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Dienstag, den 1. Dezember 1914.
Der letzte Monat dieses grausamsten aller Jahre beginnt heute. Wird es der letzte Monat des Krieges sein? Viele Millionen wünschen es mit allen Fasern ihres Herzens, es ist die inbrünstigste Hoffnung, die alle beseelt, und keinen Menschen gibt es, der das Gegenteil will, und doch kann dieser heiße Wunsch, der sich über Legionen und Erdteile schwingt, nirgends Ausdruck finden, nirgends Macht gewinnen, und alle Sehnsüchte sind wirkungslos. Nirgends ist ein Ende abzusehen.
Früh marschierten wir via Lazaravać, d. h. nur durch die Elendviertel der Peripherie und über die Fußgängerbrücke. Die Eisenbahnbrücke ist gesprengt. Die Stadt ließen wir rechts liegen und gingen scharf nordwestlich, was das Gerücht verstärkte, daß wir mit dem 13. Korps und der Armee Kraus gegen Stadt und Festung Belgerad marschieren. Der Weg ging an verlassenen serbischen Deckungen und Verhauen vorbei. Ich setzte mich in einen Wagen der Feldpost und spielte – wozu ich mich sonst selbst in wochenlangem Arrest nicht verstanden hatte – mit einem Postbeamten »Marriage« und »21« um Patronen. Nach einer Stunde hörten wir auf. Ich lag mit dem Rücken an einen Sack gelehnt, in dem ich ein Loch spürte, aus dem die Ecke eines Paketes herausragte. Ich drehte mich um und sah, daß es Schokolade sei. Maßlosen Hunger hatte ich (es war bereits 2 Uhr nachmittags, und ich war noch nüchternen Magens), und so entstand in mir das Gelüste ein Stück abzubrechen. Ich versuchte es, aber die Schokolade war hart, und als ich große Anstrengungen machte, blieb das Paket, das – wie sich nun herausstellte – ganz klein war, in meiner Hand. Ich erschrak. Aus dem Abbröckeln eines Stückchens hatte ich mir keine Gewissensbisse gemacht, denn ich weiß doch ohnedies, daß eine solche Muster-ohne-Wert-Sendung auf dem langen Wege über diverse Feldpostämter, ihre Fuhrwerke und über die Fahrküchen immer in geometrischer Progression abnimmt. Aber das ganze Paket zu stehlen, schien mir ein um so ärgeres Verbrechen, als dies zwar leider oft vorkommt und auch mir schon manches Paket nicht zugestellt wurde, ich mich aber um so intensiver jetzt daran erinnerte, wie ich bei solchen Gelegenheiten nicht genug zu fluchen gewußt hatte. Und nun sollte ich selbst zum Diebe an irgendeinem armen Burschen werden, dem sein Mädel, um ihn festzuhalten und aus reiner Liebe für ihre letzten Heller ein Stückchen Schokolade gekauft hatte. Oder vielleicht eine arme Mutter, die sich das Geld vom Mittagsbrote abgespart hatte. Ich hielt das Paket in der Hand, und da wir bereits in Vreoci waren und es aussteigen hieß, mußte ich es wohl oder übel in meinen Schnappsack tun, um die Diebesbeute zu verbergen. Ich ging zum Stabsquartier und kam unterwegs zu dem Entschluß, entweder das Paket wieder bei der Feldpost abzugeben oder aber bei dem Regiment, zu dem der Adressat gehören würde. Ich zog die Sendung heraus: »An Herrn Georg Ferda, Fähnrich in der 2. Kompagnie des 11. Infanterieregiments; Absender Gottlieb Ferda in Weipert.« Der Adressat, mein guter Freund Ferda liegt seit einer Woche in Lajkovać begraben, und die Schokolade wäre ohnedies von irgendeinem Unbefugten beim Regimentstrain oder bei der Fahrküche aufgegessen worden. So brach ich mir ein Stück ab und verzehrte es ohne Gewissensbisse.
Am Abend in Vreoci klebten die Kanzleiunteroffiziere der Division Spezialkarten aneinander, immer nördlichere und nördlichere bis Breszkovacz (Z. 27, Kol. XXIII), worauf schon die Donau zu sehen ist. Ob wir sie auch in natura sehen werden?
Mittwoch, den 2. Dezember 1914.
Anläßlich des Regierungsjubiläums Kaiser Franz Josefs fand heute vormittag unter zahlreicher Beteiligung die Eroberung von Belgrad mit reichhaltigem Vergnügungsprogramm statt. Die Einnahme erfolgte durch den Ostflügel unserer Armee. Die Heeresleitung hat weder Kosten noch Mühe gescheut, um diese für den heutigen Tag anberaumte Veranstaltung rechtzeitig in alle Teile der Welt zu melden, und überall »spontane« Ovationen anläßlich dieses unvorhergesehenen, zufällig am Jubiläumstage erfolgten Ereignisses zu erwecken.
Donnerstag, den 3. Dezember 1914.
Die Sehenswürdigkeit von Vreoci: Neben der großen Kirche steht ein kleines Häuschen aus Holz, äußerlich kaum von den Maistennen der serbischen Bauernhöfe zu unterscheiden. Aber es ist keine Tschardake, sondern eine Kapelle voll alter Reliquien, zu deren Unterbringung, beziehungsweise Aufstellung das Holzhäuschen wohl erbaut ist. Es sind wundervolle Holzmalereien, darstellend die Erzengel, die Apostel und Heilige in roter und goldener Farbe mit deutlichem Anklang an die byzantinische Zeit Serbiens, alles unsäglich primitiv und naiv und doch meisterlich in der Erfassung des Charakteristischen. Die Malereien füllen eine ganze Querwand, die das Allerheiligste vom Versammlungsorte der Gemeinde trennt. Über dieser Ikonostasis erhebt sich ein hübsch geschnitztes Holzkreuz mit geschnitzten Engeln und zwei hölzernen Drachen. Alles aus polychromem Holz, und jedenfalls von anderer Stelle losgelöst, hierher übertragen und willkürlich zusammengestellt; zumindest sind zahlreiche Bindeglieder der Gruppe abhanden gekommen. Aber dichte Spinnweben haben die Mission dieser künstlerischen Vervollständigung auf sich genommen und schlingen sich von einer Kreuzecke zur anderen wie Strahlen einer Gloriole, vom Rachen der beiden Moloche hinauf zu den schwebenden Putten wie Wolken, und spielen in den Händen der Engelchen wie Schleier in Wind. Hinter der kulissenartig wirkenden Bilderwand steht der Hochaltar. Ein einfacher Tisch mit einer slavisch bestickten, weißen Decke und einem uralten Altarkreuz, das gleichermaßen durch die Schönheit der Schnitzerei wie der Bemalung bemerkenswert ist. Vor der Altartüre liegt ein runder Stein in der Erde, so wie Grabsteine in die Fußböden der Dome eingebettet sind. Auf diesem Stein, der die Jahreszahl 1130 trägt, sind die Konturen zweier Fußsohlen eingemeißelt, und es scheint der Name Cyrillos erkennbar. Ich glaube kaum, daß hier unten die Sandalen oder gar die Beine eines Heiligen als Reliquien bestattet sind, sondern eher, daß die Zeichnung nur Fußstapfen darstellen soll, nur die Stelle bezeichnen, die ein heiliger Mensch betrat.
In Vreoci sind heute die 91er. Viele mir bekannte Offiziere unter ihnen erzählten mit mehr Erregung, als sie für alle Verluste, Glücks- und Unglücksfälle übrig hatten, von der Unfähigkeit eines Majors ihres Regiments, und gaben zahlreiche lustige und traurige Anekdoten seiner Dummheit zum besten. Ganz mechanisch fragte ich nach dem Namen dieses seltsamen Stabsoffiziers, ohne mich dafür zu interessieren, da ich keinen Stabsoffizier von 91 zu kennen glaubte. Wie erstaunte ich, als sie mir den Namen nannten und es der jenes Herren war, der am 8. September dem Hauptmann Sychrava die verlangte Verstärkung verweigert hatte, und dem ich in diesen Blättern – auf Grund eines einzigen Satzes, den ich sprechen gehört hatte, – die Mitschuld an dem katastrophalen Scheitern unseres damaligen Angriffes gegeben hatte.
Freitag, den 4. Dezember 1914.
Dieser Freitag ließ sich übel an. Schon in der Nacht große Aufregung im Divisionsstab, Übergabe von Befehlen und Widerruf derselben, Einlangen von Meldungen über serbische Frontveränderungen und Angriffe, die eine keineswegs siegessichere Stimmung hervorriefen, Absendung des Trains in der Nacht und dergleichen Beweise von Unruhe. Der Kutscher des Fuhrwerkes, auf das ich bei den letzten Märschen meine Sackdecke aufgelegt hatte, weigerte sich heute, sie aufzunehmen, aber ich preßte sie schließlich doch in den Wagen, ohne daß er besonders lebhaft zu protestieren gewagt hätte. Bald aber waren ihm auch von anderen derartige Lasten auf sein volles Heidi-Wagerl aufgeladen worden, daß er es zwar willenlos geschehen lassen mußte, aber sich hernach zum Oberleutnant beschweren lief. Als ich knapp vor dem Abmarsch an dem Wagen vorbeikam, fand ich meinen schönen Schlafsack im Kote liegen. Der Offizier hatte alle Privatbagage hinuntergeworfen, und ich mußte nun – während sich alles schon vorwärts bewegte – meinen Schlafsack so kunstvoll wie möglich packen und schnüren, um ihn unter dem Tornisterdeckel unterzubringen. Mit der schweren Bürde am Rücken hatte ich die Kolonne einzuholen, die sich über steile Hügel aufwärtsbewegte. Hier war kein Kot mehr, aber der Weg war dadurch nicht besser geworden. Die Furchen, Rinnen, Löcher, welche die schweren Haubitzen, die beladenen Trainfuhrwerke und die starken Stiefel der Tausend bepackten Soldaten zur Kotzeit in das Erdreich gerissen hatten, waren unversehrt erhalten, nur petrifiziert. Gelatinedünne Eisplatten überdachten jede Stelle, auf der vor vier Tagen ein plumper Soldatenfuß in schütterem Kot eingesunken war, und wenn man jetzt auf das dünne Glas trat, so barst es, und der Fuß spürte das Wasser genau wie anno dazumal. Aber die nichtdurchfurchten und nichtdurchrissenen, härteren Stellen des Weges waren glitschig, und wenn man stolperte, so fiel man, denn der Tornister unterliegt stärker als jede andere Materie dem Gravitationsgesetz. Mehr als einmal stieß ich auf diesem Wege mein altes Gebet zum Himmel: Lieber Gott, laß mich in Ruh!
Auf der Höhe von Sakulja etablierte sich der Feldherrenhügel. In einem einzelnstehenden Gehöft wurde der Operationstisch aufgeschlagen. Stabskompagnie, Ordonnanzen und Pferde froren im Freien und hungerten, denn wir hatten seit vier Tagen kein Brot gefaßt, und die Menage wurde für uns erst um 6 Uhr abends in den Fahrküchen hinaufgeschafft. (Für die Offiziere war sie gleich vormittags da gewesen.) Mein Regiment, das auf dem Hügel vor uns im Kampfe steht, ist heute zurückgeworfen worden. Der Großteil des Regiments ist heute vernichtet worden, teils tot, teils gefangen, teils verwundet.
Der Vormarsch im unwegsamen Terrain war in so großer Hast erfolgt, daß die Trains nicht nachzukommen vermochten und wir den furchtbarsten Hunger litten. Wir hatten Späne von den Holzzäunen abgebrochen, um uns wenigstens durch ihr Kauen die Illusion des Essens zu verschaffen. Die Misère mit dem Schuhwerk habe ich bereits oft erwähnt: die Leute waren barfuß und ihre Zehen erfroren. Erfrierungen ersten Grades wurden von den Ärzten nicht als Grund zur Ablieferung ins Feldspital anerkannt; am nächsten Tag kamen die Leute wieder, aber nun hatten sie schon Erfrierungen zweiten oder dritten Grades, und ihre Beine waren reif zur Amputation. Die Kompagnien schrumpften bis auf 30 Mann zusammen, und die Schwarmlinien wurden immer schütterer. Statt uns aber tief einzugraben und hinter Wolfsgruben und Drahthindernissen an der Kolubara zu verschanzen, rennen wir mit unserem Häufchen immer weiter vor und möchten am liebsten mit den paar Leuten Kragujevac belagern und erobern. Ich fürchte, daß die heutige Schlappe noch lange nicht unsere letzte ist.
In einem Neubau des Gehöftes, das in Friedenszeiten den Bauern wohl als Stall, Brotbäckerei und Maistenne gedient hatte, fanden wir Unterschlupf und heizten, um uns zu erwärmen, den Backofen. Mit einem Hünen holte ich einen Balken, den wir kaum auf der Schulter tragen konnten. Den riesigen Pfahl steckten wir in den Ofen und er glimmte, daß es eine Freude war. Kaum eingeschlafen, brüllte jemand auf: »Es brennt!« Alles sprang auf und rannte aus der Kutja, ganz blaß vor Angst, daß die Artillerie des Feindes im nächsten Moment das Bombardement auf das flammendleuchtende Ziel eröffnen könne, aber am meisten hatte doch jeder Angst vor Maßregelung durch die Herren unseres Divisionsstabes, die durch eine Feuersbrunst zur nächtlichen Übersiedlung genötigt würden. Erregt wurden diese Befürchtungen von den Schlafgenossen hervorgestoßen, die eilig in die Hütte zurückkehrten, als sie sahen, daß für die nächste Sekunde ein Übergreifen des Feuers auf unsere Lagerstätte noch nicht bevorstehe, um in Hast noch ihren Tornister huckepack aufzuladen und das Gewehr zu ergreifen. Ich selbst hatte mich bloß aufgesetzt, als ich aber sah, daß nur aus den Lücken zwischen den Ziegeln des Backofens Flammen herausschlugen und das Gebälk nicht erreichten, sondern höchstens erhitzten, rückte ich mir mit der Hand Brotsack, Gewehr und Tornister zurecht und schlief im übrigen ruhig im Schlafsacke weiter. Nach und nach kamen auch die anderen zurück, begutachteten die Sache von allen Standpunkten (Wasser zum Löschen wäre nicht vorhanden) und kamen zur Überzeugung, daß bestimmt entweder eine Feuersbrunst oder keine Feuersbrunst entstehen werde. Das Schicksal entschied sich für das letztere, und sie wachten, bis die Glut des Balkens niederglomm, ohne daß unsere Caluppe Feuer gefangen hätte.
Samstag, den 5. Dezember 1914.
Ein ärgerlicher Tag. Mittags Weg zum Stande der Fahrküchen unseres Regiments, unterwegs hatte ich eine Prügelei mit dem Rechnungsunteroffizier der ersten Kompagnie, der mich während einer Streitigkeit angriff und den ich tätlich zur Ruhe weisen mußte; er will deshalb gegen mich die Strafanzeige erstatten. Bei den Fahrküchen erhielt ich Nachrichten über die Dezimierung unseres Regiments: die 14. und die 11. Kompagnie sind vollkommen vernichtet, andere aufgerieben, und die Offiziere, die übriggeblieben sind, saßen einsam und allein bei den Fahrküchen. Über 300 Leute sind Verlust, das Regiment zählt im ganzen 815 Mann. Man hat aus den vier starken Bataillonen jetzt zwei schwache formiert. Wenn ich nach einem Bekannten frage, erhalte ich die Antwort: »tot« oder »verwundet« oder »gefangen«, aber meistenteils »vermißt«.
Mürrisch zurückgekehrt, hatte ich bei der Division ein neues Renkontre. Die Hütte, in der wir geschlafen hatten, sollte für vier Pferde von Offizieren geräumt und deshalb fünfzehn Mann an die Luft gesetzt werden, angeblich auf Befehl des Kommandanten des Stabszuges. Ich erklärte, daß ich nicht eher das Quartier verlassen würde, bevor nicht ein Offizier uns selbst hinausweisen würde, denn ich glaubte nicht, daß der Kommandant diesen Befehl gegeben habe; da die Dragoner trotzdem die Pferde hereinführen wollten, ohne einen Offizier geholt zu haben, stellte ich mich ihnen in den Weg, packte die Pferde bei den Zügeln und ließ sie nicht hinein, von meinen Schlafgenossen nur sehr matt unterstützt, trotzdem ich fortwährend aneiferte. Schließlich kam ein Dragonerwachtmeister und erklärte, daß der Kommandant des Stabszuges tatsächlich diesen Befehl gegeben habe. Es gab jetzt nicht gut einen Zweifel mehr, ich war es müde, allein den Aufrührer zu spielen, und räumte das Feld.
Sonntag, den 6. Dezember 1914.
Heute ist mir zum ersten Male seit vier Monaten vergönnt, Feder und Tinte in der Hand zu haben – Bestand des Pfarrhauses. Am Nachmittag, als ich mir bei der Fahrküche meinen Kaffee holte, schlug eine Granate ein, wir stoben auseinander, ein Koch und ein Soldat der Stabskompagnie wurde getötet und fünf andere Soldaten schwerverletzt. Die Gruppe war neben der Fahrküche gerade damit beschäftigt gewesen, einen Ochsen zu schlachten. Nun lag der Ochse mit zerrissenem Halse tot neben denen, die sich eben angeschickt hatten, das Messer gegen ihn zu erheben.
Montag, den 7. Dezember 1914.
Viel mehr als durch die »den Truppen allgemein zu verlautbarende« Botschaft, daß im Raume von Lodz und Lovicz die vereinigten österreichischen und deutschen Truppen einen »entschiedenen« (im Deutschen schwächt man ab, wenn man bekräftigt, z. B. »Zweifellos«, »Unbedingt«, »Ganz bestimmt«) Sieg erfochten haben, wurden die Soldaten von einer anderen Mitteilung mit freudiger Hoffnung erfüllt: In Belgrad gebe es noch Tabak, Bier und sogar Zigaretten. Wie diese Nachricht zu uns kam? Bei unserer Division treibt sich seit alten Tagen ein Oberstleutnant herum, der aussieht, als ob er viele hundert Jahre alt wäre. Aber wie sein Diener erzählt, soll er vor dem Kriege ein fescher, unternehmungslustiger Herr gewesen sein und erst die Schicksale im Kriege hätten ihn gealtert. Er war Kommandant des aus mehreren Truppenkörpern zusammengestellten 15. Marschregimentes gewesen, das uns anfangs September in Bosnisch-Rača von der Drinabewachung abgelöst hatte. Dieses Regiment war Ende Oktober in der Mačva vernichtet worden, indem vier Kompagnien des 75. und zwei Kompagnien des 88. Regiments von den Serben gefangengenommen wurden. Der Kommandeur erwartet nun die Ankunft seiner Koffer und den Befehl ab, was weiter mit ihm geschehen solle. Heute kam nun der Koffer und zwar per Heidiwagen aus Belgrad, und der Kutscher war es, der von der Stadt der Zigaretten und des Bieres erzählte, so daß der 9. Infanterietruppendivision das Wasser im Munde zusammenlief.
Dienstag, den 8. Dezember 1914.
Schrapnelle, Granaten werden von den Serben gegen unsere Pfarre gepfeffert und fallen zehn Schritte, zwanzig Schritte vom Hause entfernt ins Feld. Wir sitzen in der Bude, in der Erwartung, die olivengrünen Artilleristen würden nun bald eingeschossen sein und unser Haus in die Luft fliegen lassen. Ich lese ein deutsches Lesebuch, – neben einem Liederbuch für Turner, das einzige in abendländischer Schrift abgefaßte Buch der Pfarrbibliothek. Nach den Büchern zu schließen, dürfte im übrigen der Pope ein sehr vielseitiger Mann gewesen sein. Es finden sich unter ihnen außer einer Unzahl von Jahrgängen des serbischen Catalogus Cleri und der Priesterzeitschrift »Christianskoj Wiestnik«, einige serbische Heldenepen, Übersetzungen von Puschkin und Verne, Doyle und Cervantes, die Statuten der serbischen Fortschrittspartei, und die der radikalen, sowie panslawistische Zeitschriften. In einer von ihnen finde ich eine vor zehn Jahren erschienene Schrift meines Berliner Freundes, Dr. Georges Weill, Abgeordneten von Metz im Deutschen Reichstag, zitiert. In den Zeitungen habe ich gelesen, daß Dr. Weill bei der Ermordung Jaurès' anwesend war und in die französische Armee eingetreten ist.
In der heute eingetroffenen Zeitung vom 26. November ist von den Erfolgen unserer Division bei Lazarovač eine offizielle Meldung enthalten, und zum ersten Male werden darin Truppenkörper mit Lob namentlich hervorgehoben: das 11., das 73. und das 102. Regiment.
Die Dunkelheit des Abends versammelte uns in der Pfarre, und man erzählt vom Verschwinden des der Offiziersmenage zugeteilten Korporals Nechanický. Vor 14 Tagen war er mit 1000 Kronen Fassungsgeld und ebensoviel anvertrauten Geldern der Soldaten, welche ihm den Kauf von Tabak, Zigaretten und Schnaps aufgetragen hatten, nach Schabatz gefahren, und ist seither nicht mehr gesehen worden. Schon seit einigen Tagen war in unserem Kreis die Möglichkeit seiner Desertion erwogen worden. Diese Fälle häufen sich in letzter Zeit. Wo es sich um private Aufträge handelte, hatte sich der Defraudant einfach bei seinem Auftraggeber nicht mehr blicken lassen, dort, wo es sich um ärarisches Geld handelte, hatten sich die Burschen gewöhnlich in Bielina mit Champagner bezecht, dann das ganze Bordell freigehalten, einer Auserkorenen im Tête-à-Tête ein paar Banknoten geschenkt, und schon zwei haben sich dann im Morgengrauen auf der Straße mit dem Karabiner erschossen. Das ist verständlich, wenn man weiß, daß die Burschen seit Wochen kein Essen, kein Geld, keine Frau, keinen Alkohol gesehen, die Flüchtigkeit des Lebens und seine Wertlosigkeit erkannt und noch nie soviel Geld in ihren Händen gefühlt haben.
Unsere Unterhaltung wurde jäh durch den Befehl zum Aufbruch unterbrochen. Um 9 Uhr abends Abmarsch der Division. Bisher waren wir immer morgens marschiert, und diese nächtliche Hast erweckte allerhand Vermutungen. Rückzug? Ein Gerücht: 102 hat zwei Bataillone verloren, gefangen, vermißt, aufgerieben. Authentische Mitteilung der Offiziere: Nein, nur Frontveränderung aus taktischen Gründen. Aber im Krieg sind authentische Mitteilungen nicht mehr wert als Gerüchte. Die taktischen Gründe werden eben mit Rückzugsgründen identisch sein. Train, Stabskompagnie, Arbeitsmannschaft marschierten ab, sogar die Offiziersdiener mit den Decken zogen von dannen. Nur die Offiziere des Generalstabs blieben zurück.
Mittwoch, den 9. Dezember 1914.
Früh kamen 73 und 11 aus der vor uns gelegenen Schwarmlinie zurück, und das Gebäude, das bisher Divisionskommando gewesen war, wurde nun Regimentskommando. Also steht es schlecht mit uns. Nun ist das Ereignis da, das ich längst erwartet hatte: Der Rückzug. Hoffentlich wird er weniger furchtbar sein, als die beiden ersten. Die Offiziere bestreiten überhaupt, daß es ein Rückzug sei. Nur die Räumung einer Position.
Über sonnige Hügel marschierten wir ab. Wir kamen über Sokolova, einem Zigeunerdorf, das von Kindern bronzebrauner Farbe wimmelt, die entweder nackt sind oder ein Hemd von gleicher Farbe tragen. Das typische »neimaš duvana?« klang von den pfeiferauchenden Zigeunerweibern dringlicher als in den Dörfern mit autochthoner Bevölkerung. Unterwegs bot ich mich einer der Ordonnanzen, die die Aktenmappe des Divisionskommandos trug, unter dem Vorwande, daß ich ihn wegen seiner Beladenheit bedauere, an, die Tasche zu tragen. Ich hatte nämlich bemerkt, daß daran der Schlüssel baumele, und hoffte, etwas Interessantes darin zu finden. Schnell blieb ich zurück, verlor mich und öffnete das Dossier. Ich fand darin das vom Generalstabshauptmann Kirsch geführte Tagebuch der Division. Gierig durchblätterte ich alles, ob ich nicht etwas Aufklärendes darin finden würde oder etwas, das geeignet wäre, irgendeinen Irrtum meines Tagebuches richtigzustellen. Ich fand nicht viel dergleichen.
In Arnajevo bezog die Division Quartier, wir fanden eine schöne Scheune zum Nachtlager, und ich kaufte von unserem Hausherrn eine Gans um drei Kronen, was laut Armeebefehl einem Preis von sechs Dinaren entspricht. Wir hatten sie aber kaum gerupft und Kraut zerschnitten, als es hieß: Abmarsch. Die Gründe für diesen schleunigen Aufbruch verlauteten bald. Das 15. und vielleicht auch das 16. Korps seien zurückgedrängt, wir selbst zu dezimiert, um einen Durchbruch der Serben aufhalten zu können und ziehen deshalb in der Richtung gegen Belgrad, um die Ankunft neuer Rekruten und die Neuformierung abzuwarten. Der Rückzug dehnte sich bis in die stockfinstere Nacht, jeden Augenblick kamen wir in andere Trainkolonnen, jeden Augenblick in andere Artillerieregimenter, die Kotmassen preßten die Räder wie Zangen und hielten sie jede Weile an, so daß stilles Fluchen und lautes Schreien die Nacht erfüllte. Immerhin war die Stimmung nicht etwa so niedergeschmettert, wie einst im August. Man konnte sich nicht vorstellen, daß uns die Serben auf den Fersen seien, denn man hatte doch in der letzten Zeit gesiegt und glaubte nicht mehr, da man mit allzuviel serbischen Gefangenen gesprochen hatte, an eine Tollkühnheit, an eine Todesverachtung, an einen wilden Haß und an die Unbesiegbarkeit ihrer Truppen.
Auf der Landstraße standen die Troßknechte, Fahrküchenkutscher, Kanoniere vor Feuern, an denen sie sich die durchnäßten Füße wärmten, wenn ihr Fahrzeug nicht vorwärtskommen konnte. Jedes Feuer war eigentlich von einem »Vorfahren« für den »Nachfahren« hergestellt worden, der es schon nach wenigen Sekunden benützte. Dann wurde auch die Stockung seines Fahrzeuges behoben, er fuhr weiter bis zur nächsten Stockung und blieb dort beim nächsten Feuer stehen. Da ich keinen Platz an einem der Feuerchen finden konnte, machte ich mir rasch in einer der am Wege befindlichen mit Türkenweizen überdachten serbischen Deckungen ein Nachtlager zurecht, steckte meine kotigen Stiefel in den Schlafsack, zog die Kapuze über den Kopf und schlief in der eisig-feuchten Dezembernacht so fest, daß ich das Rattern der ungeheueren Kolonnen, das schreiende Anfeuern, die Kommandi, die Peitschenhiebe, das verzweifelte Wiehern der Rosse und das Pfeifen des Windes nicht hörte.
Donnerstag, den 10. Dezember 1914.
Um ½7 Uhr früh brachen wir auf und stießen nach kaum einer Stunde zur Division. Wären wir in der Nacht noch vier Kilometer weiter gegangen, hätten wir unter Dach und Fach bei unserem Kommando in Stepojevać schlafen können. Dort lagerten auf der Dorfstraße nahezu alle Truppen der 9. Infanterie-Truppen-Division. Von den diesjährigen Einjährig-Freiwilligen ist nur noch ein einziger übriggeblieben, der Fahnenträger. Die Verluste des Regiments betragen seit Anfang des Krieges etwa 10 000 Mann. Gewehrfeuer und Kanonendonner sind in der Nähe hörbar, und beweisen, daß die Serben uns doch verfolgen. Dazu die Mitteilungen, daß das 13. Korps zurückgeschlagen, Lajkovać und alle die Höhen an der Kolubara, die so furchtbar viel Blut gekostet haben, wieder in serbischem Besitz sind. Wir sollen eine Verteidigungsstellung in der Richtung gegen Leskovač beziehen, das 13. Korps bleibt Reserve hinter unserem westlichen Flügel. Wahrscheinlich halten wir nurmehr noch die Linie Belgrad–Valjevo.
Es ist ¾11 Uhr vormittags. Eben hat der Oberstleutnant telephoniert, daß durch Kavallerie zu rekognoszieren ist, ob der Feind verfolge.
Zwei Minuten später. Eine Meldung trifft ein, und die Generalstäbler rennen zum Rastplatz der Truppen: »11. Regiment! Gewehre ergreifen, Rüstung umhängen, Alarm!« Alles läuft durcheinander wie in einem Bienenstock.
Eine Minute später. Eine Granate pfeift über den Ort.
Eine Minute später. Ungeheueres, grauenhaftes Tohuwabohu. Tausend Wagen, die Pferde noch mit umgehängten Futtersäcken, ergießen sich aus allen Höfen, aus allen Ausbuchtungen der Dorfstraße, von allen Wiesen und Gärten auf die Landstraße und sprengen in jagender Hast nordwärts davon. Der Divisionär wirft sich den Hunderten von Soldaten entgegen, die eben ihre Rüstung emporgezerrt und umgehängt haben; 73 an den Ortsausgang, 11 am rechten, 28 am linken Flügel! Die weglaufenden Soldaten behaupten, Trainbedeckung zu sein, aber die Truppenoffiziere hemmen den Strom. Trotz der massenhaften Trainbedeckung müssen zwei Köche einer Fahrküche aus deren Kessel das Wasser mit Eßschalen ausschöpfen, um leer davonjagen zu können, da niemand vorhanden ist, der ihnen beim Herausheben des Kessels und dessen Ausschütten behilflich wäre. Mitten in dieses Gemenge von rasenden, jagenden, blassen, schlotternden Menschen saust eine Granate nach der anderen auf die Straße zwischen die Häuser, das Erdreich 20 Meter in die Höhe wirbelnd, Lehm und Kot, wieder eine Granate, wieder eine Granate, und in allen Menschen das gleiche Gefühl: Der nächste Augenblick kann mein Tod sein. Wird er der Tod sein?
11 Uhr. Der vor einer Minute von Tausenden bevölkerte Ort ist leer. Nur hie und da humpelt ein Soldat seines Weges, langsam, phlegmatisch, den Tod ohnedies in sich. Wäre nur ein Funken Leben in ihm, ein Funken Hoffnung, wäre der Fuß noch so marschmarod, ja wäre das Bein gebrochen, er würde hasten, von der allgemeinen entsetzlichen Panik ergriffen. Aber ihm ist alles egal. Von den Truppen ist nichts mehr im Ort, nur die beiden Kommanden der Division 9 und Brigade 18. Die Offiziere blaß, aber bemüht, Gleichmut zu forcieren, am ruhigsten noch der General, Befehle gebend und Zigaretten rauchend. Ordonnanzen rennen aufgeregt umher und fragen nach den Regiments- und Bataillonskommanden. Aber wer ist da, der ihnen den Weg weisen könnte? Wer weiß, wo sie jetzt ihre Stände aufgeschlagen haben? Es gibt noch kein Telephon zu ihnen, und man fühlt, wie gerade jetzt das Telephon wichtig wäre.
11 Uhr 10 Min. Unsere Artillerie hat Feuerstellung bezogen und erwidert das feindliche Feuer, daß die Fensterscheiben von Stepojevać, die dem feindlichen Bombardement seit fast ½ Stunde standgehalten haben, in Splitter springen.
¼12 Uhr. Man hört unsere Truppen schießen. Wohin? Haben sie schon die richtige Stellung bezogen? Ist zwischen ihnen und dem Feind kein Österreicher mehr? Wissen sie schon die richtige Front?
11 Uhr 20 Min. Feindliche Schrapnells mischen sich mit Granaten.
½12. Verwundete, noch blutend, oder schon bandagiert, manche auf der Bahre, kommen heran. Das Feuer geht weiter, in jeder Minute drei Schüsse: Ein pfeifendes Zischen, ein Knall und ein Regen von Sprengstücken spritzt in die Höhe, wenn es eine Granate ist, aus der Höhe hinab, wenn es ein Schrapnell ist.
Diesmal war das Feuer unvermutet gekommen, und es war ein jedem Infanteristen erkenntlicher Fehler, daß man die Sicherung des Ortes erst angeordnet hatte, als die Granaten schon hineinplatzten und der Feind ante portas war. Alle Regimenter hatten gelagert, als ob man im biblischen Frieden läge.
Von den Szenen, die sich auf der Landstraße bei der Flucht der Fahrzeuge abgespielt haben mußten, zeugte die Chaussee, als wir sie um drei Uhr passierten, um nordwärts zu ziehen, da sich bisher das Divisionskommando eigentlich vor der Schwarmlinie befunden hatte. Überall lagen umgestürzte Fahrküchen, umgekippte Wagen, andere waren stehen gelassen worden, damit man ihre Pferde vor einen anderen Wagen als Vorspann verwenden könne, im Graben lagen viele, viele tote Pferde, heruntergefallene Waren, Wäsche, Sattelzeug, Konserven, Fässer. Soldaten waren intensiv dabei, für sich Brauchbares auszusuchen und plünderten auch die Wagen, die gewiß nur wegen Mangels an Pferden stehen gelassen werden mußten und noch abgeholt werden sollten.
Noch zehn Kilometer hinter Stepojevać trafen wir Fahrküchen, die zu ihren Truppenteilen zurückkehrten und von denen manche 75 Mann als »Fahrküchenbedeckung« zur Begleitung hatte. Bis hierher waren also die Leute in der Panik geflohen, aber nun kehrten sie zurück, denn fern von der Fahrküche droht der Hungertod. Um 7 Uhr abends kamen wir in Progon an und schliefen bei der Divisionstelephonabteilung, die uns Kaffee gab, auf welkem Laub, das wir aus einem nahen Wäldchen im Zeltblatte herantrugen.
Freitag, den 11. Dezember 1914.
Seit ein paar Tagen juckt mich das Fell, leider nicht bildlich gemeint, sondern höchst real. Ich muß mich immerfort kratzen, und meine Suche nach Bestand von Ungeziefer blieb erfolglos. Nur ganz kleine rote Flecke fanden sich an meinem Arm. »Du hast Krätze«, sagten mir die Kameraden. Ich wurde blaß. Ein Übel, dessen Name schon Entsetzen einflößt. Ich schüttelte den Kopf so heftig, als ob ich das alles von mir abwerfen wollte. »O ja, du hast sie schon,« trösteten mich die Kameraden, »das ist schon ganz anderen Herren passiert. Fast alle Offiziere haben Krätze und tausende Soldaten. Sogar die Ärzte von der Sanitätsanstalt haben sie.«
Nachmittags ging ich zum Arzt. Oberarzt Dr. Nocar, den ich vom Zivil her kenne und an den ich mich in dieser »schweren Stunde« um Rat und Hilfe wenden will, wohnt da drüben über dem Berg, in einem der weißen Häuser. Das erfuhr ich in der Divisions-Sanitätsanstalt, und ging über den Berg. Es war ein weiter Weg, beschwert von dem Gedanken, daß man mich beim Kommando vermissen könne, daß die Division vielleicht abmarschiert sei und vor allem – Krätze! Der Weg wurde immer ekelhafter, ich ging in alle weißen Häuser und fragte nach dem Oberarzt Nocar, aber niemand wußte von ihm. Ich hatte schon alle Häuser abgesucht und ihn nicht gefunden, als ich oben noch ein kleines Haus sah. Ich kam hinauf, fand den Gesuchten nicht darin, aber sah von dort ein neues Haus, wo er hätte sein können. Also vorwärts. Auch dort war er nicht. Ich gab es auf und ging wütend zurück. Knapp am Ausgangspunkt meines Marsches traf ich einen Sanitätssoldaten. Ob er wisse, wo Dr. Nocar wohne? Freilich wisse er das, er sei sein Pferdewärter und gehe eben hin. Ich mit, wieder eine halbe Stunde weit. In dem Wohnhause wurde mir der Bescheid, der Doktor sei gerade zur Sanitätsanstalt gegangen und zwar über die Felder. Deshalb hatten wir ihn nicht getroffen. Also ging ich über die Felder, von grenzenlosem Ärger über mein Schicksal beseelt und überzeugt, daß der Arzt eben auf der Landstraße heimkehre, so daß ich ihn wieder verfehle.
»Du, Körper,« sagte meine Seele, »wir sind zwar Feinde von Geburt her, aber jetzt, da wir im Kriege sind und beide von anderen Mächten gepeinigt werden, könnten wir Frieden schließen. Ich bin genug gequält, quäle wenigstens du mich nicht mit Halsschmerz, Schnupfen, Magenschmerzen, Müdigkeit, Fußwunden, Rheumatismus, erfrorenen Zehen, Schmutz, Hunger und Krätze. Ich will dir dein Leid tragen helfen, erleichtere meines. Hast du denn gar kein Gefühl?«
»Hast du denn gar keinen Körper?« gab der Leib brutal zurück.
»Nimm doch Vernunft an«, flehte der Geist.
»Nimm doch Gestalt an«, höhnte der Körper.
In der Divisionssanitätsanstalt fand ich endlich Dr. Nocar. Er untersuchte mich und schüttelte den Kopf: »Du bist eine Ausnahme, du hast keine Krätze. Das können Flohbisse sein oder eine Reizung der Haut.«
Samstag, den 12. Dezember 1914.
Abends konnte ich nicht einschlafen, denn das Jucken hat mich trotz der beruhigenden Diagnose des Oberarztes leider nicht verlassen. Trotzdem das Zelt höchst baufällig und schlapp war, fror ich nicht, denn es ist ein seltsames Phänomen: die Nächte sind jetzt im Dezember hier wärmer als im August. Auch die Tage scheinen von nichts weiter entfernt zu sein, als vom Winter. Auch heute ist ein wundervoller Frühlingstag, und in der Stunde, die wir gegen Mittag von Progon nordwärts nach Cigani bei Meljak marschierten, war uns so heiß, daß wir den Mantel ausziehen mußten.
In Cigani traf ich Dr. Siegfried Fischl, kaum erkannte ich ihn, blaß, schlotternd, mit wildem Bart und unreinem Teint, als Infanterist ohne Chargegrad war er da, die Holme einer Tragbahre geschultert. Niemand hätte gedacht, hier einen Wissenschaftler vor sich zu haben, der schon als 18jähriger Junge mit Popper-Lynkäus in Zeitschriften polemisierte, später chemische Arbeiten publizierte und an der technischen Hochschule in Prag Vorträge hielt. Er begrüßte mich matt, als ob wir uns erst gestern gesehen hätten, und als ob wir nicht in Cigani, sondern auf dem Wenzelsplatz wären. Er sei krank. Ich sah ihm an, daß er nicht viele Kranke von der Schwarmlinie zum Hilfsplatz tragen könne. Ob ich ihm irgendwie nützen könne, fragte ich ihn. Nein. So krank wie er seien hunderte, und wenn er auch möglicherweise für ein paar Tage ins Spital, ja vielleicht nach Hause kommen könnte, so habe das keinen Wert. Und avancieren? »Hätte ich als Freiwilliger gedient, wäre ich längst tot.« Ich legte mich in eine Hütte nieder, die zuletzt als serbisches Feldspital gedient hatte, was aus Rezepten, Medikamenten, Wattetampons, Karbolgeruch und Resten medizinischer Zeitschriften erkenntlich war. Wir trinken aus Tränkeimern, in denen sich fünf Minuten vorher jemand die Füße gewaschen hat, oder aus Brunnenkübeln, in denen seit Wochen gleichzeitig je 30 ungewaschene Hände panschen, bis die Feldflaschen voll sind, oder aus Feldflaschen, aus denen 40 schwindsüchtige, katarrhalische und ekzembehaftete Munde getrunken haben, wir schlafen in einem emeritierten serbischen Feldspital und sind glücklich, Stroh darin vorzufinden, worauf vielleicht ein Ruhr- oder Cholerakranker gestorben, sicher aber ein Kranker gelegen ist, wir klauben Zigarettenreste auf und zerbeißen Zigarrenstummel, wenn sie nicht mehr rauchbar sind, wir waschen uns nicht, schlafen neben Verlausten, sind selbst verlaust, putzen uns nicht die Zähne, schneiden uns nicht die Nägel, haben die Kleider seit fünf Monaten nicht gewechselt, haben keine Hosenträger, keinen Leibriemen, keine Knöpfe, keine unzerrissene Tasche, kein Taschentuch, keinen Kamm, keine Bürste, wir betteln um Suppenreste und schleichen um die Offiziersküche, ob nicht ein Tropfen Kaffee in der Tasse des Herrn Leutnants übriggeblieben sei, wir kauen rohes Fleisch, wir schlafen im Freien – wird das je wieder anders? Über solche Gedanken schlief ich ein und wurde um Mitternacht geweckt. Es war Abmarsch.
Sonntag, den 13. Dezember 1914.
Um ½6 Uhr früh, noch war es dunkel, gingen wir durch Lindenwald nordwärts. Bei einer Karaule mit hölzernen Arkaden sammelten sich die Stäbe von Division und Brigade zur Entgegennahme der Anordnungen, dann ging der Marsch weiter bis zum Petrov Grob, Trigonometter 337. Hier kamen an uns die Truppen des 13. Korps auf ihrem Rückzuge vorüber, hier stand die Landwehrdivision unseres Korps, und hier lagerte auch unser Regiment, das nach dem gestern eingelangten Frührapport 200 Gewehre zählt, auch das Korpskommando stand hier um unsere Truppen, die sich in Gefechtslinie formierten. Über den Devojacki Grob gingen wir weiter in der verfolgten Direktion, und ich freute mich beim Aufstieg, von der Höhe endlich Belgrad zu sehen, denn mich hat eine große Sehnsucht erfaßt, nach meinen langen Kreuz- und Querzügen durch Serbien endlich dessen Hauptstadt zu sehen. Aber wenn wir mit Mühe die Höhe erschritten hatten, sahen wir Täler vor uns und hinter den Tälern Hügel und von Belgrad keine Spur. In Ruschanj machten die Truppen halt und stellten sich dem Feinde, der unmittelbar hinter uns her war. Von den Schwarmlinien wurden in rasender Eile Telephons gelegt. Oberst Sündermann, Generalstabschef des 8. Korps, leitete, die Landkarten vor sich und das Mikrophon am Munde, die Schlacht.
Daß heute eine Katastrophe kommen werde, hatte ich, für den das Datum das Fatum bedeutet, gewußt. Um 12 Uhr trafen die ersten Granaten in Ruschanj ein und gleichzeitig die ersten Botschaften, daß der rechte Flügel – ungarischer Landsturm – verschwunden sei, daß die anderen Fronten wanken und durchzubrechen drohen. Bald darauf kamen ganze Abteilungen, versprengt, durchgebrochen in die Ortschaft hinab, und der Befehl für die Division zur Marschbereitschaft, zum Satteln der Pferde und zur Abfahrt des Trains wurde gegeben. Zwei Generalstäbler vom 8. Korps sprachen aufgeregt darüber, daß es gar keine Verbindung mit Belgrad gebe. Man könne also keine Verstärkungen und keine Weisungen telephonisch ansprechen, und das Automobil käme auf den von Trains gefüllten Straßen zu langsam vorwärts. Bei diesem erlauschten Gespräche fiel mir ein, daß sich unsere Trains in Belgrad ansammeln würden, während man dort gar nichts davon wissen würde, daß unsere Schlacht verloren sei, und nichts zur Verteidigung tun werde. Um ¾2 Uhr nachmittags jagte alles in grauenhafter Hast davon, von allen Seiten des Talkessels kamen Wagen und Menschen, und es wimmelte im Nu von Hunderttausenden, die schleunig davonjagten. Der Rückzug war regellos und atemlos, aber doch nicht gerade von verzweifelter Stimmung, denn er wurde vom Feinde nur schwach mit Feuer verfolgt und wirkte für die von den langen Monaten des Krieges im Freien ermatteten Truppen wie eine Erlösung: Man sollte wieder in menschliche Gegenden, wieder in eine Stadt, vielleicht sogar in die Heimat, nach Österreich. Ich warf meinen Tornister auf einen Telephonwagen, und er wird wahrscheinlich verloren sein. Dann ging ich fröhlich zwischen Infanteristen, Kanonen, Fahrküchen und Trainwagen bergab. Nach kurzer Zeit überschritten wir ein Eisenbahngeleise, das normalspurig war und im Wächterhäuschen, das sich durch nichts von unseren unterschied, waren die Glockensignalapparate für Ruhestrombetrieb eingerichtet wie bei uns, und auf dem nahen Stationsgebäude von Resnik waren auch französische Aufschriften (Salle d'attente etc.). Nur ein Mann, den ich im Wartesaal fand, erinnerte mich daran, daß ich in Serbien sei. Auf meine Frage, was er hier tue, drehte mir der Mann den Rücken, um zu zeigen, daß seine Hände mit Isolationsdraht gefesselt seien. Wahrscheinlich hatte der Serbe eine österreichfeindliche Tat begangen. Er war wohl gefesselt worden, da ihn die, die ihn betreten hatten, nicht mehr hinrichten lassen wollten. Jetzt, auf der Flucht lernen unsere Machthaber, daß mit Spionenriecherei, Berserkerpose und Meuchelmord kein Krieg zu gewinnen ist. Auf meine Frage, warum er gebunden sei, erwiderte der Mann nichts, sondern stöhnte nur, daß er Hunger habe. Das Stück Brot, das ich ihm in den Mund steckte, verschlang er mit Gier.
Wir kamen durch Resnik, vor dessen Weingärten eine Batterie Feuerstellung auf der Landstraße nahm, wir klommen einen fast senkrechten Abhang hinunter, in dem sich ein Bach in fast geschlossenem Ringe schlängelte, kamen an einem weißen Kirchlein samt Klostergebäude mit roten Türmen vorüber, das von Häusern im Carree umstellt war und jedenfalls ein Wallfahrtsort (Kněžovać?) ist. An Steinbrüchen, Villen, Telegraphenstangen ging die Flucht vorbei, es begann zu regnen, nach und nach wurde es stockdunkel, die Kameraden verloren einander, ich fand mich unter einer Kolonne von magyarischen Landstürmern und fühlte mich unter ihnen und der Sprache, von der ich kein Wort verstehe, einsamer denn je. Auf der Landstraße konnte man plötzlich nicht weiter, da die Brücke über einen tiefen Bach unter den Kanonen zusammengebrochen war; man kehrte zurück, fand keinen anderen Weg, suchte aber auf allen Seiten. Nach fast 5 Stunden fanden wir schließlich einen Weg, der in eine Allee von parkartigen Bäumen mündete, an welcher schöne Villen standen. Wir waren also in keiner falschen Richtung gezogen, denn das konnte nur ein Ort in der Umgebung der Landeshauptstadt sein, jedenfalls Topschider. Um 7 Uhr abends sahen wir, daß wir auf einer Höhe waren, denn tief unter uns strahlten die Lichter von Belgrad und Semlin, und diese Lichter waren regelmäßig und standen in geraden Linien und stammten von Glühbirnen und Gaslaternen – – –
Bald spürten wir Straßenpflaster unter unseren Füßen, und rechts und links standen geschlossene Häuserzeilen. Wir waren in Belgrad. Keine Patrouille hatte uns angehalten, kein Kordon war zu sehen. Das fiel mir auf. Belgrad ist also nicht befestigt, und man wird es morgen dem anstürmenden Feinde wohl kampflos räumen müssen. Wir gingen durch die Stadt, an Häusern mit Mörtelverputz und zwei oder drei Stockwerken, an Parterrewohnungen, in denen ich bemalte Zimmerwände sah, an Sodawasserkiosken, an Fenstern mit Vorhängen, an Straßentafeln und Geschäften und ähnlichen Dingen vorüber, die ich längst vergessen hatte, hinunter zur Savebrücke. Die Eisenbahnbrücke war zerstört gewesen, aber zwischen den beiden niedergebrochenen Teilen ist ein Fußgängersteg errichtet worden. Außerdem führen zwei Notbrücken nach Österreich. Über sie ratterten die Fuhrwerke unserer Trains und die Munitionswagen unserer Artillerie. Ein Hauptmann von Sapeuren verwehrte jedem Soldaten das Betreten der Brücke. Die aufgelösten Mannschaften sollten noch einmal gesammelt und dem Feinde entgegengeführt werden.
Ein Infanterist und ein Korporal eines der Regimenter unseres Korps, die um jeden Preis hinüberkommen wollten, da sie keine Lust hatten, sich noch einmal dem Feinde zu stellen, wußten sich Rat: Sie bewogen den Kutscher des Wagens, der ihre Regimentskasse führte, nicht auf die Brücke zu fahren, sondern etwa 30 Schritte von dieser entfernt am Ufer zu halten. Dann hoben sie in Gemeinschaft mit etwa 20 anderen Soldaten, die sie schnell einweihten, die Kasse vom Wagen und trugen sie über die Brücke. Der Wagen sei niedergebrochen, erklärten sie dem Sappeurhauptmann, und dieser mußte sie mit der Kasse hinüberlassen . . .