Egon Erwin Kisch
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Egon Erwin Kisch

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Das Räderwerk von Monte Carlo

In meiner Jugend gab's ein Chanson:

Mein Mann ist in Monte,
Mein Mann spielt Roulette,
Und ich sitze hier in Berlin . . .

Weiter weiß ich's nicht. Aber es genügt. Mit diesen wenigen Worten war schon das ganze mondäne, leichtfertige, lasterhafte Milieu hervorgezaubert: Eine Dame, deren Mann in Monte Roulette spielt! In »Monte«. Familiär klingt diese Abkürzung, merkt man nicht, wie die Strohwitwe geradezu intim mit ihrem Monte Carlo ist?

Natürlich ist »Monte« ein Blödsinn, Es gibt kein »Monte«, kein Mensch, der Monte Carlo kennt, kennt »Monte«. Sagt man »Ober«, wenn man Oberhof meint? Würden Sie erraten, daß es sich um Sankt Moritz handelt, wenn eine Brettldiva singt:

Mein Mann ist in Sankt,
Mein Mann läuft dort Ski . . .

Das vergessen geglaubte Chanson begleitet mich, dieweil ich die altmodisch-modische Baulichkeit namens Monte Carlo durchwandle. Sie sieht just so aus, wie das Chantantpublikum der neunziger Jahre sich »Monte« vorgestellt haben mag.

Wer reich geworden war, kam sich erst dann vornehm vor, wenn er an die Riviera fahren, heimgekehrt von »Monte« erzählen konnte. Insbesondere russische Kaufleute und Grundbesitzer fühlten sich erst dann als Europäer, nachdem sie ihre Datsche an die Riviera verlegt hatten. Überall findet man ihre Spuren. Noch heute erscheint in Nizza eine »Riviera-Gazeta« in russischer Sprache, Gesellschaftsnachrichten sind ihr Hauptinhalt. Viele Firmentafeln tragen auch russische und polnische Aufschriften, auf den Juwelenläden ist eine Aufschrift in russischen Lettern dazugekommen, »Lombard« nämlich, und in den Schaufenstern der Antiquitätenläden dominieren Doppelkreuze und Ikonen, Andreasorden und Medaillons mit kyrillischen Heiligen. (Lombard.)

 

Ein Bahnhof, der auch mal fesch sein will, das ist das Casino. Er hat sich Lichtgirlanden um den Kopf gewunden und läßt sich von Geniengeflügel umgeben, das, ach wie allegorisch, dem Beschauer goldene Blumen entgegenstreckt.

Das Hotelportal gegenüber wird von einem großmächtigen Negerportier in hellvioletter Livree geziert, auf der die Orden bis zum Nabel und noch tiefer hinab arrangiert sind, im Café Paris sitzt man unter orangeroten Sonnenschirmen, und geometrischer Mittelpunkt des Rondeaus vor dem Casino (des sogenannten »Camembert«) ist ein Verkehrspolizist samt schlohweißem Tropenhelm, goldenem Koppel, weißen Glacéhandschuhen, weißen Hosen, perlmutternem Degenknauf, Epauletten und himmelblauem Waffenrock, goldverschnürt sogar.

All das ist der Geschmack einer Zeit, da der Herr die Dame mit den Worten »Netter Käfer« ansprach, sie ihm geistesgegenwärtig mit »Sie Schwerenöter« antwortete und die Witzblätter dieses Gespräch unter der Überschrift »Gut gegeben« oder »Abgeblitzt« registrierten.

»Monte« lebt immer noch, trotz allen Krisen ist es bevölkert von Touristen und Spielern, von reichen Leuten, von solchen, die es scheinen, von solchen, die es werden wollen.

 

Alle Staatskosten des Fürstentums Monaco mitsamt der Privatschatulle des Herrscherhauses zahlt die Spielbank, die sich unauffällig »Seebäder-Gesellschaft« nennt. Der Staat Monaco ist anderthalb Quadratkilometer groß und besteht aus der Stadt Monaco, die ihrerseits aus den Stadtteilen Monaco und La Condamine besteht. Nur der Hügel schräg gegenüber dem Hafenrand La Condamine ist Monte Carlo. Hier hält der Luxuszug, gerade unter dem Casino, ein Fahrstuhl hebt die Passagiere aus dem Abteil an den Roulettetisch.

Außerhalb des Spielzimmers, rechts und links, fängt die Republik Frankreich wieder an, in der die Hasardspiele Roulette und Trente-et-Quarante streng bestraft werden. Nicht streng sind die Grenzen. Man kann mit Auto und Jacht, mit Autobus und Eisenbahn hinüber- und herüberfahren, ohne mit der Frage nach dem Paß belästigt zu werden.

Im Stadtteil Monaco der Stadt Monaco des Staates Monaco lebt das zum Spieltisch nicht zugelassene Volk der Monegassen, und hoch über dem Volk thront der zu den Gewinnen des Spieltischs zugelassene Souverän Louis II. aus dem Hause Grimaldi, das seit mehr als zwei Jahrhunderten ausgestorben ist. Der letzte Grimaldi hat allerdings eine Pragmatische Sanktion erlassen, nach der die Erbfolge auf seinen Schwiegersohn de Matignon überging. Dessen erste Nachkommen kamen selten in ihr Land, und nur um die Bewohnerschaft auszuplündern; deshalb revoltierten von den drei zu Monaco gehörenden Städten zwei, Mentone und Roquebrun, und erklärten sich unabhängig.

Ein späterer Herrscher, Karl III., hat diesen Verlust an Hausmacht reichlich wettgemacht, indem er 1863 dem Leiter der Homburger Spielbank, Herrn Blanc, für die nächsten fünfzig Jahre die Konzession erteilte, das gleiche Gewerbe in der übriggebliebenen Stadt des Fürstentums auszuüben.

 

Seither verbringen die Landesväter nicht mehr ihr ganzes Leben außerhalb. Ihr Stammsitz, bis in die sechziger Jahre eine verfallene Ghibellinen-Burg, gleicht jetzt einem Kaiserschloß und ragt prunkvoll und majestätisch empor, von öffentlichen Bauten umrahmt. Als lebendige Karyatiden hampeln mit geschultertem Gewehr und aufgepflanztem Riesenbajonett die Doppelposten der Leibgarde vor dem Portal auf und ab, straff und stramm, jahraus und jahrein, Tag und Nacht, auch wenn Seine Hoheit auf Reisen ist.

Der vorige Zéronissimus war viel auf Reisen. Fürst Albert interessierte sich für Tiefseeforschung. Um seine Sammlungen herum hat er ein gigantisches Gebäude aufführen lassen. In der Vitrine mit Muschelperlen sieht man Porträts von Personen, die berühmten Perlenschmuck besaßen: den Schah von Persien, englische Prinzessinnen, internationale Tänzerinnen. Es ist weder angegeben, wie sie die Kleinodien erwarben, noch wie sie sie verloren. Alberts zweite Gattin, Marie Alice, war eine geborene Heine aus Hamburg, eine Nichte Heinrich Heines, der diese gute Partie nicht mehr erlebt hat.

Des Fürsten Albert Sohn, der jetzige Herrscher, war nie verheiratet und besitzt dennoch eine legitime Tochter. Die Mutter dieser Tochter, die Mutter der offiziellen Erbprinzessin Charlotte, lebt verborgen am Hof ihres Nichtgemahls. Sie kann wohl Mutter einer Monarchin werden, nimmer aber die Gattin eines Monarchen. Denn sie ist, man bedenke, nicht nur eine eingeborene Afrikanerin, sondern auch eine Wäscherin gewesen, damals, als Louis II. noch Prinz und Offizier der Fremdenlegion in Algier war. Sein Vater zwang ihn, die Tochter der Afrikanerin zu adoptieren, und diese energische Stellungnahme des Fürsten Albert hat das Gemüt der Monegassen so verwirrt, daß sie sich nicht darüber klarwerden können, ob es Vaterliebe, Großvaterliebe oder Liebe überhaupt war, die den Fürsten dabei leitete.

Prinzessin Charlotte hat zwei Kinder und keinen Mann. Von ihrem Gatten, dem französischen Grafen Peter von Valentinois et Polignac, ließ sie sich scheiden, und vom zweiten Mann ihrer Wahl, dem italienischen Arzt Delmasso, mußte sie sich auf Wunsch Frankreichs trennen. Mitten in dem gegen Italien bis auf die Zähne bewaffneten französischen Regierungsbezirk Alpes-Maritimes könnte unmöglich ein Italiener als Prinzgemahl regieren oder die Vormundschaft über den unmündigen Sohn Charlottes, den Prinzen Rainier, führen.

 

Man sieht, auch die reichsten Dynastien haben ihre Sorgen. Selbst die Dynastie Blanc hat das erfahren. François Blanc, Partner und Nährvater der Fürsten von Monaco, war ursprünglich Kellner in einem kleinen französischen Gasthaus, wurde entlassen, weil er sich bei den Rechnungen allzusehr zu seinen Gunsten irrte, machte hernach Börsengeschäfte und saß sieben Monate im Pariser Kerker. Dann ging er nach Homburg, wo er, ein guter Rechner, es zum Konzessionär der Spielbank brachte.

In den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts waren Homburg und Baden-Baden die Sammelplätze der Spielwütigen aus aller Welt, und aus den Schilderungen Dostojewskis weiß man, wie dort Werte und Menschenleben aufs Spiel gesetzt wurden und zugunsten der Bank zugrunde gingen. Mit Anspielung auf den Namen ihres Besitzers galt in Homburg der Spruch: »Manchmal gewinnt rouge, manchmal gewinnt noir – aber immer gewinnt Blanc.«

Blanc war Gegenstand heftiger Angriffe. Man bezeichnete ihn als den Urheber von Selbstmorden und Familienkatastrophen, als den Blutsauger vom Taunus. Die Erregung der Bevölkerung nahm gefährliche Formen für ihn an. In dieser Situation drohte ihm ein Stubenmädchen namens Lotte Hensel, die er im Treppenflur, gewissermaßen im Vorbeigehen, geschwängert hatte, sie werde ihre Verführung mit skandalösen Details publik machen. Blanc heiratete sie auf der Stelle.

Aber er fühlte sich nicht mehr geheuer in einem Tätigkeitsgebiet, wo er so sehr unter dem Druck der öffentlichen Meinung stand, daß ein Fehltritt auf dunkler Treppe seinen Absturz bedeuten konnte. Als er daher nach einem neuen Bezirk Umschau hielt und auf Monaco verfiel, machte er es sich zum Vorsatz, nur Fremden aus allen Richtungen der Windrose das Geld abzunehmen, die Einheimischen jedoch unbedingt aus dem Spiel zu lassen. Die Versuchung, auch Einheimische zu rupfen, war allerdings so klein wie die Bewohnerschaft von Monaco.

Das Spielhaus baute er auf der Felsenklippe »Speluga«. Er taufte sie um, der Anklang an »Spelunke« gefiel ihm nicht, und nannte sie zu Ehren seines fürstlichen Strohmanns, Karls III., »Monte Carlo«.

 

1877 starb François Blanc mit Hinterlassung eines Barvermögens von 200 Millionen Goldfrancs. Seine Witwe richtete nun ihren ganzen Ehrgeiz darauf, ihre beiden Töchter an Männer zu verheiraten, die von höherem Adel waren als der Herrscher von Monaco. Die ältere Tochter Louise bekam den Fürsten Konstantin Radziwill, die jüngere, Mariechen, den Prinzen Roland Bonaparte. Madame Blanc, geborene Hensel, stellte eine riesige Büste Napoleons I. neben die ihres verstorbenen Gatten und rühmte sich: »Die beiden mächtigsten Männer der Welt gehören zu meiner Familie.«

Roland Bonaparte mußte ihr versprechen, ehebaldigst in Frankreich das Kaisertum wieder aufzurichten und sie zur Königin von Monaco zu proklamieren. Prinz Roland, der sich als Thronprätendent nicht gut vorwerfen lassen konnte, von Gelegenheitsmacherei für Hasardspiel zu leben, verwandelte im Einverständnis mit seinem Schwager Radziwill und seinem Schwager Edmund Blanc das Casino in eine Aktiengesellschaft. Hundert von den achthundert Anteilscheinen zu je zweihunderttausend Francs wurden dem Fürsten von Monaco überlassen. Roland Bonaparte stieß sein Aktienpaket bald ab, bekam bare Millionen, war fein heraus.

 

Im Casino herrschte Camille Blanc, einer von den natürlichen Söhnen des François Blanc, und hatte dafür zu sorgen, daß seine Verwandten, die sich seiner schämten, möglichst viel Geld aus der Quelle schöpften, deren sie sich nicht minder schämten. Nie haben ihm Verwaltungsrat und Aktionäre in seine Geschäftsführung hineingeredet.

Erst der Krieg hat ihm hineingeredet. Damals, als alle Grenzen der europäischen Staaten beinahe so dicht besetzt waren wie bislang die Spieltische von Monte Carlo, damals, als fast jedermann gezwungen wurde, für das Spiel hoher Herren sein Leben als Einsatz hinzuwerfen, damals schlich Camille sorgenvoll durch die kläglich besuchte Salle Schmit, den einzigen Spielsaal, der noch nicht geschlossen war. Dreißig Millionen Francs hatte die Bilanz für das Geschäftsjahr 1913/1914 ausgewiesen, das nächste brachte kaum zwölf Millionen.

Das wurde nicht besser, als der Weltkrieg für das Fürstentum Monaco siegreich zu Ende war. Große Investitionen waren nötig geworden, und man suchte einen Geldmann.

 

Wozu in die Ferne schweifen? Im Licht der Rivierasonne sitzt der »Mann im Dunkel«, er, der im Weltkrieg Staaten nach seinen Interessen gelenkt hat, er, dem der Frieden eine noch bessere Gelegenheit zur Abwicklung großzügiger Waffengeschäfte bietet. Basil Zaharoff kneift das linke Auge zu – seine berühmte Geste. Er kalkuliert: Tanks und Artilleriematerial sind stabile Werte, denn sie stützen sich auf die Dummheit des Menschengeschlechts. Steht nicht die Spielbank auf dem gleichen Fundament?

Sir Basil beteiligt sich am Casino mit einer Million Pfund Sterling und mit Rationalisierungsplänen. Camille Blanc, der letzte seines Namens auf dem rotschwarzen Felsen, muß 1922 zurücktreten und stirbt bald darauf. Sein Nachfolger ist René Léon, dessen Nationalität und Vergangenheit auch die findigsten seiner Feinde nicht ans Tageslicht fördern können.

Drei Landzungen springen von der Corniche, der Rivierastraße, ins Meer. Auf der einen, dem Felsen von Monte Carlo, thront René Léon, auf der nächsten hat Fürst Louis II. seinen Herrschersitz, und auf der dritten, dem Cap d'Ail, wohnt still und versteckt Sir Basil Zaharoff. Ewig ist hier der Sommer, groß die Aussicht.

Vielleicht treffen sich in einem unendlich fernen Punkt des Ozeans die Gedanken der drei Schloßherren: Wie herrlich wäre es, könnte man den grünen Tisch des Mittelmeers in Felder einteilen, die Sonne um eine Achse drehen, die Segmente zwischen ihren Strahlen mit Nummern versehen . . . Ringsumher säßen Gäste, längs des azurnen Randes von Frankreich, der bergigen Wasserkante Italiens, der gezackten Buchten Nordafrikas . . . Mit einem gewaltigen Rechen zöge man die Einsätze an sich . . .

Auch ohne Erfüllung solch kosmischer Träume hat Basil Zaharoff an der Bank binnen kurzem ganz schön verdient. In einem günstigen Moment stieß er sein Aktienpaket mit hundertprozentigem Nutzen an das Pariser Bankhaus Daniel Dreyfus ab. Die »Société Anonyme des Bains de Mer et du Cercle des Étrangers à Monaco« verfügt über ein Kapital von 47,5 Millionen Francs, das in 95 000 Aktien im Nominalwert von je 500 Francs geteilt ist; eine Dividende von etwa 725 Francs wird gegenwärtig per Aktie ausgeschüttet.

Der Vertrag, den Anno 1863 Herr François Blanc mit dem Beherrscher Monacos geschlossen hat, ist Anno 1913 auf weitere fünfzig Jahre verlängert worden – eine fürstliche Schmarotzerfamilie und ein paar Börsenschieber hoffen, bis zum Ende des Jahrtausends Millionennutzen daraus zu ziehen, daß Narrenheere nach Monte Carlo pilgern.

 

In sechs Terrassen steigt der Friedhof empor. Die Abteilung für Selbstmörder wurde vor kurzem aufgehoben, nur nach Religionen geordnet sind jetzt die Toten. Über dem Friedhof, auf dem Felsengipfel, steht das französische Fort Tête-de-Chien, am Hang fröhliche Villen mit Flecken und Lauben, und drüben auf dem Schloß flattert die Fahne von Monaco.

Ein Teil von Condamine ist das Elendsviertel Carmélite. Das Elendsviertel! Die steuerfreien Untertanen des reichen Fürsten, die Anrainer der Bank leiden Not, sosehr man's vor den Fremden verschleiern möchte. Auch die bürgerlichen Parteien führen eine besorgte Sprache auf ihren Plakaten zur Neuwahl für das Comité Électoral, das ebenso demissioniert hat wie die Stadtvertretung: »Es ist höchste Zeit, eine Lage zu beseitigen, die täglich verzweifelter wird, ein Elend, das erschreckende Formen annimmt.« Die Zeitung »L'Avenir« wagt es sogar, sich gegen den Bankhalter zu wenden: »Monsieur René Léon will nichts davon hören, daß die Ausgabenbücher der S. B. M. (lies: der Spielbank) revidiert werden, er widersetzt sich einer Finanzreform, er zahlt Hungerlöhne und vertreibt die Einheimischen aus Monaco. Er, fremd in diesem Lande, ist sein Diktator geworden.«

 

3288 Angestellte hat das Casino, Bürokräfte, Spielbeamte, Theaterarbeiter, Musiker, Diener, Wächter und Gärtner, von denen die meisten kaum 600 Francs im Monat verdienen. Nur das Personal der Spieltische ist etwas günstiger daran, weil ihnen die »cagnotte« gehört: Bei größeren Gewinnen schieben die Spieler dem Croupier einige Jetons hin, der sie mit ostentativ lautem Dank in den Schlitz des Tisches wirft. Citroën, der Automobilfabrikant, zahlte die Trinkgelder in anderer Weise aus: Jeder Croupier seines Tisches erhielt eine Anweisung auf ein Kleinauto.

Im Dienst des Spiels stehen: der Direktor, drei Vizedirektoren, sieben Generalinspektoren, drei Sekretäre, fünfzehn Chefs der Partie, neununddreißig Chefs des Tisches, vierzig Vizechefs und vierhundertneununddreißig Croupiers.

Eingekeilt in das Tohuwabohu der Leidenschaften, mit gespannter Aufmerksamkeit, den Kontrolleur hinter ihrem Rücken, in erstickender Luft, so arbeiten die Angestellten vier Stunden lang, um nach vier Stunden Pause wieder ans Rad geflochten zu sein. Auch sonntags wird gespielt wie an jedem anderen Tag, von zehn Uhr morgens ohne Mittagspause bis Mitternacht oder zwei Uhr morgens. Einen Tag in der Woche haben die Angestellten frei.

Die Bemannung der Tische ist bei weitem noch nicht die ganze Bemannung des Saals. Diener in betreßten Kniehosen und weißen Strümpfen leeren ununterbrochen die Aschenbecher, andere, in langen unbetreßten Hosen, kehren den sich immer wieder mit Zetteln bedeckenden Fußboden. Um sechs Uhr abends werden Petroleumlampen in den Wandnischen und auf den Ziergalerien angezündet, damit, wenn das elektrische Licht versagt, keine Panik entsteht, bei der Menschen getötet werden könnten oder gar Einsätze verschwinden.

Inspektoren, genannt »croque-morts«, Leichenträger, und andere Spitzel lungern herum, Männer und Frauen, die am Spiel teilnehmen. Im Ärztezimmer ist Bereitschaft.

Zwei »physiognomistes« stehen am Eingang zum Saal; ihre Aufgabe ist es, sich das Gesicht des Besuchers einzuprägen, zu wissen, ob seine Eintrittskarte abgelaufen ist, zu erkennen, ob sich niemand mit fremdem Billett einschleicht, zu unterbinden, daß unter falschem Namen jemand wiederkehrt, dem der Eintritt verboten ist, zum Beispiel einer, der das »viatique«, das (Ab-) Reisegeld erhalten hat, weil er sein Vermögen restlos verlor.

 

Da saust die Kugel, die für den nachmaligen Bewohner des Selbstmördergrabes die letzte war, da saust sie weiter, da dreht sich das Rad, sie aufzufangen, da zieht die Bank die Einsätze an sich, da fliegen oder kriechen Jetons auf Nummern und Farben und Felder. Die Zigarette erlischt im Mundwinkel, Hände kritzeln die gefallene Nummer auf eine Systemtabelle, Augen bohren sich in die Einteilung des grünen Tischs, in die sausende, schwarzrot schimmernde Scheibe. Die vor dem Spieler aufgeschichteten Jetons vermehren sich oder verringern sich. Haben sie sich verflüchtigt, so winkt man einen Diener heran, reicht ihm einen Hundertmarkschein, einen Fünfpfundschein oder einen Tausendfrankenschein. Er eilt zur Kasse, und im Nu kommt er zurück; er hat die Banknote eingewechselt in die Währung von Monte Carlo, in Spielmarken.

An den Roulettetischen beträgt der Mindesteinsatz zehn Francs, mehr als 24 000 Francs darf man nicht setzen, bei Trente-et-Quarante kann man von 40 Francs an bis 60 000 Francs setzen. Mitunter arbeiten fünfundzwanzig Roulettes und sieben Trente-et-Quarantes gleichzeitig. An jedem Tisch sitzen etwa dreißig Personen, und über hundert stehen mitspielend in zwei, drei kompakten Reihen hinter ihnen. 500 000 Eintrittskarten werden im Jahr ausgestellt. Saisonkarten und Jahreskarten sind darunter, deren 20 000 Inhaber täglich kommen, solang ihr Vorrat reicht. Artikel 3 der Hausordnung (auch unten in der Halle großmächtig angeschlagen) besagt:

Anständige Kleidung ist strenge Vorschrift.
Arbeitern und Personen, die nicht unabhängig sind, ist der Eintritt verboten.

Fällt der Ball auf »zéro« (null), so gehören der Bank die Einsätze, die auf dem ersten Dutzend (1 bis 12), auf dem mittleren (13 bis 24), auf dem letzten Dutzend (25 bis 36) oder »sur deux«, das heißt auf Schwarz und Gerade oder umgekehrt liegen, die Einsätze, die sechs Nummern umfassen (transversale de six numéros), vier Nummern (carré), drei Nummern (transversale de trois) oder zwei Nummern (à cheval) und alle auf irgendeiner Nummer (en plein).

Wenn »zéro« fällt, zahlt der Croupier nicht dem einen den doppelten Einsatz aus, nicht dem andern den sechsfachen und nicht dem dritten den achtzehnfachen – der ganze Tisch, viele tausend Francs gehören der Bank. Nur die Einsätze auf den »einfachen Chancen« (Schwarz, Rot, Gerade, Ungerade, höhere Hälfte, niedere Hälfte) bleiben »en prison« bis zum nächsten Spiel liegen. Wer aber auf »zéro« gesetzt hat, gewinnt nicht mehr, als man bei jeder anderen gefallenen Nummer gewinnt.

Siebenunddreißigfaches Geld? Nein. Sechsunddreißigfaches Geld? Auch nicht. Man kriegt zwar im Gewinnfall für zehn Francs, die man auf eine der 37 Ziffern gelegt hat, 360 Francs, doch ist in diesen 360 Francs der Einsatz einbezogen. Demnach gewinnt man nur fünfunddreißigfaches Geld.

Morgens, vor Eröffnung der Säle, wird Kapital ausgegeben: 80 000 Francs für jeden der Roulettetische mit zehn Francs Mindesteinsatz, 150 000 Francs für die Roulettes zu zwanzig Francs und 400 000 Francs für die Hundert-Francs-Tische. Geht einem Tisch das Geld aus, so wird das Spiel in dramatischer Weise unterbrochen, auf daß wieder einmal in die Welt posaunt werden kann: »Die Bank gesprengt.« Die Spielbank ist die einzige Bank, die an der Veröffentlichung ihrer Verluste gewinnt. Neue Gimpel werden dadurch herangelockt.

Geschäftsschädigend dagegen ist ein Selbstmord wie der des Polizeipräsidenten von Nizza, der die Gehälter der Beamtenschaft verspielt hatte, oder das Benehmen von Rücksichtslosen, die sich mitten im Spielsaal erschießen.

Mit Schaudern denkt die »Seebäder«-Direktion an die Affäre Gould. Der irische Baronet Sir Vere Gould und seine Gattin luden, nachdem sie ihr Vermögen verspielt hatten, an einem Julinachmittag von 1907 die reiche dänische Witwe Levy in die von ihnen bewohnte Villa Meusini. Lady Gould erschlug Frau Levy mit einer Axt, das Ehepaar packte die Tote in einen Koffer, spielte bis Mitternacht im Sporting-Club und reiste am nächsten Tag mit der Leiche ab. In Marseille wurden die Goulds verhaftet und nach Monaco zurückgebracht, wo man sie zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilte.

Ein Jahr später gab ein anderer Mord zu peinlichstem Aufsehen Anlaß. Auf dem Weg nach Mentone war der Engländer George Allender ermordet aufgefunden worden. Mister Allender hatte seit Wochen enorm gewonnen, aber jedermann wußte, daß er allabendlich sein Geld in der Kasse des Casinos deponierte. Auch der Umstand, daß man in der Tasche des Toten dessen Brieftasche mit mehreren Pfundnoten fand, sprach gegen einen Raubmord. So erhielt sich das Gerücht, George Allender sei umgebracht worden, damit er durch sein Glück oder sein System das Casino nicht länger schädige. Die Täter wurden nie ermittelt.

Nach jeder Affäre donnerte es von den Kirchenkanzeln gegen den Spielteufel, die Presse grub vergessene Opfer aus, aber der Betrieb der Spielhölle stockte nicht.

In der angrenzenden Villensiedlung Beau-Soleil wurde vor dem Krieg ein Konkurrenzunternehmen gebaut. Zwar waren hier, auf französischem Hoheitsgebiet, lediglich Boule und Bakkarat und Chemin de fer erlaubt, doch konnten die Untertanen des Fürsten, die Angestellten der Hotels und die Dienerschaft der Fremden mitspielen, und die Einsätze waren geringer als im alten Casino. Camille Blanc bekam die Geschäftsstörung zu spüren; flugs kaufte er die neue Bude auf und betrieb sie durch Mittelsmänner so lange, bis er sich überzeugt hatte, wie richtig seines Vaters Prinzip gewesen war, die einheimische Bevölkerung aus dem Spiel zu lassen.

Das »Städtische Casino von Beau-Soleil« ward zum Kino »Capitol«. In einigen Sälen ist die Universität für zukünftige Croupiers untergebracht. Man lehrt dort das Mischen der Karten, das Drehen der Roulette, das Schnellen der Elfenbeinkugel, das Zuwerfen der Gewinne und vor allem das Einziehen der Verluste. Auch als flinke Kopfrechner müssen sich die Hörer erweisen. Mitte Oktober ist Semesterschluß, der Ernst des Lebens tritt an sie heran: das Spiel.

Geldeswert ziehen sie nun im Casino an sich und Liebesblicke. Denn viele glauben, der Croupier könne den Lauf des Balls bestimmen. Aber die Kugel, von seiner Hand geschnellt, jagt dreißigmal bis fünfzigmal im Rund dahin, verliert den Atem, verlangsamt ihr Tempo, schließlich taumelt sie, schwindlig geworden, auf der glatten Wölbung, sucht unschlüssig einen Unterschlupf, und wenn sie sich endlich in eines der Felder fallen lassen will, so sinkt sie in ein anderes, weil die Scheibe, während die Kugel kreist, in entgegengesetzter Richtung rotiert.

 

Die Bundesgenossenschaft mit dem Croupier nützt dem Spieler nichts. Wie unversehens ließ einmal eine Spielerin am Trente-et-Quarante-Tisch Geldstücke zu Boden fallen. Ihr Komplize benützte die abgelenkte Aufmerksamkeit des Tisches, um dem neben ihm sitzenden, im Bunde befindlichen Croupier eine präparierte Kartenserie zuzuschieben. Das Konsortium war vorsichtig und wiederholte den Trick nur dreimal innerhalb von vier Wochen – beim drittenmal wurde es erwischt. Seither ist der »Addison-Coup« bekannt, und fällt Geld auf die Erde, so richten sich aller Detektive Blicke sofort auf den Croupier.

Keine Spielerhand hat auf dem grünen Tuch etwas zu schaffen, sobald die Worte »Le jeu est fait« gerufen sind. Niemand kann einen Einsatz hinlegen, wenn sich die Kugel in eine Delle gebettet hat und die Harke des Spielbeamten über den Tisch zu fahren beginnt.

Falschspieler erfanden die »Schießende Krawatte« (im Kriminalmuseum von Zoppot kann man aparte Muster dieser Krawatte sehen), aus der sie ein Jeton auf das Gewinnfeld schnellen. Auf der andern Seite des Tisches steht ein Komplize. Der bezeichnet die Spielmarke als seinen Einsatz und bekommt den Gewinn.

Patent und Geheimnis des Kartenkönigs Korff war, ehe es durch die Berliner Polizeiausstellung öffentlich gezeigt und weiteren Kreisen zur Nachahmung freigegeben wurde, der Gummischlauch im Anzug. Drückte Korff die Knie zusammen, so wurde dadurch eine im Ärmel verborgene Spielkarte in seine Hand geblasen. Ob der Apparat auch zum Herausblasen von Münzen ausgebaut wurde, ob damit in Monte Carlo nachträglich gesetzt wurde und wie oft man die Täter ertappte, kann man nicht erfahren. Monte Carlo hat weder ein Kriminalmuseum wie Zoppot noch eine Polizeiausstellung wie Berlin.

Mit gefälschten Spielmarken ins Casino zu kommen ist eine naheliegende Idee. Die echten Jetons (von den Deutschen »Chips«, von den Engländern »Counters« genannt) werden unter den gleichen Vorsichtsmaßregeln hergestellt, wie sie ein Staat beim Prägen von Geld walten läßt. Gleichwohl sind es nur Plättchen aus Galalith, die eine Ziffer tragen, und sie nachzuahmen ist nicht schwer; man riskiert, selbst wenn man erwischt wird, kein Verfahren wegen Falschmünzerei, wird wahrscheinlich überhaupt nicht belangt, nur schleunigst aus Monaco – und wie groß ist schon ganz Monaco? – ausgewiesen.

Dennoch lohnt sich auch dieser Betrug nicht. Beschaffung echter Jetons als Modell, Herstellung der falschen, ihr geheimer Transport, die Reise nach Monte Carlo machen Spesen, die im Laufe eines Tages nicht gedeckt werden, geschweige denn am gleichen Tag noch einen entsprechenden Gewinn bringen können. Und zwischen dem ersten Tag und dem zweiten wird die Sache brenzlig. Nachts werden alle abgelieferten Jetons gezählt (nicht Stück für Stück, sondern man schüttet jede Sorte in Stangenmaße) und ihre Zahl mit der am Morgen ausgegebenen verglichen. Durchschnittlich fehlt ein Prozent, die Stücke, die die Gäste nach Hause nehmen, um morgen damit weiterzuspielen. Sind aber mehr Münzen vorhanden, als ausgegeben wurden, beträchtlich mehr sogar, dann ist Alarm. Einzelüberprüfung. Man findet die gefälschten Marken.

Am nächsten Vormittag ist's in der Salle Schmit wie an allen anderen Tagen. Da kommt jemand zur Kasse, will einen Posten falscher Jetons gegen Geld einwechseln und wird diskret dingfest gemacht . . .

Das Casino schützt sich gegen Betrug und brüstet sich mit seinen Vorsichtsmaßregeln. Die Spielkarten sind eigens für Monte Carlo hergestellt, von der Regierung kontrolliert, das sechsfache Kartenspiel von »Trente-et-Quarante« wird nur zweimal verwendet und dann in der Gasfabrik verbrannt.

Nach Feierabend werden die Roulettes mit einem Deckel verschlossen, damit niemand an den Rädern feilen könne. Morgens mißt ein Ingenieur mit der Wasserwaage, ob Tisch und Scheibe keine Abweichungen zeigen, keine Zuneigung nach einer Richtung hin.

 

Nein, Sie können beruhigt sein, die Bank spielt ehrlich, Sie verlieren Ihr Geld auf korrekteste Weise. Sie verlieren Ihr Geld um so sicherer, je sicherer Ihr System ist.

Sie haben keines? Nun dann können Sie sich eines kaufen. In den vielen Spielwarenläden für Erwachsene gibt es wohlassortierte Lager von Gleichungen, Tabellen und Schriften in allen Sprachen: »Leichtes Leben durch Roulette und Trente-et-Quarante«; »Neues wissenschaftliches System des Roulettespiels«; »Mathematische Theorie des Spiels«; »Der Schlüssel zur Macht«; »Die d'Alembertsche Steigerung«; »Geheimes Manuskript des orientalischen Professors Alyett«; »Die Methode des Mandarins Ching-Ling-Wu«, teils Schriften in verklebtem Umschlag, der erst nach Kauf geöffnet werden darf, teils gelehrt aufgemachte Werke wie das dickleibige »Le gain scientifique à la Roulette ou au Trente-et-Quarante par les lois du Hasard« von Marigny de Grilleau.

Die Mehrheit der Spieler hat vermeintlich selbstausgeheckte Systeme, die aber längst von anderen ausgeheckt worden sind. Bestechend sind die »Martingales«: Man setzt auf eine einfache Chance in arithmetischer Progression, das heißt, man verdoppelt die Einsätze so lange, bis man gewinnt. Dann fängt man von neuem mit zehn Francs an. Der schließliche Gewinn beträgt immer um einige Stück mehr als die Summe der gesetzten Stücke. Ich setze zum Beispiel zehn Francs, verliere und setze zwanzig Francs, verliere wieder und setze vierzig Francs. Nun gewinne ich, bekomme achtzig Francs ausbezahlt. Siebzig hatte ich angelegt.

Wenn die Einsätze bloß nicht so rasend rasch anwachsen würden! Schon bei neunmaligem Verlieren sind es 511 Stücke (1 + 2 + 4 + 8 + 16 + 32 + 64 + 128 + 256), das sind 5110 Francs. Das zehntemal müßte ich zweimal 256 Stücke, also 5120 Francs setzen. Riskiere ich diese Summe und gewinne endlich, dann beträgt der Gewinn 10 240 Francs, nachdem ich 10 230 eingesetzt habe. Zehn Francs gewonnen in so langem, hohem Spiel!

Zu meinem Glück oder Unglück besitze ich diese 5120 Francs nicht. Ein Kapitalist müßte nicht wegen Geldmangels aufhören, dennoch ist auch er nicht imstande, viel länger zu verdoppeln. Denn die Bank schreibt eine Grenze der Einsätze vor.

Einmal, zu später Nachtstunde, war ich in einem Café auf der Place d'Armes zu Monaco. Am Nebentisch saß ein Mann mit grauem Spitzbärtchen, ich hätte ihn um zwanzig Jahre älter als mich geschätzt. Aber ich schätzte weder sein Alter, noch hatte ich ihn überhaupt bemerkt, bevor er sich an mich wandte: »Vous êtes Monsieur Kisch, n'est ce pas?« – »Oui«, antwortete ich geistesgegenwärtig, obwohl mich diese Erkennungsszene auf der mitternächtlichen Condamine überraschte.

»Du erkennst mich nicht? . . .Ich war dein Mitschüler auf der Realschule.« – »Ach, natürlich«, beeilte ich mich, mich zu besinnen, »du bist der Horatschek Wenzel!« – »Der Krebs Benedikt«, verbesserte er und fügte hinzu: »Ich habe dich schon heute im Casino gesehen und sofort erkannt.« – »Warum hast du mich nicht angesprochen?«

Darauf gab er keine Antwort. Wir rückten unsere Stühle zusammen und sprachen von der Vergangenheit in Prag und von der Gegenwart in Monte Carlo. Er sei vor dem Krieg hierhergekommen, mit einer Frau, habe gespielt, gewonnen, verloren, wieder verloren, sei 1915 zur monegassischen Armee eingerückt, die, auf Kriegsstärke erhöht, ein Halbbataillon war. Sein rechter Fuß sei kein rechter Fuß, sondern eine Prothese. Nun spiele er nicht mehr.

»Du sagtest doch, daß du mich heute im Casino gesehen hast?« – »Ja, aber ich spiele nicht mehr. Hast du gespielt?« – »Ein wenig.« – »Nach welchem System?« – »Nur aufs Geratewohl. Ich habe kein System.« – »Es gibt auch keines, das ist alles Unsinn. Wenn's eines gäbe, stünde die Bude da oben nicht mehr. Alle Welt hat geglaubt, Garcia habe das System – er gewann zwei Millionen binnen vier Wochen. In der nächsten Saison verspielte er die ganzen Millionen. Wenn sein System ein System gewesen wäre, hätte ihm die Bank Millionen gezahlt und nicht das Viatique. Mit Wells war's ähnlich.« – Ich nickte. »Es ist am besten, man schmeißt ein Jeton auf ein beliebiges Feld. Hat man Schwein, kriegt man Geld, hat man Pech, so kriegt man nichts.«

»Nein, nein«, ereiferte er sich, »das ist Unsinn. So denken die Touristen. Die setzen ihre Garderobennummer, und wenn sie verlieren, werfen sie dem Verlust den Rest der Jetons nach. Schade ums Geld! Man muß vernünftig spielen.«

Vernünftig spielen? Ich erinnerte ihn, daß er noch vor fünf Minuten behauptete, es gäbe kein System. »Natürlich gibt's kein System«, rief er, »sonst könnte man ja immerfort die Bank sprengen. Aber Spielregeln gibt es. Wenn man sie einhält, so verschleudert man sein Geld nicht, muß sogar kontinuierlich gewinnen, wenn auch nur geringe Summen.« – »Na, na!« – »Was heißt: Na, na? Die Sache ist sehr einfach. Sogar du wirst es verstehen, obwohl du der Schlechteste warst beim Mrazek – Mrazek war unser Mathematiklehrer, wenn du auch das vergessen haben solltest.« – »Du warst wohl sehr gut beim Mrazek?« – »Ja, ich hatte immer vorzüglich. Es war leider meine einzige gute Note. Mathematik verstehe ich, und deshalb glaube ich nur an die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Ihre Grundsätze muß man befolgen.« – »Wie machst du das?« – »Ich mache das überhaupt nicht mehr. Aber ich kenne die Regeln.«

Er nahm den Bleistift. »Paß auf! Man setzt dreißig Francs auf Manque, die niedrigere Hälfte der 36 Ziffern. Kommt eine von den Nummern 1 bis 18 heraus, gewinnt man dreißig Francs, nicht wahr?« – »Und wenn 19 bis 36 herauskommt, so verliert man dreißig Francs, nicht wahr?«

»Richtig. Gleichzeitig aber mit Manque hat man auf Dernière Douzaine zwanzig Francs gesetzt, auf die Ziffern 25 bis 36. Jedes Dutzend zahlt zweifaches Geld. Kommt also Dernière Douzaine, so hat man für zwanzig Francs sechzig Francs.« – »Fällt aber eine Ziffer der beiden anderen Dutzend, so verliert man seine zwanzig Francs.«

»Aber da man ja gleichzeitig für die dreißig Francs auf Manque dreißig Francs gewonnen hat, so verliert man nichts, sondern hat zehn Francs mehr. Man setzt also immer fünfzig Francs und gewinnt immer sechzig, gleichgültig ob Niedere Hälfte oder Letztes Dutzend herauskommt. Das ist alles.« – »Und wenn weder Niedere Hälfte noch Letztes Dutzend herauskommt, so verliert man immer fünfzig Francs.« – »Sehr richtig«, Krebs Benedikt lächelte ironisch, »du bist vielleicht gar kein solcher Esel in Mathematik, wie der Mrazek geglaubt hat. Sehr richtig; wenn weder Niedere Hälfte noch Letztes Dutzend herauskommt, so verliert man fünfzig Francs. Aber«, er kopierte Mrazek, »können Sie mir aus Ihrem Köpfchen hersagen, welche Nummern zu diesem Behufe des Verlierens fallen müßten?« – »Die Nummern 19, 20,21,22, 23 und 24.«

»Sieh mal an, der Kisch Egon scheint ausnahmsweise etwas gelernt zu haben. Also sechs Nummern. Die Chance des Verlierens beträgt demnach nur ein Sechstel.« – »Und außer diesen sechs Nummern kann auch Null fallen.« – »Mit dem Zéro darf man nicht rechnen. Das ist eben Refait der Bank. Davon lebt sie, und von den Patzern. Wenn man immer das Zéro einkalkulieren würde, könnte man überhaupt nicht spielen.«

Ich verzichtete also auf Zéro, im übrigen war ich noch nicht überzeugt. »Bei sechs Spielen kann man mit deiner Methode sechsmal zehn Francs gewinnen. Es besteht aber die Wahrscheinlichkeit, daß bei je sechs Spielen einmal eine Nummer aus dem Sechstel herauskommt, das nicht belegt war, eine Nummer von 19 bis 24. Dann verliert man den Einsatz von fünfzig Francs.« – »Da man aber fünfmal zehn Francs gewonnen hat, kostet der Verlust nichts. Erst nach zweimaligem Verlieren innerhalb von sechs Spielen wäre der Einsatz weg. Wie du richtig gesagt hast, soll nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung eine Ziffer des vierten Sechstels bei je sechs Spielen nur einmal kommen. Erfahrungsgemäß aber kommt sie viel seltener.« – »Warum spielst du also nicht mehr?«

Mein Mitschüler war zu Anfang unserer Begegnung ein gedrückter Mensch gewesen. Während des Gesprächs hatte er sich ereifert, eine überlegene Art angenommen. Jetzt wurde er wieder zu einem Mann, dessen Alter ich um zwanzig Jahre höher als das meine geschätzt hätte. »Warum ich nicht mehr spiele? Ich darf nicht mehr spielen.« – »Wer verbietet es dir?« – »Ich bin Angestellter des Casinos.« – »Croupier?« – »Nicht Croupier – Angestellter . . .Und was hast du für einen Beruf? Bist du Ingenieur geworden?«

So lenkte er ab, und mir fiel ein, wo er mich im Casino gesehen, es war auf der Toilette gewesen, deshalb hatte er sich geschämt, mich anzusprechen: Er, der beste Mathematiker unter meinen Mitschülern, der Spieler mit den verläßlichen Regeln, war der »Letzte Mann« des Casinos von Monte Carlo. »Nein, ich bin nicht Ingenieur geworden«, antwortete ich, »ich bin Schriftsteller, ein beschissener Beruf, das kannst du mir glauben.«

 

Auf der zum Hafen hinabführenden Rampe, in einem vornehmen Gebäude, tagt der »Sporting Club«. Er hat mit Sport soviel zu tun wie die Seebädergesellschaft mit Seebädern und ist auch kein Klub, sondern ein ebensolches Geschäftsunternehmen wie das Casino.

Früher haben die um zwei Uhr nachts zum Verlassen des Casinos gezwungenen Nobelgäste in Nizza, im »Cercle de la Méditerranée«, weitergespielt. Um diesen Hartnäckigen die Mühe der nächtlichen Reisen nach Nizza zu ersparen, kaufte das Casino von der Fürstin Radziwill, geborene Blanc, das Hotel »Monte Carlo« und richtete es als exklusiven Spielsaal für Aristokraten und Millionäre ein. Als die Abwanderung dieses Publikums nicht mehr zu befürchten war, lockerte man die strengen Aufnahmebedingungen.

Keine Sperrstunde und keine Maximalgrenze für die Einsätze gibt es im »Sporting«, kein Roulette hat ein Betriebskapital unter einer halben Million Francs, die Trente-et-Quarante-Tische mit 500 . . .Francs Mindesteinsatz sogar 600 000 Francs . . .täglich. Man braucht keine Jetons, Bargeld und Schecks gelten als Einsätze, selbst Ehrenwort genügt oft. Die Filiale einer Pariser Großbank amtiert im Klub, gewährt bei Tag und Nacht Kredite. Das Telegrafenamt liegt gegenüber, und wer im Bakkarat verliert, kann nach Hause telegrafieren: »abbrechet verhandlung mit gewerkschaften stop hinweiset auf katastrophale wirtschaftslage der fabrik durch ausbleiben südamerikanischer aufträge.« Oder: »kann nicht weiter zusetzen stop schließet zementabteilung entlasset belegschaft per sonnabend.«

 

Nachts ist die weiße Fassade des Casinos von Scheinwerfern überschüttet, die Girlanden leuchten, sicherlich wirkt dieser geschminkte Bahnhof von ferne wie ein Feenpalast. So lockt er die Gäste der Küste und die Passagiere der Schiffe.

In den Sälen sieht es anders aus als am Tage. Die Damen tragen Abendkleid, Schmuck und grellrote Fingernägel, die Herren sind im Frack, und auch die Sous-Chefs, die das Spiel vom erhöhten Platz überwachen. (»Gamblers look-out« hieß dieser Stuhl im Kalifornien der Goldgräberzeit, und der Spielinspektor schwang zwei große Pistolen.)

Zigarettenrauch umschwelt die Kronleuchter. Gesteigert haben sich die Leidenschaften, fiebernd wartet man auf den Zu-Fall. Man hält keine Karte in der Hand, man mischt nicht, man teilt nicht, hat nicht einmal die Fiktion, etwas für seine Chance zu tun. Bei Trente-et-Quarante muß der Croupier vier bis fünf Leute auffordern, bevor einer die Karten abhebt, niemand will Hand anlegen, niemand ins Schicksal eingreifen.

Aberglauben und Mathematik schließen einander nicht aus. Am Freitag ist der Casinobesuch um die Hälfte schwächer als sonst, auch jene, die streng nach der d'Alembertschen Progression spielen, vertrauen an diesem Tag der Wissenschaft nicht. Dagegen ist die Dreizehn nicht für jedermann eine Unglückszahl; viele glauben, daß sie Glück bringt, und für solche hat das Hotel drei Zimmer mit dieser Nummer reserviert: 13a, 13b und 13c. Vitrinen an den Wänden des Casinos präsentieren ein Parfüm »treize« und goldene Dreizehner als Krawattennadeln und Broschen. Jeder Monat hat sein Amulett mit einem anderen Halbedelstein und der Figur des Tierkreises.

Die Geschichten von dem buckligen Bettler, der als Glücksbringer vor dem Casinoeingang stand, sind allerdings erfunden, den Buckligen hat's nie gegeben und auch seinen Sohn nicht, dem er nach seinem Tod den falschen Buckel vererbt haben soll. In und vor dem Casino gibt's keinen Bettler. Von hier muß man im Augenblick, da man zum Bettler wird, abfahren.

Drinnen in der Salle Schmit hat sich ein alter Vierschrot, Knollennase, hohe Stiefel, anscheinend ein Landwirt, auf das Sofa in der Ecke geworfen. Er rauft sich das Haar, reißt es in Büscheln aus, sucht in den Taschen, in einem um den Hals gebundenen Säckchen, stöhnt. Dann wankt er hinaus – er wankt, es ist wie in einem Schundroman. Wir sehen durch das Fenster dem Verzweifelten nach, er schleppt sich ein paar Schritte, bleibt stehen, wankt dem Park zu.

Mann über Bord. Hart und unbeirrt segelt das Geschwader weiter. Hart und unbeirrt drehen die Steuermänner die Räder. Hart und unbeirrt lugen die Kapitäne von der Kommandobrücke. Starren Blicks beugen sich die Passagiere über die Reling. Sie wollen von diesem Kap der Guten Hoffnung zu jener Insel Thule. Seekranke taumeln auf dem Deck, ein Verzweifelter klimmt das Fallreep hinab, ausgeschifft wider Willen.

Auf einer meterhohen schwarzen Tafel in der Vorhalle werden ununterbrochen Telegramme aus aller Welt angeschrieben.

Im Spielsaal setzt jemand »Noir« und »Inverse«, während draußen verzeichnet wird, daß im Hafenbezirk von Kairo vierhundert Menschen der Beulenpest zum Opfer fielen. Einer verliert tausend Francs, die auf der mittleren Kolonne lagen, Fridtjof Nansen heute nacht gestorben; Nummer 23 kommt zum viertenmal heraus, hundertvierzigtausend Bergarbeiter sind gestern in Wales in den Streik getreten; Eisenbahnunglück bei Warschau, sechzig Tote, der Lokomotivführer verhaftet, »Rouge gagne et Couleur«; Bankenkrach in Wallstreet, Grundsteinlegung der Schleuse Dneprostroi, die Scheibe kreist, die Kugel rollt, der Schwamm löscht weg, der Croupier zahlt aus, Telegramme kommen, die Karten fallen, eine Welt hungert, eine Welt spielt, eine Welt stirbt, eine neue Welt wird gebaut. Machen Sie Ihr Spiel, meine Herren.

 

Das Eingangslicht des Hotel de Paris fällt auf die hellviolette Livree des Negerportiers, die Strahlen der Fontaine lumineuse wechseln die Farben allmählich oder jäh, die Tropfen glitzern bald wie rote Funken, bald wie Brillantensplitter.

Im Park duften Rosen und Glyzinien, schwingen sich die Zweige der Agaven und Palmen kühn empor und neigen sich sanft wieder herab, Baldachine aus Ranken und Blüten überwölben die Bänke, auf denen man sich erschießt.

 


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