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Und immer ist's Gewinn für ein Land, wenn ein König da ist über das Feld, das man baut.
Die Bibel
Die Schlafsucht des Königs war kein Geheimnis mehr. Selbst bei Tische schlief er plötzlich ein und ließ Messer und Gabel aus der Hand fallen, während einer Tafel wohl an die zehn- bis zwölfmal. Aus der gleichen Schwäche zerschlug der König in der Tabaksrunde allabendlich drei bis vier Pfeifen. Heimlich waren besondere Leute bestellt, die laut und ununterbrochen reden mußten, sobald der König anfing einzuschlafen. Dieser Zustand hielt ein volles Vierteljahr an. Der König mußte also eingestehen, daß er krank war. Diesmal nannte er es einen Podagraanfall. Er schlief vor Schmerzen – allein der Schmerzen wegen, wie er sagte – nur morgens von vier bis fünf Uhr. Er arbeitete aber sehr fleißig. Nur die Tafel mußte allmählich abgesagt werden. Jetzt speiste er mittags im Schlafrock, außer Bett, mit der Königin und den Kindern, die er mit in Potsdam hatte: Philippine Charlotte, seine Sanssouci, die er noch immer mit ihrem Kindernamen seine »dulle Lotte« nannte, hielt er ihres ewig fröhlichen Geplauders wegen bei sich; Hulla, dessen Zärtlichkeit und Sanftheit ihm in diesen Wochen unentbehrlich war, konnte er noch weniger missen; Friederike Luise wollte er so lange wie möglich um sich haben, denn um ihrer nahe bevorstehenden Heirat willen glaubte er in diesen Tagen gern von ihr, daß sie ihm sein liebstes Kind sei. Liebte nicht Ike seine Hunde, die Bären, Wusterhausen? War sie nicht das einzige sparsame unter seinen Kindern? War sie nicht offen bis zur Schroffheit und also ohne alle Berechnung? Willigte nicht gerade sie, der Widerspruchsgeist, ohne Zaudern in seinen Heiratsplan ein? Und dies, obwohl sie doch gar nicht ermessen konnte, was jener Entschluß bedeutete, gerade ihre und für sie gerade diese Ehe zu schließen! Manchmal schien er jetzt ganz in den Anblick dieser seiner zweiten Tochter versunken, so sehr bewegte es ihn, daß ihr Geschick zum Zeichen einer großen Wende wurde.
Die Ähnlichkeit Friederike Luises mit der Mutter fand er nun doch geringer geworden. Die Gattin war in jenen Jahren erster fraulicher Jugend so unvergleichlich schmaler und zarter gewesen, und ihre Taille galt einmal als die schlankeste von allen Taillen aller Prinzessinnen Europas. Wie ein unbewußter Stolz war es in ihm, daß die Tochter der Mutter nicht gleichkam, obwohl Friederike Luise ihr Ebenbild hieß. Es war, als liebe er die Erinnerung an die Frau, die unlängst und vielleicht auch heute noch zu seinen unversöhnlichsten Feinden zählte, obgleich sie nun das fünfundzwanzigste Jahr an seiner Seite lebte. Er suchte sie auch heute noch in seinen Kindern, die endlich, endlich wieder friedlich um ihn weilten – auch wenn es nun die anderen waren – nicht mehr die beiden Ältesten. –
Jedes der Kinder um ihn mußte sich nun aber mit irgend etwas beschäftigen, während es bei ihm saß. Sanssouci las in einem französischen Buch, tuschelte aber mit den Geschwistern und vergaß fortwährend wieder den Zusammenhang ihrer Lektüre, genau wie es in ihrer Kinderzeit gewesen war; sie wurde auch noch ganz als Kind behandelt, so sehr gerade sie sich immer das Gegenteil ersehnt hatte. Friederike Luise verfertigte Knötchen- oder Schiffchenhandarbeiten; sie liebte, trotz eines gewissen Geschickes darin, solch weibliche Beschäftigung nicht sonderlich, wollte jedoch den neuen Angehörigen in Ansbach einige artige Geschenke machen, die ihr Budget nicht allzusehr belasteten; in dieser ein wenig selbstsüchtigen Berechnung war sie mit ihren siebzehn Jahren überaus verständig. Hulla, der sich am meisten und am längsten um den Vater befand, schrieb oder malte; und er hatte es auch wirklich schon zu recht hübschen, zarten Bildchen gebracht, die einem Zehnjährigen alle Ehre machten. Dann und wann blickte er, weil es viel fesselnder war als alle eigenen Tuschereien, zum Vater hinüber, der nun nach Tisch im Bett ebenfalls wieder malte – in der ganzen Zeit der langen Krankheit Bilder ein und derselben Art: Bruststücke von Bauern seiner Länder, Bauern der Stämme des Reichs, Bauern der fremden Nationen. Nun malte König Friedrich Wilhelm seine Bauern, wie er vordem immer wieder sein Gesinde zu porträtieren pflegte, als sei ein treues Gesicht so rar, daß man es festhalten mußte!
Fünf Tage brauchte König Friedrich Wilhelm für ein Bild; und wenn er gar zu große Schmerzen hatte, ließ er sich auch noch die Umrisse vorzeichnen. Er hatte jetzt seinen eigenen Mallehrer; keinen von den großen Herren der Akademie, die ob der Regelwidrigkeit seiner Bilder ein Lächeln nicht zu unterdrücken vermochten. Er mußte sich mit Meister Hänßgen begnügen, Herrn Johann Adelfing, des Name und Kunst keiner kannte. Der bekam hundert Taler Gehalt, pro Maltag einen Gulden für Farben und im übrigen viel Schelte ob seiner dürftigen Gaben. Dagegen war der König sehr zufrieden damit, wie der Bombardier Fuhrmann ihm die Farben zu mischen verstand. Von Meister Hänßgen ließ der Herr allenfalls die besten Zuchtsauen konterfeien und in die Kammern der Landstädte schicken, damit man wisse, was erreichbar sei. Auch hatte er zu solchem Zwecke einen taubstummen Viehhüter aus einem baireuthischen Dorfe, weil er ihm gar so geschickt schien, beim Hofmaler Glaeser in Lehn zum Tiermaler ausbilden lassen. Die Menschen seines Landes aber, seine Bauern, malte König Friedrich Wilhelm selbst; doch gab er wenig Einblick, was solches Tun für ihn bedeutete. Mit dem Malen, erklärte er nur, bekämpfe er, wenn er zur Arbeit unfähig sei, seine große Müdigkeit, die ihn noch immer des Tages überfiel. Die völlige Schlaflosigkeit seiner Nächte aber fürchtete er so, daß er sich, um sich die Müdigkeit absichtlich und mühsam zu erhalten, selbst abends um neun oder zehn Uhr manchmal noch die aufgespannte Leinwand eines seiner Bauernköpfe auf dem Bette aufbauen ließ. Und er war so bei der Sache, daß er Anfragen, die beim Malen einliefen, in Bildern beantwortete.
Weil er neuerdings gar so oft darum gebeten hatte, kam auch die Königin manchmal für einen Augenblick zu dem Malenden ins Krankenzimmer; und wenn sie nun ein wenig bei ihm blieb und sich auf dem Sessel zu Häupten seines Bettes niederließ, nahm der König, dem die Schmerzen immer wieder auch das Malen verwehrten, die Hand der Königin und legte seine Rechte fest in ihre Hand, als gewähre ihm das eine Linderung, vielleicht auch eine Erinnerung oder den Traum von etwas, das sich niemals erfüllte. Dann sprach er auch immer sehr freundlich zu ihr und wollte sie davon zu überzeugen suchen, daß es etwas Hoffnungsvolles und Schönes, wenn auch Ernstes um den Entschluß sei, den er gefaßt habe.
Mehr noch aber war es wie ein Bekenntnis – als ob er sage: »Ich wollte das Haus mit dem Dache zu bauen beginnen! Ich wollte die Kronen, die in den Händen deines Geschlechtes und meines Geschlechtes sind, in gar zu großem Stolze vereinigen! Das war Vermessenheit, war Torheit, war Ungeduld! Nun gehe ich den umgekehrten Weg, ganz von unten auf, ganz gründlich, ganz allmählich! Nun sammle ich die entferntesten Glieder meines Hauses, die verschuldeten Erben und Träger des Namens Brandenburg und Hohenzollern im Reiche; sie, die ihr Amt verkannten und ihre Zeit vertaten! Nun will ich die ausgerissenen, absterbenden, geknickten Zweige meines Stammes auflesen, verbinden, von neuem einpflanzen, hegen, stärken und veredeln von der Kraft der Wurzel her. Lange hat die Hand des Gärtners gefehlt.«
Aber der Königin preßte es das Herz ab. Von solchem »Morgen« wollte sie nicht wissen. Sie hörte nur »Das Brandenburgische Haus« und »Das Reich« und sah das Ende aller ihrer Hoffnungen herbeigekommen. Mit dieser einen, ersten Heirat nach Ansbach war alles entschieden. Wie konnte Friederike Luise, das Kind, das ihr am meisten ähnelte, so widerspruchslos in die Wünsche des Königs einwilligen – sie, die sonst immer all und jedes ablehnte! Aber natürlich, das war nun die Frucht der Wusterhausener Erziehung, daß eine ihrer Töchter den Rang eines Königskindes in den Wind schrieb; auf die Möglichkeit, endlich an einem großen Hofe ein standesgemäßes Leben führen zu können, nicht das mindeste gab und nun statt dessen das bequeme, form- und inhaltlose Leben einer kleinen Landjunkersfrau mit lukrativer Milchwirtschaft und Hundezucht nach preußischem Exempel wählte! Dazu bedurfte es wahrhaftig nicht des Welfenblutes in ihr! Ach, welche Qual, daß statt der Gesandten großer Potentaten und Puissancen Geheimräte von kleinem Adel und von armem Hofe im Königsschlosse aus und ein gingen! Aber die Königin legte gerade darum allergrößten Wert darauf, die Gespräche zwischen Vater und Tochter zu kontrollieren; und schon aus diesem Grunde erschien sie immer wieder am Krankenbett. Doch was der König mit seiner Ike zu bereden hatte, brachte die Mutter maßlos auf. War ihre Tochter eine Pächtersfrau oder Bäuerin? Er versprach ihr drei seiner prächtigsten Hunde, wenn auch nicht gerade Pedro und Verfilgo, seine Lieblinge. Dann, in seinen gehäuften Kissen sich zurechtrückend, meinte König Friedrich Wilhelm lächelnd: »Höre, Ike, wir wollen einen Kontrakt miteinander schließen. Ihr habt in Ansbach gute Schinken und geräucherte Würste, aber kein besonders schönes Mehl, wie du es an unseren feinen Pasteten so liebst. Du sollst mir von Zeit zu Zeit Geräuchertes schicken, und ich werde dich dafür mit bestem Mehl versorgen. Du bist einverstanden?«
Unbegreiflich war der Königin, daß der Gatte unmittelbar nach diesem peinlichen Gespräch, wie Pächtersleute im Dorfkrug es führen mochten, seine Anordnungen gab für eine überaus prunkvolle Vermählungsfeier, als wolle er vor der Welt die Schande solcher Mesalliance verbrämen. Der Bräutigam sollte alle Juwelen seines Hauses auf dem Hochzeitsanzug tragen, die Braut in der Krone der Mutter des Königs, Frau Sophie Charlottens, erscheinen, die Königin den Ball eröffnen unter einem Salut von sechsunddreißig Kanonen, die Hofdame der Prinzeß am nächsten Tage ebenfalls Hochzeit halten!
Der König war sehr feierlich gestimmt; denn nun begann ein Neues, Gutes, Klares, wo jahrelang nur Zerfall, Enttäuschung und Verwirrung gewesen war. Dies alles kam nun zum Abschluß, und ein lichterer Weg seines Hauses war beschritten, ein Weg, den er durch reife Felder und an üppigen Weiden vorüberführen sah, wo heute noch verwahrlostes Ackerland brachlag und verbrannte Wiesen den Sensenschnitt nicht mehr lohnten. Was galt es ihm, daß er in unsäglicher Mühsal Sanierungspläne für die verarmte Verwandtschaft entworfen, garantiert und finanziert hatte, in denen er gleich in Zeiträumen von vollen zwölf Jahren denken und rechnen mußte.
Immer mußte dem König ein Plan erst zum Bilde verwandelt sein, ehe er eine Erwägung zum Entschluß zu erheben vermochte. War aber solche Verwandlung geschehen, dann ließ er nicht ab, bis nicht die Wirklichkeit dem Bilde nachgestaltet war.
Aber hier war nun ein Bild! Der Herr stand staunend vor dem Rätsel. Hier war ein völlig neuer Weg! Hier war die völlige, innere Abkehr von der britischen Verlockung! Der Traum vom Wachstum der Kronen und Throne brüderlicher Fürstengeschlechter, vom Wachstum über die Meere und Küsten, nur durch die Liebe, war zu vermessen gewesen. Und so trug er sein Gericht schon in sich.
Aber dies Neue war begrenzt, war demütig, es forderte nicht das Wunder wie einen Zauber, sondern verlangte das Opfer. Und so dämmerte schon die Verheißung herauf.
Er sollte die Länder des zerrissenen und versprengten Hohenzollernhauses sammeln, versiegende Quellen mit dem eigenen Blute durchströmen! Es konnte nur Gottes Befehl sein!
Dem König ging es nicht mehr nur um die älteste Prinzeß. Er sah die Töchter alle, unendlich beglückend, in die verlorenen und bedrohten Lande seines Ahnenhauses ziehen. Ein neues Reich blühte auf; überall war Brandenburg bereit, den dauernden Frieden des größeren Reiches anzubahnen. Brandenburg wuchs in das Reich: schenkend, statt raubend! Der Bettelkönig hatte wählen gelernt zwischen vermessenem Traum und der Erkenntnis versäumten Dienstes. Der Bettelkönig würde alle Brandenburger sammeln und ›Dem König von Preußen‹ zuführen! Der Bettelkönig würde eine große Macht im Reiche sein – ohne Allianzen und Traktate mit der fremden Welt, ohne Zwiespalt, ohne Verrat! Kein Vorwurf konnte ihn treffen, kein Verdacht sich erheben! Die klarste Ordnung brach sich siegreich Bahn, dem sinnvollsten Gesetze wurde genügt, einem Gesetze, das Ansbach, Baireuth, Schwedt, die Kurmark und Preußen umschloß und sie hielt und sie trug, statt daß es sie unterwarf!
Für die erste Prinzessinnenhochzeit im Königshause wurden die großen Mustergüter des Königs gewaltig beansprucht; und das erste Vorbild aller späteren Mustergüter, Königshorst, hatte das Schwerste und Beste zu leisten. Aber auch schon die neueren – Stutthorst, Kiesenberg und Kuhhorst – mußten hergeben, was die Scheunen, Ställe, Keller und blanken Kammern nur bargen. Und nirgends war hochzeitlichere Stimmung zu spüren als in all dem Rüsten auf den Königsgütern. Die hier die Schüsseln wuschen, die Milchkannen putzten, die Butter rührten und die Eier in feingeschnittenem Häcksel verpackten – alle waren sie Bräute wie des Königs eigene Tochter.
Lediglich jene Mägde, die auf allen Domänen dem König als die saubersten, fleißigsten, flinkesten genannt worden waren, kamen zur Ausbildung nach Königshorst und Kiesenberg, Kuhhorst und Stutthorst. Und das war gleichbedeutend mit einer schmucken Aussteuer aus des Landesvaters Beutel. Zu tüchtigen Bauernfrauen sollten sie hier werden; und es hieß in den Instruktionen ganz ohne Umschweife, »von jeglicher Domäne die drei besten Mägde mit Brautschatz auf die Mustergüter zu versetzen«. Auch waren ihnen gleich von vornherein »drei Kerls von guten Leuten zu heiraten zur Wahl gestellt«. Zwei Jahre waren die Frist, die der König ihnen setzte, das Tagwerk der Bäuerin zu erlernen und den Bauern samt dem künftigen Hofe recht zu wählen. Jeder Landmann aber, der heiratete, mußte vor seinem Hofe sechs Obstbäume pflanzen, noch bevor er zum Altar der Dorfkirche schritt; und um des hochzeitlichen Landes willen mußte auch der Bürgerbräutigam in der Stadt für sechs Eichen in den Forsten des baumlosen Bruchgebietes je zwei Groschen zahlen. Nur wo die Armut des Freiers offenbar war, ging der König davon ab. »Denn ich will«, sprach der Landesvater, »lieber ein Prämium setzen, daß sie heiraten, als sie, weil sie heiraten, Geld geben lassen.«
Der König kannte schon jede von den späteren Musterbäuerinnen. Mancher hatte er die hundert Taler Brautschatz selbst am Butterfaß ausgezahlt. Die holländische Meierin, vom König als Lehrmeisterin der Bauernmädchen eingesetzt, hatte dem Herrn schon oft: im Kreise der bräutlichen Mägde eine Probe ihrer dottergelben, festen Butter auf blitzblankem Messer präsentiert, wie sie nun der König auch für die Hochzeitstafel seiner eigenen Tochter nicht verschmähte. Immer waren die Königsgüter voll regen Treibens und freudigen Lebens. Namentlich das einst so elende Oderbruch war ein Land der reichen Ernte und frohen Hochzeit geworden. Drüben, wo der Fluß herüberglänzte in geordnetem Bette und geregeltem Laufe – durchschnellt von guten Fischen, die der König in den gereinigten Wassern hatte aussetzen lassen –, luden die Freier der Mägde vom Königsgut, seit der Fluß wieder eisfrei war, auf die langen, sauberen Kähne täglich hundert Wispel guter Gerstensaat auf, die nach dem Osten zu gehen bestimmt waren. Königliche Kommissare am Schiffsteg prüften jeden Sack, den das Notland als Hilfe erhielt. Überall stand der König, das Werk betreibend und das Fest bereitend.
Vollends groß wurde die Aufregung auf dem Königsgut nun gar, als mitten in das Rüsten der ländlichen Bräute für die Braut aus ihres Königs eigenem Hause die Kunde drang, der Kronprinz selber treffe auf dem Gute zur Besichtigung ein; er komme morgen durchs Oderbruch von Küstrin herüber. Also war es wahr: die Zeit seiner Gefangenschaft war vorüber, und der König ließ ihn in dem ganzen Umkreis seines Exils die Wirtschaft von den kleinsten Anfängen auf lernen!
Das ehrte die Pächter und Bauern sehr, und die Mägde, »die mit Brautschatz dorthin versetzt waren«, dünkten sich überaus wichtig, weil der Königssohn durch ihre spiegelblanken Küchen und Molkereien, die Rauchkammern und Obstböden gehen sollte. Die holländische Meierin hielt lange Vermahnungsreden in ihrer unbeholfenen, gebrochenen Sprache. Aber es war niemand unter den einfachen Menschen, der es nicht wußte, wie der Kronprinz härter als einer der Niedersten im Volk unter der Strenge des Herrn hatte leiden müssen. Doch nun fanden sie es recht und gut, denn sie selber wußten am besten, was man durch des Königs Strenge lernte und zu welch gutem Ende sie führte, auch wenn man anfangs manchmal baß erstaunt gewesen war. Die Gutsmägde vermochten plötzlich ein gewichtiges und verständiges Wort in den heikelsten Angelegenheiten der königlichen Familie und in den schwierigsten Fragen des preußischen Staatswesens mitzureden, und die Spannung, mit der sie nun den hohen jungen Herrn erwarteten, war groß.
Wie hart er auch getroffen und wie tief er auch gedemütigt wurde: er machte all das Bittere doch nur durch, um ihr künftiger Gebieter zu werden. Und das erfüllte alle hier mit viel Respekt. Ja, mancher Bauer und Verwalter in der Gegend versprach sich fast einen kleinen Vorteil davon, den Kronprinzen so nahe zu sehen, vielleicht ihn sprechen zu können. Er sollte ja nicht mehr hoffärtig sein. Er sollte wirklich kommen als ein junger Auskultator der Küstrinischen Domänenkammer. Es sollte sich als gar nicht schwierig erweisen, ihm selbst ein Anliegen vorzutragen.
Der erste, der es wagte, war der Kiezer Schulze vom jenseitigen Ufer der Oder. Der fühlte sich vom Kammerpräsidenten ungerecht behandelt und wandte sich um Abhilfe an den Königssohn. Das war das erste Amtsgeschäft des neuen Auskultators zu Küstrin. Er erklärte seinem Vorgesetzten, er glaube sich bisher sehr gut geführt zu haben. Daher hoffe er, die Kammer werde ihm bald ein kleines Dezernat geben; und da alle auf dem Festland schon verliehen seien, bitte er um das der Marine. Weil nun aber die Oder sich in die Ostsee ergieße, gehöre der Fall des Kiezer Schulzen in sein Ressort.
Der Präsident von Münchow lachte, wie der Kronprinz dem gegen ihn, den Präsidenten, gerichteten Schritt des Schulzen das Beleidigende zu nehmen wußte. Der Kammerdirektor Hille, dem der Auskultator unmittelbar unterstellt war, sah mit warmer Freude, »daß Seine Königliche Hoheit wieder lustig waren wie ein Buchfink«. Und keinem der Küstriner Herren war es unklar, daß der Kronprinz von Preußen sich selbst und auch ihnen mit solchen heiteren und sicheren Wendungen über die Peinlichkeit hinweghalf, daß ihr künftiger Herr als das bescheidenste aller Schreiberlein auf der Domänenkammer an einem besonderen Pult von Kiefernholz ganz untenan am eichenen Sitzungstische saß!
Der Kronprinz war ganz außerordentlich überrascht, im ödesten Winkel des Oderbruchs, in einem Gebiete, das jedem anderen Königreich nur Last und Schande bedeutet hätte, den ausgezeichnetsten Beamten des Staates zu begegnen. In jedem anderen Lande hätte ihr Posten ganz und gar nichts anderes dargestellt als eine recht arge Strafversetzung an die Grenzen der zivilisierten Welt. Beim König von Preußen schien es als höchste Ehre zu gelten, wenn er den Besten das Schwerste zu tun gab.
Diesen Männern nun war aufgetragen, der Kronprinz solle sich unter ihrer Leitung »von jetzt ab aus den Geschäften selbst überzeugen, daß kein Staat bestehen könne sonder Wirtschaft und gute Verfassung und daß ohnstreitig das Wohl des Landes davon dependiere, daß der Landesherr alles selbst verstehet und ein Wirt und Öconomicus ist: sonsten, wenn dieses nicht geschiehet, das Land den Favoriten und Premierministern zur Disposition bleibet, welche den Vorteil davon haben und alle Sachen in Konfusion setzen. Es soll der Kronprinz nur auf die häufigen Exempel der Welt sehen, wie miserabel die meisten Fürsten haushalten und, ohngeachtet sie die schönsten Länder haben, dennoch selbige nicht recht ausnützen, sondern Schulden machen und sich dadurch ruinieren.«
Klarer und unverbrüchlicher als in dieser Instruktion konnte Des Königs Sohn Friedrich als Thronfolger nicht anerkannt werden. Und besseren Männern als Münchow und Hille hätte niemand diese seine seltsame zweite Erziehung anzuvertrauen gewußt, jene ungleich schwierigere Erziehung, gegen die sich der Neunzehnjährige anfangs manchmal bitter empörte.
Noch begriff der Kronprinz nicht den Zusammenhang, der zwischen all den Männern, den jungen und alten, bestand, die ihm als Wächter seiner Jugend vom Vater beigegeben worden waren: den eigenen Erziehern des Vaters; den jungen Gouverneuren aus des Vaters Leibregiment; dem Kriegsgericht im Schloß Köpenick; und nun den Küstriner Verwaltungsbeamten. Noch sah er nicht hinter ihnen allen den einen Vater stehen, der sie zu ihm sandte. Vielmehr zerbrach er sich den Kopf, wie es diesen hochgebildeten Männern gelungen sein mochte, bei dem König in solcher Gnade zu stehen, und wie sie wiederum den harten Dienst zu ertragen vermochten, den der König von Preußen seinen Günstlingen auferlegte. Selbst der bürgerliche Kammerdirektor Hille besaß ganz ungewöhnlich ausgebreitete Kenntnisse; seine Bekanntschaft mit Frankreichs geliebter Literatur war gründlich; sein Feingefühl und sein Geist erwiesen sich als ungemein schätzenswert, auch dann, wenn man nicht nur den Maßstab eines Exils anlegte! Über alledem war es wie ein stillschweigendes Übereinkommen zwischen den Lehrern und dem Schüler, daß sie ihm unablässig Arbeit geben mußten – nicht, weil er ununterbrochen die Wirtschaft zu erlernen begehrte; nicht, weil er dem König gefallen sollte, sondern weil er noch Stunde um Stunde mühevoll vergessen und verwinden mußte, was geschehen war.
Mit Besorgnis sahen die Küstriner, daß der Kronprinz von der Hoffnung lebte, sein gegenwärtiger Zustand würde nicht lange dauern; er wäre eine Art gerichtlichen Nachspiels, ein Interim vor Hof und Diplomatie oder eine pädagogische Laune des Vaters.
Der Kronprinz schien den Herren, die ihn auf die hochzeitsfrohen Königsgüter führten, sehr bedrückt. Ob denn dies alles das Geld des Landes nicht eher verzehre als vermehre, fragte er. War denn der Vater unbelehrbar? Hatte er, der Sohn, denn nicht mit eigenen Augen die Zeilen des Vaters gelesen, in denen er einen geplanten Kanalbau wieder vom Etat absetzen mußte?
»Ich muß sagen«, hatte der Vater von dem Elbe-Havel-Kanalprojekte geschrieben, »das ich mich nit Ruinieren kan weitter mein geldt wegzuschmeißen und ich es vor Gott und meine kinder nit verandtworten kan da Preußen mir klug gemachet, graben Bauen viehe kauften ist aus und werde mit Gottes hülfe kein pfen mer verquaquelen den ich die Risee bin gewehsen von der gantzen Weldt und meine schöne Verfassung armee und alles übern häuften zu gehen sehr sehr nahe gewesen –«
Und dennoch ließ er nicht ab?
Darum also mußten Königstöchter arme Junkersfrauen werden –. Was würde geschehen, wenn nun der Anfang vollzogen war mit der ansbachischen Hochzeit? Was würde sich mit Wilhelmine ereignen? Warum heiratete sie, die Älteste, von deren Ehe von frühester Jugend auf soviel die Rede gewesen war, nun nicht als die erste? Was bedeutete es im Hinblick auf England? Des Königs Sohn Friedrich, Auskultator der Domänenkammer Küstrin, war auf seinem Besichtigungsgang zu den Gehöften und den Oderufern mit seinen Gedanken in Schloß Monbijou, wo sie um die zerstörten Hoffnungen der Königskinder trauerten und vielleicht noch um sie kämpfen mochten.
Die Küstriner Herren wußten, daß Friedrich noch ganz mit sich selber befaßt war und daß er, der sich von Jugend auf nach weiten, stolzen Reichen sehnte, jenes Reich noch nicht zu sehen vermochte, das sie ihm als das Werk seines Vaters zu zeigen bemüht waren: das Reich, in dem der Sand als weiter Garten zu blühen begann und in dem die uralten Moore von jungem, schwerem, honiggelbem Weizen zu rauschen anfingen –; das Reich, in dem die Mägde »Bräute mit königlichem Brautschatz« waren wie die Königstöchter selbst, als sei eines der antiken Hirtengedichte, die der Königssohn so liebte, Wirklichkeit geworden in der Mark Brandenburg.
Sanssouci stürzte wieder einmal gänzlich unerwartet in Wilhelmines Zimmer; wie immer, wenn sie freudig erregt, erschreckt oder betrübt war, überflutete ein zarter, roter Schimmer ihr Gesicht, die Stirn, den Hals.
»Es ist wirklich und wahrhaftig wahr«, rief sie, »Papa verheiratet uns alle und mich auch schon, mich auch schon!«
Ihre sonst ein wenig farblosen, blaugrauen Augen hatten einen tiefen Glanz bekommen. Sie preßte ihr kleines, heißes, ländlich weiches Gesicht an die Wange der Schwester. Sie schlang die Arme um die Lesende. Die Worte der Freude überstürzten sich.
»Ich darf mich gleich nach meinem fünfzehnten Geburtstag verloben!«
Prinzessin Wilhelmine schlug ihr Buch zu – es war ein schwacher Ersatz für die Lektüre, die sie sonst von Friedrich erhielt – und sah ein wenig gerührt, sehr freundlich und sehr müde zu der kleinen Schwester auf, die sie noch immer samt ihrem Sessel umarmt hielt.
»Aber Sanssouci – aber du Kindskopf – wie hast du es denn nur möglich gemacht, wieder zu mir zu kommen –?!«
»Ah, Kindskopf –! Ich werde noch eher Braut sein als du« – aber das war ohne jede böse Überlegung hingesprochen – »und eben der ganzen Verlobungen wegen kommt Mama nun auch bald wieder ständig her –«
Wilhelmine war erblaßt. Sie vermochte kaum zu sprechen, derart klopfte ihr das Herz. Aber sie wußte, daß aus der kleinen Schwester nichts herauszubekommen war, ehe sie nicht die Frage nach dem einen stellte, das Sanssouci das Herz abpreßte: »Wessen Braut, um des Himmels willen, sollst du denn werden?«
»Das ist es ja eben«, schwatzte des Königs dulle Lotte, das Spizerle, das Bihberle, auf sie ein, »rate doch, wer es ist!«
Das wäre gefährlich, dachte die älteste Prinzeß und lächelte ein wenig zu traurig und zu erfahren.
Aber die Schwester erwartete ja nun gar keine weitere Frage mehr, und auf langes Rätselraten wäre ihre Ungeduld nur schlecht gestimmt gewesen. Ihr zarter Atem reichte kaum aus für das Gewicht ihrer Enthüllungen und die Schnelligkeit, mit der Wilhelmine sie zur Kenntnis nehmen mußte.
»Ein Braunschweiger, Wilhelmine«, hauchte sie selig, »der älteste von den entzückenden Bevernschen Prinzen, die der Papa mit ihren Eltern plötzlich zu Ferdinands Taufe eingeladen hatte! Der Braunschweiger Karl, Wilhelmine, gerade der!«
Auf die Gratulation und etwaige Äußerungen der Schwester achtete sie gar nicht. Sie wollte nur als Braut umarmt und geküßt sein. Die Worte vernahm sie kaum; und es war gut so, denn die Schwester vermochte ihre Bitterkeit nicht zu unterdrücken. Sie sagte: »Das hat wenigstens den Vorzug, daß du deinen künftigen Gatten kennst.«
Und sie zermarterte sich den Kopf, was diese völlig neue Wendung in der Heiratspolitik des Königs überhaupt und vor allem für sie selbst bedeuten könne. Welche Auftritte und Abgänge im Intrigenspiel der Mutter würde es nun wieder geben!
Solange der König aber noch eben jene Intrigenspiele in den Appartements der Gattin und Tochter annehmen mußte, hatte er seine älteste Tochter in ihre Räume verbannt. Wilhelmine verließ seit langem ihre Zimmer nicht mehr. Sie sah keinen Menschen. Der ganze Tag ging über den Büchern hin, und es war nichts an Gutem für sie auf der Welt, als daß der König von den Heiraten kein Wort mehr hatte hören lassen.
Aber nun, bald nach der Schwester, kam auch der Kammerdiener Ewersmann, sehr ernst geworden, düster und scheu. Etwas vom Tonfall der Kammerfrau Ramen war in seiner Stimme, als er leise bemerkte, der König lasse die schöllen Zimmer ausputzen; viel Fürstenbesuch sei unterwegs zu den Verlobungsfeierlichkeiten; aber Ihre Königliche Hoheit werde zu keinem der Feste erscheinen dürfen.
Da begriff die Prinzeß, daß noch auf lange Frist eine Klarheit über ihr Geschick nicht zu erlangen war. Der König war ja von etwas Neuem besessen! Vergessen war England; vergessen war Friedrich, vergessen war Katte; vergessen waren alle Leiden, die er Familie, Hof und Volk, ja selbst den fremden Kabinetten zugefügt hatte!
Aber Katte war vom König nicht vergessen. Und der Gedanke, von dem der König in Wahrheit besessen war, meinte nur ihn. Auch wenn er seinen Namen seit dem November nicht mehr ausgesprochen hatte, stand dennoch alles, was er unternahm, in engstem Zusammenhang mit dem Toten.
König Friedrich Wilhelm wollte jetzt die Bücher und die Menschen wissen, die ihm die Seele seines Sohnes nahmen. Den toten Katte erwähnte er aber auch weiterhin nicht mehr.
Alle, die er in Verdacht hatte, lud König Friedrich Wilhelm vor. Er ließ dem Kriegsgericht ein Glaubensgericht folgen, und dieses war ihm erst das eigentliche Tribunal. Die große Frage aber, die hinter den Recherchen stand, blieb das Geheimnis des Königs: Ob es nur Verwerfung und Erwählung durch den Allmächtigen gab und beim Menschen gar nichts stand trotz aller seiner Mühen, Ängste und Gelübde? Wie aber sollte dann ein König richten? War einer verworfen: so gab es nur die Verzweiflung. Und nirgends war ein Weg aus ihr. War einer erwählt: so durfte er sich bis zur Vermessenheit auf ein unverdientes, unveräußerliches Recht berufen. Aber in allen Stücken wollte Gott alles sein und alles im geheimen.
Die Gedanken, die der König nie zu klären vermochte und nur in schweren Schlägen seines Herzens durchlitt, hatte der Sohn in verwundend scharfer Zuspitzung auszudrücken und seinen Briefen einzufügen gewußt. Der letzte, der eigentliche Kampf ging noch weiter. – Denn auch für den Prinzen war seit Kattes Todesmorgen die Prädestination kein Modediskurs mehr! Die Calvinistenlehre hatte etwas Tiefsinnig-Großartiges für ihn zu werden begonnen, freilich aufs furchtbarste vermengt mit jenen für den König tödlich wirkenden Theorien vom Fatum.
Der Kronprinz wurde aufgefordert, von Küstrin aus die Namen derer zu nennen, die ihn geistig beeinflußt hätten. Er schickte aber nur die Liste der Bücher, in denen er die Gründe seiner religiösen Anschauungen gefunden zu haben vorgab; und da hatte er nun freilich nahezu jedes Buch besessen, das über die calvinistische Streitfrage erschienen war. Der König erwiderte, Bücher hätten keine Flügel oder Füße. Es müsse sie ihm jemand zugetragen haben.
Mit Menschen, nicht mit Schriften wollte er sich auseinandersetzen. Aber der Kronprinz war fest entschlossen, niemand zu verraten. Da war ja nicht nur Katte gewesen: da war auch noch Duhan, der Refugié. – Er verweigerte die Auskunft. Er verschanzte sich hinter Krankheit, die ihm die Küstriner Herren auch mit gutem Gewissen bestätigen konnten. Der König schrieb völlig verbittert zurück: »Wie er prädestinieret ist, wird alles gehen. Wo etwas Gutes an ihm wäre, würde er sterben. Aber dessen bin ich gewiß, daß er davon nicht stirbt.«
Er sollte zu keiner Klarheit gelangen. Immer mußte er sich – unsicher und dumpf, gebrochen und geängstet – von den flinken und scharfen Gedanken wehrlos verwunden lassen. Das Glaubensgericht ging leer aus; um so unruhevoller wurden die Briefe des Vaters an den Sohn. Kattes Todesstunde hatte Friedrich nicht gewandelt! Jäh und von Grund aus brach sich die qualvolle Enttäuschung und Ungewißheit des Königs Bahn in tausend unverstandenen Anklagen, die alle nur die eine große Klage waren.
Der König schickte selber Bücher an den Sohn. Er, der die kostbare Bibliothek des Sohnes heimlich in Hamburg hatte versteigern lassen, ließ eine ganze Büchersendung nach Küstrin abgehen, Kisten mit geistlichen Büchern.
Der Dank fiel höflich aus. Die erbetenen Äußerungen über die einzelnen Werke selbst taten aber das, was das Herz des Königs am schwersten bedrängte, noch immer kühl und hochfahrend ab.
Der Mahner in Potsdam ließ nicht ab und wurde nicht matt.
Auch die kalten, klugen, die geschickten, leeren Briefe erhielten sofort ihre Antwort: »Gott gebe, daß Euer falsches Herz möge vollkommen gebessert werden und daß Ihr Gott möget vor Augen haben, alle die verdammten prädestinierten Sentiments aus Eurem bösen Herzen mit Christi Blut abwaschen. Das gebe der allmächtige Gott der Vater, Gott Sohn, Gott Heiliger Geist, um Jesu Christi willen. Amen. Alle frommen Untertanen und Leute sprechen hiermit von Herzen Amen.«
Fassungslos und bleich saß der Kronprinz bei seinen Herren und zeigte immer wieder auf die letzten Zeilen dieses väterlichen Briefes. Keiner vermochte die Feierlichkeit und Inbrunst zu ermessen, in der sie niedergeschrieben worden waren: Gebet zu Gott und Brief an den Sohn in einem! Der Hofmarschall und die Kammerherren des Küstriner Exils betrachteten den Königssohn mit tiefstem Mitleid. Hier war etwas, das beängstigte sie alle. Wie hätte einer auch nur zu ahnen vermocht, wie das heiße Herz des harten Königs darum bettelte, daß das furchtbare Opfer, das gebracht war, das Wunder wirken möge an dem Sohn – das Wunder, von dem der König von Preußen Tag um Tag sprach wie der König der Schrift: »Herr, davon lebt man, und das Leben meines Geistes steht ganz darin.«
Manchmal war jetzt in den Augen des Neunzehnjährigen etwas von der namenlosen Schwermut und entsetzlichen Aufgewühltheit seines Vaters; auch jetzt, als der Kronprinz, den Kopf in die Hände gepreßt, gehetzt und tonlos vor sich hin redete: »Ich soll ein lächerlicher, armseliger, kleiner Auskultator sein – das kann ich. Ich soll nicht auf den Zehenspitzen gehen, mich nicht auf die Füße plantieren, nicht schief und gebogen gehen und stehen und mit meinen Blicken das Auge ehrlicher Menschen nicht meiden – ich stimme da mit der Meinung des Königs sogar in höchstem Grade überein. Ich soll nur seinen Willen tun; ich soll das französische und englische Wesen aus dem Kopf schlagen und nichts als preußisch, meinem Herrn und Vater getreu sein – das geht an, obwohl doch niemand als der König, der es sich erdacht hat, weiß, was das ist: preußisch! Ich soll alle Petitmaitre-, französische, politische und verdammliche Falschheit aus dem Herzen lassen – das ist tragbar. Aber das nicht, was er in dem neuen Schreiben fordert, das nicht! Weiß er denn nicht, was er über mich gebracht hat?«
Er wollte sich wehren gegen ihn, den sein Vater und König den König aller Könige nannte. Er wollte den Vater verwunden, durch den Gott zu ihm sprach – auch zu ihm – und nannte Gott: Fatum.
Der König wußte, was er über seinen Sohn gebracht hatte und was der hatte mit ansehen müssen. Er flehte darum, daß auch der Sohn es wüßte, daß zwei für ihn gestorben waren: Katte – und Christus.
Als es für die Küstriner gar keine Abwechslung mehr gab als das Entsetzen über die Briefe des Königs, wagte der Gouverneur von Küstrin einen Vorstoß. Er bat um die Gunst, zur Trauung seiner Tochter den Kronprinzen als Zeugen laden zu dürfen. Er suchte in der armen Fischer- und Soldatenstadt dem Königssohn die wenigen Häuser zu öffnen, die hier für ihn in Frage kamen.
»Abgeschlagen«, schrieb der König an den Rand der Anfrage, »ein Arrestant müßte eigentlich geschlossen sein. So soll er wenigstens ein stilles, zurückgezogenes Leben führen, denn wenn ich das getan hätte, was er getan hat, würde ich mich totschämen und mich von niemand sehen lassen.«
Zu Grumbkow – der hinter seinem Rücken »der ganzen Küstriner Boutique seine mächtige Protektion« angeboten hatte – sagte der König gleich danach, er wisse sehr wohl, daß sein Sohn in Küstrin, fern von ihm, zufrieden sei wie ein König –.
Aber Friedrich fand keine Lösung für sein neues Leben. Er stand vor den Betreuern und Leidensgefährten seines Exiles und malte Zukunftspläne aus, steigerte sich in Ekstase und verfiel in eine Art Delirium. Den Männern, die ihn hörten, tat der Schmerz und die Erregung seiner Jugend unendlich leid. Denn der Vater hatte ihn ja nicht mit Quälern und Spähern umgeben!
Der Kronprinz von Preußen konnte ohne weites Reich nicht leben. Aber alle Reiche, die er sich schuf – und sei es, um des Vaters willen, mit Schulden und Lügen – waren ihm zerstört. Ach, und niemals hatte er eines lichten, weiten Reiches mehr bedurft als jetzt. Er konnte die Trommelwirbel jenes Novembermorgens nicht vergessen, an dem einer sterben mußte für ihn.
Er aß nicht. Er trank nicht. Doch schrieb er emsig Ökonomisches. Aber der König ließ ihm neuerdings immer wieder Prozeßakten zur Durchsicht vorlegen. Des Königs Sohn Friedrich sollte nicht nur die Wirtschaft, er sollte auch die Gerechtigkeit lernen. Es mußte ein Abschluß, ein Sinn, eine Rechtfertigung gefunden werden; denn es war ja noch eines zweiten Kindes Herz verloren, und er mußte es wiedergewinnen: wenn auch nicht mehr für sich, den Vater, so doch für ›Den König von Preußen‹.
Es kam vor, daß Prinzessin Wilhelmine drei Tage lang kein Essen zu sich nahm und auch kaum etwas trank. So oft der König seinen Kammerdiener Ewersmann zu ihr hinüberschickte, fand er sie teilnahmslos, müde, erschöpft. Sie antwortete ihm nur, soweit die Höflichkeit gegen den König und Vater es verlangte. Aber der Kammerdiener redete unbeirrt über ihre Mattigkeit und Schwäche hinweg. Die Königin mache in Potsdam ein Martyrium durch und werde mager wie ein Stock.
Die Prinzessin entgegnete ihm hochfahrend, der König werde seinen Kammerdiener ganz sicher nicht damit beauftragt haben, ihr diese Feststellung zu übermitteln. Ewersmann ging lautlos hinaus; er schien jetzt immer tief in Gedanken, und es war, als führe er die Befehle jemand anderes als des Königs aus und als müsse er sich sehr mühsam auf jene anderen Befehle besinnen. ^
Am nächsten Morgen, als die Prinzessin spät erwachte, stand Ewersmann wieder an ihrem Bette. In der Dämmerung schon mußte er von Potsdam aufgebrochen sein. Er weckte die Prinzessin mit den Worten, der König habe ihm die Order gegeben, alles für ihre Hochzeit zu besorgen. Auch wären schon die Postpferde bestellt, um sie im Falle ihrer Weigerung in die Verbannung zu bringen.
Um die Mutter zufriedenzustellen, soweit es noch möglich war, hielt Wilhelmine Rat mit den Damen der Königin. Aber was sie tun wollte, wußte sie nun selbst. Nur Ewersmann war ihr zur Übermittlung ihrer Entscheidung zu gering. Sie äußerte sich gar nicht.
Nachmittags gegen fünf Uhr traf ein Brief der Königin ein, der alles bestätigte. Der König halte an diesen wahnwitzigen brandenburgischen Heiraten fest. Die Tochter solle lieber ins Gefängnis gehen als in diese Pläne willigen. Der Erbprinz von Baireuth sei ihr zum Gatten ausersehen. Ehe die Tochter jemals solchen Vorschlag auch nur zu erörtern gedenke, möge sie sich nur lieber gleich mit dem türkischen Kaiser oder dem Großmogul oder des Königs Zopf verheiraten! Sie, für die auch ein Karl XII. und der Dauphin als Gatten in Frage gekommen wären!
Eine Viertelstunde später wurde der Prinzessin eine königliche Kommission unter der Führung des Ministers von Grumbkow gemeldet. Man präsentierte ihr nur noch den einen Vorschlag Baireuth. Grumbkow wies den Haftbefehl vor, der auf Festung lautete. Im Falle ihrer Einwilligung wurde ihr doppelt so reiche Ausstattung wie den Schwestern versprochen. Die englischen Machenschaften der Königin sollten vergessen sein, wenn nun endlich ein sinnvoller Abschluß erzielt würde. Die Prinzeß, so überreizt sie war, blieb sehr sicher.
»Bis jetzt, meine Herren, kenne ich in dieser Angelegenheit nur das Geschwätz eines Dieners.«
Der General von Borcke, der Königin Sophie Dorothea und ihren beiden ältesten Kindern – und gerade um des Königs willen – manchen treuen Rat gegeben hatte, suchte der Prinzessin den Schritt zu erleichtern, der getan werden mußte.
»Der König hat mir gesagt, daß seine ganze Ruhe von Ihrer Entscheidung abhänge, Königliche Hoheit; das muß Ihre Nachgiebigkeit erleichtern können! Auch ist der Baireuther ein regierender Herr und hat das rechte Alter für Sie. Bedenken Sie, daß er einer jener Hohenzollern aus dem Süden des Reiches ist, deren Familie immerhin als so erlesen galt, daß eine der Ihren heute Königin von England ist!«
Mit einem Borcke, ihres Vaters Favoriten – sein Sohn war unter Friedrichs jungen Gouverneuren gewesen –, und einem Grumbkow, ihrer Mutter Todfeind, hätte die Prinzessin durchaus noch verhandelt. Aber die Gegenwart des dritten, der in dieser Kommission entsandt war, gebot ihr Schweigen: Thulmeier, ein fragwürdiger Mann, aus des Polterhansen Bleuset Schenke aufgelesen, ein elender Schreiber, zum Kabinettssekretär des Königs gemacht, weil er angeblich schweigen konnte wie kein anderer – jener Thulmeier war Geheimrat geworden und wohnte den ultimativen Gesprächen des Generals und des Ministers mit der Königstochter bei!
»Er hat nun an die zehn Jahre meine geheimsten Briefe geschrieben und über ihren Inhalt geschwiegen. Nun mag Er einmal Briefe diktieren. Er scheint mir reif dafür geworden.«
So hatte der König gesagt. Aber vor solchem Manne brachte Wilhelmine von Hohenzollern keine Silbe über die Lippen. – Blaß und schweigend ging die Prinzessin an ihren Schreibtisch, richtete einige Zeilen an den König, einige an die Königin und gab der Kommission die beiden Briefe mit.
Der Vater antwortete umgehend eigenhändig, daß er sehr froh sei, daß sie sich den Befehlen ihres Vaters unterwerfe. Gott werde sie segnen, und er werde sie nie verlassen, sein Leben lang für sie sorgen und ihr allezeit beweisen, daß er ihr treuer Vater sei.
Die Mutter antwortete mit einer offenen Verstoßung. Acht Tage lang empfing die Prinzessin Briefe ihrer Mutter in dem gleichen Ton. Jeder begann mit einem Satze wie: »Hätte ich dich besser gekannt, so würde ich mir nicht aus Mutterliebe so viel Kummer zugezogen haben. Ich werde mich nicht in deine Angelegenheiten mischen.«
Die Damen der Königin kehrten der Prinzessin alle den Rücken. Was galt es ihr. Jahre hindurch hatte sie es erlebt, von der Mutter und ganz Monbijou immer wieder Meine Prinzessin von Wales tituliert und gleich danach wieder völlig verstoßen zu werden.
Verlockung und Verängstigung hatten ihre Macht verloren.
Ewersmann brachte Grüße des Königs. Der König käme am morgigen Tage und würde sich beeilen, noch vor der Königin einzutreffen, die erst am Abend anlangen könne. Wilhelmine solle sich in seinen Zimmern einfinden. Der Prinzessin zitterten Hände und Beine.
Um zwei Uhr am folgenden Nachmittag begegnete der König seiner Tochter zum erstenmal seit langer Zeit. Sie redete wieder ihre höfischen Phrasen, mit gefühlvoll scheinenden Floskeln verbrämt, um ihre maßlose Erregung zu verbergen. Der König vernahm die »Turlupinaden« mit wütendem Gesicht. Er war nun entschlossen, offen mit ihr zu reden. Er wollte sie überzeugen, wie es überall und immer seine Art war, wenn man seinen Plänen mißtraute und seine Entschlüsse beklagte oder belächelte.
Sechs verlorene Jahre, so suchte er ihr klarzumachen, seien nachzuholen und müßten nun doch noch ihre Frucht bringen; aber dies sei die Gnade, die das Leben, unerschöpflich, ihm gewähre, daß er auch sechs Töchter habe, Versäumnis in Segen zu wandeln.
Die Prinzessin sah ihren Vater mit außerordentlicher Aufmerksamkeit an, in die zum ersten Male auch etwas wie Bewunderung gemischt war. Wie hatte er es gelernt, einen politischen Schachzug zu verschleiern, von den fränkisch-brandenburgischen Heiraten zu reden und seine Reichs- und Kaiserpolitik mit keiner Silbe zu erwähnen!
Der König, wie er es bei seiner Frau tausendmal getan hatte, nahm solch kühles Beobachten für warmes Verständnis, zog die Tochter an sich und sprach zärtlich auf sie ein. Dann ging er ins Vorzimmer zurück und kam mit einem kleinen Ballen Stoff unter dem Arm und mit sehr geheimnisvoller Miene wieder zu der Prinzessin. Er lächelte, und jede andere Frau als seine Gattin und seine Tochter hätte erschüttert sein müssen von diesem Lächeln in dem dicken, zerfurchten, verfallenen Gesichte des zweiundvierzigjährigen Mannes!
In der Hoffnung, daß die Unterredung mit Wilhelmine so friedlich verlaufen würde, wie es nun hatte geschehen dürfen, hatte er sich nebenan schon ein Präsent für sie bereitlegen lassen. Da flüsterte der Vater seiner Tochter zu und packte selbst die Gabe aus: »Es ist der schönste neue Stoff aus meinen Fabriken! Ein ganz neues Gewebe! Du kannst es nicht mehr vom Lyoner unterscheiden!«
Er hängte ihr den Stoff um die Schultern, nickte freundlich, ging hinaus und meinte nur noch: »Ziehe du dich nun auch zurück und erwarte deine Mutter in ihren Zimmern. Sie kommt mit den Braunschweigern. Auch mit ihnen wird sich ja nun unser Haus verbinden.«
Die Königin empfing die Prinzessin gleich nach ihre Ankunft um sieben Uhr. Die Tochter wollte reden, beherrscht und artig und gewandt wie vorher zu dem Vater. Aber nach ein paar Worten verwirrten sich ihr die Gedanken, und sie sank in Ohnmacht. Die Königin fand alles überflüssig, stand kühl dabei, bis man die Prinzessin wieder zu sich brachte, und meinte dann zu ihr, sobald die Tochter ihre Augen wieder aufgeschlagen hatte, sie dürfe sich ihren selbstverschuldeten Schmerz nicht anmerken lassen. Das herzogliche Paar aus Braunschweig mit dem Erbprinzen Karl, Philippine Charlottes Bräutigam, werde ihr jeden Augenblick von Potsdam aus folgen; der König mache furchtbar viel mit ihnen her; aber für sie blieben sie trotzdem nur eine kleine Nebenlinie ihres Hauses. Im übrigen sei das Walesprojekt von ihr noch lange nicht aufgegeben; und bei nüchterner Überlegung könne man sogar zu der Erwägung kommen, der König wolle durch das ganz eigentümliche Beschleunigen dieser deutschen Mesalliancen England zu rascheren Entschlüssen zwingen. Wahrscheinlich habe die Not ihn endlich mit feinerer Taktik lavieren gelehrt; sie wolle es hoffen.
Sämtliche um Berlin liegende Regimenter waren zu einer Parade und Musterung zusammengezogen, wie die Welt sie noch nicht gesehen hatte. In König Friedrich Wilhelm war ein tiefes und diesmal auch bewußtes Bedürfnis, bevor er in den Heiraten seiner Töchter den Weg der Treue und Demut beschritt, vor aller Augen zu zeigen, daß solche Demut ihm von Gott geboten war und nicht aufgezwungen wurde von der Welt. Niemand besaß solches Heer, kein einziger Potentat dieser Erde, die von den Armeen genau so geprägt wurde wie von Wasser, Feuer, Erde, Luft –.
In König Friedrich Wilhelm war aber ein noch tieferes und nun wiederum gänzlich unbewußtes Bedürfnis, vor aller Augen die Apotheose des Gehorsams erstehen zu lassen in Tausenden und aber Tausenden von Soldaten, die alle den einen Rock mit ihm trugen: den Rock, den Des Königs Sohn Friedrich einen Sterbekittel genannt hatte. Über den tausend und aber tausend Söhnen, die der König sich erzogen hatte, über dem ganz und gar neuen und von ihm erdachten und erschaffenen Bilde des Gehorsams wollte er vergessen machen, daß es ihm versagt geblieben war, den einen auserwählten Sohn nach dem Bilde zu prägen, das ihm, dem Vater, gezeigt war von ›Dem König von Preußen‹.
Es war aber auch noch eine List, eine gute und gar nicht kleine List, in dem Plan der gewaltigen Truppenrevue. Zum ersten Male waren die Söhne seines Landes in mächtigen Regimentern unter der Armee: jene zu jungen Männern gewordenen Knaben, die er von Kindheit an mit einem kleinen roten Bändchen um den Hals bezeichnet hatte als künftige Träger seines blauen Rockes, sobald ihre achtzehn Jahre herangekommen wären. Sie machten schon ein volles Drittel seines Heeres aus – so wie einst ein volles Drittel all der fremden Söldner desertierte, obgleich seine neuen Husaren sie, wie Wachthunde die Herde, umschwärmten! Altmärker, Neumärker, Uckermärker marschierten nun auf, junge Bauern vor allem, die Bräune der Erntezeit auf Händen und Stirnen und den Schein des reifen Weizens über ihrem Haar. Nicht mehr nur die Söldner des Kriegsherrn, auch die Söhne des Landesvaters trugen jetzt den Eichenzweig, das alte Wahrzeichen der Brandenburger.
Die Knaben waren auf ihr rotes Band stolz gewesen bis zur Aufsässigkeit gegen Lehrer und Eltern und Gutsherrn und Kreisbehörde. Die jungen Männer aber verspürten das geliebte rote Band der Knabenjahre als Fessel. Man sprach schlecht vom harten Dienst im Heer. Feindseligkeit und Ungehorsam des einen schienen dem König im ganzen Lande wider ihn aufzustehen.
Da gedachte der König – müde des Strafens und Richtens, nachdem das eine große Gericht zum Zeichen für alle geschehen war –, für seinen Plan der Wehr-Pflicht aller Landessöhne zu werben, nachdem er bisher nur einzelnen Regimentern einzelne Landschaften für die Rekrutierung zugeteilt hatte. Er wollte auch hier überzeugen und mit dem Herzen gewinnen; das Wort »Die Werbung« hatte einen neuen Sinn für ihn erhalten, nachdem er es hatte erdulden müssen, wie an die zwei Jahrzehnte seiner Regierung hindurch die preußischen Werber unter den Söldnern Europas seinen Namen furchtbar machten und bei den Kabinetten seine Politik verlästerten und gefährdeten. Der König von Preußen war sein eigener Werber geworden: der größte Werbemeister, den die Weltgeschichte kannte. In allen Stücken ging er seinen Königsweg immer wieder ganz von unten auf. Aber was er in der Demut seines Dienstes auch vollbrachte, stets war es Bild eines Königsspiegels.
Dieses Bild aber malte der König mit den Hundertschaften der herrlichsten Männer auf den Ebenen vor seiner Hauptstadt.
Die Eichen und die Lorbeerbäume Arkadiens und die Lebensbäume aus dem Garten Eden hätten an den breiten Wegen stehen müssen, die seine strahlenden Kohorten durchzogen.
Aber eben, weil nur Birken und Kiefern und Wacholderbüsche über die Felder von Tempelhof verstreut waren, eben weil er der König des Sandes war, hatten seine Fürstenaugen jenes Göttergeschlecht von der armen Erde der Mark Brandenburg begehrt: und das Gebot daraus gelesen, daß unter den Händen der Könige der Sand beginnen müsse zu blühen.
Die Feierlichkeit in ihm war groß. Die Revue schloß das Dienstjahr ab. Das endete am 31. Mai. Der war ihm ein festlicher Tag.
Am Vorabend der Parade zog er sich gegen sieben Uhr zurück, sich zeitig zur Ruhe zu legen. Auch aß er kein Abendbrot. Er bat die Gattin, sich den Gästen zu widmen, und Königin Sophie Dorothea empfing liebenswürdig und gut gelaunt die vielen nach Berlin geladenen Fürstlichkeiten, unter denen auch der Herzog von Württemberg erschienen war. Der führte die Königin zu Tische. Man aß an figurierten Tafeln, an denen jede Person einen Buchstaben oder Gegenstand darstellte, die Königin natürlich etwas ganz besonders Hübsches. Vierzehn Gänge wurden gereicht. Die Königin war so angeregt und belebt, daß ihr der Gedanke, morgen der zur Hoffestlichkeit erhobenen Truppenrevue des roi Sergeant beiwohnen zu müssen, keinerlei Ungemach bereitete; denn sie würde mit einem wirklich recht erlesenen Hofstaat auftreten können. Die Bitte des Gatten war also erfüllbar.
Frau Sophie Dorothea sah mit Entzücken, wie ihre Räume sich mit Gästen von Rang und Namen füllten. Sie mußte die Stunden nützen, in denen sie wie eine Königin Hof halten durfte, auch wenn der Anlaß sie erbitterte. Sie unterdrückte die Frage, zu welchem Zwecke und für welche Menschen alles dies geschah.
In den Sälen mit Pilastern und Vergoldungen defilierte man an der Königin von Preußen vorüber und verteilte sich bis zum Beginn der großen Abendtafel an den Spieltischen in ihren drei Damastzimmern und dem getäfelten Eckraum über dem Lustgarten und der Schloßfreiheit, einem Zimmer, das die Königin um seines roten Samtbillards willen besonders liebte.
Am längsten verweilten allerdings die meisten Gäste an dem Toccadilletisch der Prinzessin Philippine Charlotte. An soviel Lieblichkeit vermochte kaum einer flüchtig vorüberzugehen. Jeder wollte dieses Lachen hören, jeder den Glanz dieser Augen sehen, der wie der Schimmer der Juwelen an ihrem Hals, ihren Händen, ihrer Brust war. Über Tag und Nacht war Der kleine Knabe, war Sanssouci, war das Spizerle, Bihberle, war Colombe und Petit Ame – plötzlich waren alle ihre Kindernamen in aller Leute Munde! – ein sehr sanftes, sehr zartes Mädchen geworden. Und alle bestaunten sie das Wunder, wie sehr der Braunschweiger Prinz und die preußische Königstochter einander ähnelten, als wären sie füreinander bestimmt – jenseits aller Heiratsverträge!
In dem Augenblick, in dem die Gesellschaft zur Tafel gehen wollte, fuhr eine Postchaise durch den Hof und hielt an der großen Treppe, obwohl man niemand mehr erwartete. Nur Fürsten hatten dieses Vorrecht. Die Königin erkundigte sich sofort sehr überrascht, wer das sei. Es war der Erbprinz von Baireuth.
Das Medusenhaupt, so flüsterte die Umgebung Ihrer Majestät, hat niemals eine solche Wirkung hervorgebracht, wie diese Nachricht sie auf die Königin übte. Doch ging ihre Ohnmachtsanwandlung rasch vorüber, und sie widmete sich ihren anderen Gästen, als sei niemand Neues gekommen.
Die schöne, neue Anfahrt nach Tempelhof war rechtzeitig fertig geworden. Vordem waren hier am Saume der öden, sandigen Rauhen Berge nur einige Weinberge und ein paar Ackerleutehäuschen mit einer Windmühle zu finden gewesen. Nun aber, wo das Paradegelände für die gewaltig anwachsenden Potsdamer, Berliner und Brandenburger Regimenter vom Königsplatze im Tiergarten nach der Hasenheide und Tempelhof verlegt war, führte eine vierfache Allee hinaus, und ein häßlicher Erdfall war ganz mit jungen Bäumen bepflanzt. Dort waren auch die buntgestreiften, schön gerafften Leinwandzelte aufgeschlagen, von denen aus die königliche Familie mit ihren Gästen der Truppenrevue zusah, vor dem Staub und der unerbittlichen Sonne geschützt. Aber nach dem stundenlagen Stehen vor den Zelten wurde in der großen Glut der Mittagsstunden Prinzessin Wilhelmine, die man zum ersten Male wieder bei dem Hofe sah, ohnmächtig; vielleicht auch nicht nur deswegen. Doch war die Anstrengung tatsächlich für alle sehr groß. Die königlichen Knaben in der Uniform des Vaters gaben sich verzweifelte Mühe, sich ihre Erschöpfung nicht anmerken zu lassen. Hullas schmales, weiches Gesicht war von all den Strapazen dunkel gerötet; und manchmal schlug er in jäher Müdigkeit die Lider herab, so daß man die langen, dichten, dunklen Wimpern auf den zarten Wangen liegen sah, als schlafe er tief. Prinz Heinrich aber, mit seinen fünf Jahren der bewundertste Krieger zwischen Tempelhof, den Rauhen Bergen und der Hasenheide, wurde mehr und mehr in ein welkes, kleines, aschfahles Greislein verwandelt, das sich griesgrämig und ungeduldig auf seinen Degenknauf stützte.
Die acht Braunschweiger Prinzen waren Feuer und Flamme. Ein Regiment des Preußenkönigs zu führen, war von dem Tage an ihr heißester Wunsch. Manchmal wandte sich König Friedrich Wilhelm nach ihnen um. Freundlich traf sie sein Blick. Aber dann umwölkte sich die Stirn des Königs jedesmal. Denn er dachte daran, daß der eine fehlte, der den schimmernden Reihen voranreiten müßte, ihn, den König, mit dem Degen – ihn, den Vater, mit den Augen zu grüßen. Aber Des Königs Sohn Friedrich war ein Gefangener. Sein Regiment ritt einher als Des Prinzen August Wilhelm Regiment. An den Umformen dieses Regimentes fehlte der Goldbesatz; die Stickereien auf den Röcken seiner Offiziere waren weggefallen ...
Ein großer Schatten lag über den Feldern die von den Wogen blitzender Helme und strahlender Waffen in der Sonne des schon sommerlichen Tages rauschten. Der König mied es, die jungen Braunschweiger anzusehen. Und dennoch zog es ihn immer wieder in die Nähe der herzoglichen Zelte. Immer wieder einmal ritt er zu ihnen hinüber, um die Freunde aus Braunschweig zu fragen, ob sie auch ein wenig Schatten fänden; ob die Damen auch nicht der bereitgehaltenen kleinen Erfrischungen vergäßen. Ihn verlangte nach der Wohltat all der guten, freudigen Gesichter der Beverns, und niemals war seine kleine Sanssouci ihm holdseliger erschienen als in der Mitte jener Familie, zu der sie nun bald zählen würde als einem der treuesten, tüchtigsten, redlichsten Fürstengeschlechter des Reichs. Die eigene Gattin und die älteste Tochter aber standen der Sonne abgewandt und den Blick allein auf die Gesandten des Auslandes und die Träger großer Titel und Namen geheftet, mit denen sie sich, alles vergessend, alles übersehend, unablässig unterhielten.
Eine Falte des Grübelns trat plötzlich wieder auf die Stirn des Königs, indes seine Augen unvermindert wachsam den funkelnden Bataillonen und Schwadronen folgten. Für wen war dieses Heer geschaffen, für wen –. Für einen Feind! Sein ältester Sohn war sein Feind!
Und welcher Kampf mit Friedrich lag noch vor ihm, wenn es um die Entscheidung gehen mußte, welches Fürstenhaus dem jungen Lande Preußen seine nächste Königin schenken sollte! Ah – schenken! Ein zäher, wirrer Streit, ein verwickeltes, schwieriges Geschäft würde es sein; und der in Küstrin würde darin nur den Anlaß zu neuer Gegnerschaft zu ihm suchen –. Ließe sich nur dieser bittere Zwist noch in der Zeit der harten Arbeit an dem Sohn in Küstrin austragen und zu einem erträglichen Ende führen, damit endlich alles in einem vollbracht wäre! Er, der jede einmal von ihm aufgenommene Sache bis zum letzten Abschluß völlig durchführen mußte nach einem ungeschriebenen Gesetze, konnte von den Heiratsplänen nicht mehr lassen, und alle seine Gedanken mündeten in ihnen.
Angesichts des letzten Kampfes mit Friedrich dachte er aber auch nun gar noch einmal an eine letzte Wendung zum Guten in seiner eigenen leer und kalt gewordenen Ehe, die immer nur von der Wärme seines Herzens gelebt hatte. Der große Abschluß mußte sein. Zu viele Jahre waren vergeudet, und die Jahre zählten vielfach, gemessen an dem, was mit ihnen hinging.
Er vermochte nicht zu verharren in dem, das errungen war, und mochte dieser Tag der Krieger und Freier noch so festlich sein. Der erste unter ihnen allen fehlte.
Und schon wendete der schöne Schimmel des Königs wieder zu den Bevernschen Zelten hinüber. Die Braunschweiger, stets zu neuer Freundlichkeit und Heiterkeit gestimmt, sprachen bewundernd, lachend und erwärmend zu ihm hinauf.
Aber König Friedrich Wilhelm, als gäbe es kein Heer und keinen Hof und als wäre das staunende Volk rings im Gehölz der Hasenheide gar nicht da, fragte mit einem Male nach der jungen Prinzessin, die das Herzogspaar auf Salzdahlum daheim ließ.
Nach den Paraden hatten alle Herren in der Stadt gespeist, in den Häusern der hohen Offiziere und Minister und im Fürstenhaus am Friedrichswerder. Während des Paradediners am Abend ergriff der König plötzlich die Hand des Erbprinzen von Baireuth und führte ihn seiner ältesten Tochter zu. Er ließ sich ein großes Deckelglas bringen, trank auf das Wohl des Prinzen und mutete seiner Tochter zu, ein Gleiches zu tun. Die Verwirrung, Angst und Verzweiflung der Prinzessin war so groß, daß die Damen ihrer unmittelbaren Umgebung zu weinen begannen.
Der König führte folgenden Tages den Baireuther offiziell zur Königin, stellte ihn ihr als Schwiegersohn vor und ließ die beiden allein. In Gegenwart des Gatten war Sophie Dorothea liebenswürdig; hernach machte sie ihre spitzen Bemerkungen. Der Erbprinz, dessen angeborene Liebenswürdigkeit erheblich länger ausreichte, bat die Königin, sich auszusprechen; ihre Antwort werde sein ganzes Lebensglück oder Lebensunglück enthalten. Die Fürstenkinder, einander zur Ehe bestimmt, kannten sich nicht. Aber sie hatten alle die Artigkeit gelernt, sich gegenseitig als das Schicksal ihres Herzens hinzustellen. Wäre die Antwort der Königin ungünstig, deklamierte der junge Baireuther, so würde er jede Zusage gegenüber dem König widerrufen. Die Königin war sprachlos, mißtraute aber seiner Ehrlichkeit und erklärte, sie werde sich dem Befehl des Königs fügen.
»Der König hat mir da eine sehr geschickte Falle gestellt«, sagte sie nachher zu einer ihrer Hofdamen, »ich bin aber nicht hineingegangen.«
Auch hatte sie ihren Damen noch zu berichten, daß sie den Baireuther auf der Stelle examiniert habe, ob er Philosophie studierte, Italienisch und Englisch sprach, mathematischen Unterricht genoß und in Geographie und Geschichte Bescheid wußte.
Die Antwort des Prinzen freilich erwähnte sie nicht; denn trotz all der vorangegangenen feierlichen Beteuerungen hatte er vorlaut gesagt: »Jawohl, Majestät, und lesen und schreiben können wir im Baireuthischen auch.«
Bei sich selber dachte er noch sehr belustigt: Nur rechnen nicht! und war des Zwölf jahresplanes froh, den der wirtschaftliche, reiche Schwiegervater für den verschwenderischen, armen Papa aufgesetzt hatte. Papa hatte niemals etwas für die Söhne übrig behalten; und man hatte doch auch seine Neigungen.
Der 1. Juni, der Tag der Verlobung, war ein Sonntag. Wilhelmine begab sich gleich nach dem Lever zu der Königin, die maßlos schlechter Laune war, weil sie der Tochter einige Juwelen von ihrem eigenen Schmuck leihen sollte. Zänkisch leitete sie den Brautputz. Jede ihrer Damen riß und zupfte an der Braut herum, und Königin Sophie Dorothea schrie die Kammerfrauen und ihre Tochter an. Bald stellte sich der König bei den tiefverstimmten Damen ein, streichelte seine Tochter und übergab ihr einen Ring mit großen Brillanten als Gabe für den Bräutigam. Als Geschenk für sie selbst hatten zwei Lakaien ein goldenes Service abgestellt, und der Spender bemerkte nur, dies sei bloß eine Kleinigkeit, da er ihr weit mehr schenken werde, wenn sie die Sache gutwillig mache. Er bat Frau und Tochter um Takt.
Abends um sieben Uhr begab man sich in die Festräume des Schlosses. In den Gemächern der Königin und der Prinzessinnen hatte nur der Hofstaat Zutritt. Als alle versammelt waren, kam der König mit dem Erbprinzen von Baireuth. Der König war so bewegt, daß er vergaß, die Verlobung im Weißen Saal vollziehen zu wollen, und sie schon hier vornahm. Die Mutter und Philippine Charlotte stützten die Braut, deren Sicherheit und Beherrschung in dieser Stunde nicht mehr vorhielt. Der König ließ sich nicht die Rechte von ihr küssen, sondern zog sie heftig weinend an. die Brust. Die Königin blieb völlig kalt. Sie fand es sogar gut, daß solche Verlobung in einem kleinen Vorraum abgetan wurde. Für eine künftige Markgräfin von Baireuth war es ohne Frage so das richtige. Ihr ganzes Leben würde sich fortan in den Vorzimmern der Königssäle abspielen.
Die Familie schritt wie ein Trauerzug in den Ballsaal. Die Kerzen brannten schon so lange, daß sie in ihrer eigenen Wärme zerschmolzen, sich bogen, auf die Kopfputze tropften und häßliche, schwarze Flecken auf den Schleppen und Turnüren hinterließen. Die Verlobung wurde auffallend flüchtig proklamiert. Die Damen weinten und schwiegen, und auch der König hörte noch nicht auf, Tränen zu vergießen. Als der Ball begann, schloß der König plötzlich das sanfte Fräulein von Sonsfeld in die Arme, küßte die einstige Erzieherin und jetzige Hofmeisterin seiner ältesten Tochter und stieß hervor: »Es war so schwer für Sie!«
Während des trübseligen Diners, das den Tänzen folgte, war er traurig wie jedermann. Um den König herrschte eine Stimmung des Mitleids und Unwillens, was vor allen anderen dem englischen Gesandten Eindruck machte. Um so aufmerksamer widmete sich Prinzessin Wilhelmine, nun wieder völlig im Besitze ihrer Gewandtheit, bei so gelähmter Tischunterhaltung ihrem Bräutigam, was von der Mutter mit wütenden Blicken verfolgt wurde. Der Erbprinz verhielt sich geradezu dankbar gegen seine Braut. Manchmal im allzu beherrschten, allzu gemeisterten Gespräch maß ihn die Prinzessin mit zugleich erwartungsvollem und zweifelndem Ausdruck. Ihre Aufmerksamkeit war so gespalten, ihre Nerven waren so erregt, die Verpflichtungen der Stunde wurden so schwierig – aber dies entging ihr dennoch nicht: der Bräutigam war stattlich und groß und hatte ein offenes, freundliches, wenn auch etwas schwaches Gesicht. Um seine Augen lag ein Zug von Leichtsinn. Doch schien ihr, ihm fiel schwer, sich auszudrücken. Aber in seinen wenigen, unbeholfenen Worten berührte eine sichere Heiterkeit und eine von der Schwere seiner Sprache eigentümlich abstechende Leichtigkeit der Auffassung, die manchmal fast an Scharfsinn grenzte, die kluge Preußenprinzessin angenehm. Ein Schimmer von Güte und Großmut, ein Gleichmaß der Laune trotz der seltsam gespannten Stimmung rings um die Verlobten, vor allem die zuvorkommende Höflichkeit des Prinzen gegen sie, die Braut und Königstochter, taten Wilhelmine überaus wohl. Er sagte ihr Worte, die wie Dankbarkeit und Verehrung klangen; und eine freudige Wärme war in seinen Augen, als sie sich zum erstenmal voll zueinander wandten, einen Knallbonbon zu zerreißen und zwei Zuckerherzchen miteinander zu tauschen.
Die Königin ließ das Paar nicht aus den Augen. Beim Aufbruch überschüttete sie die Braut mit harten Vorwürfen, daß sie nicht mehr Schamgefühl bewiesen habe; und höhnisch und erbittert fragte sie noch, was die Tochter wohl an dem jungen Manne vom Lande derart bestrickt haben könne.
»An diese Sprache war ich nicht gewöhnt!« Sagte Wilhelmine.
»Sie lieben Ihren Junker! Sie heben Ihren Bräutigam!« raste und klagte die Mutter Königin, die keine Verbündete in ihrer Tochter mehr fand. Das Letzte, woraus in den Tagen der Übersiedlung des Hofes seiner Gäste nach Charlottenburg die Hoffnungen der Königin noch Nahrung sogen, war ein peinliches Ereignis auf der Jagd der Herren. Ein Schuß des Erbprinzen von Baireuth hatte die Schläfen des Königs gestreift. Aber der König tat, als hätte er nichts bemerkt. Er hatte in diesen Tagen manche schwerere Verwundung übersehen müssen.
Auch war er ganz mit dem Ausbau seines großen Vorhabens, den brandenburgischen Heiraten, befaßt. Über allem, was Brandenburg hieß, sollte die Krone ›Des Königs von Preußen‹ aufstrahlen! Friedrich Wilhelm hatte Leopold von Anhalt-Dessau nicht nur als seinen Jagdgefährten zur Seite. Der Gedanke an das Brandenburgisch-Schwedtische Verlöbnis seiner braven, verständigen, stillen, geduldigen Sophie Dorothea Maria, der »holländischen«, der letzten heiratsfähigen Tochter, war ihm fast ebenso lieb geworden wie die Hoffnungen, die er auf die braunschweigische Ehe seiner Sanssouci setzte. Im Hause Brandenburg-Schwedt war durch die Frau Markgräfinwitwe Philipp beides vereint: die Verwandtschaft und die Freundschaft, der Zweig der eigenen Familie und die »Dessauische Rasse«, die er neben der braunschweigischen für das beste fürstliche Geblüt im Reiche hielt, wohl berufen, um fortzuströmen in königlichen, obgleich ungekrönten Geschlechtern, Und nun hatte überdies ein Markgrafenoheim von Schwedt einst dem kleinen Kurprinzen Friedrich Wilhelm den Blick geöffnet für das Heer der Zukunft: die Armee der Enakssöhne im Reiche eines Bettelfürsten.
Die Königin kümmerte die Heirat ihrer Tochter Sophie Dorothea Maria überhaupt nicht. Ihren eigenen Namen trug dieses lähmend nüchterne Kind – das sich mit Bürgern abgab wie der Vater – gleich einem fremden, schweren Schmuck.
Die Königin wunderte sich nur, daß der Gatte keine seiner Töchter hinauf in sein geliebtes Litauen verbannte.
Die letzten Gäste waren noch nicht abgereist, da erklärte der König, er müsse wieder hinauf nach dem Osten. Seine Anwesenheit vor der neuen Ernte scheine nötiger denn je; in sechs Wochen gedenke er zurück zu sein; da solle dann sobald wie möglich Wilhelmines Hochzeit stattfinden. Die Königin war entschlossen, die Beschaffung der Ausstattung und die Bereitstellung der Mittel dafür zu einem Gegenstand neuer, verzögernder Kämpfe zu machen, damit sie Zeit für neue Korrespondenzen mit England gewinne. Der Etat, den der König für Wilhelmines Vermählung ausgesetzt hatte, gab ihr die ersehnte Möglichkeit, zu verschleppen und zu verhandeln. Sobald man vom Gelde sprach, hatte der König schon wieder kein Ohr dafür; er schien der geizigste aller Brautväter.
Sein Hirn war bereits von neuem von den Schwierigkeiten seines preußischen Etats zermartert. Er rechnete, bevor er abermals in sein Ostland aufbrach; er rechnete auch noch auf der Reise. Es schien vergeblich, daß er alljährlich so gewaltige Summen in das Land der Sturmfluten, sibirischen Winter, Mißernten, der Menschenlosigkeit, der Verstocktheit und ewigen Not und Dürre warf, in dem König Midas, sein Vater, die Brandenburger hatte Könige werden lassen. Denn wo ein Land der tausend und aber tausend Hände Jahr um Jahr vergeblich wartete, vermochte auch des Königs Arm nicht mehr zu wirken, zu schützen, zu retten. Manchmal, wenn ihn die Erinnerung an die große Reise in den gleichen Wochen des vergangenen Jahres überkam, dachte der König, der sich in Litauen mühte wie einer seiner allergeringsten Knechte, alles sei Vermessenheit, was er nur je begonnen hatte: der britische Traum nicht minder als die Knechtschaft, die er in seinem Ostland auf sich nahm! Wie fern war schon wieder all das hochzeitliche Rüsten!
Wenn sein Wagen, die Apothekenkutsche hinterdrein, am Ufer der düsteren Seen hinjagte oder abends, wenn das Auge die Felder und Dörfer und Pferdekoppeln nicht mehr erkannte, grübelte der König von Preußen über seine Knechtschaft nach. Woher nahm der Mensch den vermessenen Anspruch, den Willen seines Herrn zu wissen und viel von sich gefordert zu glauben? Wüßte einer sein Amt, dann wäre alles – und sei die Forderung auch noch so hart – so leicht zu ertragen! Aber nun gehörte der Auftrag und die Pflicht zu dem, das geglaubt werden mußte –.
Manchmal dachte der König, Gott müsse ihm in all den Leiden, Widerständen und Wirren der Arbeit ein sichtbares Zeichen geben, das ihm half.
»Aber dies eben ist Gottes Zeichen« – der König entsann sich eines Wortes des toten Roloff –, »daß er seine Knechte durchhalten, wagen und erdulden läßt im Aussichtslosen und im Unerkennbaren.«
Einer seiner besten Beamten schrieb dem König in einem »konfidentiellen Schreiben« auf die Reise, »es blute ihm das Herz, wenn er sehe, wie durch den großen chagrin und Alteration Gesundheit und Leben des Königs mehr und mehr in Gefahr komme, da doch an beider Conservation ein so großes gelegen«.
Diesen Brief trug König Friedrich Wilhelm noch bei der Rückkehr bei sich. So wohl tat er ihm. Einige Tage blieb er noch ganz allein auf dem kurfürstlichen Jagdschloß Machnow und arbeitete. Alles, was er schrieb und rechnete, dekretierte und für die nächsten Sitzungen mit dem Generaldirektorium vorbereitete, galt einzig und allein noch immer den Ostgebieten, aus denen er kam; aber es war ein verzweifeltes Mühen.
Mit der königlichen Familie traf der Herr erst wieder auf Wusterhausen zusammen. Während seiner Abwesenheit hatte die Königin zu den Kindern ein bißchen nett sein und ihnen einige einfache Bälle geben sollen. Aber es schien nicht recht dazu gekommen zu sein, und die Königin war auch jetzt noch nicht gewillt, hochzeitliche Stimmung aufleben zu lassen. Namentlich die besondere Rücksichtnahme des Königs auf die Ansbacher Tochter, die nun schon für die Vermählungsfeierlichkeiten der ältesten Schwester zum erstenmal als junge Frau Erbprinzessin im Königsschlosse ihres Vaters weilte, brachte die Königin allmählich maßlos auf. Ja, Friederike Luise schien ihr während der paar Wochen in den kleinen Verhältnissen des Ansbacher Hofes derart heruntergekommen, daß sie nicht einmal mehr ihre schöne Haut hatte.
Auch Wilhelmine war außer sich, vor allem aber darüber, daß sie auf Wunsch ihres Vaters der jüngeren, wenn auch verheirateten Schwester gleichsam als Kammerfrau behilflich sein mußte; denn man sollte auf Personal verzichten, weil die Giebelkammern für die vielen Gäste nicht mehr ausreichten und jeder Winkel für ein Gästebett erforderlich wurde. So sank sie zur Kammerfrau der Erbprinzessin von Ansbach herab. – Sie sagte sich nicht, daß eines Tages der König auch ihr, der Markgräfin, genauso alle Ehren, die der Königstochter zukamen, mit Bedacht erweisen würde: genauso bereit, genauso bemüht.
Der König erdachte sich der neuen jungen Ansbacherin gegenüber jede nur ersinnliche Höflichkeit, um ihr über die Erniedrigung ihres Ranges hinwegzuhelfen, die er über sie gebracht hatte, und um jene Enttäuschungen auszugleichen, die er von ihrer völligen Verwandlung her zu ahnen begann. Seine alte, rauhe Ike schien ihm still und traurig geworden und derart verständig, daß man sich fast sorgen mußte. Sprach sie nun aber ihr junger Gatte einmal freundlich an, so lebte sie auf; zeigte er sich an ihrer Seite, so war sie übermäßig heiter. Er war ein hübscher Junge mit einem kindlichen Gesicht und nicht sehr groß. Das Leben schien ihm aus Falkenjagden zu bestehen.
Gleich bei ihrer Ankunft hatte der König seine Ike selber in ihr Gastzimmer geführt. Er sprach von ihr nur als von Ihrer Königlichen Hoheit, während er sonst immer sagte: Mein Sohn. Meine Tochter. Meine Frau.
Der König sah sehr schlecht aus, und die Stimmung auf Wusterhausen war wieder gar nicht gut. Sie alle lebten neben dem König nicht mehr als die starken Gegner in den Spannungen eines erbitterten Kampfes wie früher; sie fühlten sich als die Gefangenen des Siegers, und die Schwiegersöhne, seine neuen Gäste, fanden sich überhaupt nicht in die Rätsel der Diebsburg am Styx.
Prinzessin Wilhelmine war mit dem Verhalten ihres Bräutigams und ihres Schwagers äußerst unzufrieden; es beunruhigte sie sehr. Die markgräflichen Erbprinzen verstanden nicht, sich am preußischen Hofe einzuleben und auf den König einzustellen, der einzig und allein hier den Geist oder Ungeist bestimmte. Sie dankten es ihm wenig, daß er sie bis zur Hochzeit im November nicht von seinem Hofe ließ, damit sie und die Seinen sich gut kennenlernten. Es schien ihnen auch nichts so Besonderes, wenn ein reicher Landesherr jungen Kavalieren von außerhalb die Karossen bis an die Landesgrenze entgegenschickte. So war auch die Aufmerksamkeit, die König Friedrich Wilhelm seinen Schwiegersöhnen erwiesen hatte, nicht beachtet worden. Daß man dem König die Hand nicht küssen sollte, befremdete die wohlerzogenen jungen Herren nur, die sich gar nicht so ungern als die Schwiegersöhne eines Königs fühlten. Der König zog seine Rechte zurück und umarmte seine Schwiegersöhne wie seine eigenen Kinder. Auch sprach er mit ihnen von den Sorgen des Landes, als gingen sie diese etwas an und als wolle er sie ermuntern, von eigenem Fürstenkummer zu sprechen; vielmehr aber noch, so dünkte es die kluge, kühle, bittere Prinzeß, war es, als möchte er sie aushorchen, wie sie wohl einmal mit den Geldern umzugehen gedächten, die er ihren Vätern geliehen hatte. Die jungen Herren ergingen sich in höflichen Sottisen.
Aber die Prinzessin hatte auch Gewährsleute in der Tabagie. Gestern sollte der König ihren Bräutigam einen Pinsel genannt haben, einen Menschen ohne Geist – ausgerechnet der König wagte so zu urteilen! – und einen Jungfernknecht, der nur Süßholz raspelnd bei den Weibern hocke. Er empfahl ihm den Umgang mit seinen Offizieren. Die Prinzessin verfügte in der Tabagie sogar über wohlmeinende Berater, die wie ein Schulenburg und General Borcke und die einstigen Gouverneure des Thronfolgers, die alten und die jungen, das Wohl der Königskinder genauso bedachten wie das Wehe des Königs. Diese Männer zog der König mit betonter Häufigkeit und Herzlichkeit an seinen Tisch, um ihre Schuldlosigkeit vor aller Welt zu erweisen. Aus ihrer Gruppe, die niemals Partei war, kam der gütige und kluge Vorschlag, der Erbprinz von Baireuth möge den König um ein Regiment angehen, wie auch der erste Schwiegersohn eins erhielt. Das leuchtete Prinzessin Wilhelmine ein. Sie war ungemein befriedigt, ihren Bräutigam beraten und lenken zu können. Ihrem gedemütigten Stolz tat es wohl.
Der König nahm die Bitte um ein Regiment für den Baireuther freundlich auf und nahm sie ernst. Dem Erbprinzen wurde ein Dragonerregiment in Pommern versprochen; dann stellte es sich heraus, daß es das Regiment »Königin« war.
Auch ließ der Schwiegervater dem Baireuther aus Berlin einen herrlichen, goldenen Degen kommen. Den machte er ihm persönlich zum Präsent.
»Ein Regiment«, sagte der König dabei und lachte wieder einmal, »ist die Braut, um die man tanzt.«
Die Fürstensöhne und die Königstochter schüttelten heimlich den Kopf; wie leicht war dieser schwierige Herr im Grunde doch zu behandeln.
Aus Anlaß der Degenübergabe berieten sie nun aber wenigstens, was man wohl dem König nun dafür zu seinem Geburtstag zu offerieren habe. Es war an der Zeit, die Gaben vorzubereiten. Schon fragte auch der Küchenmeister an, wie Majestät den festlichen Tag auf Wusterhausen zu begehen wünschten; denn es sei ja nun gar an die zwei Jahre her, daß sie ihn hier zu verleben geruhten. Aber die Worte erstarben ihm auf den Lippen, daß er des Vorjahres gedachte. –
Der König antwortete erst gar nicht. Dann erklärte er abwehrend, er werde kurz vor seinem Geburtstag wieder verreisen. Niemand erfuhr, wohin.
Den Küstrinern jedoch war die Ankunft König Friedrich Wilhelms schon gemeldet, in einer kurzen Zeile, die den Sohn betraf: »Wenn ich demselben nur in die Augen sehen werde, will ich gleich urteilen, ob er sich gebessert hat oder nicht –«
Viele hundert Menschen umstanden den stillen Platz vor dem Hause des Gouverneurs. Unter dem dichten Geäste seiner Linden war selbst die glühend heiße Mittagsstunde mild. Sofort, nachdem er im Alten Markgrafenschloß angelangt war, begab sich der König die wenigen Schritte zum Kommandantenhause zu Fuß hinüber. Er ließ sich in ein abgeschiedenes Zimmer neben der Fahnenkammer führen und beorderte die drei höchsten Offiziere der Garnison und Festung zu sich. Danach mußte der Hofmarschall des kronprinzlichen Exils nun Des Königs Sohn Friedrich – jeder andere Titel war ihm auch heute noch genommen – aus seinem Hause zur Kommandantur geleiten. Nach wenigen Minuten trat der Kronprinz mit dem kleinen Hofstaat seiner Verbannung bei dem König ein.
Der Herr war im lebhaftem Gespräch mit den Offizieren begriffen, wandte sich aber sofort nach dem Sohne um.
Friedrich entsann sich all dessen, was er sich gemäß dem Grumbkowschen Rate für den Fall einer etwaigen Begegnung in den letzten Wochen einstudiert hatte – oft maßlos erregt und mit überreiztem Lachen. Er sollte den Vater stets mit Majestät anreden, auf Fragen kurz und bündig antworten, nicht anderer Meinung sein, die seine nur dann sagen, wenn er danach gefragt werde; sehe er voraus, daß diese Meinung der des Vaters nicht entsprach, so sollte er stets die Wendung gebrauchen: »Wenn Eure Majestät es mir befehlen und ich meine Ansicht sagen soll, so meine ich das und das, aber ich kann mich auch sehr wohl irren und bei meiner geringen Erfahrung leicht täuschen –.« Er sollte dem Vater gleich anfangs zu Füßen fallen.
Da war es wieder: er sollte; er sollte; er sollte!
Friedrich fiel dem Vater zu Füßen. Der König hieß ihn, aufzustehen. Sein Gesicht war unbewegt.
»Ihr werdet Euch zu besinnen wissen, was nunmehr vor Jahr und Tag passiert ist«, begann er, »und was für ein gottloses Vorhaben Ihr hattet. Ihr habt gemeint, mit Euerem Eigensinn durchzukommen – aber höre, mein Kerl: wenn du auch sechzig und siebzig Jahre alt wärest, so solltest du mir doch nichts vorschreiben. Da ich Euch nun von Jugend auf bei mir gehabt und Euch also wohl kennen mußte, habe ich alles in der Welt getan mit Gutem und Bösem, um Euch zum ehrlichen Manne zu machen. Wie habe ich es nicht in allen Okkasionen ehrlich mit Euch gemeint! Ich wollte Euch in allerhand Kriegs- und Zivilkommissionen verwenden – aber wie dürft Ihr Euch nach einer solchen Aktion vor meinen Offizieren und all meinen Dienern noch zeigen -?«
Dem Prinzen war es nichts als Qual. Ein Jahr der Trennung hatte nichts geändert Er kannte bis zum Überdruß, was da begann: eine jener programmatischen Reden des Vaters, die immer von Anfang an wiederholen mußten und nicht davon lassen konnten, zu predigen und zu erziehen. Nur einen Augenblick war in dem alten Sermon etwas Neues gewesen; darin hatte er sich nicht getäuscht –. Als die Rede des Vaters vom feierlichen Ihr und Euch zum Du gewechselt hatte, da hatte seine Stimme gebebt.
Aber es war Pose, als der Sohn sich dem Vater wiederum zu Füßen warf und ihn bat, ihn auf die härtesten Proben zu stellen; alles wolle er ausstehen, um Seiner Königlichen Majestät Gnade und Achtung wiederzugewinnen.
Da begann der König zu fragen, und die Schatten um seine Augen vertieften sich zu dunkel abgesetzten Ringen. Der Sohn möge ihm doch nur sagen, was er mit seinen Launen, mit seinem widerspenstigen Herzen gewann, als er alles haßte, was sein Vater liebte. Wenn sein Vater einen auszeichnete, so habe er ihm seine Mißachtung bekundet; wenn aber ein Offizier in Arrest kam, so habe er ihn beklagt und sich seiner angenommen. Die es aufrichtig mit ihm meinten, habe er gehaßt und verleumdet; diejenigen aber, die ihm schmeichelten und in seinem bösen Vorhaben bestärkten, seien mit Auszeichnungen und Verbindlichkeiten von ihm überschüttet worden.
Aber nun sehe er die Früchte davon, nämlich daran, daß seit etlicher Zeit in Berlin und ganz Preußen keiner mehr nach ihm frage, ob er noch auf der Welt sei oder nicht. Und wenn nicht einer oder der andere aus Küstrin gekommen wäre und erzählt hätte, daß er mit dem Ballon spiele und französische Haarbeutel trage, so hätte man nicht gewußt, ob er lebe oder tot sei.
Dann, ganz unvermittelt, redete der König vom Glauben: was für schreckliche Folgen aus dem Absoluta Decreto entsprängen, in dem man Gott zum Urheber der Sünde mache.
Dies waren gerade wieder die verhaßtesten Tiraden, die der Prinz nicht mehr ertrug; denen er ein Ende bereiten mußte, sollte es noch jemals eine Freiheit für ihn geben! Das einzige Mittel schien ihm die Lüge. Leidenschaftlich, hoch und teuer versicherte er, daß er nunmehr ganz Seiner Majestät christlicher und orthodoxer Meinung beistimme. Aber es war eine furchtbare Erregung, in der er die kalte, heuchlerische, einstudierte Formel hervorstieß.
Der König sah zum erstenmal wieder seinem Sohn in die Augen. Ob der sich gewandelt hatte, darüber wagte er nicht zu entscheiden. Der König senkte den Blick, und eine tiefe Müdigkeit lag über seinen Lidern.
Gott ließ sich nichts abtrotzen. Gott allein vermochte Menschen zu machen nach seinem Bilde.
Der König gab den Sohn zum zweitenmal an Gott. Diesmal richtete er ihn nicht. Er betete für seinen Sohn.
Sehr fern schien der König in diesem Augenblicke des Besinnens gewesen. Und als er nun wieder zu reden begann, sprach er noch leiser als sonst. Wenn es dem Sohn von Herzen gehe, sagte der Vater, so werde Gottes Sohn ihn nicht unerhört lassen, der alle Menschen, von seinem Vater ihm übergeben, selig haben wolle.
Und in diesen Worten vergab der Vater dem Sohn und übergab ihn an Gott. Noch im nämlichen Augenblick befahl er den Wagen vors Haus und verließ es sofort.
Die Herren, die sich schweigend in den Fensternischen hielten, schickten sich an, dem König zu folgen. Das war wie Ratlosigkeit, wie sich nun der kühle, kluge Prinz nach ihnen allen umsah! Das war wie Angst und höchste Verwirrung!
Was sich eben abgespielt hatte, konnte nicht die Lösung sein all der entsetzlichen Spannung; dies nicht der Friede nach all den quälenden Kämpfen; dies nicht die Freiheit nach so erniedrigender Knechtschaft – dies nicht die Stunde, von der sie ihm nun schon den zwölften Monat redeten!
Der Vater schritt schon durchs Treppenhaus. Man hörte die Ehrenbezeigung der Wache.
Er sollte bleiben! Er sollte dieses erste Wiedersehen nicht abtun wie alle seine dringenden, gehetzten Geschäfte! Er sollte nicht rasch von Berlin herüberjagen, seine Rede halten, den Wagen vor die Tür bestellen, zurückrasen an seinen Schreibtisch –!
Und all dies an seinem Geburtstag.
Als er das dachte, war es wie ein langer, harter Schlag im Herzen des Sohnes oder wie ein tiefer Schnitt.
Er hat sich zum Geburtstag mich geschenkt, er will mich zurück haben –!
Alle Gedanken drängten zum Vater, Er fragte nicht danach, daß er ihn nicht geleiten durfte wie die anderen hier. Er eilte an den Herren und an der Wache vorüber. Der Vater bestieg schon den Wagen.
»Sie sind an Ihrem Geburtstag zu mir gekommen«, stammelte der Prinz. Daß er dem König gratulieren wollte, vergaß er. Zum drittenmal umfaßte er die Füße des Vaters: diesmal, um ihn zu halten.
Da neigte sich der König vom Wagen herab. Da nahm er das Gesicht seines Sohnes in seine beiden Hände und hob es zu sich empor. Und obwohl die Klarheit seiner Augen verhüllt war, sah er das Antlitz des Sohnes überströmt von Tränen – jenes Antlitz, in das er oft hart und verzweifelt schlug und das er doch niemals von Tränen bedeckt sah. Er zog den Kopf des Sohnes nahe an seine Brust, mit beiden Armen umschloß er ihn fester und fester; er sprach ganz nahe zu ihm, sehr leise, nur für ihn: warm und rauh und atemlos.
Die Pferde rückten an. Der Kronprinz hielt noch immer die Hände des Vaters und bedeckte sie mit seinen Küssen.
Bei der Auffahrt vor dem Gouverneurshause standen viele hundert Menschen. Der Königssohn weinte vor ihnen allen; er weinte, wie – so sagte man ihm manchmal schon – es oft sein Vater tat.
Die königliche Kalesche war schon an der Brücke. Der König wollte heute noch zu Schiff nach Sonnenburg, die Ladungen für Preußisch-Litauen zu prüfen. Und dennoch war er gekommen. Was waren ihm Meilen, wo es um Ewigkeit ging.
Von nun an sollte der Kronprinz wöchentlich nur noch dreimal auf die Kriegs- und Domänenkammer gehen, und zwar nur vormittags. Er sollte nicht mehr untenan, sondern oben neben dem Präsidenten von Münchow sitzen, doch so, daß der Platz des Königs leer blieb und der Kronprinz zur Linken saß. Der Nachmittag sollte nun ihm selbst gehören, zu reiten und zu fahren, »zu dem Ende Seine Majestät ihm Pferde und Wagen schicken würden«. Nach der neuen Instruktion sollte ihm der Kammerherr von Wolden »auch zuweilen des Nachmittags ein plaisir bereiten, auf dem Wasser zu fahren, Enten zu schießen und solche Lust zu machen, die permittiret ist. Es soll aber jederzeit, wo der Kronprinz hingeht, reitet oder fährt, einer der drei Herren bei ihm sein, daß er niemals allein ist, auch mit niemand allein sprechen kann, und derjenige soll sodann davor responsable sein, daß er bei kein Mädgen oder Frauensmensche kommt und soll derselbe auch jederzeit bei ihm schlafen. Der Kronprinz soll mit keinem korrespondieren als mit des Königs und der Königin Majestäten, an welche er schreiben kann, ohne daß die Briefe geöffnet werden. Sonst wird dem Kronprinzen permittiret, alle Mahlzeiten zwei Gäste zu bitten, welche er will, auch alle Wochen zweimal zu Gaste zu gehen. Französische Bücher und Musik bleiben so scharf verboten, wie jemals gewesen; ingleichen Spielen und Tanzen, und soll bei Leib und Leben von alledem, so hierin verboten, nichts statuieret werden und soll der von Wolden den Kronprinzen jederzeit auf solide Sachen führen.«
Bei allen Gelegenheiten wie bei der erlaubten Jagd hatte der Kronprinz mit Hand anzulegen, sein Gewehr selbst zu laden und zu putzen.
Den Küstriner Herren war ein wenig bänglich, den hohen Zögling möchte von neuem eine tiefe Enttäuschung überkommen, daß es mit der gewährten Freiheit nicht gar so weit her sei. Aber in Friedrich war eine Veränderung vorgegangen.
»Ich hatte bisher nie geglaubt«, sagte er, »daß mein Vater die geringste Regung von Liebe für mich hätte. Nun bin ich davon überzeugt. Kurz, der Teufel selbst muß ins Spiel kommen, oder diese Aussöhnung ist ewig.«
Er berichtete dem Vater über seine Besuche auf den Ämtern. Die Wirtschaft bildete den Grundstock seiner Korrespondenz, in die er manche Einzelheiten einflocht, die wie zufällig darinstanden, jedoch sehr kunstvoll eingefügt waren: Rentabilitätsberechnungen; Kostenvoranschläge; Jagdberichte, bei denen er sein Ungeschick bedauerte, da er Enten und einen Hirsch gefehlt habe.
Ihn interessierten jetzt sogar die vom König so geliebten Marionetten, die ihm früher ein Greuel waren. Und beim Anblick eines schönen Kerls für das Regiment des Königs hatte ihm »das Herz geblutet«.
Der König, bebenden Herzens, wollte diesen Briefen noch nicht trauen; aber er antwortete freundlich, nannte den Kronprinzen Mein lieber Sohn und duzte ihn auch einmal; er ging auf seine Vorschläge ein: »Mein lieber Sohn, Ich habe Euer Schreiben wohl erhalten und bin Ich mit demjenigen, was Ihr mir berichtet habt, sehr content; wenn Ihr dasjenige, was Ihr wegen der Bauern ihrer Dienste angeführet, vor Euch allein beobachtet und ausfindig gemacht habt, seid Ihr schon weit in der Wirtschaft gekommen; denn das ist ein sehr nötiger Punkt, daß die Dienste auf einen solchen Fuß, wie Ihr vorgeschlagen habet, geführet werden; daher approbiere Ich denselben vollkommen, und wenn Ihr dergleichen in anderen Ämtern mehr observiret, wird Mir lieb sein, wenn Ihr eine bessere Einrichtung zu machen suchtet. Ich werde auch Euch das Reglement überschicken, sobald Ich nach Potsdam komme. Ich habe nur hier noch etwas zu thun, dann gehe Ich nach Potsdam; sodann sollet Ihr auch das versprochene Pferd haben, denn Ich wollte Euch gerne ein recht gut Pferd schicken; Ihr müsset Euch nur noch so lange gedulden. Die Sache wegen des Commercii mit Schlesien ist gut; aber Ihr müsset Stettin nicht dabei vergessen, denn über Stettin alles zu bekommen, ist die Hauptsache. Nächst diesem wird auch gut sein, daß Ihr Euch die dortige Grenze, sowohl mit Polen als mit Sachsen, bekannt machet –. Es soll solches nicht auf einmal, sondern nach und nach geschehen, damit Ihr die Situation des Landes recht kennenlernt. Ich bin mit väterlicher Liebe Dein getreuer Vater bis in den Tod.«
Und der Kronprinz machte sich bekannt mit der dortigen Grenze des Landes.
Was ihm der Vater hier nun aufgetragen hatte, war nicht mehr die Dienstanweisung des Generaldirektors an den Auskultator, nicht mehr die Mahnung des Vaters an den Sohn oder gar die Strafe des Richters für den Gefangenen -; nun hielt der König Zwiesprache mit seinem Thronfolger!
In seiner Freude schrieb der Kronprinz ein Wort zurück – das war zu viel; er bat abermals, der Vater solle ihn zum Soldaten machen.
Aus der Antwort des Königs sprach noch einmal der furchtbare Ernst des Vergangenen: »Du hast eine Companie gehabt, die gewiß schön und gut und tüchtig war, und doch habet Ihr Euch gar nicht darum bekümmert, daher Ich glaube, wenn Ich Dich ja wieder zum Soldaten machte, daß es Dir noch nicht von Herzen gehen werde. Wenn Ich bei Dir eine ernstliche Inclination zum Soldatenwesen verspüre, so werde Ich Dich wieder zum Soldaten machen.«
In diesen Tagen ging der König zur Königin, um ihr selbst zu sagen, er habe in Küstrin ihren Sohn gesprochen und fange an, zufrieden mit ihm zu werden.
Anfang November trafen die Gäste zur baireuthischen Hochzeit in Berlin ein. Zwei Wochen hindurch währte die Anfahrt der Fürstlichkeiten. Am Vorabend der Hochzeit, sehr spät, begann die Königin zu ihrer Tochter ungewöhnlich zärtlich zu werden; denn in unbeirrbarer Hoffnung auf den englischen Kurier suchte sie ein Versprechen von der Braut zu erlangen. »Versprich mir, mit dem Prinzen keinerlei Vertraulichkeiten zu haben und mit ihm nur wie Bruder und Schwester zu leben. Das ist nun noch das einzige Mittel, um deine Ehe aufzulösen. Denn wenn sie nicht vollzogen wird, so ist sie null und nichtig.«
An diesem Abend war die Königstochter trotz aller ihrer Klugheit und Vorsicht noch einmal durchaus geneigt, von dem Schicksal zu reden, das sie überm Meer erwartet hätte. Es preßte ihr das Herz zusammen, daß der Verzicht auf ein fürstliches Los nun wirklich endgültig sein sollte. Britanniens Königin zu werden, den ersten Thron der protestantischen Welt zu besteigen, war ein zu berauschender Traum gewesen – zumal die Mutter dieses eine Mal die Wahrheit sprach und der in England für die Tochter ausersehene Gatte mittelmäßig begabt und leicht zu lenken war; so wäre sie einmal der eigentliche Herrscher des Inselreiches gewesen!
Es waren harte und kalte Gefühle, die König Friedrich Wilhelms älteste Tochter an dem Abend vor ihrer Hochzeit begrub. Wie die Prinzessin nun vor ihrer Mutter stand im strengen, höfischen Lockenschmuck für die Abendgesellschaft, der die hohe Stirn sehr frei ließ, war die Ähnlichkeit mit Friedrich groß. Das war sein heller, kühler Blick, sein kleiner, zusammengepreßter Mund; selbst die Kopfhaltung glich ihm völlig – und das gerade in jenen Augenblicken, in denen die Mutter mit hundert lockenden und sinnlosen Argumenten auf sie einsprach und die Schmach nicht empfand, daß ihr Kind ihr nicht mehr glaubte. Mutter und Tochter nahmen diesen Abend einen tieferen Abschied, als beide es ahnten.
Am Hochzeitmorgen – die Räume waren sämtlich seit langem sehr gut vorgeheizt und endlich wirklich einmal warm – hatte die Braut, noch im Deshabillé, beim König zu erscheinen und die Eheverträge mit zu unterzeichnen, welche die Mitgift und Erbschaft betrafen. Bis jetzt hatte sie noch nichts erfahren, daß der König die üblichen Prinzessinnenaussteuern bei den Heiraten seiner Töchter für sich und seine Nachkommen ausschlug. Der König stellte statt dessen die überraschende Forderung, daß seine Tochter auf ihr mütterliches Erbteil verzichten solle, falls die Königin auch weiterhin kein Testament zu machen gedenke. Er verschwieg, daß er der Königin heute noch einen Rechtsbeistand halten mußte, der sie in den Forderungen an den geliebten Bruder von England vertrat, weil er selbst sich nicht einmal mehr als ehelicher Kurator unterschreiben wollte, wo es um welfische Erbschaften ging: das auffällig lange geheimgehaltene Testament Georgs I., des Herrn Vaters, die Hinterlassenschaft der unglückseligen Mutter, der Prinzessin von Ahlden, und zweier Oheime Erbe. Der König hatte Tränen in den Augen, war blaß und sprach leise. Es sei keine Zeit dazu, Einwände zu machen; er sei gezwungen, sein Kind zu solchem Schritte zu nötigen; er habe zu viel Geld nach Baireuth werfen müssen; er sehe keinen anderen Ausweg.
Die Tochter verstand ihn und den Sinn seiner Heiratspläne nicht und wollte ihn nicht verstehen. Sie begehrte nur, von seinem Hofe fortzukommen. So ließ sie sich an den Tisch führen, auf dem alles Material für die Unterschrift bereit lag; sie fröstelte, und ihr war übel. Sie wollte ein Ende, ein Ende, ein Ende – genau wie der Vater, nur kälteren Herzens. Den Auftrag, der vom Vater her die Königstochter in die arme Markgrafschaft begleitete, vernahm sie nicht. Denn dies war ein Befehl, der von den Schlägen eines heißen, großen Herzens diktiert und in Pakten und Eontrakten nicht aufgezeichnet wurde.
Wilhelmine hatte die Summen, die der Vater ihr nannte, anfangs nicht bewerten können. Sie war zu sparsam erzogen. Aber nun rechnete ihr die Mutter vor, daß sie von erträglicher Armut jetzt in völlige Verarmung gerate und daß sie der väterlichen Autorität nur entnommen werde, um als verschuldete brandenburgische Verwandte des Königshauses der Tyrannei des Gläubigers und obersten Generalfiskals zu verfallen.
Aber eben um der Armut und dem Zwange zu entgehen, hatte ja die Prinzessin die Entwürdigung durch eine solche Ehe, wie sie nun vor ihr lag, vor Preußen, dem Reich, England und dem übrigen Europa auf sich genommen! So schien alles vergebens; und das Fest war gerüstet –.
Der Segensspruch der Trauung war von Artilleriesalven begleitet worden. Achtzig Generale hielten hohe Kerzen. Die letzte Figur des hochzeitlichen Tanzes war geordnet. Die feierliche Reihe der Fackelträger im silberschimmernden Rittersaal bildete eine leuchtende Bahn von dem Thronhimmel aus karmoisinrotem Samt mit goldenen Crepinen zu dem Brautgemache mit dem perlenbestickten Prunkbett. Die fürstlichen Frauen, wie es Sitte war, mußten nun der Braut beim Auskleiden behilflich sein und in symbolisch-feierlicher Geste den Überwurf, ein Goldnetz, von dem Silberkleide lösen. Die Schwestern trugen die Brillantenkrone hinweg, die mit sechs funkelnden Bögen die vierundzwanzig langen, der Perücke aufgesteckten Locken zusammengehalten hatte. Sanssouci mußte man mit heftigem Geflüster davon zurückhalten, daß sie nicht vor einem der Spiegel schnell einmal das Brautdiadem anprobierte. Die Königin würdigte die Braut keines der symbolischen Dienste und keiner der Ehrungen, die von der Brautnachtsetikette vorgeschrieben waren. Beim Abschied, beim Defilieren der Damen vor dem Hochzeitsbette, hörte Wilhelmine harte Worte von der Mutter; und erschöpft und überreizt bis zum Weinen flüchtete die Prinzessin endlich nach dem Versehwinden der hohen Frau von der Schaustellung auf dem Prunklager in ihre eigenen Gemächer.
Dort erwartete sie nach Ablauf alles Zeremoniells zu ihrer völligen Überraschung der Vater ganz allein.
»Ich kann nicht in die Herzen aller meiner Kinder sehen«, sagte König Friedrich Wilhelm sanft zu seiner Tochter, »aber aus einem wüßte ich viel –« Er schwieg, und die junge Frau Erbprinzessin von Baireuth sah erstaunt zu ihm hin.
»Sprich mir das Vaterunser. Sprich mir das Glaubensbekenntnis«, bat der Vater. Aber es war, als schäme er sich seiner Bitte, und seine Augen waren wieder dunkel und gequält.
Verzweifelt schloß die Prinzessin die Lider. Sie preßte die Hände gegen ihr Herz. Sie suchte Halt an einem Spiegeltisch. Sie hauchte die Worte nur, aber sie vergaß und verwirrte keines bis zu dem letzten.
»– und ein ewiges Leben. Amen.«
Der König stand vorgeneigt und horchte. Er lächelte.
›... und alle frommen Untertanen sprechen von Herzen: Amen!‹ klang es in seinem Innern nach, so wie er einst an seinen Sohn nach Küstrin geschrieben hatte.
Wieder war er der Stunde weit entrückt. Sein Kind, eine Braut, sprach bebend am Abend der Hochzeit vom Glauben an die Vergebung der Sünden und an das ewige Leben! Und alle Töchter seines Landes waren ihm in diesem Augenblick Bräute und Beterinnen, und alle Bräute des Landes waren ihm wie Töchter nahe und lobten das Leben in Gott!
Der Hochzeit folgten zwei verhältnismäßig ruhige Tage.
Der König hielt sich von den Gästen sehr zurück. Seit gestern hatte er annehmbare, sogar sehr annehmbare Heiratsvorschläge aus England in Händen. Die Nation und die Königin hatten in letzter Stunde über den König von England gesiegt. Lord Strafford hatte es im Oberhaus als unverantwortlich bezeichnet, daß man Preußen so vernachlässige; er sei in Berlin gewesen, als Preußen nur dreißigtausend Mann gehabt, jetzt schreite er aufs Neunzigtausendmannheer zu, und er wisse, daß der König von Preußen persönlich für England wohlgesinnt sei, denn er habe in einer entscheidenden, von England aber versäumten Stunde einmal gesagt: »Allianzen mit England dürfen nicht allein mit dem König sein, sondern mit der ganzen Nation. Denn was die ganze Nation verspricht – da könnt Ihr Staat damit machen. Die sind Leute von Parole.«
Townshemd aber hatte sich Lord Strafford mit den Worten angeschlossen, man möge in Berlin dem englischen Ministerium nicht zur Last legen, was das hannöverische tue. –
Durch musterhaften Geheimdienst zwischen London, Wien und Berlin war es den Herren von Grumbkow und Seckendorff gelungen, die neue Post aus England bis zum Abend der Hochzeit hinzuhalten. Aber in dem Herzen des Königs war eine Entscheidung gefallen, die von aufgehaltenen Depeschen nicht mehr beeinflußt werden konnte. England, die herrliche Möglichkeit seines Lebens, war endgültig für den König abgetan.
Der Herr sprach überhaupt nicht darüber. Das Unglück seiner Tochter kam ihn zu hart an. Aber die Ehre, die hier seinem neuen Staat und Heer und Schatz nun endlich doch von dem größten Königreiche seines Glaubens angetan wurde, tat ihm unendlich wohl und war Genugtuung für alle Unbill – freilich ohne Sinn und Fruchtbarkeit.
So überwog zuletzt doch das Leiden.
Am dritten Tage gab der König einen Hochzeitsball für die vornehmen Bürgerfamilien der Hauptstadt. Das war ein Novum, in Preußen erdacht. Vierhundert Paare waren geladen. Der gesamte Hof mußte bei dem Bürgerball zugegen sein, und der König hatte wieder den Rittersaal öffnen lassen und empfing in seinen sämtlichen Prunkräumen. Die Fürstlichkeiten tanzten unter den Bürgern, und diese neuen Gäste des Königs benahmen sich eigentlich recht hoffähig, als sei es dem König von Preußen gelungen, einen neuen Stand voller Würde und Haltung heranzubilden, seit er die ersten bürgerlichen Minister ernannte. Wilhelmine, von den Anstrengungen der eigentlichen Vermählungsfeierlichkeiten etwas erholt, tanzte an diesem letzten Abend des Festes sogar lebhaft und ließ keinen Tanz aus. Während einer der ruhigeren Figuren drängte Grumbkow sich an ihre Seite.
»Ihre Königliche Hoheit ist derart mit dem Balle beschäftigt, daß sie gar nicht sieht, was um sie herum vorgeht. Mein Gott, endigen Sie doch den Tanz!«
Aber die Frau Erbprinzessin von Baireuth wandte sich schon wieder lächelnd ihrem Partner zu, dem jungen Markgrafen von Schwedt, der ebensogut wie der Baireuther heute ihr Gatte hätte sein können.
Grumbkow hielt sich aber dicht neben ihr. Er wahrte nicht mehr den höfischen Ton.
»Sie scheinen von der Tarantel gestochen – umarmen Sie doch Ihren Bruder, der dort steht!«
Neben dem Spieltisch der Königin fand sie ihn. Sie war wie närrisch, weinte, lachte, schwatzte das verworrenste Zeug – der Bruder war befangen. Die Prinzessin stürzte sofort zum König. Der fing wieder an zu weinen. Seine innere Wehrlosigkeit war schlimmer und schlimmer geworden. Man sah überhaupt nur Schnupftücher. Die Königin verlor ihre Fassung nicht für einen Augenblick, ja, ihre Freude wurde völlig überschattet durch die Bitterkeit, daß nicht sie kraft ihrer mächtigen Einflüsse es war, die dieses Glück gestiftet hatte, und daß ihr Sohn auf diesem üblen Bürgerball und in einem schmachvollen hechtgrauen Rock seinen Einzug hielt. Der Kronprinz blieb wortkarg und hielt sich, weil er all die anderen seit dem Schreckenssommer des vorigen Jahres nicht gesehen hatte, eng bei dem Vater und von all den Neugierigen möglichst fern.
Anfangs hatte ihn auch niemand erkannt außer dem Vater, der seiner harrte; denn Friedrich war voller und breiter geworden und kam in jenem einfachen grauen Rock, wie er ihn in Küstrin trug. Er hatte in der Flügeltür des Rittersaales gestanden, von niemand bemerkt. Der König hatte es der Gattin selber gesagt: »Friedrich ist da!« Aber die Oberhofmeisterin von Kameke mußte ihn der Mutter erst zeigen. Da hatte Frau Sophie Dorothea ihre Karten hingelegt und war, ohne dem Blick des Gatten zu begegnen, dem Sohn entgegengegangen. Die Ruhe der Königin bedrückte den König; er bewunderte sie nicht mehr. Der Kronprinz war nach der Umarmung der Mutter bei dem Stuhl des Vaters stehengeblieben und schien niemand erkennen zu wollen. Der Vater beobachtete ihn mit großer Sorge. Es war noch zuviel für den Sohn, auch wenn er nur diesem letzten Abend der hochzeitlichen Feiern beiwohnen sollte. Friedrichs schlichter Rock schloß ihn zudem zu schmerzhaft aus. Der König gab heimlich den Auftrag, für ihn und den Kronprinzen ganz allein in einem Nebenzimmer zu servieren. An der Tür flog Sanssouci dem Bruder um den Hals und küßte ihn vor allen Menschen; Friederike Luise von Ansbach, als die letzte aufmerksam geworden, kam befangen herbei und begrüßte ihn, verwirrt in allen ihren Gefühlen, wie sie nun immer jetzt war, mit einer sehr ungeschickten Äußerung.
In den Sälen losten die vierhundert Paare und der Hof indessen ihre Plätze an den Tafeln aus: eine Erfindung des königlichen Gastgebers, die wahrhaftig die glücklichste Lösung in den besonders heiklen Rangstreitigkeiten dieser Tafelrunde von Fürsten und Bürgern darstellte.
Vater und Sohn saßen sich an einem runden, kleinen Tische gegenüber und hörten das Lachen, Parlieren, Gläserklirren der Tafelnden in den Sälen nur gedämpft.
Der das Gespräch führte, war der König. Zum letztenmal war die Rede von Vergangenem.
Am kommenden Morgen äußerte König Friedrich Wilhelm zu allererst den Wunsch, Friedrich möge, noch ehe er zur Mutter gehe, seiner Schwester seine Aufwartung machen; denn ohne Frage habe der Gedanke an ihn ihre Entschlüsse stark beeinflußt.
Dies eben war es, was der Kronprinz nun durchaus nicht hören wollte. Und wenn er es sich schon sagen lassen mußte, so wollte er es nicht glauben. Er dankte der Schwester nicht, was sie da tat. Den eigenen Nöten wollte sie ein Ende machen! Und das durfte sie nicht! Sie hätte durchhalten müssen! Er wollte seine Freiheit nun zum Schluß nicht einem Erbprinzen von Baireuth verdanken!
Der Traum von ihrer beider leichter, schöner, großer Zukunft war zu Ende. Diese Gewißheit stand über dem Wiedersehen der Geschwister.
Als sie sich jetzt allein gegenüberstanden, gab die junge Frau Erbprinzessin von Baireuth durch ihr Verhalten den Gedanken des Kronprinzen hundertfach recht. Sie war nicht die Märtyrerin, die freudig ein Opfer brachte. Sie kam schuldbewußt. Die Nähe des Bruders genügte, um die Prinzessin um England weinen zu lassen. Ach, warum hatte man sie so lange voneinander getrennt! Warum hatte einer vom anderen über ein Jahr hindurch immer nur erfahren, daß der andere in Gefahr sei durch den Zorn und das Drängen des Königs!
Friedrich blieb gezwungen und verlegen, so wie er auch die jüngeren Geschwister nur in einer förmlichen kleinen Audienz begrüßte, bei der er sich gab wie einer, der etwas angegriffen von einer weiten Reise zurückkehrt; er fragte sie nach ihren kleinen Angelegenheiten; er überging die leidenschaftliche Erregung, in der Hulla sich befand.
Wilhelmine verbarg ihr Schuldgefühl in leisen Vorwürfen und Anklagen. Seinetwegen habe sie gestern nach der Tafel nicht mehr getanzt; er dagegen habe ihr kaum noch ein paar Worte gewidmet.
Er sei stets der Alte, sagte Friedrich, habe aber Ursache, so zu handeln. In der Umwelt des Hofes hatten ihn alte Zweifel und Ängste gepackt. Er deutete in der Richtung der Zimmerflucht, an deren Ende sie den König, über seinen Akten schreibend, wußten. Denn nun war das Fest vorüber.
Aber einmal erschien auch noch der König auf einer festlichen Veranstaltung und war glänzender Laune. Die junge Erbprinzessin von Baireuth hatte bereits in Berlin selbständig zu repräsentieren begonnen, obwohl die Mutter Königin es für Größenwahn hielt, und war auf den ganz vorzüglichen Einfall gekommen, zum Dank für die Rückkehr des Bruders dem Vater und Friedrich vor ihrem Abschied ein Diner in dem Prinzessinnenflügel zu geben, in dem sie ihre Mädchenzeit verlebt hatte – oft als Gefangene. Der König wollte auch nach der Tafel noch den ganzen Tag bei seiner Tochter bleiben, und für den Abend mußte auf seinen Wunsch abermals ein Ball arrangiert werden. Und was noch niemals geschehen war: König Friedrich Wilhelm tanzte mit allen Damen, ein wenig schwer zwar, aber gar nicht ungeschickt, überaus artig und vor allem vorzüglich im Takt. Als junger König hatte er auf den Hofbällen immer nur einen einzigen Tanz und diesen immer nur mit seiner Frau Königin getanzt.
Seinen Ältesten hatte er von diesem Morgen an wiederholt mit Oberst Fritz angeredet. Auch hatte er den Sohn, bevor er nun fürs erste wieder nach Küstrin zurückkehrte, um die begonnenen Arbeiten abzuschließen, am Vormittag einer Parade beiwohnen lassen. Eine ungeheure Menschenmenge war herbeigeströmt, um Friedrich zu sehen, und bereitete ihm freudige Ovationen; seine Leiden schufen ihm große Sympathien. Die Gegnerschaft gegen den König verband ihm den Hof und weithin das Volk. Es lag keine ganz ungefährliche Stimmung über dem besonderen Ereignis dieser morgendlichen Parade, zu der nun der Kronprinz im hechtgrauen Rocke kam! Das Erscheinen des Kronprinzen gerade auf einer Parade war der Beweis, daß der König seinem Sohn verziehen hatte – oder daß er sich mit den alten Mitteln nicht mehr behaupten zu können glaubte.
Die Generale aber begaben sich nach der Parade unter der Führung des Fürsten von Anhalt-Dessau zum König und baten ihn um die Wiederaufnahme seines Sohnes in die Armee. Man nahm an, daß es zwischen dem König und dem Generalissimus so vereinbart war.
Auf dem Zimmer des Kronprinzen lag bereits die Urkunde über die Verleihung eines Infanterieregimentes in Ruppin, ferner die Anweisung auf das Jahresgehalt eines Obersten, die Oberstenuniform und der Degen. Der Kronprinz sah vor allem nur das eine: das Wort Ruppin.
Der Vater gab ihn frei – soweit der Vater selber freizukommen vermochte von den Geboten ›Des Königs von Preußen‹ und ihn und sich nicht binden mußte in dessen Auftrag und Namen.
Über diesen wichtigen Ereignissen war es dem Kronprinzen möglich, sich der Familie fast völlig zu entziehen. Der König trug diesem Bedürfnis des Sohnes mit sichtlichem Bemühen Rechnung; er hielt die Seinen voneinander fern, sosehr sein Herz danach verlangte, sie alle miteinander in seine Arme zu schließen: die Tochter, die von ihm ging; den Sohn, der zu ihm kam und wieder gehen würde; Hulla, den er nun wieder zum Sohne hatte, wie auch jeder Mann im Volk seinen Sohn lieben durfte.
Der König stand mit allen Gedanken und Gefühlen in dem großen Plan, das Werk der Heiraten, schwer und schön und notwendig, zu krönen und endlich zu beschließen in der Wahl der künftigen Königin von Preußen. Erst wenn dies geschehen war, konnte völliger Friede werden mit dem Sohn! Und nie mehr brauchte dann zwischen ihnen beiden noch ein Zwiespalt zu sein! Dann wuchs das Königshaus nun auch in seinem Stamme weiter, durch den Sohn, auf dem die Verheißungen ruhten. In dieser einen Heirat waren alle anderen umschlossen, war ihnen der Sinn verliehen, erlangten sie erst ihren Wert und ihre Bedeutung, rundeten sie sich zum Werk eines Königs und Vaters an Kind und Kindeskind!
Der König war viel mit den Treuen aus Braunschweig zusammen, die in all dem Gezänk und all der Verleumdung, die sich nun auch von Ansbach und Baireuth her am preußischen Hofe immer breiter machten, stets wieder vermittelten und zum Guten redeten.
Die Herren von Seckendorff und Grumbkow hielten sich möglichst in der Nähe des Bevernschen Herzogspaares; denn die Braunschweiger Prinzessin war ja die Nichte der Kaiserin. Auch ihrer beider Werk ging seiner Krönung entgegen. König Friedrich Wilhelm aber war über alle Maßen glücklich, daß ein einziges Mal in seinem Leben Gefühl und Politik, Wunsch und Notwendigkeit zueinander gelangen durften und daß jenes junge Menschenkind, das sein Herz für den Sohn suchte und dessen er zugleich bedurfte als Siegel seiner Reichs- und Kaiserpolitik, gar nichts anderes war als Wärme, Zartheit und Gehorsam. Nun konnte Frieden werden nach dem Kampf der sieben Jahre.
Denn das siebente Jahr dieser Mühen, Wirren und schweren Entschlüsse war heraufgekommen, und er wollte in ihm sein zerrissenes Haus und seine zerstörte Familie endgültig neu begründen und wieder zueinander fügen, hier unter seinem Dach und draußen im Reich. Wie vermochte er König eines friedlichen Volkes zu werden, wenn er Trauer, Schande und Zwiespalt als Hausvater um sich sah!
Der Braunschweiger Herzog redete ruhig und überlegt und als ein Fürst, dessen Sachen in Ordnung waren, von der ehrenvollen Heirat und wies sehr sicher und bescheiden darauf hin, daß die letzten Entscheidungen am Hofe seiner Schwägerin, der Kaiserin, fallen müßten. Vom König war es tausendmal bedacht. Auf anderes achtete er mehr und tat es fröhlichen Herzens: wie zwischen dem Braunschweiger und ihm keine jener peinlichen Verhandlungen gepflogen zu werden brauchte, in denen um seine Ersparnisse gezankt, geeifert und geschachert wurde. Denn es kam den König hart an, wie man in Ansbach und Baireuth gierig nach seinem guten Gelde war, seiner wirtschaftlichen Kontrolle und seinem landesväterlichen Rat sich aber leidenschaftlich zu entziehen suchte, ebenso kindisch wie verstockt. Im Hause Braunschweig-Bevern herrschte Wohlstand und Ordnung wie bei dem Freunde in Dessau. Aus jedem Wort ging es hervor. Vor allem aber hörte der König darauf, wie der Herzog von Bevern in aller ernsthaften Verhandlung immer wieder von dem geliebten Kinde zu erzählen begann. Sie sprachen von Kaiser und Reich, von Hausmachtpolitik und Ehekontrakten; aber in alles das war nun seit Wochen schon ein sanfter Klang gewoben, sobald die Väter nur den Namen nannten: Elisabeth Christine.
Der Oberst Fritz saß nun im blauen Rock am Sitzungstische der Domänenkammer Küstrin. Er arbeitete und korrespondierte weiter wie zuvor, bis der Vater ihn zu seinem Regimente abberufen würde. Er machte in seinem Haushalt in Küstrin trotz des unordentlichen Koches Ersparnisse, zum Januar die ersten runden zwanzig Taler. Da versprach ihm der König ein Silberservice: Messer, Gabeln, Löffel, Schüsseln und Leuchter, »daß das alles ein Esel tragen kann«. Die Zeit der zweizinkigen groben Gabeln war für Preußens Thronfolger vorüber; und der König richtete es so ein, daß sein Geschenk etwa um den Geburtstag des Kronprinzen eintraf.
Nun, wo er gesünder war, stärker wurde und in seinem einundzwanzigsten Jahr sogar noch wuchs, war Friedrich in der Uniform dem Vater, von dem ihn ja nur dreiundzwanzig Jahre trennten, plötzlich auffallend ähnlich, zumal auch sein Haar von Blond zu Braun zu dunkeln begann.
Gewiß, der König, der nicht so leicht zu befriedigen war, hatte in Berlin noch etwas Geziertes an ihm wahrgenommen, mußte aber zugeben, »daß der Bursche fester mit den Füßen auftrat«. Und es freute den Vater sehr, als man ihm die Beobachtung der neu entdeckten Ähnlichkeit nicht vorenthielt. Mehrmals hatte der Kammerdirektor Hille in Friedrichs Mienenspiel solche Familienzüge entdeckt und den Präsidenten von Münchow darauf aufmerksam gemacht. Namentlich bei schlechter Laune zeigte sich der furchtgebietende Ausdruck des Vaters auch im Gesicht seines Sohnes, und es schien den Herren erstaunlich, wie der Kronprinz in gewissen Augenblicken dem »Jupiter mit dem Donnerkeil« glich.
Schlimmer erschien er ihnen freilich in den Stunden, in denen er zu kalter Satire gestimmt war; und auch sein Hang zur Selbstironie galt ihnen als nicht ungefährlich. Freilich, seit er aus Berlin zurückgekehrt war, hatten sie davon nichts mehr an ihm bemerkt. Doch entsannen sie sich deutlich des Abends, an dem er vor der Fahrt nach der Hauptstadt seinen Einzug bei der Hochzeit der Schwester beschrieb: »Mir voraus wird eine Schweineherde gehen, die Befehl hat, aus Leibeskräften zu grunzen. Hiernach wird eine Schaf- und Hammelherde folgen, dieser eine Herde podolischer Rinder, gleich dahinter komme ich selbst auf einem großen Esel mit so schlichtem Zaumzeug wie möglich. An Stelle der Pistolen werde ich zwei Säcke mit verschiedenen Sämereien haben, an Stelle des Sattels einen Sack Mehl, auf dem meine edle Gestalt thronen wird. An Stelle einer Peitsche werde ich einen Knüppel schwingen und an Stelle eines Helmes einen Strohhut auf dem Kopfe tragen. Ringsum Bauern mit Sensen, dahinter Landedelleute –« Das alles sollte witzig sein, klang aber böse.
Doch der Prinz im Strohhut auf dem Esel, inmitten der Herden und Bauern, Heu- und Düngerwagen, wußte nun wirklich, wie »ein Pächter alles zu Gelde macht« und »wieviel Mühe es einen Bauern kostet, einen Taler zu verdienen«; so hatte ihm der Vater hundertmal eingeprägt. Friedrich schrieb an Grumbkow, der jetzt mehr und mehr die engste Fühlung mit ihm suchte: »Ich sitze jetzt hier bis über die Ohren in meinem schlesischen Handel, und die Arbeit nimmt mich so völlig in Anspruch, daß, wenn man mich fragt, ob ich Senf zum Rindfleisch haben will, ich imstande bin zu antworten: ›Sehen Sie in der neuen Zollrolle nach.‹ Ich kann mich einer Sache nicht halb ergeben, ich muß immer kopfüber hinein.«
Die Ähnlichkeit mit dem Vater griff also wohl noch tiefer – über die »Familienzüge« hinaus.
Die Pläne, die Friedrich jetzt entwarf, hatten aber mit der Zollrolle nur noch wenig gemeinsam. Er war zu den Wurzeln des brandenburgischen Jammers vorgestoßen und suchte die Wunden seines Vaterlandes an der Oder und am Rhein sowohl zu heilen wie von Mecklenburg und Schlesien her. Er entwarf ein Manifest über die Gestalt des künftigen Preußen –. Ehe er nach Küstrin kam, hatte er nicht gewußt, ob seine Vorfahren Magdeburg im Kartenspiel gewannen –. Die Aristotelische Metrik hatte er auswendig beherrscht –.
»Mit seinem eindringenden Verstand ist er zu allem befähigt«, meinten die Küstriner Herren, »aber er ist noch nicht ausgereift. Gott möge Seine Majestät noch einige Jahre leben lassen. Sonst könnten wir durch die plötzliche Veränderung noch sehr traurige Katastrophen für das arme Land erleben.«
Aber sie kamen dahin überein, daß Prinz Friedrich einer der größten Fürsten sein werde, die das Haus Brandenburg hervorgebracht habe. Und ehrlich war ihr Bedauern, daß der Herr die politische Skizze seines Zwanzigjährigen nicht lesen durfte. Doch das war unmöglich.
Herr von Grumbkow wußte sich den Entwurf zu verschaffen. Auch er war nicht gesonnen, ihn dem »Dicken« zu geben. Er sandte das Manuskript dem Prinzen Eugen von Savoyen nach Wien.
Nachdem Prinz Eugen einen Einblick in die Gedanken genommen hatte, zu denen die Küstriner Gefangenschaft den armen, mißhandelten Königssohn angeregt hatte, bekannte er sein Erstaunen, »was vor weitaussehende Ideen dieser junge Herr hat, mithin er um so gefährlicher seinen Nachbarn mit der Zeit werden dürfte«.
Und der alte Diener des Hauses Habsburg trug eine neue Sorge. Man mußte sich des Kurprinzen von Brandenburg und Kronprinzen in Preußen, wie Habsburgs großer Wächter noch immer sehr hochmütig sagte, versichern. Man mußte ihn sofort in die Gewalt des Kaiserhauses bringen, den Bruch zwischen den Hohenzollern und den Welfen unwiderruflich und unheilbar zu machen! Die letzte Schlacht für die bedrohte, söhnelose habsburgische Hausmacht und den Sieg über das unablässig und unabsehbar wachsende Heer im Herzen des Reichs und Europas gedachte Prinz Eugen im Heiratskontrakt zu entscheiden. Kampflos wollte der große Sieger Gefangene machen, an die Fünfundachtzigtausend mit einem einzigen Federzug: Fünfundachtzigtausend mit Waffen und Proviant und frischer Montur, ausgeruht und reich besoldet.
Der König von Preußen hatte bei der jungen Prinzessin Elisabeth Christine von Braunschweig-Bevern emsige Brautwerber für seinen Sohn, die er nicht gerufen hatte. Er hatte auch sogar bei seinem Sohne Hochzeitsbitter zu dessen eigener Hochzeit aus Wien, von denen er nicht wußte. Die Beglaubigungsschreiben, die sie dem Kronprinzen vorzuweisen hatten, waren Päckchen von runden zweieinhalbtausend Dukaten, weil junge Herren auf Freiersfüßen meist das Geld nicht so sehr anzusehen wünschten. So lauteten die Begleitworte der ersten Sendung.
Auf der Wende zum Frühling war Kronprinz Friedrich krank; doch arbeitete er fleißig weiter, so unerfindlich es schien, daß der Vater ihn auch jetzt noch nicht zu seinem neuen Ruppiner Regimente entsandte. Der Frühling der Oderebene war für den Prinzen zu rauh. Der König nahm an dem Ergehen seines Sohnes freundlichen Anteil. Aber eines Tages enthielt der Brief des Vaters, in dem er sich wieder nach Friedrichs Gesundheit erkundigte, einen Satz, der das junge Leben des Sohnes noch einmal furchtbar zu erschüttern drohte.
»Mein lieber Sohn Fritz«, so begann dieser Brief, »es freuet Mich sehr, daß Ihr keine Arznei mehr brauchet. Ihr müßt Euch noch etliche Tage schonen vor der großen Kälte, denn Ich und alle Menschen schrecklich von Flüssen inkommodieret sind, also nehmt Euch hübsch in acht. Ihr wißt, mein lieber Sohn, daß wenn meine Kinder gehorsam sind, Ich sie sehr lieb habe, so wie Ihr zu Berlin gewesen, Ich Euch alles von Herzen vergeben habe und von der Berliner Zeit, daß Ich Euch nicht gesehen, auf nichts gedacht, als auf Euer Wohlsein und Euch zu etablieren, sowohl bei der Armee als auch mit einer ordentlichen Schwiegertochter, und Euch suchen, bei Meinem Leben noch zu verheiraten. Ihr könnt wohl persuadieret sein, daß Ich habe die Prinzessinnen des Landes durch andere, soviel als möglich ist, examinieren lassen, was sie für Conduite und Education; da sich denn die Prinzessin, die älteste von Bevern, gefunden, die da wohl aufgezogen ist, modeste und eingezogen, so müssen die Frauen sein. Ihr sollt Mir also Euer Sentiment schreiben. Ich habe das Haus von Katsch gekauft, das bekommt der Feldmarschall als Gouverneur, und das Gouvernementshaus werde lassen zurecht bauen und alles meublieren, und Euch soviel geben, daß Ihr allein wirtschaften könnt, und will Euch bei der Armee im April commandieren. Die Prinzessin ist nicht häßlich, auch nicht schön. Ihr sollt keinem Menschen was davon sagen, wohl aber der Mama schreiben, daß Ich Euch geschrieben habe. Und wenn Ihr einen Sohn haben werdet, da will Ich Euch lassen reisen; die Hochzeit aber vor zu kommenden Winter nicht sein kann. Indessen werde schon Gelegenheit zu machen, daß Ihr Euch etliche mal sehet in allem Honneur, doch damit Ihr sie noch lernet kennen. Sie ist ein gottesfürchtiges Mensch, und dieses ist alles, und comportable sowohl mit Euch als mit den Schwiegereltern ...«
»Ein gottesfürchtiges Mensch – und dieses ist alles«, sagte der Kronprinz laut, obwohl er allein war, »dieses ist aber auch wirklich und wahrhaftig alles –!«
Die eigentliche Antwort erteilte er, die Zusammenhänge schon in den Augenblicken der allerersten Erregung erfassend, nicht dem Vater, sondern dem kaiserlichen Hofe und dessen Berliner Partei.
Um Mitternacht schickte er zu Hille. Der stand auf, kam zu ihm und schrieb – der Kammerdirektor nach dem Diktat des Auskultators! – ein für Grumbkow bestimmtes »Projekt«.
Der Kronprinz klagte darin, daß alle seine Anstrengungen, die Gnade des Königs wiederzuerlangen, fruchtlos bleiben würden, da er fürchten müsse, sein Vater traue ihm noch immer geheime Absichten hinsichtlich seiner Ehe zu. Er erkläre, wenn er solche gehegt habe, verzichte er nun gutwillig darauf. Er sei also gern bereit, sich den Absichten des Königs zu fügen, wenn Seine Majestät, wie es heiße, den Blick nach Österreich gerichtet hätte. Er würde also gern die kaiserliche Prinzeß Maria Theresia heiraten, vorausgesetzt, daß ihm kein Religionswechsel zugemutet werde, denn das beteuere er vor Gott, nie tun zu wollen, aus keiner menschlichen Rücksicht, welcher Art und von welcher Bedeutung sie auch sein möge. In der Voraussicht, daß Europa sich beunruhigen werde, wenn die österreichischen Erblande mit dem Hause Brandenburg vereint würden, erklärte er sich zum Verzicht zugunsten seines Bruders August Wilhelm bereit, wofern man ihm soviel gebe, um standesgemäß leben zu können, so lange der Kaiser am Leben bleibe.
Grumbkow schickte die seltsame nächtliche Epistel sofort nach Küstrin zurück und bat den Kammerdirektor, sie auf der Stelle zu verbrennen. Doch hatte er in der kurzen Spanne, in der sich das Schriftstück in seinen Händen befand, rasch eine Kopie für Seckendorff angefertigt, die dieser schleunigst dem Prinzen Eugen übermittelte. Prinz Eugen fand das Projekt wunderlich und schloß aus verschiedenen in ihm enthaltenen Anzeichen, daß es dem Kronprinzen in Preußen vielleicht noch an Überlegung, nicht aber an Lebhaftigkeit und Vernunft fehle.
Auf jenen Kronprinzenbrief, der indirekt für Wien bestimmt war, erteilte Wien auch indirekte Antwort.
Man kam zunächst auf den glücklichen Gedanken, Friedrichs unglückseligen Erzieher, Duhan, der noch immer in Armut und Ungnade lebte, eine Pension auszusetzen. Man versicherte, wen Königliche Hoheit vorschlügen, den werde man auch unterstützen. Der Kronprinz könne fest auf den kaiserlichen Beistand rechnen, bis der liebe Gott das Schicksal Seiner Königlichen Hoheit zum Besseren wenden werde.
Und es hieß: bis König Friedrich Wilhelm starb.
Es fehlte dem Prinzen ja nicht an Lebhaftigkeit und Vernunft, Er mußte verstehen. –
Und dennoch war der Lebhafte und Vernünftige in Fieberangst versetzt, durch die österreichischen Machenschaften nicht minder als durch die Freundlichkeit und Noblesse des Vaters.
Grumbkow sollte ihm eine Liste vorlegen, welche Prinzessinnen wenigstens dem Range ihres Hauses nach als künftige Königin von Preußen noch in Frage kamen außer der Bevern, deren Bruder – wie die Königin während Friedrichs Berliner Aufenthalt zu ihm sagte – schon das Unheil über Philippine Charlotte gebracht hatte. Was bedeutete Sophie Dorothea all die Seligkeit der jungen Sanssouci und des Braunschweiger Prinzen –!
Die Sachsen-Gotha und die Eisenach, die man dem Kronprinzen nannte, schied er völlig aus. Er machte Gegenvorschläge. Er wollte, nun im Ernst, mit der zweiten Kaisertochter vorliebnehmen, wenn sie ihm nur ein paar Herzogtümer als Mitgift brächte; nur lumpige Nichten der Kaiserin lehne er ab. Er konnte nicht alle Hoffnungen begraben. Und die Heirat war die letzte. Er verwies auch noch auf Anna von Mecklenburg, die Enkelin des Zaren Iwan, falls sie auf die Nachfolge in dem zerfallenden Rußland verzichte und ihm eine Mitgift von zwei bis drei Millionen Rubeln eintrage.
Im übrigen schien er in großer Verwirrung seiner zwanzig Jahre jetzt manchmal allen irdischen Dingen entrückt. Er rühmte sich, trotz der Küstriner Kammer ein großer Dichter geworden zu sein. Er wollte weder Feldherr noch Krieger sein, sich auch später in kein Detail seiner Geschäfte mischen, sein Volk beglücken und sich gute Minister aussuchen, die schalten und walten mochten.
Aber alles das waren nur Ausflüchte, Tröstungen und nichtssagende, verängstigte Redensarten. Er begann den Aufenthalt in Küstrin liebzugewinnen; er wünschte, in dem stillen Frieden dieser Stätte noch lange bleiben zu können, auch angesichts der bittersten Erinnerungen.
»Procul a Jove, procul a fulmine«, pries er sein armseliges Dasein dort mit den Worten der geliebten Antike.
Wieder war ihm der Vater zum Schicksal, zum Vertreter der unerbittlichen Forderung geworden.
Indessen hatte König Friedrich Wilhelm in Berlin erklärt:
»Ich begreife, daß mein Sohn und ich nicht immer zusammen sein dürfen. Es ist dann jedesmal etwas Neues, wenn wir uns sehen.«
Er wollte seinen Ältesten, genau wie in der frühesten Zeit, nicht wie einen Sohn, sondern wie einen Freund behandeln.
Daß Vater und Sohn nicht immer zusammen sein dürften, das war in Grumbkows Plädoyer für die kaiserlichen Wünsche dem Kronprinzen gegenüber das wichtigste Argument. Aber er erntete Beleidigungen. Lieber als die Bevern, versicherte ihm Friedrich, wolle er das reizlose, ahnenlose, mittellose Fräulein Jette heiraten. Und das war Grumbkows eigene Tochter, die er mit der Gattin ängstlich vom Hofleben fernhielt, genau so, wie er die Zerwürfnisse mit seinem Sohne verbarg, indem er ihn von einer fremden Universität auf die andere schickte. Grumbkow empfand die Anmaßung des jungen Herrn aus hohem Hause gegenüber dem niedriger Stehenden bitter. Es gab keinen Weg zu Rang und Glanz. Er heftete sich nur noch leidenschaftlicher an Wien, um, wenn ein Diener, so doch der Diener nur des prunkvollsten, ältesten Hofes zu sein. Denn eine andere Welt als die der Höfe war für ihn nicht da. Der Dienst im Generaldirektorium galt ihm nicht; auch übersah er, wie es ihm der König vergab, daß er ein so schlechter Offizier war. Niemals kam ihm auch etwa der Gedanke, sich auf seine Güter zurückzuziehen. Lieber warb er in Demütigungen um seinen künftigen jungen Herrn. Denn der Gepflegte, Satte, Geschmeidige gedachte älter, viel älter zu werden als der aufgeriebene, aufgewühlte König und Herr, obwohl sein Vorsprung zum Tode den Jahren nach nicht gering schien. Er hätte der Vater des Königs sein können. In alledem glaubte er gegenüber dem Kronprinzen mit großem Geschick vorgegangen zu sein. Er schilderte die Bevernsche Prinzessin abfälliger als unbedingt notwendig war, damit vielleicht doch die Möglichkeit einer angenehmen Überraschung aufrechterhalten blieb. Aber der Kronprinz von Preußen gab vor, er wolle lieber das gemeinste Weibsstück von ganz Berlin haben als eine Betschwester mit einem halben Dutzend Muckern an ihrer schlecht geschneiderten Schleppe. Er wollte in dem ersehnten eigenen Hause nicht wieder nur die bigotte Atmosphäre von Schloß Wusterhausen wiederfinden. Gerade der Frömmigkeit seines Vaters, die ihn so namenlos quälte, begehrte er zu entrinnen; die Frömmigkeit vor allem hatte all das Unheil über ihn gebracht; die vor allem!
Seine zukünftige Frau sollte lieber Molières »Schule der Ehemänner« und »Schule der Frauen« auswendig lernen; das schien ihm besser als das »Wahre Christentum des weiland Johann Arndt«. Sie sollte nicht dumm, nicht widerwärtig, nicht stumpfsinnig sein! Und der müßte ein großer Philosoph sein, trumpfte er auf, der ihm bewiese, daß eine kokette Frau nicht viel mehr wert sei als eine frömmelnde.
Er wolle nicht kapitulieren, wie Wilhelmine allen Widerstand aufgegeben habe vor der Zeit!
Grumbkow wollte sich von Friedrich lossagen. Das Unglück mochte seinen Lauf nehmen. Er gestand Seckendorff seine Angst. Er machte sich auf die alten Szenen im Herrscherhause gefaßt. Selbst den sieben Weisen Griechenlands, darin waren der kaiserliche und der königliche General sich einig, konnte es nicht gelingen, es dem Vater und dem Sohne recht zu machen.
Aber Grumbkow, so gut er auch den künftigen König von Preußen zu kennen meinte, täuschte sich in ihm. Der erregten Nacht, in der Friedrich den Kammerdirektor Hille zum Diktat berief, waren abermals durchwachte nächtliche Stunden gefolgt.
Der Kronprinz verbrachte sie jedoch in kühler Überlegung. Er sah, was vor ihm lag: neuer, aufreibender Kampf; erneute Flucht, von der kein fremder Hof etwas wissen wollte – diese Erfahrung besaß er nun; erneute Gefangennahme, neues Gericht und neues Urteil. Er würde nicht König werden.
Jener Zwang aber, dem ihn der Vater zu Küstrin unterworfen hatte; jene stufenweise Führung, die er ihm angedeihen ließ; jene Wege, die er ihn Schritt für Schritt in die Freiheit führte, hatten ihn einige Gedanken denken gelehrt, die es ihm groß erscheinen ließen, ein König von Preußen zu werden. Er war Englands müde geworden und hatte Ernsteres begreifen und Schwereres ahnen gelernt, als daß er sich noch begeistern konnte an dem Rauschgold mütterlicher Märchenwelten.
Er rebellierte nicht. Er floh nicht. Im letzten Schreiben, das der Auskultator von Küstrin mit seiner Feder unterzeichnete, war das Erziehungswerk der harten Schule, die er hier durchlaufen hatte, wahrhaft erfüllt, ohne daß er es ahnte: er wollte König von Preußen werden.
Dies letzte Schreiben war ein Brief an seinen Vater; darin stand, die Schilderung, die der König von der Prinzessin entwerfe, sei sicher durchaus zutreffend. Wenn die Prinzessin aber auch ganz anders wäre, könne der König dennoch versichert sein, daß er in allem seinem Willen sich fügen werde. Er fügte sich – doch nicht wie Wilhelmine; er war nicht müde; er kämpfte für sein Amt, das ihm vom Vater so schrecklich gemacht war! Der Kronprinz hätte statt all der Worte von der Heirat schreiben können in einem einzigen Satz: Ich will nach dir König sein in deinem Lande!
König Friedrich Wilhelm zeigte diesen Brief dem Herzog von Bevern, der als letzter Gast, aus guten Gründen, noch immer bei ihm weilte. Er gab den Brief des Sohnes auch Grumbkow zu lesen. Der König sagte mit Tränen in den Augen: »Was sagen Sie dazu? Da, lesen Sie. Das ist der glücklichste Tag meines Lebens.«
Grumbkow dachte bitter: Die Könige haben unter sich verhandelt –.
Fünfzehn Monate hat Europa ein Geschrei erhoben, daß König Friedrich Wilhelm seine Töchter zu Hirtinnen und seinen Sohn zum Manne einer Bauernmagd mache. Aber die wahre Braut, um die es soviel Aufhebens gab, war die Armee des roi sergeant.
Weil durch Affären in Italien und Spanien und angesichts der wachsenden Selbständigkeit Frankreichs plötzlich England und Österreich auf gemeinsames Vorgehen angewiesen waren, mußten sie sich nun auch gemeinsam um das preußische Heer bewerben. London und Wien vergaßen aller Rivalität ihrer Silberflotten und taten sich alles Erdenkliche zuliebe. Das ganze, künstlich gedrehte Halteseil der politischen Heiraten wurde rückwärts wieder aufgeflochten und sollte zu neuen Gespinsten verknüpft werden, weil Habsburg und das Welfenhaus nun gegen die Bourbonen standen. Es war durchaus nicht mehr zu entwirren, wer wen heiraten sollte; nur soviel stand in Wien und London fest: Elisabeth Christine von Braunschweig-Bevern durfte nicht »Kronprinzessin in Preußen« sein. Dahin war jener kaiserliche Hof gekommen, der einst den preußischen Gesandten am Londoner Hofe dafür besoldete, der beiden Höfe Berlin und London Mißverständnisse beständig zu mehren und zu erhalten.
Dem Wiener Hof fiel es nicht leicht, sein mühevolles Werk in Brandenburg-Preußen von Grund aus selbst zu zerstören. Aber Seckendorff erhielt die von London gewünschten neuen Direktiven, denn Österreich sah sich am Vorabend des großen Krieges der Bourbonen gegen Habsburg, eines Krieges, der in Italien und nicht im Reich und also ohne die Truppen des Kurfürsten von Brandenburg würde durchgehalten werden müssen. Und wenn da England den Umsturz aller Heiratspläne in maßloser Forderung noch am Morgen der brandenburgisch-bevernschen Hochzeit verlangte: Österreich mußte den Schritt auch dann noch tun! Die Frist war nicht mehr lang, in der man das Modewort »Chi ha tempo, ha vita« zum Troste haben durfte.
Sie verfolgten den König bis in sein Gastzimmer auf das Schloß Salzdahlum, nahe Braunschweig, das schon gerüstet war zur Hochzeit seines Sohnes. Beide Familien weilten schon seit einem Tage zusammen. Die mitgeladenen Hochzeitsgäste aus den Kreisen der Minister waren ein Diplomatenklüngel in voller Geschäftstätigkeit. Es gab auch bares Geld in dem Handel. Die Königin witterte nur den heimlichen Aufruhr; sie kannte die verlockenden Anzeichen diplomatisch bewegter Zeiten. Aber ihr blieb erspart, sich der tiefsten Demütigung ihres Lebens bewußt zu werden. England wollte die preußisch-englische Heirat ohne sie, ja, indem man sie geflissentlich umging, arrangieren! Über diesem Festtag waltete ein bitteres Wort der Schrift: »Die Hochzeit ist zwar bereit. Aber die Gäste waren's nicht wert.«
Vergeblich hatte der König gehofft, durch die Bräute würde Frieden werden in seinem zerrissenen Lande und seinem verwundeten Herzen. Die Welt ließ ihn das Treue nicht tun.
Der König lag noch im Bett, da ließ Seckendorff, der biedere Pächter, Protestant und Soldat, ihm dringlichst melden, er sei vom kaiserlichen Hof mit einer wichtigen, aber nicht unangenehmen Botschaft betraut und müsse ihn aufs rascheste sprechen. Der König ließ ihn kommen, und Seckendorff trat an sein Bett und erklärte ihm mit lächelndem Munde, er habe soeben durch einen Kurier, welcher die ganze Nacht hindurch gefahren sei, den Befehl erhalten, ihm eine neue Eröffnung über eine eilige Sache zu machen. Trotzdem wage er sich seines Auftrages nicht zu entledigen, wenn Majestät ihm nicht verspräche, ihn in Geduld anzuhören und sich nicht zu ereifern. Das Versprechen erfolgte, und der General kam mit der Sprache heraus, er habe einen Brief des Prinzen Eugen an den König bei sich mit einer Order, ihm diesen Brief, wenn er es erlaube, in einer Kopie vorzulesen. Wenn der König glaube, das Brieforiginal nicht annehmen zu dürfen, so möchte er es ihm offiziell nicht aushändigen.
Der König ließ sehr geduldig sehr viel diplomatische Delikatesse über sich ergehen, gestattete die Vorlesung der Kopie und erklärte sich bereit, den Brief anzunehmen und zu beantworten. Da überreichte Seckendorff ihm gleich das Originalschreiben, das bis dahin nur den »Einschluß« dargestellt hatte, ohne den kein politisches Schreiben mehr auskam.
Der Brief schlug das Mittel vor, so erläuterte der Kaiserliche General, wie man nichts verlöre und alles miteinander vereinigen könnte. Auch brauchten nicht einmal die Hochzeitsfeierlichkeiten auf Schloß Salzdahlum abgesagt zu werden. Nur die Personen vor dem Altar wären auszuwechseln. Anstatt des Kronprinzen mit Prinzessin Elisabeth Christine möge man, etwas früher als gedacht, den Erbprinzen Karl von Braunschweig mit Prinzessin Philippine Charlotte verheiraten. Später könne dann die Doppelhochzeit des Prinzen von Wales mit Elisabeth von Braunschweig-Bevern und des Kronprinzen von Preußen mit der britischen Prinzessin Amalia stattfinden.
Den üblichen Ausgleich durch Mätressen allerdings wagte man dem König von Preußen nicht vorzuschlagen. Das preußisch-englisch-österreichisch-hohenzollerisch-welfisch-habsburgisch-brandenburgisch-hannöverische Wunderwerk schien sich unter Einbeziehung der braunschweigisch-bevernschen Aspekte zu vollenden.
Der König hörte sich die Verwegenheit ruhig an. Nur ganz flüchtig sah er zu Seckendorff hinüber, jenem gleichen Seckendorff, der lange, lange Zeit hindurch manchen Gewaltritt nach Potsdam unternommen hatte, um die Londoner Partei zu überholen, ihr zuvorzukommen und dem König zu »insinuieren«, daß man ihn zum »Gallopin« von England machen wolle; daß um der Ansprüche der britischen Prinzessin willen sein Haus, sein Staat, sein Heer den »Krebsgang« gehen würden und daß er endlich noch einmal gegen seinen Sohn als den Statthalter von Hannover werde zu Felde ziehen müssen. –
Er öffnete, die Form zu wahren und den Spielregeln zu genügen, das Schreiben des Prinzen Eugen und gab es Seckendorff sofort zurück mit dem Auftrag, sich zum Grumbkow zu begeben und ihm den Inhalt seiner Antwort zu sagen. Sie lautete, daß er durch keine Vorteile in der Welt sich würde bewegen lassen, seiner Ehre und Parole einen solchen Schandfleck anzuhängen; er bleibe bei seiner Resolution so fest wie Stahl und Eisen. Danach stellte er Seckendorff das Zeugnis aus, daß er die ihm gegebenen Befehle ordnungsgemäß ausgeführt habe.
Nun lehnte sich der Herr in die hochgehäuften Kissen zurück.
»Wenn ich Ihn nicht so wohl kennen würde, Seckendorff«, sagte er, »glaubte ich, Er träumte. Hätte man vor Jahr und Tag so gesprochen, wüßte ich nicht, was ich aus Liebe für des Kaisers Majestät getan haben würde.« Als der König jene Worte aussprach: »Wenn ich Ihn nicht so wohl kennen würde, Seckendorff«, begriff der brave Pächter, Protestant und Soldat, daß er durchschaut war – durchschaut in seiner ganzen Schande, die er mit Grumbkow, König Friedrich Wilhelms Großem, teilte: das Werk, an dem sie für das kaiserliche Haus jahrelang am preußischen Hof gearbeitet hatten, war nun in Wien von einem Tage zum anderen verworfen. Sie waren im Auftrage des Wiener Hofes die Werber für London in Berlin geworden, und Grumbkow hatte umsonst aus Wien eine besondere Verlobungsprämie von vierzigtausend Gulden außer seiner jährlichen Pension von tausend Dukaten erhalten.
Seckendorff begriff aber auch, daß der Mann, der da am Hochzeitsmorgen seines Sohnes so müde und umdüstert im Bett saß, sich unabhängig gemacht hatte von Diplomaten, alliierten Kabinetten, verbündeten Heeren, ausgeliehenen Geldern – unabhängig in fast zwanzigjährigen, königlichen Kämpfen, die so schwer gewesen waren, daß der König gänzlich von Berlin nach Potsdam gehen und keinen Menschen vor sich lassen wollte. Alle Geschäfte waren suspendiert. Bis zu dieser Ungeheuerlichkeit war es gekommen: die Geschäfte des Königs von Preußen suspendiert!
Da König Friedrich Wilhelm aber zu Seckendorffs höchstem Erstaunen, ja Erschrecken, noch immer gelassen blieb, begann der General ihm einzuräumen, daß es allerdings nicht im Interesse des Kaisers läge, wenn die beiden Könige von England und Preußen so eng miteinander verbunden wären. Aber die Wohlfahrt Europas, insonderheit des deutschen Vaterlandes, verlange diese Verbindung, und darum opfere Seine Kaiserliche Majestät ihr den Vorteil des eigenen Hauses.
Still, verbittert, vergrämt und verschlossen hörte der ihm zu, der in Wirklichkeit der einzige war, der »insonderheit für die Wohlfahrt des deutschen Vaterlandes den Vorteil des eigenen Hauses opferte« und der eben darum verlacht, verketzert, verschachert und ausgenützt worden war. Er sagte noch ein bitteres und stolzes Wort; er habe zwar außer dem Kronprinzen noch drei Söhne; aber es sei besser, das Haus sterbe ganz aus, als daß es in der Schande lebe, das, was man heute gewollt hat, morgen zu verändern.
In dem Augenblick aber, in dem der König nun durchaus gnädig den kaiserlichen General entlassen wollte, hielt er ihn doch noch einmal zurück. Er habe sich, begann er seufzend, in der Tat als Gabe zu der Hochzeit seines Sohnes mit der Nichte der Kaiserin einen Brief des Kaisers versprochen, auf den er nun schon sehr lange warte – schon seit jenen dunkelsten und eisigsten Tagen des grimmen Januar im Salzburger Lande, in denen alle Anhänger hussischer Lehre und evangelischen Glaubens von einem Sonntag zum anderen das Land verlassen sollten, und zwar ohne Wagen und Karren, nur mit dem Sack auf dem Rücken. Da hatte er an den Kaiser geschrieben und für die Bedrohten und Vertriebenen gebeten! Warum verzögerte sich die Antwort bis zu dieser Stunde?
Gottes Knecht in der Mark Brandenburg ließ dennoch nicht ab. Was war ihm seine opferreiche Freundschaft mit dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, wenn sie Feinde wurden in dem einen, in dem nicht diese Politik galt oder jene, sondern allein der Wille Gottes über den Herrschern der Erde!
Am nächsten Mittag, als die Hauptfeierlichkeit beendet war, fand Friedrich für einige Minuten Zeit, ein paar Zeilen an die Baireuther Schwester zu schreiben: »Geliebte Schwester, in diesem Augenblick ist die ganze Zeremonie zu Ende. Gott sei Dank, daß alles vorüber ist.« Bis in die letzte Stunde war er, fünfzehn Monate hindurch, nicht wankend geworden in seinem Entschluß – König von Preußen zu werden. Er hatte dem Vater seine Unschuld an all den neuen Intrigen beteuert und hinzugefügt, er begreife das Verhalten des Wiener Hofes nicht und versichere, daß nur der Tod sein an die Prinzessin von Bevern verpfändetes Wort zu lösen vermöge.
Und nun gebe es eine unglückliche Prinzessin mehr in der Welt, setzte er unter den Brief an seine Schwester als Postskriptum.
Von dieser unglücklichen Prinzessin und dem Hof, von dem sie kam, handelte in dem Kreis von Monbijou jedes Gespräch, als das Königspaar und der Kronprinz von der Hochzeit auf Salzdahlum heimgekehrt waren und Potsdam und Berlin sich rüsten mußten zum Einzug der Frau Kronprinzessin. Der König war allen vorausgeeilt, um selbst die militärischen Vorbereitungen für die Feierlichkeiten zu Ehren seiner Schwiegertochter anzuordnen, und befand sich schon in Potsdam.
Wenn die Königin nun allein im Kreise ihrer Kinder speiste, lenkte sie das Gespräch immer wieder auf die satirisch-bukolischen Pamphlets, die in London über die Bauernprinzeß von Salzdahlum erschienen waren. In diesem Zusammenhange wurde sogar die Frau Erbprinzessin von Baireuth, die auf den Wunsch des Vaters zum Empfang der Kronprinzessin nach Berlin gekommen war, eines Wortes gewürdigt.
»Dein Bruder«, sagte die Königin zu Wilhelmine, »ist in Verzweiflung, daß er die Bevern heiraten mußte. Er hat nicht unrecht. Sie ist so beschränkt erzogen, daß sie auf ihrem Zimmer nicht einmal Damen empfangen durfte. Sie ist das dümmste Tier zwischen Himmel und Erde. Auf alles, was man ihr sagt, antwortet sie Ja oder Nein und lacht dabei so einfältig, daß einem ganz übel wird. Auch hat sie einen mageren Hals und unentwickelte Formen.«
»Oho«, rief Anna Amalia, denn über dieses Thema durfte auch die Neunjährige, um ihrer treffsicheren Malicen willen in Monbijou berühmt, schon ungehindert mitsprechen, »die liebe Mutter kennt noch gar nicht alle ihre Verdienste! Ich bin einmal des Morgens bei ihrer Toilette zugegen gewesen – ihr Schnürleib ist auf der einen Seite ausgepolstert, und sie hat eine Hüfte höher als die andere.«
Die Königin belächelte, wie außerordentlich geweckt die kleine, heftige, kränkliche Tochter doch war. Und während solcher Tafelreden gingen die Diener mit den Silberplatten, die das Vorrecht der Königin waren, auf und ab am Tische der Mutter und ihrer Kinder. Der Kronprinz erblaßte und errötete und sagte gar nichts. Nach der Tafel wünschte er der Mutter als erster gute Nacht. Die Gründe, mit denen er sich vor der Zeit entschuldigte, waren triftig. Er hatte sein Regiment zur Einzugsrevue nach Berlin überführt; und das war, so rasch nach der Rückkehr aus Salzdahlum, etwas anstrengend gewesen.
Im Vorzimmer konnten sich Friedrich und Wilhelmine – die dann noch, wie jeden Abend, bis zwei und drei Uhr nachts mit der Königin Karten spielen sollte – für einen Augenblick sprechen. Der Kronprinz blickte böse vor sich hin.
»Die Königin möchte über ihren gescheiterten Projekten verzweifeln. Deshalb sagt sie so viel Arges von der Bevern. Denn sie wollte mich gern überreden, mich mit dem König zu überwerfen. Das ließ ich aber wohl bleiben. Meine Stumme ist freilich schlecht erzogen und schlecht gekleidet, und ich hoffe, wenn sie nun herkommt, bist du so gut, ein wenig an ihrer Bildung zu arbeiten.«
Solche Bitte nun tat der jungen Frau Erbprinzessin von Baireuth sehr wohl. Denn sie litt unsäglich darunter, am Hofe der Mutter nur noch als degradierte arme Verwandte unter hundert Demütigungen geduldet zu sein und zur gleichen Zeit den Vater den Einzug der künftigen Königin von Preußen so strahlend rüsten zu sehen, wie noch gar nichts hier zuvor gewesen war.
Damit sich die Frau Herzogin von Braunschweig als die Schwester und die wunderhübsche, jugendliche Frau Herzogin-Großmama von Braunschweig-Bevern als die Mutter der Kaiserin nicht ihrer hohen Verwandtschaft überhöben, tat sich die Königin mit ihrem Hofstaat recht etwas darauf zugute, welch großen Hauses Tochter sie war; sie, die Mutter des Bräutigams und vieler Bräute, war noch immer die Tochter des Königs von England geblieben. Während der König von Preußen der Gemahlin seines ältesten Sohnes entgegenritt, nahmen die Damen schon auf der Freitreppe des Schlosses Aufstellung. Von Seide, Sonne, Federn, Juwelen, Blumen und Sommer war ein großer Glanz um die Frauen gewoben. Die Fächer schwirrten, und hoch über den Häuptern der Frauen schwebten die Vögel leicht im Juniwinde hin.
Am Kirchplatz sangen schon die Waisen, die Kinder der Seligkeit. Über die Brücke trabten bereits die ersten Reiter zurück. Ganz langsam und sehr bestaunt und bejubelt von den Bürgern und Fremden hinter der strahlenden Kette von Soldaten, fuhr die Karosse der Frau Kronprinzessin auf das Schloß zu. Der König ritt ihr zur Seite.
Fast niemand am Potsdamer Hofe wollte es glauben, daß hier die junge Gemahlin des Thronfolgers aus dem Staatswagen stieg. Denn die nun auf der untersten Stufe der Terrasse stand, den Blick gesenkt und ganz damit befaßt, die Falten ihres weiten Reisemantels nicht zu ungeschickt zu raffen, war ein Kind – dabei durchaus nicht klein – ein Mädchen von dreizehn, ach, kaum zwölf Jahren, in offenen, aschblonden Locken, die Wangen von der sommerlichen Fahrt gerötet! Und als die Frau Kronprinzessin jetzt die Augen aufschlug zu den fürstlichen Frauen und ihrem Gefolge, waren die grauen Sterne wie von Tränen überglänzt.
Der König schritt ihr voran. Immer wieder wandte er sich nach ihr um. Er lächelte ein ganz klein wenig bedenklich; er wußte schon, warum die Damen droben vor Entsetzen durcheinanderrauschten. Das hatte er selbst nicht für möglich gehalten: die Kronprinzessin von Preußen zog in der Residenz des Schwiegervaters ohne Perücke ein! Er hörte das Wort Bauernprinzeß zischeln; das klang bösartig, und er glaubte, die kleine Schwiegertochter schützen zu müssen.
Die war vor der Königin in einen tiefen, starren Hofknicks versunken. Was sie sagte, mußte man erraten. Sie sprach Deutsch. Sie sprach Westfälisch. Sie flüsterte. Die Mutter der Kaiserin wollte die offenbare Schande ihrer Enkelin nicht sehen und hören. Nur wie abscheulich derb und geschmacklos das Reisekleid war, das vermochte ihrem Blick nicht zu entgehen.
Wäre nur die Frau Mutter der Kaiserin nicht so mit sich selbst befaßt gewesen, als es um die preußische Ausstattung der Enkeltochter ging, dachte der König von Preußen.
Selbst Elisabeth Christines heitere Mutter schien plötzlich besorgt; die Tochter wollte ihr um den Hals fallen, und die Mutter konnte ihr nur noch schnell bedeuten, das dürfe sie hier nicht. Selbst die lustigen, vorlauten Brüder der Prinzessin standen starr und feierlich, und auf der Stirn ihres guten Papas war eine Falte tiefen Unmutes wahrzunehmen; er hörte das Raunen der Hoffart ringsum.
Der König führte die Frau Kronprinzessin die Reihe seiner Töchter entlang. Ah, das waren nun alles ihre Schwägerinnen, all die funkelnden, rauschenden, zarten jungen Damen in Perlen und Puderlocken, Spitzen und Damast – es war so verwirrend. Sie waren alle hier so gewandt; und hatten doch so viel Schweres erlebt! Selbst Anna Amalia, die jüngste, sah kühl und prüfend drein wie eine große Dame. Ganz ängstlich hielt Elisabeth Christine die Hand der kleinen Ulrike fest; die trug auch noch ihre eigenen silberblonden Locken und keine Perücke. Aber Ulrike lächelte ihr nicht zu; todernst sah das schöne Mädchen sie an. Die schmalgeschnittenen, fremdartigen Augen waren von den langen, dichten Wimpern ganz umschattet.
Immer wieder blickte die Kronprinzeß zu König Friedrich Wilhelm hin, ob sie auch alles recht verstehe und tue. Seine Freundlichkeit war ein solcher Trost! Er nickte ihr ermutigend zu. Er in seiner blauen Uniform war auch nicht gar so erdrückend prunkvoll wie all die prächtigen, gewaltigen Herren, die sich jetzt vor ihm und ihr verbeugten, Sie sah verängstigt auf die Kavaliere, Prinzen, Minister, Offiziere. Wo war unter ihnen der eine, an dessen Arm sie glaubte Einzug halten zu dürfen im Schlosse seines Vaters!? Sie lugte nach rechts und nach links. Der König flüsterte ihr zu, das sei ihr jetzt nicht erlaubt.
Namen, Namen stürzten auf sie ein. Sie verneigte sich nur immerzu; und es war so heiß; und die Erschöpfung von der Reise her war so groß. Kleine Schweißperlen standen auf ihrer Stirn. Sie spürte, wie alle Blicke sie trafen: die Stirn – die hätte sie betupfen mögen; die Hände – die waren heiß und verstaubt von der Reise; den Hut – der hing wohl schief in ihren Locken. Jedenfalls saß eine Feder nicht recht; sie kitzelte sie an der Stirn. Die Prinzessin schluckte an den Tränen. Da führte König Friedrich Wilhelm seine Schwiegertochter in das Zimmer der Königin, und weil er sah, daß sie sehr erhitzt und bestaubt war, ließ er den Kronprinzen bitten, seine Gattin in ihr eigenes Zimmer zu bringen.
Der junge Gemahl erschien in Begleitung der ältesten Schwester. Kühl und lächelnd stand die Frau Erbprinzessin von Baireuth in ihrer eleganten Robe vor Elisabeth Christine – gerade sie, von der am elterlichen Hof in Braunschweig, Wolfenbüttel und Salzdahlum so viel Trauriges gesprochen worden war –. Dies eben war so unendlich schwer für die Bevernsche Prinzessin, daß sie nun mitten unter denen weilte, von denen ganz Europa Jahre hindurch Schreckliches redete! Seit sie nur bewußter und verständiger denken konnte, war es ihr erschienen, als habe jeder, der nach Braunschweig kam, immer wieder nur neues Leid und neue Absonderlichkeit vom preußischen Hofe zu melden gehabt.–
Der Kronprinz war entschlossen, von vornherein in seiner jungen Frau jeden Gedanken abzutöten, daß die Kronprinzessin von Preußen sich je über die Erbprinzessin von Baireuth erheben dürfte und daß er etwa die Erhöhung der Herzogstochter jemals spürbar werden ließe neben der Erniedrigung des Königskindes. Er kämpfte dort, wo ihm nur Mitleid, Bewunderung, Verängstigung und flehentliches Anlehnungsbedürfnis begegneten. Er stellte die Erbprinzessin der Gattin als seine von ihm angebetete Schwester vor, der er alle ersinnlichen Verpflichtungen schuldig sei; und er empfahl Elisabeth Christine, auf seine Schwester mehr zu achten als auf den König und die Königin, da Wilhelmine ihm versprochen habe, alle nur mögliche Sorgfalt für sie zu hegen. Er trug eine Liebe zur Schwester zur Schau, die er nicht mehr empfand, und auch Wilhelmine hörte aus seinen Worten nicht die Liebe; aber ihr gebrochener Stolz lebte auf. Noch immer kam das arme, karge Glück ihres Lebens allein von dem Bruder.
Vor solchen Worten, in denen der vergangene Zwiespalt der königlichen Familie nachzitterte, erschrak die Kronprinzessin zu Tode. Aber in solchen Augenblicken war sie dann nicht das zwölfjährige Kind, das sie schien, sondern das siebzehnjährige Mädchen, das sie war: die Tochter von edlem Blute, die den vor den Augen Europas Mißhandelten zum Gatten erhielt – und von jenem Vater, der ihn erniedrigte und schlug, aufs gütigste erhoben wurde: weit hinaus über alle Träume einer Bauernprinzeß, als die sie nun galt, seit sie ihrem Bräutigam die schönen Braunschweiger Würste und Honigkuchen schicken ließ, weil der Herr Schwiegervater sich gar so wohlgefällig darüber äußerte. –
Sie zitterte vor Mitleid und Dankbarkeit; jeder Schlag ihres Herzens war ein Schauer ihres ganzes Blutes. In Mitleid und Dankbarkeit hatte sie begonnen, zu lieben. Darum glänzten ihre Augen von verhaltenen Tränen. Darum schwieg ihr Mund, der gekrönt war von dem schönsten aller sanftgeschwungenen Amorbögen.
Die Erbprinzessin von Baireuth bezeigte sich der Kronprinzessin von Preußen aufs verbindlichste. Sie ließ ihr von dem eigenen Puder kommen. Sie tat ihr ein wenig Parfüm ins silberne Handwaschbecken. Sie redete sicher, schnell, gewandt und überlegen, lachte dazwischen mit dem Bruder, tadelte und leitete die Kammerfrau, so daß die junge Frau Kronprinzessin vor lauter Bewunderung solch fürstlicher Gelassenheit erschrak und verstummte. Vielleicht versagten ihr die Worte aber auch darum, weil der Gatte, so innig vertraut mit der Schwester, sie selbst auch jetzt noch keines Blickes oder auch nur der flüchtigsten Anrede würdigte, so wie er auch nach der Gratulationscour auf Salzdahlum sofort von ihrer Seite hinweggetreten war und eine Unterhaltung mit einem Hoffräulein begann. Sie sah im Spiegel, daß er sie im Hinüberblicken zur Schwester ohne Milde belächelte.
Da sehnte sie sich nach der Freundlichkeit des Herrn Vaters.
Nach dem Festmahl bat der König die Gesellschaft zu deren mehr oder minder gut bemänteltem Entsetzen zu einem Gang durch seinen Küchengarten. Dort wäre jetzt, so pries er, die allergrößte Pracht, die er zu bieten hätte. Vom Garten Marly aus wollte er auch die Gäste noch in seine neue Glashütte führen, um den Damen einige eigens für sie verfertigte Präsente zu verehren.
Draußen, wo die zweite Mauer um die Stadt schon geschlossen war, zwischen Potsdam und Bornstedt, am Fuß des Wüsten Berges, lagen die Gärten des Königs: Halden der Fruchtbarkeit und Ahnungen paradiesischer Zukunft im Sande der Mark.
Tief, als gelte es Schätze zu graben, nicht aber Samen und Keime zu versenken, hatte der Herr den Sand durchwühlen lassen, gute Erde ihm vermengt, Dünger und Wasser wie Kostbarkeiten herbeibringen lassen, bis endlich die ersten Knospen ärmlicher, junger Obstbaumschößlinge es verkündeten, daß die neue Erde bereit war, sie zu tragen und ihnen Wachstum zu geben als ein guter Grund. Drei Jahre lang hatten die Knollen der Lilien verborgen in dem Erdreich geruht; nun blühten sie schlank und weiß empor, ein leuchtender Lohn der Geduld. Üppig entfacht und zierlich gefiedert drängten sich Mangold und Pastinake, Petersilie und Möhren auf den schnurgeraden Beeten; Bohnen und Hopfen rankten sich an hohem Holzwerk; und als solle die Dürftigkeit dieser spröden Erde verhüllt sein, ließen Rhabarberstauden in dem Übermaße der entfalteten Blätter den Gartenbrunnen einem weltverlorenen Weiher gleichen. Erdbeeren, schon seit drei Wochen Tag um Tag geerntet, füllten auch heute noch einmal die geflochtenen Schwingen am Wegrand. Die Sonne weckte ihren Duft und Glanz; und die gläsernen Dolden gelber und dunkelroter Johannisbeeren ließ sie leuchten wie den edlen Gartenkies im Park von Monbijou. Die Bienen umsummten sie lange, um plötzlich, als sei es wie eine Ordnung des Festes, die Bündel der reifenden Kirschen auf den jungen Bäumen zu umkreisen. Hoch umstand das Gras die Stämme, dicht und lang zur neuen Mahd; und vom Zaune her, als müsse alles hier voller Duft und Leuchten sein, wehte der kräftige Geruch frischgezimmerter Latten.
Die Frau Schwiegertochter hörte dem Herrn Vater andächtig zu, was er ihr auch immer erklärte und zeigte. Denn da waren ja außer den Gemüse- und Kräuterbeeten für die königliche Küche, den Obstbäumen für die Tafelfrüchte, den Beerensträuchern für die Kinder noch die Kegelbahn und das kleine Lusthaus von Fachwerk und endlich gar die Schießstände für die Armbrustschützen, die sich dort ein Paar silberne Hemdenknöpfe, eine Sechzehn-Groschen-Münze oder eine Flasche Bier als Preis erringen konnten.
Elisabeth Christine lobte alles, was den Garten anging. Sie kannte sich in allem Gärtnerischen aus. Noch niemals, versicherte sie dem König, habe sie alles so auf einem Fleck vereint gesehen. Ob dies wohl die Gartenfrüchte ganz Europas wären?
Der König schien sehr lebhaft und glücklich. Er teilte Talerstücke unter die Gärtner aus, weil sie seinen Garten so zur Zufriedenheit der Frau Schwiegertochter gerichtet hätten. Denn noch niemals, bis zu dieser Stunde, hatte der Gärtner Friedrich Wilhelm von Hohenzollern ein Lob über Marly gehört bis zu dieser Stunde. Selbst seine Sanssouci war zu sehr von dem Park von Monbijou bezaubert.
Die anderen sprachen auch vom Garten Marly. Die sandigen Beete seien eine der launenhaften Lieblingsbeschäftigungen des Königs, sagten die brandenburgischen Damen unverhohlen zu den bevernschen und seufzten unter der Sonne, obwohl die kleinen Mohren mit sehr hohen Gartenschirmen um sie hüpften. Im Sommer, seufzten die Damen des königlichen Hauses, müsse der Hof zuweilen schon um drei Uhr nachmittags nach dem schattenlosen Küchengarten hinausfahren, wo überall, wie hier am Wege, nur Kohl und Rüben und dürftige Stämmchen stünden, die der König Äpfel-, Birnen- und Pflaumenbäume nenne. Sie wüßten nicht, ob dieses Obst ihm je gerate; und wenn es der Fall sei, so werde es doch niemand essen als der König allein. Die Damen vertrugen nämlich die inländischen Früchte samt und sonders nicht.
Unerträglich langweilig, so schalten sie, seien diese Nachmittage im Garten des Königs, dem Garten ohne Alleen und Grotten, ohne alle angenehmen Partien mit Wasserkünsten und Tempeln. Es sei nur ein Glück, daß der König so selten Zeit für seine sonderbaren Divertissements erübrigen könne; denn er ergötze sich hier mit Scheibenschießen oder Kegelspiel; aber ihnen werde der Tag immer länger und länger. Habe er sich nämlich erst einmal freigemacht für seinen Garten, dann breche er vor neun Uhr abends nicht auf, und meist müsse man in der zehnten Stunde noch im Freien ein Abendbrot nach der Art einfacher Landleute zu sich nehmen: Krebse, Spargel, Fische, Wurst, Schinken, Salat, Käse, Butter, Brot und selbstgebrautes Bier. Jedenfalls stelle man es sich so vor, daß Landleute wohl nicht derber essen könnten, und sehnsüchtig harre man des Trinkspruches, des erlösenden Zeichens zur Rückkehr, des törichten, immer wiederholten Verses auf den Fürsten von Anhalt-Dessau:
Ein treuer Freund, drei starke Krücken,
in Freud, in Leid und hinterm Rücken!
Die Herren arrangierten den Damen während solcher Unterhaltung in heiterem Spott Buketts aus Küchengemüsen.
An der Gartenmauer, im Schatten der über und über blühenden, bienensummenden Linden, warteten die Wagen, um die Fürstlichkeiten zu der neuen Glashütte des Königs nach Nedlitz zu bringen. Dort erhielt die Kronprinzeß, damit sie mit dem jungen Gatten anstoßen könne, ein schönes Glas für die Tafel. Ein springendes Reh war ihm eingeätzt: ein schmales, kleines, weißes Reh. Das bewunderte sie lange. Sie hielt das Glas dem Sonnenlicht entgegen, und einen Augenblick war es, als wolle die Bauernprinzeß allen Glanz des hohen Sommers aus dem zarten Glase trinken, das der König für sie zaubern ließ.
Der große Vorbeimarsch der Bataillone zur Berliner Hochzeitsparade begann mit dem neuen Regiment des Kronprinzen, geführt von dem Obersten Friedrich von Hohenzollern aus Ruppin. Der König war sehr glücklich. Dies war die Feier, die er sich erdachte und ersehnte: Feier des Herzens, des Hauses, des Heeres in einem!
An diesem Tage hatte der König in dem neu befestigten Küstrin, das nun eine eigene Geschützgießerei und eigene Zeughöfe erhalten hatte, die Bastionen neu benannt: nach König und Königin, Kronprinz und Kronprinzessin und seinen drei jüngeren Söhnen.
Aber das war das Verhängnis seines Wesens, daß er nie zu beharren vermochte in dem heiß und zäh erkämpften Augenblicke eines Friedens und einer Vollendung und daß jegliches Erreichte die Bilder des Neueren und Schwereren in ihm entfachte.
In den Stunden, in denen die Heere von Göttern fremder Zonen und von Landessöhnen an den Zelten königlicher Bräute vorüberzogen, geführt von seinem ihm wiedergeschenkten Sohne, gewann das Unvorstellbare, das um die gleiche Zeit im Reiche geschah, alle Macht über den König: daß die Dragoner des Kaisers einrückten in die Dörfer der Salzburger Täler, den Abfall vom evangelischen Glauben bei den treuesten Kindern des Kaisers zu erzwingen!
Er sah die Frömmsten und Redlichsten des Reiches von Hof und Gut und Kindern in Scharen des Entsetzens fliehen. ›Der König von Preußen‹ wies sie ihm bei dem Fest.
Der König war entschlossen, noch an diesem Tage, der den Bund seines Hauses mit dem Hause des Kaisers besiegelte, das Schwerste zu versuchen und nun selber einzugreifen in das Elend und die Verwirrung des Salzburger Volkes, ja, in einem entscheidenden Manifest an die Salzburger selbst – da seine Briefe an den Kaiser ohne Antwort blieben – alles daranzuwagen, was gewonnen und errungen war. Denn die Zeit war überreif geworden; und die Stunde, die Gott ihm nannte, ließ sich nicht versäumen. Sie hatten im Reiche und am Kaiserhofe den Mahner und Beter nicht gehört.
Aber gestützt auf dieses Heer, das hier an ihm vorüberdröhnte, würde er seiner Stimme Geltung zu verschaffen wissen. Dies wenigstens hatte er aus der anglo-austrischen Intrige um die Heirat seiner Kinder gelernt: er kannte die Braut, um die man tanzte.
Er war stark genug, um auch den Kaiser zu mahnen. Er war bereit, sein Heer für Gottes Evangelium zu geben.
Während der weiteren Feiern dieses Tages meinte mancher, der Vater des Hochzeitspaares wäre etwas berauscht, weil er zum Abschluß der Revue schon alle Generale und Obersten bewirtete. Aber es war nur das Unstete, Drängende, das immer über ihn kam, wenn er der Stunde entrückt war und seine Gedanken sehr fern und weit in neuen Wirklichkeiten, größeren denn diesen gegenwärtigen, lebten. Und doch war die Gegenwart zum erstenmal so viel milder geworden.
Doch außer der Frau Schwiegertochter wollte niemand das Fest so recht mit ihm preisen.
Den nächsten Tag sollten die Gäste mit der Frau Kronprinzessin das gewaltige Gerüst des neuen Turmbaues von Sankt Peter besichtigen, der höher werden sollte als das Straßburger Münster, als alle Türme Europas. Die Frau Tochter verstand nicht, warum man ihr mit spöttischem Lächeln sagte: »Der König von Preußen führt alle seine Gäste in den Küchengarten, auf das Exerzierfeld und in die Kirche.« Es war doch alles so schön vom Herrn Vater bedacht. Und sie lächelte, als könne nur die eine es nachempfinden, Philippine Charlotte zu, die nun bald ihren alten Namen tragen sollte: Prinzeß von Braunschweig-Bevern. Der König aber ruhte aus in diesem kindlichen und bräutlichen Lächeln. Für den Verlust seiner Sanssouci war er aufs reichste in der Frau Tochter entschädigt. Ach, daß nun sein Königsschloß wahrhaft ein Haus der Hochzeiten geworden war und die fürstlichen Bräute zum ersten Male lächelten!
Elisabeth Christine liebt Friedrich!
Und Sanssouci, die immer das lieblichste und leichteste unter seinen Kindern gewesen war, liebte voller Seligkeit den Mann, dem sie angetraut war nach den Ordnungen ›Des Königs von Preußen‹!
»Mir neue Söhne – euch ein neues Vaterland!«
Das Wort des Königs war gesprochen. Er wollte sie aufnehmen in sein Land, und wenn sie zu Tausenden kämen.
Der König hatte sich schon bei allen seinen geistlichen Räten vergewissert, daß die Salzburger nur ja keine Schwärmer wären. Diese Furcht hatte allein noch einen letzten Widerstand in ihm wachgehalten. Er hat wenig Aufhebens davon gemacht, daß die Residenten des Kaisers von überall her an ihren Hof berichteten: »Bei Religionsbeschwerden im Reich sieht man sich überall nach dem König von Preußen um.« Und er hat sich dessen nicht gerühmt, daß die Frommen im Gebirge von dem König im Sande und seinem Glauben wußten. Sie hatten ja seinen Beistand erfleht. Er fragte nicht, warum. Er fühlte sich von Gott gemahnt. Er hatte ein Land ohne Volk: sein Ostland. Und dort war ein Volk ohne Heimat: die Salzburger. Da bedurfte es nicht mehr des letzten, glühenden und harten Wortes des Erzbischofs von Salzburg, des Greises, dessen Leben ganz in Haß erlosch: »Es tut nichts, daß es zwanzigtausend Ketzer sind. Ich will alle Ketzer aus dem Lande haben, und sollten künftig Dornen und Disteln darin wachsen.«
Der König von Preußen ließ dem greisen Erzbischof, der mit dem Krummstab über Dornen und Disteln schreiten wollte statt über blühende Wiesen, Mitteilung machen, daß er die verjagten und verfolgten Ketzer von dieser Stunde an als preußische Untertanen anzusehen habe. Er werde dieselben sonst mit den in seiner Hand liegenden Mitteln schad- und klaglos zu halten wissen.
Die Räte des Königs äußerten Bedenken. Es müßten doch erst Erfahrungen gesammelt werden mit einem kleinen Emigrantenzug, ehe man für das Land derart schwerwiegende Verpflichtungen einzugehen wage; denn ein solches Kolonisationswerk, wie der König es nun beginne, sei ohne ein Vorbild. Ferner sei auch der Ausgang der Prozesse, die der König um das Eigentum der Salzburger gegen den Erzbischof angestrengt habe, gänzlich ungewiß. Es werde dem König schließlich gar nichts als die Last sehr großer Kosten bleiben, denn die da kämen, brächten ja auch Blinde mit, am Arme geführt, und Krüppel auf Stelzen und Krücken; und Schwachsinnige, die man nicht zurücklassen konnte; auch Sieche und Kranke.
Aber der König sah das Geld nicht mehr an. Er sah nur noch die Menschen: die blühenden und die welkenden und ihren Glauben. Alles war von ihm bedacht: sehr weit zurück und sehr weit voraus und darum den anderen, die nur auf den Augenblick sahen, verborgen. Für die in eisigen Zahlen erhärteten Warnungen und Vorhaltungen des Rechenmeisters Creutz hatte der König nur die Antwort: »Es geht auf mich los, ich übernehme alles.« Aber zuvor hatte es Stunden gegeben, in denen er in seinem Arbeitszimmer händeringend auf und ab gegangen war.
Es kamen nicht nur die dreitausend, die der König hergerufen hatte: zehntausend kamen, und immer mehr folgten. Im Spätsommer waren siebzehntausend Salzburger auf dem Wege. Ja, die Evangelisten aus der Pfalz und dem Waadtlande, den rheinischen und fränkischen Bistümern, die vor der Bedrückung im Reich nach Holland und Amerika auswandern wollten, strömten nun den Salzburgern und mit ihnen den preußischen Landen zu! Der König von Preußen ließ sie ja alle möglichst nach den Dorfgemeinschaften ihrer Heimat beieinander wohnen, soweit seine alten Untertanen dadurch keinen Schaden hatten! König Friedrich Wilhelm kämpfte um ihre im Papsttum zurückbehaltenen Kinder! Er, der sich nicht die bescheidenste Summe für seine Wohnung gönnte, baute im Überfluß für seine neuen Untertanen: Dörfer, Städte, Kirchen, Armen- und Siechenhäuser; er gab Kühe und Pferde, Saatgut und Pflüge. Geduldig ertrug er alle Unruhe des Anfangs, in der noch keiner das Rechte für sich fand. Er schonte ihre fromme Furcht vor allem irdischen Eide und war ihr treuer Herrscher, ohne daß sie ihm geschworen hatten. Doch hatte er befohlen, gegen etwaige Überheblichkeit der Salzburger ob des großen Wunders zu predigen – und wollte doch damit nur sich selbst zur Demut mahnen!
Auf der schönen Prachtallee Unter den Linden waren frischgezimmerte Tafeln und Bänke aufgestellt. Die Grenadiere Seiner Majestät standen im Gewehr. Der König, die Prinzen und Prinzessinnen im Halbkreis um sich, trat an den vordersten Tisch, dem Brandenburger Tore zugekehrt. Die erste Schar der Emigranten war vor der Stadt. Singend zogen sie dem König von Preußen entgegen. Friedlich, reinlich und geordnet schritten die Flüchtlinge durchs Tor: in Westen mit Silberknöpfen, die Hüte mit einem bunten Bande umwunden, die Männer; das Haar in vollen Kränzen geflochten und die bunten Mieder reich verschnürt, die Frauen. Ehrfürchtig grüßten sie den neuen Herrn. Aber ihr frommes Lied brach nicht ab.
Des Königs Herz war weit und heiß geworden. Nicht Flüchtlinge – die Bauerngeschlechter seiner Bilder zogen ihm hier ein! Diese hier würden die arme, verlassene Erde seines Ostlandes zu hegen wissen! Er würde ihnen beistehen auf jede nur erdenkliche Weise, und dafür würden sie dann einst seine Helfer sein! Unter diesen Händen mochten wohl Felder erstehen, Gärten erblühen, Dörfer sich gründen. Er sah vollendet vor sich, was heute noch keiner zu ahnen vermochte. Solche Heerschau eines heiligen Volkes, stiller Bauern von den Höhen, ward noch nicht gesehen. Die Verwirrungen durch so gewaltige, gar nicht mehr berechenbare Einwandererströme beseligten jenen König, der einst nur die Ordnung, das Maß und die Berechnung hatte gelten lassen. Denn zum erstenmal und alles verwandelnd, kamen Wirrnis und Mühsal von der Fülle der Menschen her: zur Rettung des Ostlandes! Gott nahm die Bedrängten auf in seinem Lande! Gott gab seiner armen Erde Hände, sie von dem Fluch der Unfruchtbarkeit zu erlösen! Gott handelte an beiden in einem: an den Beschützten und dem Beschützer, an den Menschen ohne Land und dem König ohne Volk! Er war der Dankende: er, der Spender und Hüter! Im ödesten seiner Länder, in dem er jede Furche recht bestellten Ackerlandes mit schwerem Golde erkaufen und mit harter Strafe erzwingen mußte, drängte sich nun die höchste Fülle aller Menschen, die er je in einer Zone seiner Herrschaft zählte: Tausende und aber Tausende von kundigen Pflügern, Schnittern, Brotbäckerinnen, Gärtnern und Hirtinnen!
»Gott Lob, was tut Gott dem Hause Brandenburg für Gnade«, rief der Herr, »denn dies kommt gewiß von Gott her!« Und strahlend trat der König des Sandes vor die Bauern der Gebirge hin: »Seid getrost, ihr sollt es gut haben, Kinder – ihr sollt es gut bei mir haben!«
Er ging die Reihen entlang. Die hochgeachteten Vorleser trugen beim Einzug, wie auf der ganzen Wanderschaft, die Bibel voran, die den Gebirglern zum Schicksal geworden war. Der König fragte die Vorleser, die eigentlichen Führer des frommen Hirtenvolkes, das Glaubensbekenntnis ab, so wie er es seine älteste Tochter am Abend ihrer Hochzeit hatte sagen lassen. Er sprach mit Hunderten. Der lichte Schein der frommen Freundlichkeit ging über das Antlitz des Königs. Auf den Straßen seiner Stadt redeten Kinder in Heilandsworten und in Psalmen!
Alle Großen der Stadt weilten staunend mitten unter all dem eigenen und fremden Volk. Die Frau Kronprinzessin ging unter den Salzburger Bäuerinnen einher, als wäre sie eine der Ihren. Selbst die Frau Königin trat neuer Emigrantenzüge wegen an das Gartentor von Monbijou und ließ die müden Pilger zu sich kommen in ihr Schloß von Gold und Porzellan. Sie rief sie an bukolisch geschmückte Tische und ließ die Staunenden und Dankenden malen, recht getreu in ihren frommen Gesten und den blanken, bunten Trachten. Aber sie tat es als Schwester des Herrschers auf dem bedeutendsten protestantischen Thron. Sie tat es nicht als Frau des frömmsten Königs.
Es geschah sogar, daß die Salzburger der Königin Bilder nach Monbijou brachten, bunte, fromme Glasmalereien, wie ihre Väter im Papsttum sie von den lieben Heiligen voller Einfalt malten. In solcher Weise war nun der König von Preußen als ihr lieber Heiliger und Patron auf ihren Bildern – wie sie ihn nun auch den »Vater« nannten –, und die Königin belächelte die Kuriosität.
Zum erstenmal, seit er König war, hatte Friedrich Wilhelm I. die Stadt, das Land, das Reich und die Nachbarstaaten zu gewaltiger Begeisterung hingerissen. Überall in seinem Lande läuteten die Glocken, schmückten duftende Tannengirlanden die Tore und Straßen, luden auf den Marktplätzen reich gedeckte Tische ein, lag Wäsche säuberlich auf Schemeln gebündelt und sangen die Knaben und Mädchen all der neuen Schulen des Königs. Und die Kinder verteilten Bibeln unter die Bauern, und diese Gabe war den Salzburgern nach allen Leiden um der Bibel willen so groß, daß sie den Kindern beide Hände küßten. Des strengen Königs Untertanen, gerufen oder ungerufen, halfen dem Herrn! Sie holten die Gebirgler aus den Herbergen, Gasthöfen, Zelten und Notbaracken und brachten sie in ihre eigenen Häuser. Kaufleute und Handwerker gaben die Waren und den Hausrat unentgeltlich. Gilden, Zünfte und Innungen schenkten das lange und bitter entbehrte Abendmahlsgerät von gutem Zinn oder einfachem Silber und stifteten den neuen »Stillen im Lande« Taufbecken, Leichentücher und Trauermäntel, denn manche kamen, um im neuen Lande an den Leiden der Vergangenheit zu sterben. –
Spät abends noch, wenn die Scharen der bäuerlichen Pilger nicht enden wollten, standen die Bürger in den Haustüren, Kerzen in den Händen, den frommen Wanderern in ihre Häuser zu leuchten. Dann, wenn die Türen sich hinter den Geborgenen und ihren Herbergsleuten geschlossen hatten und wenn erste Rast und erstes Mahl gehalten war, drang aus den Häusern ihr Singen und Beten zum König, der in der Stadt Berlin allabendlich jetzt noch eine späte Umfahrt hielt. Er fuhr durch Arsenale der friedlichen Eroberung und durch Heerlager der Landbebauer. Die Wagen, auf denen sich unter Planen die Bündel der Salzburger Leute häuften, standen des Nachts im Kreise aufgefahren und wie Ringburgen geschlossen auf den Märkten und Kirchplätzen, und die jungen Männer in den Städten des Königs stellten überall aus freiem Antrieb die Wachen für die Nacht: in den Königsstädten Potsdam und Berlin wie in dem trotzigen Adelssitz Magdeburg, am Stettiner Hafen wie unter den Ordensburgen des Ostlandes!
Ergriffen nahm der König wahr, daß ein Schimmer neuer Frömmigkeit über seinem Lande ausgebreitet lag. Litauen hieß im Volk »das neue Kanaan«! Preußen, das Land, das seinem Reich den Namen gab, war zu biblischer Erde geworden! Gottes Volk und die erste Christenheit zogen durch das Land des Preußenkönigs, und das Geläut der Glocken wollte nicht verstummen.
Die Kirchen aber am Wege der Pilgerschaft reichten nun nicht mehr aus. Denn die jungen Alpenbauern und die Schnitterinnen von den Almen, vom König von Preußen mit Ackerland und sauberen Häusern und festen Scheunen beschenkt, drängten, ihr neues Leben beginnend, zum Altar. Und König Friedrich Wilhelm, beseligt wie noch niemals, sah die Tausende zu neuen Geschlechtern anwachsen. Oft geschah es schon auf ihrer Wanderung durch seine Königsstädte, daß sie zu Zehn und Zwanzig und bis zum halben Hundert junger Brautpaare um die gemeinsame Trauung in den neuen Kirchen König Friedrich Wilhelms baten. Dann liefen die Ärmsten aus der Stadt, die zu dem großen Feste sonst gar nichts zu geben vermochten, mit Blumensträußen herbei und schmückten die Bräute.
Auch die Hochzeitsfeiern der Salzburger Pilger waren ernst und fromm. Der Brautzug nahm vom nächsten Pfarrhause aus seinen Ausgang. Die Braut ritt zu Pferde, und wenn es möglich war, auf einem Schimmel; der war mit vielen farbigen Bändern geschmückt. Neben ihr ritten die Brautjungfern, den Kopf mit Bänderkronen aufgeputzt. Die Männer begleiteten den Bräutigam zu Fuße. Beide Scharen beteten, die eine mit der Braut, die andere mit dem Bräutigam, vor dem Aufbruch auf den Knien liegend. Auch beim Hochzeitsmahl saßen Männer und Frauen an getrennten Tischen. Hernach, gleich nach den Hochzeitern, wurden die Knechte und Mägde und darauf die Kinder und Armen bewirtet. Tanz gab es nicht, und Musikanten spielten nicht auf. Es war so ernst, als weile Gottes Sohn als Gast in ihrer Mitte, noch einmal das Wunder an Wasser und Wein im Lande des Königs von Preußen zu wirken wie bei der Hochzeit zu Kana.
Die Zwanzigtausend waren schon überschritten. Aber noch immer kamen die Freier und Bräute zu Hunderten. Der König begegnete dem neuen Zug auf eiliger Fahrt zu den Potsdamer Bauten nicht weit vom Dorfkrug in Zehlendorf. Es geschah an jenem Tage, an dem er erfahren hatte, daß seine drei Töchter schwanger waren, alle in dem einen Jahr: die von Ansbach, die von Baireuth und die von Braunschweig. Nun hatte er seine Töchter zum Segen als ungekrönte Königinnen ins Reich und in die verfallenden Markgrafschaften seines Hauses entsandt! Sein Herz erbebte von der Fülle der Menschen, die Gott ihm dafür im Lande und im Hause gab.
Er ließ den Wagen halten. Nahe an dem Schlag der königlichen Kalesche führte ein Greis, weiße Locken unterm runden Bauernhut, sein Rößlein am Zügel vorüber. Zu beiden Seiten des kleinen, starken Schimmels hingen kunstvoll geflochtene Wiegen an Hanfseilen herab. Zwei Säuglinge schlummerten darin, und auf dem Rücken des geduldigen Tieres ritt ein braungelockter, kleiner Bursche mit dunklen, blitzenden Augen, ein sicherer Reiter, kaum fünf Jahre alt.
König Friedrich Wilhelm erhob sich im Wagen. Grüßend streckte er die Arme aus. Er bat, sie möchten alle miteinander singen. Die Salzburger Bauern scharten sich um ihn. Ob sie das Lied wohl kennten, fragte der König, »Auf meinen lieben Gott trau ich in Angst und Not –«?
Die aus den hohen Bergen kannten jene Lieder nicht, wie der König des Sumpfes und des Sandes sie sang. Da stimmte der König an und sang ihnen vor. Er stand inmitten des Hirtenvolkes, erhöht durch die Kalesche, von den farbensatten Bäumen des vollen Herbstes überschattet und den wolkenlosen Himmel über sich. Sanft trug der Wind den Hauch und Duft der Reife durchs Land, den herben Geruch der Äpfel, Birnen, Pflaumen, des Hopfens und der grünen Nüsse.
Der König sang in die Ewigkeit, und einen Augenblick war er, vor allem Volk singend, doch allein vor Gott mit seinem Königsliede:
»Auf meinen lieben Gott
trau ich in Angst und Not.
Der kann mich allezeit retten
aus Trübsal, Angst und Nöten,
mein Unglück kann er wenden,
steht all's in seinen Händen.«
Aber größer und stärker als der Choral brach in dem Herzen des singenden Königs Prophetenwort und Psalm hervor:
»Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir. Solche Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch; ich kann sie nicht begreifen.
Du suchst das Land heim und machst es sehr reich. Du hast mich zum König gemacht über ein Volk, das so viel ist als Staub auf Erden. So gib mir nun Weisheit und Erkenntnis, daß ich vor diesem Volke aus und ein gehe, denn wer kann dieses dein großes Volk richten?
Fürchte dich nicht, liebes Land, sondern sei fröhlich und getrost; denn der Herr kann große Dinge tun. Er hat die Hungrigen dahingesetzt, daß sie Äcker besäen und Weinberge pflanzen möchten und die jährlichen Früchte gewönnen.
Fürchtet euch nicht, ihr Tiere auf dem Felde; denn die Auen in der Wüste sollen grünen und die Bäume ihre Früchte bringen. Die Anger sind voll Schafen und die Auen stehen dick mit Korn, daß man jauchzet und singet.
Er will auf dem Gefilde geben Tannen, Buchen und Buchsbaum miteinander, auf daß man sehe und erkenne und merke und verstehe zumal, daß des Herrn Hand habe solches getan. Und er will euch die Jahre erstatten, welche die Heuschrecken, Käfer, Geschmeiß und Raupen, sein großes Heer, so er unter euch schickte, gefressen haben.
Denn Gott spricht: ›Ich habe bei mir selbst geschworen: Dieweil du solches getan hast und hast deines eigenen Sohnes nicht verschont, will ich deinen Samen segnen und mehren wie die Sterne am Himmel und wie der Sand am Ufer des Meeres‹.«
Der Abend war mit den großen Sternen des Herbstes über den Seen, Wäldern und Dörfern heraufgekommen, und die Gedanken des Königs, als er weiterfuhr, gingen ins Unermeßliche des Himmels und der Erde.