Wird ja all wieder besser. Ist ja man all halb so slimm. – Sie beruhigen sich woll wieder. Du kannst da ja nichts für. Laß sie man auf mir rumhacken, ich bin zäh, ich hab' all so viel abgehalten, ich werd' da woll mit fertig. O lieber Gott nee, mein Fiete, wein' doch bloß nicht so.«

* * *

In den Herzogtümern strömten die Freiwilligen zusammen. Pferde und Korn schickten die Landleute, die Kaufleute gaben Geld, die Ärzte stellten sich bereit für Wunden und Tod, – Gerüchte liefen um, die Preußen und die Hannoveraner seien im Anmarsch, bei Flensburg bildete sich ein Freikorps, dem vor allem die Kieler Studenten angehörten, – alte Offiziere exerzierten die junge Mannschaft ein.

Wer ein Jagdgewehr hatte, holte es hervor, wer einen Hirschfänger besaß, gab ihn her. Kantor Mampert wurde jünger mit jedem Tage, wenn er – der alte Offizierssohn – mit seinen jungen Leuten die deutschen Lieder der Napoleonszeit sang.

»Der Gott, der Eisen wachsen ließ« und »Vater, dich rufe ich.«

Sein Glockenspiel hatte alle zarten Melodien vergessen und strömte über von Begeisterung.

An einem der letzten Märztage, als Doktor Rottmann von der Praxis kam, sah er an der Eichtaler Landstraße einen jungen Menschen, der anscheinend auf ihn wartete. Beim Näherkommen erkannte er Fiete Eggers. – Ja so, an den hatte er gar nicht mehr gedacht, seit seine alte verdrehte Mutter diesen Narrenstreich gemacht hatte. Drei Tage hatten sich die Schmalebeker Fransen an die Zungen geredet, dann waren die großen Zeitereignisse Herr geworden über den Sturm im Wasserglase.

Fiete kam an den Wagen, Rottmann hielt seinen braven Schimmel an.

»Na, Fiete, was hast denn du auf dem Herzen?«

»Ich möchte Sie gern allein sprechen, Herr Doktor.«

»Steig auf.«

»Herr Doktor,« sagte der lange Mensch, und er sah mit einemmal viel erwachsener aus, »darf ich etwas fragen?«

»Fragen steht jedem frei.«

»Es wird in der Stadt erzählt, Sie hätten versprochen, wenn einer – einer, der hinaus wollte und hätte die Ausrüstung nicht –« Ein Stocken.

»Ja, stimmt, dem wollte ich sie geben. Weißt du jemand, der hinaus möchte?«

»Ich selber.«

Ein Schweigen. Der Schimmel schlug nach den ersten Fliegen und zuckelte müde vor sich hin.

»So – du.«

»Ich verdien' es nicht, Herr Doktor, das weiß ich ja. Es ist aber doch auch nicht für mich, hab' ich gedacht, sondern für unser Land.«

»Da hast du sehr recht gedacht, übrigens kannst du ja auch nichts für den Unfug, den deine Mutter angegeben hat.«

Eine Pause. »Also du willst hinaus? Wohin? Nach Rendsburg? Da bilden sie ein Jägerregiment.«

»Ich möchte zum Freikorps nach Flensburg. Die kommen am ersten an den Feind, sagen sie.«

Der Junge flößte ihm Achtung ein. Zum erstenmal hatte Rottmann etwas für ihn übrig.

»Was sagt deine Mutter dazu?«

»Gar nichts. Ich will erst mit ihr reden, wenn ich weiß, daß ich fortkann. Sie kann mich nicht halten. Die andern gehen auch. Und der Kantor geht mit uns.«

»Der Kantor? Der will euch hinbringen?«

»Er sagt, er kann auch noch seine Flinte abfeuern. Er wär' noch lange nicht der Schwächste. Und das hätt' er sich immer gewünscht, noch mal wieder jung zu werden.«

»Wenn der Kantor noch hinauswill, mein Sohn, dann sollst du ganz gewiß mit. Für deine Ausrüstung sorge ich. Kannst gleich mit hereinkommen, so viel werd' ich wohl im Hause haben, daß es langt.«

»Das will ich nie vergessen, Herr Doktor. Und wenn ich mal so weit bin, ich zahl' es gewiß zurück.«

»Zahl' deinem Lande, dann hast du mir gezahlt.«

Eine Viertelstunde später sagte Änne zu Gitta, mit der sie sich wie so oft vor der Post herumtrieb: »Kuck mal Fiete an. Wie der da rankommt. Wie der geht. Ganz stramm und gar nicht so verdreht auf den Fußspitzen.«

Sie rannte auf ihn zu. »Fiete, du gehst ja gar nicht auf Eiern? Wie kommt das?«

»Euer Vater hat mich fest auf die Füße gestellt.«

Verdutzt sahen sie ihm nach.

* * *

Die jungen Leute waren gar nicht zu regieren. Kaum war der Kantor mit seiner Schar am letzten März nach Flensburg abgerückt, wo die Sache schon sehr dunkel aussah, da erklärte Georg Grützmann, der doch ein junger Mann mit Beruf und Braut war, er wolle auch mit.

Herr Nilius war so erschrocken, daß er zum erstenmal vergaß, morgens ein frisches Chemisettchen umzubinden. Der Junge wußte wohl nicht, was er sagte. Aber Helene Jessen würde ihn schon bekehren. Riekchen traute er in dem Punkt allerhand Torheit zu. – Er schickte ihn sofort in das Pastorat.

Er hatte richtig geraten. Riekchen sagte: »Das hab' ich mir immer schon gedacht, Georg.« Jessen gab ihm die Hand und drückte sie schweigend, Frau Helene aber verschwendete Ströme von Beredsamkeit. Umsonst, der dicke Georg blieb fest.

Da betrieb sie wenigstens die Trauung. Denn wenn er erst in Rendsburg ausgebildet wurde, hatte er immer noch Zeit, zur Hochzeit nach Schmalebek zu fahren. Und dann war Riekchen doch immer eine junge Frau. Wer konnte wissen, ob er wiederkam.

Sie setzten die Hochzeit auf den 14. April an, und da sie doch die nächsten Freunde und Verwandten um sich haben wollten, luden sie auch Herrn Thomas Raben ein. »Dann kann ja gleich deine Verlobung veröffentlicht werden, liebe Ilse«, sagte Frau Helene.

Bestürzt berichtete Ilse der Mutter diese Sache. »Er wird absagen, glaubst du nicht?«

»Ich glaube, das kommt auf dich an, liebes Kind.«

»Ich hoffte, die Schmalebeker hätten die Sache inzwischen vergessen, und wenn er einmal käme, wären wir wieder gute Freunde wie damals.«

»Ich glaube nicht, daß ihr je wieder ›gute Freunde‹ werdet.«

»Aber Hansemutter, wir sind es doch jetzt in unseren Briefen.«

»Es wird ihm wohl nicht ganz leicht sein, den Ton festzuhalten.«

»Mag er mich denn gar nicht?« fragte sie bestürzt.

»Er mag dich nur zu gern.«

»Meinst du –?« Ihre Augen fragten und antworteten einander. – »Das hab' ich nicht gewußt.«

»Aber ich. Lange schon. Darum stand er damals so selbstverständlich zu dir.«

»Er sagte: Hanse weiß es. – Ich wollte dich immer fragen und scheute mich immer wieder. Lieber Gott, und er sah mich und Olaf. – Wie soll es nun nur werden?«

»Wenn du die bist, für die ich dich immer gehalten, dann wird es gut. Oder siehst du nicht, was für einen echten Stein dir das Glück da gegeben hat?«

»Ich bin ihn nicht wert.«

»Papperlapapp. Gehörst du auch zu den Mädchen, die singen mit Chamissos Worten: Darfst mich niedre Magd nicht kennen, hoher Stern der Herrlichkeit? – Er wird ganz mit dir zufrieden sein, so wie du bist.«

»Aber ich kann ihm doch nicht schreiben, daß er kommen soll.«

»Er wird schon selber fragen. Wart' es ab.«

Hanse behielt recht. Es kam zwei Tage später ein Brief. »Da ich nicht weiß, ob die Hochzeitseinladung mit Ihrem Wissen abgegangen ist, liebe Ilse, bitte ich Sie, über mein Kommen oder Fernbleiben zu entscheiden. Sie würden einen Menschen sehr glücklich machen, wenn Sie schreiben: Sie sind willkommen.«

Ilse saß und zog den Federkiel durch die Lippen, sann und sann, griff kurzentschlossen zum Briefbogen und schrieb: »Sie sind uns allen herzlich willkommen. Ihre Ilse.« Dann erschrak sie doch, es war ihr so aus der Feder geglitten: Ihre Ilse. – Abermals ein kurzes Besinnen, und eine Nachschrift: »Hanse hat ausgeschwatzt.« – So, nun mochte er tun, wie er wollte, wenn er wirklich so töricht war, die abgesetzte Liebe des Herrn Barons zu begehren.

* * *

Am vierzehnten April sollte die Hochzeit sein. Am zwölften kamen schwere unheimliche Gerüchte von einem Gefecht bei Flensburg, hart bei dem Dörfchen Bau, wo die dänischen Schiffsgeschütze von der Föhrde aus und die dänischen Kanonen aus Feldern und Holzungen her die leicht bewaffneten Schleswig-Holsteiner hingemäht hatten, wie die Sense des Landmannes wehrloses Korn.

»Gefallen sollen sie sein, verwundet und gefangen. Die sich vor der Stadt in die Mühlen und Fabriken und hinter die Hecken geworfen, sind von der dänischen Übermacht zusammengeschossen worden. Dreihundert Studenten sollen unter den Toten sein.«

In Schmalebek ging die Kunde von Haus zu Haus, trübe Gesichter waren auf der Gasse, lachende Kinder wurden zur Ruhe gescheucht, wo Menschen zusammenstanden, flüsterten sie halblaut mit sorgenvollen Gesichtern. Am dreizehnten gegen Abend kam Georg Grützmann von Rendsburg herüber zur stillen Hochzeit. Dort hatte man schon die Bestätigung der bösen Nachricht.

Sechs Schmalebeker Jungen waren dabeigewesen, ohne Fiete Eggers und den alten Kantor. Was war aus ihnen geworden?

Es gab keinen Polterabend, still saß man bei Rottmanns an diesem Abend beisammen, nur bemüht, der Braut, die in eine sorgenvolle Zukunft hineinging, so viel Liebe wie möglich zu erzeigen.

Thomas Raben war noch nicht da, er konnte erst am andern Tag mit der Morgenpost eintreffen.

In der nächsten Frühe bekam Hanse einen traurigen Besuch. Melanie Rosen, ganz in Schwarz gekleidet, stand in ihrem Zimmer und sagte sanft: »Ich habe die letzten Grüße eines geliebten Menschen zu überbringen. Mein Verlobter ist schwer verwundet im Flensburger Lazarett seinen Wunden erlegen.«

»Liebes Fräulein Rosen.«

»Gestern abend kam vom dortigen Pfarrer ein Brief an mich, der brachte die Nachricht. Und er hat mich grüßen lassen. Mich und alle, die er lieb gehabt hat. Und ich sollte nicht zu traurig sein, daß ich nun nicht auf dem Friedhof einmal neben ihm ruhen dürfte, die Erde sei überall des Herrn.« – Sie strich über die Hand der jungen Frau. »Sie können weinen, Liebe. Ich nicht. Ich gehe noch wie in einem dunklen Traum. Aber vielleicht, wenn ich aus diesem Traum erwache, ist alles hell, und er ist wieder bei mir, und wir sind vereint, ohne uns je wieder trennen zu müssen. – Aber bis dahin – daß ich nie wieder sein Glockenspiel hören soll –«

»Ja, ich habe Ihnen noch etwas zu sagen, er hat es auch dem Pfarrer aufgetragen. Sie haben da eine Ziegelei verteidigt, als die Dänen in die Stadt drangen. Da ist Fiete Eggers neben ihm erschossen worden. Er hat nicht gelitten. Sich einmal aufgebäumt und war hinüber.«

Sie sprach mit ihrer stillen sanften Stimme, als seien Mord und Tod nichts Grausiges mehr für sie.

»Wollen Sie es der Mutter sagen? – Sie und Ihr Haus haben die kleine Frau doch immer beschützt und unterstützt.«

»Ich will es ihr sagen, Fräulein Rosen.«

»Dann will ich wieder gehen.« Sie sah sich langsam im Zimmer um. »Ja, dort am Klavier – wenn Ihre Ilse sang –, wie oft saß er dort. Er hatte so viel Freude an Ilses Stimme. – Er konnte sich immer so freuen. Mein Leben war hell durch ihn. Und nie ist ein hartes und ungeduldiges Wort zwischen uns gefallen. – Nun bin ich doch recht froh, daß wir noch zusammen reisten, was die Menschen auch sagten. – Ja, ja – man soll einem lieben Menschen alles zu Willen tun, was man tun kann, eh' die große Trennung kommt.«

Gefaßt und tränenlos ging sie aus dem Hause. Hanse, die ihr nachsah, empfand es mit jäher Gewißheit: Die Trennung zwischen diesen zwei Menschen würde nicht lange währen.

Nun sollte sie selber gehen und der armen, beraubten Mutter die furchtbare Nachricht bringen. Nahm ihr keiner den Gang ab? – Aber wer? Ilse? Die war zu jung, die wußte noch nicht, was es hieß, einen geliebten Menschen an den Tod zu geben. – Ihr Mann? Er hätte es für sie getan, aber er hatte eine herbe Art, und Trostworte dem Unabänderlichen gegenüber lagen ihm nicht. – Der Schwiegervater? – Ach, der alte Herr mußte in diesen Wochen schon immer von Haus zu Haus gehen und Hoffnung geben und Trost bringen, – nein, sie packte ihm nicht noch mehr auf. Da ging sie schon selber hinüber über den Markt.

Tischler Rübesam stand vor der Haustür im frischen Wind und sagte, als sie herankam: »Wenn Sie zu Mam Eggers wollen, Frau Doktor – die is nu ganz komisch. Seit Fiete weg is, geht sie nich' mehr raus. Sitzt und redt vor sich hin und lacht und gickert, und gestern abend hatt' sie so'n roten Kopf, als sollt' sie verbrennen. Wenn Frau Doktor nicht heut' gekommen wär', hätt' meine Frau nachher Herrn Doktor rübergeholt.«

Madam Eggers saß wie immer an ihrem Putztisch und hatte Haufen von Tüll und Band und allerlei Seidenstückchen vor sich liegen, fuhr mit den Fingern darin herum und sah nicht auf, als Hanse zu ihr trat.

»Guten Morgen, Madam Eggers. Rübesam sagt, es geht Ihnen nicht gut. Soll mein Mann einmal kommen?«

Ein flackernder Blick ging über sie hin. »So als ich? – Oha, gut, sehr gut. Will mir grad die Hochzeitshaube nähen. Daß mein Fiete doch – und muß sich nich' genieren um seine Mutter, wo er – und hat nu so 'ne feine Braut.«

Ein langer schüttelnder Husten. – Wie hager sie war, wie die Knochen an den Schultern durch die armselige Kleidung stachen. Sie sah aus, als hätte sie seit Fietes Fortgang nicht mehr gegessen und kaum mehr geschlafen. Der warmherzigen Hanse tat das Herz weh vor so viel Jammer. Und sie mußte ihn noch erhöhen.

»Es geht Ihrem Fiete gut, Madam Eggers. So gut, wie es einem armen Menschenkind gehen kann.«

»Das sagen Sie man, Fräulein Moorwood. Das weiß ich ganz allein. Vorhin war er erst hier bei mir. Mutter, sagt er, nu wird es doch so, wie du immer gesagt hast, nu heirat' ich Ilse Rottmann. Denk' mal an, sagt er. Sieben seidene Kleider kriegt sie, und ich bekomm' en feinen Schniepel, der Doktor läßt ihn mir machen. In'n Wagen fahren wir nach Kirche. Der Kantor muß spielen. Und ich werd' hier Paster, steh' alle Sonntag auf der Kanzel und sing' und predig'.« Ihre heisere, gebrochene Stimme hub an: »Christe, du Lamm Gottes, das du trägst die Sünde der Welt, erbarm dich unser.«

Hanse liefen die Tränen über das Gesicht. Du armes Menschenkind. War das nun Gipfel der Not oder war das himmlische Barmherzigkeit? – Sie öffnete die Flurtür und rief den Tischler. »Holen Sie doch meinen Mann, Meister, er ist bei Schlachter Timm, da sind die Kinder krank.«

Madam Eggers achtete auf ihr Aus- und Eingehen so wenig wie auf ihre Worte. Hüstelnd, zitternd, aufgeregt flüsterte sie vor sich hin:

»Alle wollten sie nichts wissen von mein Fiete. Aber ich hab' es ihnen tüchtig gegeben. Oha, stecken sich die Briefe nich' hintern Spiegel. Sei man ruhig, mein Fiete, bist doch der Beste. Sollst doch en feiner Herr werden. Und kriegst die Allerschönste. Ja, ja, mein Fiete, dein' alte Mutter will da woll für sorgen.«

Ihre irrenden Blicke fielen auf Hanse, etwas wie Verständnis kam in die Augen. »Sind Sie das, Frau Doktor? Sie haben ja noch gar nich' das Seidene an. Oha, Sie sind ja ganz in was Schwarzes. Nee, wo kann man einmal, wenn so'n Fest ist. Da, hören Sie nicht? Die Glocken?«

Die Kirchenglocken begannen zu gehen. Pastor Jessen ließ sie ziehen zur Ehre seines alten Kantors, eh' sie den Hochzeitssang für seine Tochter anstimmten.

»Fein klingt das. Nu' kommt mein Fiete gleich mit sein' Braut. O mein Jung', o mein guten kleinen Jung', – ja, ja, ich zieh' mich schon an, ich mach' mich schon fein.«

Sie fummelte an ihrem Kleid herum, Hanse trat heran und löste leise die Haken und Knöpfe, zog ihr das Zeug ab und sagte sanft: »Eh' er Sie holt, Mutter Eggers, müssen Sie noch ein bißchen ruhen, sonst wird der Tag zu viel für Sie.«

»Zu viel, wieso zu viel?« Aber hilflos und fiebernd ließ sie es geschehen, daß sie in ihr Bett gehoben und eingepackt wurde. Einmal auf dem Lager, sank der erschöpfte Körper willenlos zusammen, die Lippen bewegten sich noch, doch man verstand nichts mehr.

Doktor Rottmann kam in die Tür. Sein Auge sah, wie es stand. Kaum noch ein Wehren des elenden Leibes gegen den dunklen Freund, der schon an der Tür harrte und winkte. Hanse sah ihn fragend an, er zuckte nur die Schultern. »Der Arzt ist machtlos. Ist hier niemand, der nach ihr sehen kann?«

»Ich bleibe bei ihr.«

»Es kann Abend werden, eh' sie Ruhe findet. Und Riekchen Jessen –?«

»Mam Eggers hat mich nötiger als Riekchen Jessen. Ist Raben gekommen?«

»Ich weiß nicht, ich war nicht im Hause. Aber die Post fuhr vorhin ein. Halt dich tapfer, meine Hanse. Und wenn du mich brauchst, schick' hinüber.«

Sie gaben sich die Hand, dann ging er.

Hanse sah ihm nach und sah durch die kleinen, trüben Scheiben einen schlanken Mann von der Post her zu ihrem Hause hingehen, lächelte ein bißchen und dachte: »Wie nah' sind heute Tod und Leben.« Dann setzte sie sich an das Bett und horchte auf die müden Atemzüge. »Nun brauch' ich es dir nicht mehr zu sagen, du armes Menschenkind.« –

Ilse stand oben in ihrem Zimmer, als das Posthorn blies. Sie wußte, wer da einfuhr in das Städtchen, und fühlte zu ihrem eigenen Erstaunen eine jähe Jubelwelle emporstürmen vom Herzen zu den Wangen. War sie so wankelmütig? Wußte sie denn nicht, wen sie eigentlich liebte? Hatte sie immer schon, auch damals im Sommer, unbewußt den stolzen, dunklen Mann im Herzen getragen und es nur nicht erkannt, weil er ihr zu hoch stand? – Was sollte sie sagen, wenn er nun kam? Wenn doch wenigstens Hanse im Hause geblieben wäre. – Da ging schon die Tür, – nun hörte sie die Stimme des kleinen Bruders: »Unsere Ilse, die sitzt auf ihrem Zimmer. Du, Onkel Raben, die Treppe rauf und dann geradezu. Geh man dreist rein.«

Dieser Junge! Sie sprang auf und trat aus der Tür, sah aus dem dunklen Treppenhaus einen großen Mann heraufkommen, faßte die Türklinke hinter sich, wäre am liebsten wieder in die Stube zurückgeflüchtet und hatte solche Schwäche in den Knien, daß sie zitterte.

»Der kleine Murillo schickt mich. Ich soll nur dreist hergehen. Wenn man aber gar nicht dreist ist? Wenn man gar keinen Mut hat? Wollen Sie mir nicht ein bißchen helfen, liebe Ilse?«

»Ich hab' nicht gedacht, daß Thomas Raben, der mit den widerspenstigen Sündern fertig wird, vor einem dummen Mädel Angst haben kann.«

»Ich glaube, wenn das kleine Mädchen, statt so dazustehen, als wollte es gleich fortlaufen, hierherkäme und den Kopf an meine Schulter legen wollte, dann würde ich viel mutiger werden. Sollte es nicht gehen?«

»Wenn Sie meinen –«

»Immer noch Sie

»Wenn – wenn du es meinst –«

Da hatte Thomas Raben den nötigen Mut ganz von selber wiedergefunden, hob die zierliche Gestalt in seine Arme, trug sie die Treppe hinab, hinein in die Wohnstube, wo das Instrument stand, und sagte: »Hier hab' ich deine Stimme zum erstenmal gehört und dich zum erstenmal gesehen, hier will ich dich feierlich fragen: »Willst du Schmalebek auf immer verlassen und mit einem fremden Mann in die große Welt ziehen? Du geliebter kleiner Singvogel du?«

»Wenn es nicht anders sein kann.« Und plötzlich schien ihr Schmalebek, die kleine, oft verachtete Stadt, wie ein stilles Paradies, aus dem sie hinausgehen sollte. Sie faßte die Hand, die sich an ihre Schulter legte und drückte die Wange daran. »Ich gehe, wohin du mich führst.«

* * *

Als der Tag zu Ende ging, hatte eine müde Seele Ruhe gefunden, ein junges Paar hatte den gemeinsamen Lebensweg angetreten und ein anderes dachte an den nahen Nestbau. – Trauer und Freude war in den stillen Schmalebeker Häusern eingekehrt, Tränen des Leides waren geflossen und Tränen des Glücks, und der Mond, der in vollem Licht über der kleinen Stadt stand, sah hier und dort noch Fenster erleuchtet, die sonst zu dieser Stunde längst dunkel lagen.

Mehr sah er nicht, denn die dunklen Bäume, in deren noch kahlen Zweigen der Nachtwind rauschte, die alten Fachwerkhäuser, die kleine Kirche und die glitzernde Schmale – alles war wie seit hundert Jahren. Droben in der Luft schrien Nachtvögel, der Hahn auf dem Kirchturm leuchtete wie Silber, die Wellen im Fluß murmelten ihr heimlich süßes Lied, – draußen in den Feldern ruschelte es im junggrünen Roggen, Rehe traten aus dem Holz und hoben die feinen Köpfe empor zu seinem Glanz – was wußte die Natur von Menschenunruhe und all den törichten Wirren und Kämpfen dieser Eintagsfliegen! –

Klein und schmucklos lag Schmalebek unter dem stillen Himmelslicht, nur seine Pulse klopften unhörbar durch die Nacht.

* * *


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