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Bracke machte sich mit Eifer an die Arbeit.
Sein Geist beschwingte sich an ihr, und seine Muskeln dehnten sich bei der guten Klosterkost von neuem mächtig.
Er schrieb fein mit spitzem Pinsel und schwarzer Tusche zuerst das Evangelium Matthäi, danach Markus, Lukas, Sankt Johannes und so fort, überwand auch noch die Acta Apostulorum – aber als er, nach einigen Monaten, an die Apostelbriefe kam (es war inzwischen Frühling geworden), wurde er unruhig, die Arbeit stockte und schlich nur mühsam und langsam wie ein träger Bach weiter. Durch das Gitterfenster seiner Zelle flog sein Blick oft mit den Vögeln ins klare Blau.
Eines Tages nun, als er gerade das P des Apostels Paulus zierlich zu malen im Begriffe stand, sein Auge aber einen Moment vom Pergament hinaus durch das Gitter abirrte, schrak er zusammen, denn er hatte Nadya, das schönste Mädchen der Stadt, einer Wendin und eines Schiffers Tochter, draußen in der Morgensonne über die Wiese gehen sehen – um deretwillen sich die Schiffer und Landsknechte mit ihren Messern Flüche in die Rippen stießen – und dennoch keiner von ihnen sich auch nur der leisesten Gunst Nadyas rühmen durfte.
Bracke stand vom Schemel auf und begann ruhelos die enge, dumpfe Zelle zu durchwandern.
Seufzend ging er wieder an seine Arbeit. Aber wie er den Apostel Paulus als Initiale recht schön in Rot, Blau und Gold vollendet hatte: lächelte ihm aus der blauen Hütte des Heiligen Nadyas goldenes Gesicht entgegen.
Bracke betete die Nacht durch – aber die Nacht war sinnlich wie Frühlingsnächte zuweilen sind, in denen schon der Sommer zittert. Mit Gewalt drängte sich die Erinnerung an Nadya auf, an ihren Gang, an ihr Gesicht, an ihre Hände. Er kämpfte ... eine Woche ... vierzehn Tage ... um Grieta ... um die Kurfürstin ... und jeden Tag in diesen vierzehn Tagen ging Nadya an dem Kloster vorbei. Und ihre braunen Augen kletterten wie Eidechsen an der KIostermauer hoch ...
Um ihr zu entgehen, ließ er sich vom Prior auf eine predigtreife in die Dörfer schicken. Müde und zerschlagen kehrte er eines Abends zurück.
Er ging zwischen Weidenbüschen, durch die Oderwiesen, nahe schon der Stadt.
Der Mond stand hinter Wolken.
Plötzlich ... er zuckte zusammen ... wuchs vor ihm aus dem feuchten Wiesennebel die Vision einer Frau. Er wollte fliehen.
Sie hielt ihn gepackt.
Er wollte das Kreuz machen.
Sie verhinderte es.
Da ließ er sich willenlos in ihre Arme gleiten.
Als sie ihr Gesicht erhob – ihn dünkte, es wären inzwischen Jahre vergangen –, sah sie ihm lange in die Augen, lächelte und nickte mit dem Kopf. Bracke wagte sich eines Nachts in den Garten am Hause Nadyas.
Sie standen in zärtlicher Umschlingung unter einer Linde – als plötzlich der Mond, und mit ihm, aus dem Hause, ein Haufen schreiender und gestikulierender Leute hervorbrach.
Denn die Eltern Nadyas hatten Verdacht geschöpft. Mit Stangen und Keulen wollten sie auf den geistlichen Liebhaber eindringen, dem die Zunge im Gaumen gefror.
Da trat Nadya vor und rief (wie denn die Frauen, wenn sie einmal geistesgegenwärtig sind, es mit sehr viel Geist sind):
»Fallet nieder und betet, denn seht, die heilige Hedwig ist mir erschienen.«
Da nun fielen sie alle auf die Knie: denn die Kutte des Franziskaners malte sich in der grauen Dämmerung wie ein Frauenkleid ab.
Er aber hob die Arme und segnete sie.
Und öfter noch und unbehelligter ist die heilige Hedwig dem schönen Fischerkinde Nadya erschienen.
»Gut,« sprach der Abt, als die Apostelgeschichte abgeschrieben war, »ich setze euch nunmehr als Pförtner ein. Hier habt Ihr den Schlüssel, Ersuche euch aber auf das strengste, nur einzulassen die frommen Brüder – und keine Landstörtzer oder Vagabunden.«
Dies sagte Bracke ihm gewissenhaft zu und setzte sich in die Pförtnerloge.
Als aber der Abt früh zur Messe schreiten wollte, hörte er ein jämmerliches Gestöhn, ging dem Geräusch nach und sah seine Mönche, siebzehn an der Zahl, vom Abendspaziergang her vor der Klostertüre ausgesperrt auf der Wiese hocken.
Bracke aber schlief fest in seiner Pförtnerloge einen guten Schlaf.
Da zerrte ihn der Abt aus dem Schlafe hoch und schrie:
»Bübischer – du hast mir meine Mönche ausgesperrt – ist das die Probe aufs Exempel deiner Befähigung zum Pförtner?«
»Herr,« Bracke rieb sich den Schlaf aus den Augen, »Ihr befahlt mir, nur die wahrhaft frommen Brüder und keine Landstörtzer einzulassen. Eure Mönche, welche huren, saufen und lästern wie der Teufel in der Hölle, sind schlimmer als die Vagabunden und Landstreicher, die kein Gelübde der Keuschheit und Mäßigkeit abgelegt. Wäre einer unter Euren Mönchen, der seine Tonsur mit Recht und Gerechtigkeit trüge – ich hätte ihn eingelassen...«
Da öffnete der Abt die Pforte, ließ die Mönche herein und jagte Bracke hinaus in den Morgen, über dem eben, strahlend rot wie ein Pfirsich, die Sonne aufging.
Bracke ging an die Oder und bedachte Anfang und Ende, da sah er ein kleines Mädchen, das Wasser aus der Oder in einen leeren Blumentopf füllte, der unten an seinem Boden ein Loch hatte, durch den das Wasser immer wieder abfloß.
Aber unermüdlich schöpfte das Kind.
»Was tust du da?« fragte Bracke.
Das Kind antwortete: »Ich schöpfe die Oder in diesen Topf...«
Da besann sich Bracke, daß er sei wie dieses Kind und keinen Deut klüger: daß er, so sehr er sich auch bemühe, den Strom der Ewigkeit zu erfassen, es ihm nicht gelingen werde, mehr davon in seine Schale zu füllen als dieses kleine spielerische Mädchen aus der Oder in seinen Blumentopf.
»Wenn es mir nur gelingt, die Richtung des Stromes zu begreifen, so will ich schon zufrieden sein« – und sah, wie die Oder abwärts floß von Crossen nach Frankfurt, von Frankfurt nach Lebus, von Lebus nach Stettin – und bis ins Meer.
Als Bracke am Ufer der Oder wandelte, fiel ihm sein Buch, in dem er seine Gedanken und Träume zu verzeichnen pflegte, in den Strom. Da ihm das Buch lieb war wie sein eigenes Kind, sprang er, obwohl des Schwimmens kaum kundig, dem Buch nach, bekam es auch zu fassen, sank aber selbst unter und wäre elend ertrunken, wenn nicht ein Schiffer in der Nähe gewesen, der ihn ans Hand gezogen. Als er nun im Hause des Schiffers lag und aus der Ohnmacht erwachte, war sein erstes Wort: »Wo ist mein Buch?« Und der Schiffer gab ihm das Buch. Da frohlockte Bracke. Als er es aber aufschlug, da waren es leere, weiße Seiten, die ihm entgegenleuchteten. Das Wasser hatte alle seine Gedanken und Träume weggewaschen und war kein Wort mehr enthalten als nur die Überschrift des Buches: Mein Leben. – Da erschrak Bracke: Wie war ich hochmütig und glaubte, mich in das Buch der Ewigkeit eingeschrieben zu haben, und nun finde ich darin nicht einen Satz, nicht ein Wort, das wert gewesen wäre, bewahrt zu bleiben! Und nahm das Buch und schenkte es dem Kinde des Schiffers, das gerade in die Schule gekommen war, für seine ersten Schreibübungen.
Im Ratsteller zu Crossen machte Bracke sein Testament.
Er sandte, wie der reiche Mann im Evangelium (ob er gleich keinen Heller zu vergeben hatte), den Knecht vom Ratskellerwirt auf die Straße und ließ verkünden: alle fahrenden Bettler und Vagabunden und Straßenläufer möchten zu ihm in den Ratsteller kommen, Er habe sie in seinem Testament zu beschenken und zu bedenken.
Und er berief einen Advokaten und setzte ihn mit Tintenbüchse, Federkiel, Streusand, Pergament und Siegel neben sich.
Und als die Vagabunden und Vaganten erschienen – es waren ihrer etwa ein halbes Dutzend, die der Ratskellerknecht aufgetrieben hatte –, da ließ er sich von jedem den Namen sagen und vererbte einem jeden, indem er dem Advokaten diktierte, eine Gegend des märkischen Landes zur Streife.
Da vererbte er dem rothaarigen Hannes die Perleberger Gegend, dem Spenglerjochen das Prenzlauer Land, dem frommen Adolf das Bistum Lebus, dem hageren Türkenmüller den Kreis Crossen und die Niederlausitz, der Pickelmale als Frau seine Geburtsstadt Trebbin.
Und es geschah, daß jeder dieser Leute sein Testament wie einen heiligen Willen aufnahm und buchstäblich befolgte – und daß jeder wie durch Gottes Wunder in der ihm zugewiesenen Gegend reichlich stets zu leben und nie mehr zu hungern hatte. Weshalb jeder der Vagabunden, die sich später sämtlich recht und schlecht mit Mägden oder Bauernmädchen verheirateten, seinen Erstgeborenen Bracke nannte.
Der hagere Türkenmüller aber, der es in Crossen durch Weinhandel zu etwas brachte, ließ in einem seiner Weinberge eine Kapelle erbauen, in die er eine nachgeahmte Statue des Bracke stellte und an dessen Geburts- und Todestage Lichter davor entzündete wie vor einem Heiligen. Bracke wanderte nach Schlesien und ins Gebirge hinein. Ohne andere Kleider, als die er auf dem Leibe trug: ein schmutziges Hemd, eine braune, zerrissene Joppe, eine blaue Soldatenhose dritter Garnitur, die in Hirschberg in der Herberge ein Soldat im Spiel an ihn verloren hatte.
Ruine Hermsdorf fiel bröckelnd aus dem Horizont.
Es dämmerte.
Als es dunkel wurde, sah Bracke auf der Ringmauer der Burg einen feurigen Reiter galoppieren.
Er wanderte in den Wald.
Warmbrunn lag plötzlich vor seinen Schritten. Hinter den geschlossenen Läden des Kurhauses klang Gelächter und Gläserklirren.
Ein Fenster im zweiten Stock öffnet sich.
Licht fiel über die Straße. Eine dunkle Gestalt lachte in die Nacht.
Bracke schlief im Wald unter einer Tanne ein.
Ihm träumte, die Tanne wäre ein Kirchturm und läutete. Das Geläut ihrer Glocken dünkte ihn süß und unerhört, plötzlich schwoll der Glockenklang zu rollenden Tönen an, die ihn wie mit Hämmern auf die Stirn schlugen.
Er wachte auf.
Regen wusch sein Gesicht.
Donner grollte im fahlgrünen Frühlicht.
Er erhob sich. Kaum war er zehn Schritte von der Tanne entfernt, die seinen Schlaf behütet hatte, als ein Blitz zischend in ihren Stamm fuhr und sie silberweiß zersplitterte.
Das Tal stieg leise an.
Der Regen stach seine Haut.
Dorf Krummhübel ließ er links liegen. Er klomm seitwärts durch den Wald nach Brückenberg empor.
Der Wald rauschte wie das Meer.
Gießbäche sprangen zwischen feine Füße. In seinen alten Schaftstiefeln floß das Wasser oben hinein und unten an den Sohlen wieder hinaus. Eine Herde Farnhalme erregte seine Verwunderung. Er blieb stehen und betrachtete den zarten grünen Gliederbau der Pflanzen. Ihre sternhaften Arme. Ihre mädchenhafte Schlankheit.
Auf einer winzigen Waldwiese blühte Enzian.
Der Himmel ist zersprungen, dachte er. Das sind einige Scherben. Die Enzianblüten sind Scherben vom Himmel, wie wir Menschen Splitter von einem fremden zersprungenen Stern sind. Die Erde ist nicht unsere Heimat, wir wandern fremd auf ihr, immer die Heimat mit entbrannten Sinnen suchend. Die Erde ist ein toter Stern. Sie ist kalt. Ich bin heiß. Ein Stück flammender Meteor. Ich friere in dieser jammervollen Nässe. Meine Füße kennen nur Sumpf. Meine Hände sind zerrissen vor Kälte. Blut tropft auf den Boden. Meine Augen sind mit grauen wollen statt mit Sonne gefüllt. Mich hungert.
Wie weidende Kühe lagen die paar Häuser Brückenbergs vor ihm. Er sah, wie die Bauern behäbig den Tag begannen. Sie schlurften und schlürften hinter den Fenstern, ausgeschlafen und trotz des öden Tages heiterer Dinge, ihre dampfende Morgensuppe.
Oben am Tisch saß der Bauer, dann folgte die Bäuerin, der Großknecht, der zweite Knecht, die Großmagd und die andern Knechte, Mägde und Kinder. Sie saßen in der Ordnung, die ein unverrückbares, Jahrtausende altes Gesetz ihnen eingeprägt. Sie lebten ihr Leben nach ewigen Regeln: dumpf, treu und zufrieden.
Bracke pochte an das Haus.
Die Bäuerin öffnete ihm, und er bat mit höflicher Stimme um ein wenig warme Morgensuppe.
Die Kleider zerflossen ihm am Leib.
Er schien wie ein Meergott dem Meer entstiegen.
Tang troff aus seinen Haaren. Seine Augen glänzten wie Korallen.
Die Bäuerin schüttelte den Kopf und schob ihn in die Stube.
Da saß er nun ganz unten am Tisch, noch weit hinter dem letzten Hütejungen und Stallknecht, und verzehrte mit Anstand und Ruhe Suppe und Brot, das die Bäuerin ihm mit eigener Hand vorgelegt hatte.
Er war es zufrieden, der menschlichen Gesellschaft als letzter eingeordnet zu sein und wußte von keinem Wunsch und keinem Ziel.
Niemand sprach ein Wort, und also schien es ihm schön und natürlich.
Als der Bauer mit einem kurzen Gebet die Runde auflöste, sagte Bracke mit klarer Stimme Amen und brachte der Bäuerin in geziemenden Worten seinen Dank.
Die Mägde äugten verstohlen und diebisch nach dem verwilderten Wanderer.
Ob er das Frühstück mit Arbeit entlohnen wolle? fragte die Bäuerin. Ein Dienst sei des andern wert.
Bracke nickte willig den Kopf.
Ein Knecht führte ihn in den Holzverschlag, und er spaltete bis zum Mittag ernst und ordentlich viele Scheite Holz. Die Arbeit wärmte ihn, und die Kleider trockneten ihm am Leib. Zu Mittag saß er wiederum in der bäuerlichen Runde und verzehrte mit dankbarer Andacht die dicke Fleischsuppe.
Danach erbat er seine Freiheit zurück, die ihm gewährt wurde, und machte sich nach einer chevaleresken Verbeugung vor der Bäuerin und einem Handdruck an den Bauern wieder auf seinen Weg.
Die Mägde sahen ihm mit offenen Mündern nach.
Das Wetter hatte sich ein wenig aufgehellt: noch fielen vereinzelt große Regentropfen.
Über den Kamm rasten pfeifend die weißen Sturmwolken.
Um die Koppe jagten wilde Windpferde.
Ein Stück blauer Himmel flatterte wie eine Fahne über der Sturmhaube.
Bracke schritt den Ziegenpfad zum Gebirgstamm empor.
Er durchschritt die Zackenklamm.
Links und rechts standen Felsen, abweisend und steinern wie Menschen, innerlichst bereit, ihn zu zerschmettern und nur durch das Schicksal ihres steinernen Seins gehalten.
Der Zackenfall rauschte: Hohn, Schimpf und Gelächter sprach aus seiner Stimme. Wie kleine Steine warf er haßerfüllt Tropfen auf Tropfen bis an Brackes Stirn.
Er kletterte am Zackenfall rechts empor und gewann wieder den Wald.
Er war kaum einige Schritte gegangen, als er vor sich einen großen stämmigen Mann den Pfad erklimmen sah.
Er trat neben ihn und blickte ihm ins Gesicht.
Der andere blieb stehen, und sie betrachteten sich schweigend. Er zeigte Gewand und Manieren eines Holzhauers, ein Beil hing über seine linke Schulter. Ein braunroter Vollbart umrahmte sein schönes, wildes Gesicht. Seine großen blauen Augen musterten Bracke.
»Was wollt Ihr,« fragte der andere, »habt Ihr mich gesucht?«
»Ich habe Euch nicht gesucht, denn ich kenne Euch nicht,« sagte Bracke, »auch will ich nichts, weder von Euch noch von jemand anderem. Ich will nur mich selbst, und mich dünkt, dies sei schon zuviel, da ich nur darum in dies Gewitter und in dieses Gebirge gekommen.«
»Ich glaube, wir haben denselben Weg«, sagte der andere. Seine Stimme klang wie die Glocke des Kirchturms gestern Nacht in Brackes Traum. »Ich will in die Höhe.«
Sie schritten nebeneinander.
Bracke hörte einen Vogelschrei über sich in den Lüften, und er sah, daß eine Eule den Schritt des andern hoch zu seinen Häupten begleitete.
Der Wald wich und schrumpfte in sich zusammen, verkrüppelte Kiefern waren seine letzten Verkünder und Herolde. Dann hörten auch sie auf, im Winde zu tönen, und Knieholz wucherte wie riesiges Moos über den Felsen.
Sie hatten den Kamm erreicht.
Die alte schlesische Baude lag wie ein Klotz feuchtes und faules Holz im Nebel.
Sie wandten sich der Koppe, der Spitze des Gebirges, zu. Steine wuchsen nur noch unter ihren Sohlen.
Pferden, Ochsen und Löwen gleichend, kamen Felsen auf sie zu und drohten ihnen den Weg zu sperren oder sie mit steinernen Mäulern zu verschlingen.
Wolken wehten wie riesige Vögel mit feuchten Schwingen um ihre Stirnen.
Abgründe und Schluchten öffneten sich.
Der Sturm blies, daß sie zuweilen vor ihm wie vor einer Wand standen.
Der Holzhauer, des Weges kundig, schritt voran.
Er schritt vor Bracke wie ein großer, starker Bruder, in dessen Hut und Führung man sich wohlbefindet.
Seine Füße stampften, seine Augen funkelten, sein roter Bart knisterte, und oben, zuweilen über Wolken, zuweilen im Sturme selbst, schrie die Eule.
Eine Wolke schob sich plötzlich zwischen Bracke und den andern.
Er sah ihn nicht mehr.
Er rief.
Aber der Wind verschlang seine Stimme.
Er tastete durch den Nebel.
Wenige Schritte vor ihm gähnte ein dunkler Abgrund.
Bracke wartete, ob die Wolke verwehe.
Es mochte eine Minute vergangen sein, da zerriß sie donnernd wie ein eiserner Vorhang.
Blau, kühl und klar wölbte sich der Himmel.
Im Abendsonnenstrahl wiegte sich ein goldener Bussard.
Das Tal lag leise und bis in fernste Winkel deutlich zu seinen Füßen.
Aber vor ihm – Geröll hatte plötzlich den Abgrund überschüttet – stand auf der Spitze des Berges, die große Sturmhaube genannt, der andere: riesig und schwarz im hellen Horizont.
Sein Auge schien das Tal zu umfassen wie seinen Besitz. Auf seiner Schulter saß die Eule. Herrisch schwang er das Beil gegen die Tiefe. Aus seinen Augen sprang die Sonne. Seine Stirn war das Abendrot.
Er hatte die Höhe erreicht. Bracke eilte, sich mit seinem Gefährten zu vereinigen.
Er sprang das Moränenfeld empor, achtete nicht des immer neuen Sturzes, der ihm die Knie zerschlug und die Hände blutig zerriß.
Sein Atem pfiff.
Der Rücken schmerzte ihn. Nadelscharfe Stiche fühlte er unter den Schulterblättern. Seine Wangen erhitzten sich im Fieber.
Schwer und unbeweglich stand der andere, in seiner Gebärde versteint.
»Bruder!« rief Bracke und streckte, herangekommen, ihm die Hand entgegen.
Da fühlte er eiskalten Stein zum Gegengruß sich in seine fiebernde Hand schmiegen.
Er erschrak, er sah empor, und er erstarrte.
Ein Felsblock, der Form und Umriß des andern trug, lauschte fühllos seinem liebenden Anruf.
»Rübezahl!« schrie Bracke und sank wehrlos und erschöpft am Felsen nieder. Frühlingsfieber schüttelte Bracke.
In seinen Blicken sproß, neu erlöst, die Blume der Welt.
Sein Atem duftete hyazinthen.
Er griff mit den Händen nach den Wolken.
Seine Füße rannten über die Berge.
Ich will mich mit der Welt versöhnen. Der Menschen Bruder sein. Wie leicht ist es, gut zu sein und Gutes zu tun! Welche Seligkeit, Verzeihung zu erlangen! Welch größere, sie zu gewähren! Ich werde meinen Brüdern dienen im Anschauen der Vollkommenheit und meiner Schwestern frommer Hüter sein.
Grieta ist tot. Die Kurfürstin ist tot. Ich rufe ihre Angesichter vergeblich vom Himmel. Laßt mich eure Geister beschwören und fächelt mir aus den Winden eure Verzeihung zu!
Mein Vater, du bist noch auf der Welt: ehe ich kam, warst du Welt, und wieder bist du es nun, da ich in Friede und Frühling scheiden soll. Du hast mich erzeugt, du hast mich erzogen, was wäre ich ohne dich. Jahrzehnte habe ich dich vergessen, zum letzten Male will ich zu dir wandern, mit den brennenden Füßen und der rauchenden Seele des Heimatlosen: will Heimat sehen in deinem Blick und lieber Vater rufen, vielleicht, daß ich an deiner Brust genese. Ich will ja nichts als auf den Arm genommen werden wie ein krankes Kind und dahinfließen in Tränen wie ein Strom.
Es dämmerte, als Bracke in Striegau eintraf.
Seine Knie zitterten, und er setzte sich müde auf eine Haustreppe.
Eine Katze strich an ihm vorbei.
Läuft mir eine Katze über den Weg? dachte er, betroffen lächelnd. Ist mir das Unglück so nah?
Hunde bellten aus allen Straßen Frage und Antwort.
Eine Fledermaus rauschte unterm Dunkel.
Der Marktbrunnen plätscherte wie Gesang leiser Nymphen.
Die Haustür klirrte, und eine gebückte Gestalt erschien hexenhaft.
»Meine Augen sind halb erblindet,« klang es vertraut, »wer seid Ihr, der Ihr hier an der Treppe sitzt?«
Bracke schoß auf wie eine Pflanze zum Licht. Er hob seine Arme wie Äste. Seine Augen wie Blüten.
»Mutter!« jubelte er erstickt, »ich bin es, dein kranker Sohn!«
Die Gestalt wurde von Krämpfen erschüttert:
»Mein Sohn, hast du uns nicht vergessen, lebst du, lebst du noch?«
»Mutter, ich lebe und lebe nur darum, daß ich noch einmal zu euch komme, euch zu sehen, zu sprechen, zu hören. Denn ihr seid die letzten Menschen dieser Erde, die ich kenne. Ich bin so arm, daß ich keinen Menschen mehr habe. Kein Weib mich mehr liebt. Kein räudiger Hund mich zum Herrn haben möchte. Mutter, wo ist der Vater, daß er mich – endlich wieder – seinen Sohn nenne?«
Die Alte erschrak.
Sie wurde zu Lehm.
Bewegte tonlos die dürren Lippen. Ihre knochigen Hände malten entsetzt entsetzliche Gemälde.
Ihre Ohren schienen nach einem bestimmten Geräusch zu lauschen.
Sie fand ein paar Worte:
»Er haßt dich ... er haßt dich ... wie den Bösen ... ich habe Furcht ...«
Schritte polterten durch das Haus innen.
»Weib!« brüllte eine rauhe Stimme.
»Bracke!« betete die Alte, totenbleich.
Die Tür knarrte, und der Physikus trat in die Nacht.
»Ich suchte dich, Weib, weil ich meine lange Pfeife nicht finde. Ich gab sie gestern der Magd zum Reinigen –«
Er hielt inne.
Vor ihm kniete ein fremder Mensch, die Hände vor dem Gesicht.
»Bracke,« wagte die Alte leise Erinnerung zu wecken, »Bracke, verzeih ihm, es ist dein Sohn!«
Der Greis holte tief Atem. Es schien, als sauge er das ganze Dunkel in sich hinein samt Mond und Sternen. Das Dunkel und die kleine und die große Welt, daß nur er übrigblieb: er allein in seiner wilden Pedanterie.
»Ich habe keinen Sohn mehr,« sagte er rauh, »der einmal mein Sohn war, ist ein Landstreicher und Vagabund geworden, den die Bauern von ihren Höfen jagen. Ist ein Dieb, ein Räuber, ein Mörder ...«
»Vater,« wimmerte Bracke, »alles dieses bin ich, ich gestehe es: bin Vagabund und Landstreicher, ein Räuber und Mörder. Aber, Vater, ich bin Euer Sohn. Werfet nicht den ersten Stein auf mich!«
Der Physikus bückte sich und löste einen Stein, der morsch im Mauerwerk des Hauses hing.
Seine Stirn verzerrte sich. Seine Stimme quoll.
»Schert Euch zum Teufel!« – und hob den Stein und warf nach dem Sohn.
Der Stein traf Bracke, da er auf den Vater zutreten wollte, an die Stirn.
Dünnes Blut sprang und lief über Wimpern und Wangen. Er hörte den Schrei der Mutter. Das Zuschlagen der Tür. Es wurde rot vor seinen Augen, und er entlief schreiend.
Er lief durch die Stadt und warf sich auf einer kleinen Anhöhe hinter der Kirche ins Gras.
Über ihm glänzten ruhig und fern die ewigen Sterne.
Die Wiese bewegte sich im Winde.
Ein Käfer summte.
Unten die Stadt schlief wie ein Bürger nach des Tages vollbrachter Arbeit.
Was habe ich nun diesen Tag und meines Lebens Tag getan? Ich wollte heute eine gute Tat tun und wurde mit Ruten gepeitscht.
Ich bin so müde, ein Mensch zu sein. Ach, ich bin wohl keiner, sondern vom Mars nach hier verschlagen, mit sonderbaren und verwegenen Organen ausgerüstet, die für diese Welt nicht taugen. Ich habe zu große Augen, zu kleine Ohren, zu schlanke Füße, zu zarte Hände. Er richtete sich ein wenig auf, da fühlte er wieder das Blut von der Stirn rinnen.
Ihm wurde blutrot und rot vor den Augen, und eine lange zurückgedämmte Wut brach strahlend wie eine Eiterbeule auf.
Er sprang, tanzend und singend, den Hügel hinab zur Stadt.
In der Schmiede glomm noch Feuer unter der Asche.
Er nahm einen Span vom Boden und entzündete ihn.
Wie eine Fackel trug er ihn vor sich her und lief lautlos und fröhlich durch die verlassenen Gassen: wohl ein dutzendmal machte er halt und hielt die Fackel an ein Strohdach, das tückisch zu knistern begann.
Dann eilte er wieder über den Kirchhof zum Hügel zurück. Er stand eisern in der Nacht und wartete.
Nach kaum einer halben Stunde schossen da und dort Feuergarben wie Raketen in den Himmel. Schreie schwirrten durch die Nacht. Pferde wieherten. Kinder schrien. Männer brüllten. Häuser fielen wie Karten zusammen.
Striegau brannte.
Gepeitscht vom Wahnsinn, verfolgt zu werden, floh Bracke aus Schlesien.
Er wanderte seitwärts durch die Wälder, scheute die Landjäger und wagte sich nur nachts in die Dörfer.
Eines Abends traf er ein kaum fünfzehnjähriges Mädchen auf der Landstraße, das vom Besuche ihrer Schwägerin aus dem Nachbardorf kam.
Sie hatte einen Henkelkorb am Arm hängen, und in dem Henkelkorb lagen allerlei Naturalien und Näschereien, die ihr die Schwägerin für sie und die Eltern eingepackt hatte: Brot und geräucherter Schinken und Zwetschgenmus und Kuchen.
Bracke hatte seit einer Woche nichts gegessen.
Seine Nase schnüffelte wie die eines Jagdhundes, seine Augen brannten räuberisch.
Er trat an das Mädchen und riß ihr den Korb aus der Hand. Dann griff er wie mit Tatzen in den Korb und stopfte sich Brot und Schinken und Kuchen und Mus in den Mund.
Er fraß.
Das Mus hing ihm um seine Lippen und klebte schmutzig an seinen Fingern.
Das Mädchen stand wie gelähmt und sah ihn mit großen Augen an.
Als er gesättigt war, atmete er tief auf und erblickte das hübsche Kind.
Da kam ein anderer Hunger über ihn.
Er hob sie röhrend wie ein Hirsch in die Luft und trug sie in den Wald.
Sie wachten auf, Tannennadeln im Haar. Ihr Herz brannte im Morgenrot.
»Ich will Vater und Mutter verlassen um deinetwillen, wie es in der Bibel steht«, sagte das kleine Mädchen.
Bracke strich ihr über die Stirn.
»Du darfst nicht bei mir bleiben. Ich habe den bösen Blick.«
Das Mädchen lächelte. Glücklich. Sie berührte seine Hand zart mit den Lippen:
»Du hast einen guten Blick.«
Bracke sah ins Morgenrot.
»Sieh, Mädchen, das ist deine Zukunft, die da vor dir flammt. Und das,« er deutete in den Wald zurück, der schwarz und dunkel hinter ihnen stand, »das ist die meine. Ich habe mich verirrt. Es ist zu spät, den Weg zurückzugehn.«
Sie fragte angstvoll:
»Muß ich dich verlassen? Meine Eltern werden mich schlagen, weil ich die Nacht ausblieb.«
Bracke hielt ihre Hand.
»Du wirst noch manche Nacht ausbleiben. Und sie werden dich in ihrer elterlichen Torheit schlagen. Aber einmal wirst du eine Nacht ausbleiben und nicht wiederkommen. Da werden deine Eltern weinen und zum Himmel flehen. Und wenn sie dich je wieder finden, werden sie erschrecken, denn dann bist du deiner Mutter Kind nicht mehr, sondern eines Kindes Mutter.«
Das Mädchen neigte die Stirn:
»Wenn ich ein Kind von dir bekäme?«
Bracke lächelte schmerzlich:
»Du wirst kein Kind von mir bekommen, denn Gott hat mich zur Unfruchtbarkeit verdammt.«
Das Mädchen schmiegte sich an ihn.
»Bin ich jetzt dein Weib?«
»Du bist es.«
»Dann will ich es bleiben für alle Ewigkeit.«
Sie hob den Kopf.
»Ich bin nur ein unwissendes Bauernkind und darf dir nicht beschwerlich fallen, denn du bist der ewige Wanderer, von dem die Mutter mir im Märchen erzählte. Du bist ein Bruder Gottes und des Teufels.«
Sie stand zwischen den Bäumen, selber ein schlanker, junger Baum.
Sie reichte ihm noch einmal die Hand, die Brust, den Mund, die Augen.
Dann entschritt sie zwischen den Bäumen, plötzlich verwandelt, wie ein edles Reh.
Als sie gegangen war und er mit beiden Händen ins Leere griff, packte ihn eine grauenvolle Angst vor der Vergänglichkeit, er sah an seinem Leibe herunter und sah sich verwesen.
Er wollte den Himmel herunterreißen und schrie:
»Nicht sterben! Nicht sterben! Daß doch ein weniges von mir bestehe! Der Nation ein Denkmal! Daß doch mein Name ein Fanal sei in der menschlichen Dunkelheit! Daß ich nur einer, wenn auch der geringste Stern sei der Milchstraße, darauf die Engel mit leisen Sandalen wandeln!«
Mit verbundenen Augen trieb Bracke durch die Mark.
Es wurde Sommer.
Es wurde Herbst.
Es wurde Winter.
Flocke auf Flocke fiel vom grau herniederlastenden Himmel.
Die ganze Erde war ein Daunenbett, in dem Bracke unhörbar auf und nieder hüpfte. Die grauen Schneewolken wurden blau, nun schwarz.
Die Nacht stülpte ihren Kübel über die Welt.
Einsam stapfte Bracke wie ein riesiger Rabe mit flatternden Armen durch den Schnee.
Er krächzte.
Da kreuzte, fahl aufsteigend, eine eingeschneite Vogelscheuche seinen Weg.
Bracke zog höflich den Hut.
Die Vogelscheuche schwankte schattig.
Sie sprach heiser wie ein alter Mann:
»Ich sollte Euch eigentlich scheuchen – denn Ihr seid ein seltsamer Vogel.«
Bracke äugte wie ein Reh.
»Wo habt Ihr denn den Kopf? Ich sehe keinen – und Ihr sprecht dennoch zu mir.«
»Ich bin froh, daß ich keinen habe. So brauche ich ihn nicht erst zu verlieren, wenn die große Stunde kommt.«
»Welche Stunde ist groß? Ich fand sie alle klein und nichtig.«
Die Vogelscheuche krähte: »Da Ihr selbst so klein – scheint Euch alles andere ebenfalls klein.«
Bracke befühlte die Stange, die der Vogelscheuche oben aus der Jacke fuhr, und auf der ein grüner Hut schaukelte:
»Ihr habt ja einen hölzernen Hals?«
Die Vogelscheuche grinste:
»Um so besser wird er allen Stricken standhalten, falls ich mal das Gelüst haben sollte, mich aufzuhängen – ein Gelüst, das, wie mir scheint, Euch nicht allzu fern ist?«
Bescheiden beschied Bracke:
»Gewiß, da habt Ihr recht. Hier an der Seite habe ich den Strick, mit dem ich ehemals meine Ziege führte. Er soll mir gute Dienste tun, Gott wird mir nicht zürnen, wenn ich den Weg zu ihm suche – herauszukommen aus dieser weißen, endlosen Winternacht. Mich friert.«
»Legt Euch nur in den Schnee,« sagte die Vogelscheuche, »der hält Euch warm.«
Bracke legte sich in den Schnee. »Was habt Ihr denn da für ein goldenes Ding an dem Strick hängen?«
»Das ist meine ungarische Trompete.«
Und Bracke blies die paar Töne eines Chorals.
Die Vogelscheuche nickte anerkennend mit dem Hut.
»Ausgezeichnet! Könnt Ihr auch Orgel spielen, die Register ziehen, die Bälge treten?«
Bracke schüttelte das Haupt.
»Nun – Ihr werdet es da oben bald lernen. Die heilige Cäcilie spielt vortrefflich die Orgel – während der heilige Mauritius ihr die Register zieht und der heilige Franziskus ihr die Bälge tritt.«
Die Vogelscheuche kreischte erheitert.
»Ja, so geht es da oben zu. Bei den Heiligen. Wollt Ihr nicht auch ein Heiliger werden?«
Bracke hob den Kopf ein wenig aus dem Schnee, der ihn schon fast verhüllte.
»Ein Heiliger? Ich werde ewig die Sonne um meinen Scheitel tragen als Heiligenschein. Helligkeit wird um mich sein und Wärme in mir. Ja, mein Herr Holzhals, mein Herr Ohnekopf – ich werde mit den Engeln Würfel spielen und werde ein Heiliger werden. Sankt Peter wird mir mit der Geige zum Tanz aufspielen, und ich werde selig sein in der Seligkeit.«
Der Kopf sank ihm zur Seite in den Schnee.
Bracke kam mit einem Henker, einem Mörder, einem Abdecker, einem Narren, einem Türken, einem italienischen Conte, einem Holzhacker und einem Brandstifter zugleich an den Acheron an die Stelle, wo Charon die Seelen der Abgeschiedenen überzusetzen pflegt.
Bracke schrie:
»Ahoi, hol über!«
Da stakte Charon, ein schöner Jüngling, mit seinem Boot herbei. Und sie stiegen alle in das Boot, das unter der Last der schweren Seelen beträchtlichen Tiefgang annahm.
Als sie in der Mitte des schwarzen Flusses waren, begann das Boot zu schwanken.
Charon schrie: »Ich habe zu tief geladen, wir werden alle elend untergehn!«
Da sprang Bracke auf das Bugbrett, breitete die Arme und jauchzte:
»Ich rette euch, ihr Brüder, vor der Unsterblichkeit!« Und sprang über Deck in den dunklen Fluß, und ward nicht mehr gesehen – in diesem und in jenem Leben nicht.
Als ein Jahr darauf, am Todestag Brackes, der Totengräber über den Kirchhof ging, fand er Brackes Grab erbrochen.
Am offenen Sarge saß ein altes, spitzes Weib, das mit Brackes Knochen spielte und irr lallte.
»Mein Süßer,« sprach sie und drückte den Totenkopf an ihre dürren Lippen, »erinnerst du dich noch, als du in der Kugelapotheke in Berlin bei mir lagst, in jener Nacht der Ewigkeit?«
Sie schüttelte die Knochen in ihrer Hand:
»Wie mager du geworden bist ... ja ... die Zeit vergeht ...« Der Totengräber packte die Irre am Handgelenk und zog sie mit sich fort in Polizeigewahrsam. Sie warf dem Skelett noch eine abscheuliche Kußhand zu, und hinter Büschen schon entschwindend, die sie vom Anblick des Toten trennten, rief sie noch immer:
»Die Zeit vergeht ...«
Sankt Jemand und Sankt Niemand, zwei Pilgrime, begegneten einander auf der Landstraße des Lebens.
Sankt Jemand sprach: »Wo kommst du her, Bruder? Du bist so gar betrübt.«
Sankt Niemand sprach: »Ich komme aus dem Nichts und schreite ins Leben. Und du? Du siehst gar fröhlich drein?«
Sankt Jemand sprach: »Ich gehe aus der Welt, das Scheiden wird mir leicht. Ich wandle ins Nichts.«
Sankt Niemand sprach: »Bruder, die Sonne steigt auf und versinkt. Der Mond nimmt zu, nimmt ab. Frühling, Sommer, Herbst und Winter wechseln wie Tod und Leben. Du stirbst. Ich werde geboren, wenn ich einst sterbend dahinsinke, wirst du wieder den Pilgerstab aus meinen Händen nehmen. Heilig ist das Leben. Heilig ist der Tod. Jemand ist heilig und heißt Sankt Jemand. Niemand ist heilig und heißt Sankt Niemand. Gott hält die Wage in seiner Hand: die Wage der Gerechtigkeit. Da schwebt in der einen Schale das Leben, in der andern der Tod. Sie wiegen gleich. Und also besteht nur die Welt. Und also sind nur du und ich. Ich wär nicht ohne dich. Du wärst nicht ohne mich. Leb wohl. Stirb wohl, wir begegnen uns immer wieder.«
Sankt Jemand und Sankt Niemand gaben einander die Hand zum Abschied. Der eine schritt bergauf, der andere bergab. Sie sahen sich noch mehrmals um. Endlich verschwanden sie zu gleicher Zeit: der eine hinter einem Felsen der Höhe, der andere tief im Tal. Die Sonne versank, und leise begann das Horn des Mondes im Abend zu tönen.
So oft ein Mensch auf dem Wege ist, zu sich selber zu kommen, fliegt die Eule von der linken Schulter Gottes, einen Spiegel in den Krallen, zu ihm hernieder: daß er darin sich betrachte und bekenne, belächle und beweine, leicht- und tiefsinnig. Weshalb dieses Buch genannt ist: der Eulenspiegel, und jeder in ihm findet etwas, das ihn ergötze oder erschüttere, nachdenklich oder zum reinen Klange stimme. Nimm meinen Dank auf den Weg, Leser, daß du mir bis hierher gefolgt bist, und meinen Wunsch und meine Hoffnung, daß wir uns in einem neuen Buche oder in einem neuen Leben wieder begegnen, bereit, uns zu helfen, so gut wir vermögen und soweit es in unsern schwachen Kräften steht: du mir und ich dir.