Egon Erwin Kisch
Die Abenteuer in Prag
Egon Erwin Kisch

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IV
Von Beisln und ihren Gästen

Konsignation über verbotene Lokale

Schlachtenbilder, Porträts von Feldherren, Armeetruppeninspektoren, die Liste der Schützen, Warnungen vor Spionen hängen einprägsam und aneifernd an den Korridorwänden des Kompagnierayons. Das Auge der Tagcharge, die Augen des wartenden Rapports, die Augen der mit Ziel- und Anschlagsübungen beschäftigten Mannschaft, die Augen der Kasernarrestanten und Maroden und aller anderen, die die würzige Luft des Ganges tagsüber einatmen, bleiben manchmal an den gerahmten Bildern und Tafeln haften. Auf daß entfacht werde kriegerische Lust, Wunsch nach Heldentum, nach Kämpfen, und die Sehnsucht, für fremde Leute den Heldentod zu krepieren. Aber besondere Fluoreszenz bekommen die Kriegeraugen vor einer Tafel, auf der die Schauplätze einer ganzen Reihe von blutigen Schlachten aufgezählt sind. Und selbst der ambitionslose Soldat schreibt sich knapp vor seinem Heimgang ins Zivil die Namen dieser Schlachtfelder in sein Notizbuch – fest entschlossen, im schlichten Rock des Bürgers eine Wallfahrt in diese Gefilde zu unternehmen. Jeder, der einst Soldat war, weiß, welche Tafel gemeint ist: »Konsignation über jene Gasthäuser, deren Besuch der k. u. k. Garnison Prag verboten ist.« Es ist eine äußerst bequeme und sinnreiche Einrichtung, daß neben dem Namen jedes der verbotenen Gasthäuser auch die genaue Adresse verzeichnet ist, damit es leicht zu finden sei, und überdies ist aus historischen Gründen genau der Tag angegeben, an dem das Verbot erlassen wurde, – lernen wir nicht auch in der Schule die Jahrestage ruhmreicher Schlachten?!

Elf Gasthäuser prangen auf der Liste, die vom verbotenen Paradies kündet. Freilich gibt es noch andere Lokale, in die kein Soldat darf, aber für diese ist das 302 Verbot nur vom Gastwirt erflossen, der seine Autorität gegen die bewaffneten Gäste nicht anders zu wahren vermochte. Ehrender aber ist das Verbot, das gegen die elf Wirtshäuser erging. Es ist offiziell im Garnisonsbereich verlautbart worden, weil zuviel Polizei- und Wachrapporte, zu viel Verletzungsberichte des Garnisons-Inspektionsarztes von diesen elf traulichen Stätten erzählen oder weil es dort andere Unzukömmlichkeiten gab, z. B., daß ein elender Zivilist es wagte, Mißfallen eines Soldaten zu erregen, obwohl doch ein solcher das Reichswappen auf dem Bauch und den ärarischen Stempel auf dem Hosenfutter trägt!

Den Ruhm, am längsten von allen verboten zu sein, hat das Wirtshaus »zur Stadt Schlan« in der Smetschkagasse Nr. 605, den Stammgästen unter dem Namen »U Kocanu« bekannt. Sie ist seit dem 3. November 1901 der Prager Garnison gesperrt. Die ersten Gäste, die uns bei unserem Eintritt in die Augen fallen, sind zwei Soldaten. Wie groß müssen die Genüsse sein, die hier geboten werden, wenn diese zwei Soldaten lieber die Gefahr des Ertapptwerdens auf sich nehmen, als sich zum Fernbleiben zu entschließen!

Eine Schar von Frauen umringt und bittet uns um den Zettel, den wir gleichzeitig mit der Garderobekarte erhalten. Es ist ein Stimmzettel für die Preiskonkurrenz, denn wir sind bei einem Schürzenkränzchen. Ein Fratz hat uns schnell den Wahlzettel entrissen; der schwarze Bogen über den Augen der Kleinen ist gefärbt, der schwarze Bogen unter ihren Augen ist echt. Sie schwingt die Zettel jubelschreiend in die Höhe: »Ich habe schon fünfzehn!« Wir blicken ihre Schürze an, für die wir unsere Stimme gegeben haben und sehen empört, daß die Kleine nur eine gewöhnliche Gasthausserviette vorgebunden hat. Unsere Empörung wird zur Beschämung, als wir uns von zwei Dienstmädchen vorwurfsvoll angeblickt fühlen, die schöne, gehäkelte Schürzen, mit himmelblauen Bändern mühselig garniert, umgebunden haben, aber noch keinen Wahlzettel 303 zu erbeuten vermochten. Wir beschwichtigen unsere Selbstvorwürfe mit der alten Regel, daß bei Wahlen ja doch nur die Agitation über die gerechte Sache den Sieg davonträgt; Demokratie und Parlamentarismus und Abstimmungen über Angelegenheiten anderer immer Schwindel sind.

Wir haben kaum unser Bier bestellt, als wir schon von zarten Mädchen zum Tanze aufgefordert werden. »Es ist gerade Damenwahl?« fragen wir freundlich, während wir am Arme unserer Schönen aus dem Gastlokal zum Tanzsaal schreiten. »Aber! Es ist doch Schürzenkränzchen! Da wählen ja immer bis elf Uhr nachts die Damen.« Wir nehmen beschämt diese gesellschaftliche Belehrung entgegen, die nicht die einzige dieses Abends bleiben soll. Die Wand des Tanzsaales ist frisch vertüncht, aber von der alten Bemalung ist der richtigste Teil freigeblieben, ein Rechteck, auf dem mit großen Lettern die sechs ehernen Regeln des feinen Benehmens verzeichnet sind:

Strengstens verboten ist:

  1. Exzentrische Tänze zu vollführen;
  2. zu singen oder mit den Füßen zu stampfen;
  3. daß die Damen den Herren Körbe geben;
  4. in Hüten zu tanzen;
  5. den Herren während des Tanzes die Damen abzunehmen;
  6. und ähnliche Ausschreitungen zu begehen.

Außer einem schreiend bunten Plakat, auf dem Herr W. Kocourek als Wirt und Franta Strup als Oberkellner den Gästen ein fröhliches Neujahr wünschen, hängen an der Wand noch vier Zeichnungen, vier Posen des Tangos veranschaulichend: ein buckliger, kleiner Mann tanzt auf den Bildern mit einer doppelt so großen, üppigen Partnerin. Wir beginnen nun mit unserer Auserwählten einen »Wrschovak« zu tanzen. Franta Strup, Oberkellner, weist uns zurecht. Er 304 deutet auf den Paragraph 1 der an die Wand gemalten Knigge-Regeln:

»Exzentrische Tänze sind verboten.«

Wir erwidern, indem wir auf die vier Tango-Bilder deuten: »Das ist doch Tango, was wir da tanzen.«

»Tango ist auch ein exzentrischer Tanz und hier verboten.«

»Warum hängen denn die Bilder hier?«

»Zum abschreckenden Beispiel. Damit man sieht, was der Tango für eine Blödheit ist.«

Noch einmal betrachten wir die vier gemalten Tango-Posen und kriegen vor dem unbekannten Meister allerhand Respekt. Wenn er die Bilder wirklich zum abschreckenden Beispiel gemalt hat, – keinem Künstler der Welt hätte es besser glücken können.

Wir verlassen nach der Zurechtweisung gedemütigt die allzu steife und allzu zeremonielle »Stadt Schlan« und folgen unserer Konsignation und dem Alt-Prager Studentenliede, das da lautet:

Zum Apolligen, zum Appolligen
Will ich meinen Schritt setzt trolligen,
Wo der Tischgast atrophiert,
Wo zum Klang der munt'ren Polka,
Den Primär die hezká holká
Minniglich zum Tanze führt.

Seitdem Doktor medicinae Keim dieses Lied gesungen hat, sind sieben Jahrzehnte ins Land gegangen, unzählige Generationen von atrophierenden Tischgästen, von hezké holkyund von minniglich zum Tanze geführten Primarii dahingesunken, und auch das Tanzlokal »Apollo« am Fügnerplatz (der Mannschaft seit 25. Jänner 1907 verboten) hat gewiß mancherlei Wandlungen durchgemacht. Es ist heute ein riesiger, mit Glaswölbungen überdachter Tanzsaal, in dem sich an Sonn- und Feiertagen, Montag, Dienstag und Freitag mehr als hundert Paare im Tanze zu drehen bemühen. Unter den Ballgästen Umschau haltend, können wir 305 nicht glauben, daß von den Herren, die die hezké holky minniglich zum Tanze führen, auch nur einer ihr Primarius wäre . . .

Wahrscheinlich finden Aerzte hier keinen Einlaß mehr, denn die Tafel vor dem Lokale besagt: »Alle Tanzunterhaltungen sind von sehr guter und sehr ordentlicher Gesellschaft besucht.« Wenn es trotzdem hier zu Raufereien kam, die nicht einmal die Autorität des als Athleten gefürchteten Wirtssohnes und des gestrengen Tanzarrangeurs zu verhindern vermochten, so spricht dies eben nur von der Macht der Liebe und der Gewalt der Eifersucht, die selbst Mitglieder der »sehr guten und sehr ordentlichen Gesellschaft« zu Gewaltakten hinreißt. Oben auf der erhöhten Bühne, die die Stirnseite des Saales einnimmt, spielt das Salonorchester zum Tanze, unter der Bühne sind kleine Zimmerchen. Darin sind Tische gedeckt, und zärtliches Flüstern wird vom Lärm der Musikinstrumente übertönt. Ein wandelnder Bretzelmann ersetzt das Büffet und vielleicht tut hier ein Geschenk von zwei Bretzeln um vier Heller denselben Dienst, wie anderswo ein Paar Brillantenboutons. Nein, nicht vergleichen! Die Boutons sind meist ein eindeutiger Kaufpreis oder ein eindeutiges Strumpfgeld, während hier, ja selbst hier, unter den freiwillig Ueberzähligen des Lohnkampfes nur gegenseitiges Gefallen den Wert darstellt, das Geschenk höchstens den Mehrwert.

Nachdem man die Zeche bezahlt hat, erhält man eine Quittung, einen Zettel mit folgendem Text: »Dankend saldiert! Bitte, diese Karte bei der Garderobe abzugeben. Ein Verlust dieses Zettels erfordert die neue Begleichung der Rechnung.«

Aus dem lärmenden Wirbeln und Werben des »Apollo« flüchten wir in friedliche Gefilde, in das kleine Kaffeehaus, das Herr Josef Smelhaus im Bräuhaus »Zum grünen Adler« auf dem Karlsplatze innehat. Seit dem letzten Oktobertage 1910, an dem der Prager Garnison der Besuch verboten wurde und die mit dem 306 »Faschinmesser« umgürteten Sanitätssoldaten nicht mehr aus dem gegenüberliegenden Garnisonsspitale herüberkommen dürfen, scheint es ein beschauliches Spießbürgerdasein zu fristen. Einige Junggesellen frönen dem Karambolspiel, an einem der runden Tische, der zwischen dem Büffettisch und Billard steht, regen sich ein paar Menschen beim Zwei-Kreuzer-Mariage auf, hinter die beiden Spiegel sind Papierfächer gesteckt, die Plakate einer Kohlenfirma und des Bades Luhatschowitz vervollständigen den Schmuck des Lokales. Die Küche ist ein durch den Büffettisch abgegrenzter Teil des Saales und auch in ihr steht ein Tisch für Gäste. Um zwei Uhr nachts schließt man.

Von allen Lokalen, deren Besuch der Prager Garnison verwehrt ist, ist die Gastwirtschaft »Auf dem Heuboden« (»Na seníku«) gewiß die am idyllischesten gelegene. Wann man durch das nächtliche und winterliche Bubentsch hierher zum Tanzvergnügen eilt, wenn man das Haus mit der grellroten Aufschrift breitspurig auf dem Abhang stehen und drüben das Schild eines Hufschmiedes im Gaslicht flackern sieht, glaubt man vor einer Schenke in den Savannen oder vor einer Czarda zu stehen. Der »Heuboden« hat sich noch seinen örtlichen Charakter aus der Zeit bewahrt, da in hellen Scharen ganz Prag mit Kind und Kegel im Frühlingsputz hierher zum Strohsackfeste wallfahrtete. Auch das Innere des »Heubodens« straft das Aeußere nicht Lügen. Nichts verrät, daß Prag nicht weit ist. Draußen im Korridor sitzt ein altes Weib vor einem Kinderwagen, der mit Makronen, Zuckerringeln, Rocks-drops und anderen Leckerbissen beladen ist. (Kaltes Büffet.) Ein großer Saal, dessen Tisch mit roten und geblümten Tüchern gedeckt ist, nimmt uns auf. Besonders farbenbunt, metallisch schillernd sind die Krawatten, in deren Mitte ein schönes Edelweiß oder ein inniges Vergißmeinnicht gestickt sind. Von Knopflochschmerzen ist man auch hier nicht frei; es gibt kaum einen der Herren, der nicht an der Rockklappe das emaillierte Abzeichen – 307 je länger – je lieber – eines Klubs oder Vereines angesteckt hätte. Der Regierungsvertreter fehlt hier ebensowenig wie bei den Festlichkeiten im Grand Hotel; das Amt des landesfürstlichen Kommissärs versieht hier an der Bubentscher Stiege ein schlichter Wachmann, der mitten im Saale steht. Während aber bei anderen Bällen das Aufsetzen des Uniformhutes nur bei einem einzigen, ganz besonders solennen Anlaß Vorschrift ist, hat hier der Intervenierende seinen Tschako immer auf dem Kopf, was zweifelsohne durch eine ehrende Ausnahmebestimmung der Hofetikette eigens für den »Heuboden« angeordnet ist. Die Damen sind größtenteils sogenannte »Fabritschky« – ein Prager Lokalausdruck, der mit der deutschen Bezeichnung »Fabrikantinnen« zwar wörtlich, keineswegs aber sinngemäß übersetzt wäre. Es sind die kleinen Arbeiterinnen, die zwei Kronen Tageslohn beziehen, das Geld zu Hause abliefern sollen und doch auch etwas von ihrer Jugend haben möchten. Und denen nun ein Tanz auf dem »Heuboden« den Kulminationspunkt ihres Lebensgenusses darstellen muß!

Im Vorsaale sitzen noch die Musikanten. Im Vorsaale? Ja, hört man sie denn im Tanzsaale? Ach, du naiver Leser! Man merkt, daß du sie nie gehört hast, die sieben Bläser und den Tschinellenschläger, denn sonst würdest du sie noch heute von Bubentsch her zu hören glauben, auch wenn du an der Peripherie der Stadt Wrschowitz deine Wohnung inne hast. Laut, aber langsam, – das scheint der Wahlspruch des Oktetts zu sein. Warum sie langsam spielen, ist zu verstehen, wenn man einen Blick in den Tanzsaal wirft, an dessen Wände vier Säulen gemalt und von einem ehrlichen, jeden Betrug verabscheuenden Zimmermaler so marmoriert worden sind, als ob er mit jedem Pinselstrich hätte sagen wollen: Lasset euch nichts weismachen, das ist kein Marmor . . . In diesem fiktiven Säulensaal also tanzen die Paare zu der unsagbar langsamen Musik einen noch viel, viel langsameren Schleifer, wobei die 308 untersten Partien des Rückens unglaublich weit nach rückwärts geschoben sind, während bei den Drehungen die Sohle der Tänzer kühne, aber dennoch äußerst zierliche Schnörkel durch die Luft beschreibt. Eine originelle Besonderheit aber ist diese: der Tänzer schmiegt die rechte Backe so innig an die linke Wange der Tänzerin, daß sein Mundwinkel den Mundwinkel der Dame nicht verläßt. Wir aber verlassen den »Heuboden« und treten hinaus in schattige Winkel des Baumgartens, wo den Paaren Gelegenheit gegeben ist, in den Tanzpausen innig zu flüstern. Vorausgesetzt, daß man überhaupt auf das Flüstern Wert legt.

Nicht weit, aber doch schon mitten im Häusermeer ist das Gasthaus »Zur Slavia«, seit 3. September 1910 das einzige verbotene Lokal des Stadtbezirkes Holleschowitz-Bubna. Es steht an der Ecke der Belvederegasse und der Schnellgasse, nahe beim Wasserturm und beim »Hotel Belvedere« (Regner), das von obdachlosen Paaren der oberen Zehntausend stark frequentiert werden soll. Die »Slavia« besteht aus zwei verhältnismäßig kleinen Gastzimmern und einem nicht viel größeren Tanzsaal. Es sind Laufburschen, Lehrlinge und ihre Damen, die hier den Großteil der Stammgäste bilden, und wirklich nur zum Tanz und zum Flirt und auch zur Erlernung guter Lebensart hierher kommen. Wenn es trotzdem hier zu unliebsamen Konflikten zwischen Zivil und Militär kam, so muß man in der »Slavia« noch kein zweites Zabern sehen, sondern es war dies wohl durch die Enge der Räumlichkeiten begründet. Ein heimischer Fachmann auf dem Gebiete von militärischen Konflikten, der wackere Fürst Wallenstein, hat schon das entschuldigende Wort geprägt: »Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen.«

Ebenso sind in den beiden verbotenen Lokalen der Stadt Weinberge, »Beim Fürsten Břetislav« (Befehl Nr. 24 vom 25. Jänner 1907) und »Beim Schacht« (U dulu; verboten seit 11. Juni 1907) Raufereien nicht etwa der Selbstzweck, sondern einfach 309 Intermezzi, die sich eben oft nicht vermeiden lassen, – selbst wenn man wollte. Damit sich jeder von der Richtigkeit dieses Plädoyers durch Lokalaugenschein überzeugen könne, sei hier mitgeteilt, daß Fürst Břetislav im Hause Nr. 44 der Weinberger Jungmannstraße residiert, während der Schacht mitten durch das Haus Nr. 15 der Klicperagasse führt.

Von den Lokalen, die vom Polizeikommissariat Josefstadt bestrichen werden, nimmt die Schänke »Na zednických«, Ziegenplatz Nr. 915, eine hervorragende Stelle ein. Sie ist seit 26. Mai 1908 für die Vertreter der bewaffneten Macht gesperrt. Damals war sie freilich eine noch gefährlichere Spelunke, als sie es heute ist; denn sie stellte sozusagen die Dependance der nahen Räuberhöhle dar, die im seither niedergerissenen Bräuhaus »Beim Reißmann« in der Kastulusgasse etabliert war. Aber auch heute noch muß man vor diesem Lokale allerhand Hochachtung empfinden. Wir treten ein und nehmen Platz. Alle Gäste drehen sich haarscharf nach uns um und mustern uns so unverwandt und so unverblümt, daß es uns eiskalt überläuft. Ein riesenhafter Kerl (anscheinend war er Schlächtergeselle, bevor er sich entschloß, seine Kraft anderweitig zu verwerten) sitzt gerade hinter dem Sitz, den wir uns erwählt haben; er hat sich um 180 Grad gedreht und starrt uns aus so unmittelbarer Nähe ins Gesicht, daß wir den Verwesungsgeruch seines Zigarrenstummels verteufelt in der Nase spüren. Aber wir reagieren nicht auf diese Fixage und schauen uns im Restaurationslokale um. Um ein historisch bemerkenswertes Billardtuch stehen Tische mit schmutzigen Tischtüchern, deren Grau trefflich zu den Händen der Anrainer abgetönt ist. Wir glauben nicht, daß diese Tischtücher je weiß waren. Steinalte Dirnen, Drehorgelspieler, Zuhälter werden von einer gewichtigen Kellnerin bedient. In den Ohren trägt sie Goldreifen, die so groß sind, daß ein Zirkusreiter bequem durchzuspringen vermöchte. An der Wand hängt ein Plakat. Es ist das Plakat – der 310 Breslauer Jahrhundertfeier anläßlich der deutschen Erhebung. Wir finden, daß es hier seinen Reklamezweck glänzend erfüllt. Wieviel der Stammgäste von »Na zednických« mögen einen kleinen Abstecher nach Breslau gemacht haben, um Gerhard Hauptmanns Festspiel zu sehen!

Aber vergessen wir nicht, daß es hier auch einen beliebten Tanzsaal gibt. Wir überlegen uns noch schnell, ob wir nichts Wertvolles im Winterrock zurücklassen, der am Kleiderhaken hängt, und durchschreiten einen kurzen Korridor. Rechts von diesem Gange gibt es zwei stockdunkle Toilettenräume, links ist eine Verschalung für den Bierschänker; sie ist mit Transparentpapier beklebt, um jeden Blick in das Innere zu verwehren. An die Verschalung gelehnt steht die Garde – zwei Polizisten mit aufgeknöpfter Revolvertasche und einem viel abweisenderen, viel strengeren Blicke, als es der Blick im Auge des Gesetzes auf dem »Heuboden« in Bubentsch war. Hier tragen die Herren bloß Kragenschoner, – der Ausdruck sei verstattet, trotzdem unter dem Tuch kein Kragen ist, den er zu schonen hätte – die durch eine Sicherheitsnadel zusammengehalten werden. Zwei greise Fiedler und vier Bläser spielen vom Podium aus zum Tanze. Die russige Decke des Saales ist niedrig und gewölbt und wenn die Tänzer von Zeit zu Zeit die Körper tief nach vorne neigen, dann sieht es aus, als ob sie es täten, um den Kopf nicht an die Wölbung anzustoßen.

. . . Ueber dem Frantischek liegt der Abend. Im Moldauniveau spiegeln sich unter der Elisabethbrücke die Lichter der Kandelaber. Die Häuser stehen altersschwach am Ufer. Und lebensmüde. Als ob sie sich über das Brückengeländer stürzen wollten. Es ist begreiflich: alle ihre Nachbarn und Freunde und Verwandten haben sie sterben gesehen, das Grab mancher dieser Genossen liegt noch da – ein Haufen Schutt, den man noch nicht weggeräumt hat. Und aus einer Kolonie von neuen, jungen Steinen hat man einen Kai geschaffen, 311 der vor den erbeingesessenen Häusern keinen Respekt hat und sich selbstgefällig im Wasserspiegel betrachtet. Ein paar Laternen sind da, um dem Wanderer, der sich hierher verirren würde, auf den Weg zu leuchten.

Nur aus einem der Häuser dringt wüster Lärm in die weite Abendfläche hinaus. »Gasthaus: Zu den zwei Lämmchen« steht auf einem großen Schild neben der Hausnummer 40. Der Lärm klingt bedrohlich und weit und breit ist kein Mensch zu sehen, der herbeieilen könnte, wenn wir um Hilfe schreien. Das Haus steht auf der Liste der Lokale, deren Besichtigung wir uns vorgenommen haben: Es ist seit 26. Jänner 1912 für die Prager Soldaten unbetretbares Gebiet. Wir treten ein. Zwei Polizisten bemühen sich krampfhaft, drei Burschen festzuhalten. Aber der skeptische Leser unseres Rapportes beginnt hier zu lächeln! »Ausgerechnet! Gerade wenn ihr in das Lokal kommt, wird es geräumt?« Nun, es ist hier zwar kein solcher Zufall, daß die Wache intervenieren muß, denn das kommt hier häufig vor, aber wir haben den Zweifel an unserer Glaubwürdigkeit vorausgesehen und uns die Nummer des Wachmannes gemerkt, der mit jeder seiner beiden Hände einen anderen Strolch zu bändigen versucht: Es ist Herr 1245. Und damit man in den Akten die Richtigkeit unserer Angaben nachprüfen kann, erwähnen wir, daß der Rapport des Josefstädter Polizeikommissariates vom 27. Jänner 1914 über die dreifache Verhaftung meldet, da wir am Sonntag, den 26. Jänner d. J. – also zufällig am zweiten Jahrestage der Verbotsverhängung – um 11 Uhr den »Zwei Lämmchen« unseren Besuch abstatteten. Die drei Burschen werden aus der Türe expediert und abgeführt, aber damit ist der Vorfall nicht zu Ende. »Das hätten Sie nicht sagen sollen, das mit der Pathologie,« bemerkt in eindringlichem Ton ein Mann mit graumeliertem Vollbart zur Wirtin. »Nein, das hätten sie den Wachleuten nicht melden sollen. Der Beda wird deshalb ins Strafgericht müssen, das ist gefährliche Drohung!« 312

»Soll er nur ins Strafgericht,« kreischt die Wirtin, »er gehört schon lange hin. Ich werde mir doch nicht drohen lassen, daß wir einander in der Pathologie wiedersehen werden. Und wenn's Ihnen nicht recht ist« – resolut nimmt sie dem Sprecher das Bierglas vom Tisch – »dort ist die Türe.«

Der Nachbar des Hinausgewiesenen nimmt sich dessen an: »Er hat ja nichts gesagt.«

»Marsch hinaus!« brüllt die Wirtin auch den Verteidiger an, »ich brauche euch nicht. Lieber sperre ich das Lokal zu, als daß ich mir sagen lassen werde, daß ich eine Drecksau bin, und daß ich in die Pathologie kommen werde.«

Die beiden Exmittierten knöpfen ihre Röcke zu und gehen mit verächtlichem Blick zur Türe. »Sie sind auch eine Drecksau!« sagte der eine. Aber schon hat er die Türe geöffnet und ist draußen.

»Die dürfen mir nicht mehr herein, verstehst du, Karle?!« Karle, ein ungeschlachter Mann, der hinter dem Schanktisch sitzt und aus dem Kinn blutet, nickt bloß mit dem Kopf. »Die dürfen mir nicht herein. Ich lasse mich nicht Drecksau schimpfen und wenn ich Bankrott machen müßte.«

Wie empfindlich doch die Frauen sind! Auch die Marquise von Pompadour ließ sich oft in den Staatsgeschäften von persönlicher Eitelkeit leiten.

Die Wirtin schickt sich an, die Scherben aufzuklauben, die auf der Erde liegen. Wir bestellen ein Glas Bier, aber in ihrer Aufregung überhört sie unsere Bestellung. Ein alter Mann am Nebentisch erbietet sich eilfertig, es zu holen. Dann bittet er uns, wir mögen ihm auch ein Glas spendieren. Wir werden rasch Freunde.

»Sehen Sie, junger Mann, es ist ein Kreuz!« Seine Stimme sinkt zu einem vorsichtigen Flüstern hinab und er offenbart nur eine tiefe ethische Erkenntnis: »Sehen Sie, die Wirtin ist – wirklich eine Drecksau.« Dann flüstert er weiter: »Sie lebt mit diesem Karl zusammen. 313 Das ist ein ehemaliger Fiakerkutscher, aber jetzt macht er gar nichts anderes, wie hier Karten zu spielen. Und wenn er verliert, wird sie wütend und fängt Händel an.«

Dann macht er einen tiefen Schluck aus dem Bierglas und fängt an, weinerlich von seinem Leben zu erzählen: »Sechsunddreißig Jahre bin ich beim Prager Gemeindehof gewesen, zuerst als Kutscher und jetzt als Straßenkehrer. 1891, wissen Sie, bei der Ueberschwemmung, habe ich Tag und Nacht gearbeitet. Und jetzt haben mich diese Kerle entlassen, mich, den alten Pruscha, weil ich reklamiert habe, daß sie mir den Lohn nicht richtig ausbezahlt haben. Und meine Frau hat Blutsturz . . .« Dann verliert sich mein Zechkumpan in allerhand Charakteristiken des Oberaufsehers Preßler vom Prager Gemeindehof. Der Preßler ist schuld, ist allein schuld! Des alten Pruschas Stimme wird wieder laut und erfüllt das Gasthaus, das den idyllischen Namen »Zwei Lämmchen« führt.

Unser Weg führt nun in das kleine Nachtcafé »Artist« in der Elisabethstraße. Hier sind keine Lumpenproleten zu finden, nicht jene menschlichen Abfälle des chaotisch-willkürlichen Produktionssystems, die ihren Ausschluß anerkennenswert und mit Zynismus und gerechtem Haß ertragen. Hier, im Café »Artist« sind Opfer eigener Veranlagung und fremder Sexualmoral zu Gast, Männer, die auf die Gesellschaft nicht verzichten möchten und deshalb unter dem Gefühl ihrer krankhaften Leidenschaften und unter dem Spott beschränkter Beamter zu leiden haben. Das Besuchsverbot für dieses Lokal ist am selben Tage, wie jenes gegen die »Lämmchen« erflossen. Eigentlich ist es nicht bloß Café, sondern auch Weinstube. Aber das Zimmer mit Weinzwang und das Zimmer für Kaffeegäste sind, obwohl sie von der Straße aus je einen separaten Eingang haben, durch eine Türe verbunden. Diese beiden Räume sind noch nicht die Hauptbestandteile des Lokales. Vom Café ist rückwärts durch einen Stoffvorhang 314 ein großer Teil separiert: das Allerheiligste. Wenn dorthin ein Unbefugter seine Schritte lenkt, so stellt sich ihm der Kellner in den Weg und bedeutet ihm, daß dieser Raum für eine geschlossene Gesellschaft reserviert sei. Das restliche Lokal ist übrigens nicht interessant. Bemerkenswert ist nur ein machtvolles Grammophon, das mit einem muschelförmigen Schalltrichter bedrohlich gegen die friedlichen Gäste gerichtet ist, wie ein Kanonenrohr. Wenn dort, aus dem geheimnisvollen Reiche jenseits des Vorhanges, Töne des Lärmes, des Spasses und der Fröhlichkeit allzu deutlich in die profane Provinz des Cafés dringen, dann kurbelt der Kellner das Grammophon an, der Lärm wird übertönt, und – die Gäste des vorderen Teiles flüchten. Von Zeit zu Zeit kommen blanke Knaben mit geschminkten oder wenigstens gepuderten Gesichtern, sorgfältig angezogen, und auch ältere Männer mit eigenartigem Gesichtsausdruck. Der abgesonderte Raum ist in Halbdunkel gehüllt und an den Tischen sitzen die Mitglieder der geschlossenen Gesellschaft, in warmer, brüderlicher Freundschaft verbunden. Der eine streichelt des anderen Hand, wieder einer hat den Kopf auf den Schoß des Freundes gelehnt, – es ist das gleiche Bild, wie man es in allen Nachtcafés zu vorgerückter Stunde sehen kann, nur mit dem einzigen Unterschied, daß hier die Frauen fehlen.

Nun knöpfen wir uns den Kragen ab, denn unser Weg führt in jenes der Lokale, das als letztes auf der militärischen Konsignation steht und wohl wirklich das letzte aller Prager Lokale ist.

Hier hat die verfaulte unterste Schichte der relativen Ueberbevölkerung ihr Stammlokal, jene Menschen, die nicht mehr direkt als Opfer der kapitalistischen Akkumulation anzusehen sind, jene, die Marx im »Kapital« Verbrecher, Verkommene und Verlumpte, das eigentliche Lumpenproletariat nennt, und vor deren Käuflichkeit zu reaktionären Zwecken das Kommunistische Manifest warnt. Es ist erstaunlich, daß das Nachtcafé 315 »Im Tunnel« (Stupartgasse Nr. 642, Teinhof) erst seit 22. April 1913 verboten ist. Wir treten gerne ein, denn wir wissen längst, daß dieser Tunnel mindestens ebenso interessant ist. wie der von Kellermann. Von Teinhof kommen wir zunächst durch einen Korridor in einen Vorraum, die sogenannte »Lauskammer«, in der Veteraninnen der Liebe sitzen. Dann in den eigentlichen Tunnel, einen langgestreckten, gewölbten Raum. Einmal ist hier ein solides Restaurant gewesen. Nichts gemahnt hier mehr an diese Zeiten. Rechts von der Türe steht ein verwittertes Harmonium mit einem Bierglas darauf. Unten, fast an der Querwand, ein Schanktisch, an dem der Wirt und der sommersprossig-blattersteppig-rothaarige Riesenkellner Jarda (man fürchtet seine Bärenkraft mehr als den Ochsenziemer, der in seiner Hose steckt) Bier und Kaffee und Schnapsgläser in Empfang nehmen. Eine Schatulle mit Getränkemarken aus buntem Glas steht auf dem Schalter, zinnerne Untertassen für Biergläser zu einem hohen Turm aufgeschichtet; leere Gläser in einem seitlich aufgehängten Regal. Eine Höhlenzeichnung, wie sie die wandernden Schnellmaler in Spelunken verfertigen, hängt an der Wand, drei ausdruckslose Burschengesichter darstellend. Unter einem steht: »Das bin ich. Vena«, über der ganzen Zeichnung: »Gruß aus Wien«. Noch ein zweiter Wandschmuck: der Kalender einer Druckknopffabrik aus längst vergangenem Jahr, die Datumzettel fehlen.

Bei der Türe sitzen und stehen hutlose Mädel um einen Tisch; blaue, grüne oder violette Bänder haben sie im Haar und rauchen Stümpfchen von Dramazigaretten. Sie hören einer zu, die ihre Erlebnisse von der Polizei erzählt.

»Ich habe dem Detektiv gleich auf dem Weg gesagt, daß ich es nicht bin. Das ist doch keine rote Bluse, – das ist doch frais.«

An allen Tischen spielt man Karten, blasse Burschen, die Stirnlocke so tief über die Schläfe gebürstet, daß die Augenbrauen wie Ausläufer des Kopfhaares 316 sind. Burschen ohne Kragen, alte Männer mit schütterem Haar, matten Augen über dicken Hautfalten, verharschten Wunden und dichten Bartstoppeln. Immerfort gibt es Streit unter den Spielern und von Tisch zu Tisch:

»Du Heuochs, gegen mich willst du Schlauheiten wälzen? Mir willst du eine Figur umhängen und hast dort einen Vierer in der Hand!« –

»Spiele aus, du Pferd, sonst kriegst du eine Ohrfeige, daß deine Zähne in Doppelreihen aus den Hosen fliegen.«

Zwei Männer, sichtlich Dörfler, werden von Dirnen hereingeschleppt. Man ruft ihnen Ironien hinüber:

»Wie steht die Kartoffelernte heuer?«

»Habt ihr den Fahrplan in der Tasche?«

»Verführt die Mäderl nicht, ihr Lebemänner!«

Zwischen zwei Platten kommt es zu Tätlichkeiten. Anfangs hatten die Burschen an dem einen Tisch denen eines anderen nur verschiedene Sticheleien hinübergerufen:

»Was macht euer Personal? Immer fleißig beim Stubenwaschen auf der Polizei, immer fleißig bei der Spiegelvisite auf der Dermatologie?«

»Die Wlasta ist ein sehr tüchtiges Mädel, hat bei euch eine sehr gute Schule genossen; sie verdient ein tüchtiges Geld – für uns.«

»Ihr müßt wieder etwas Neues abrichten, damit wir es auch abnehmen können.«

Die Angegriffenen sind die dialektisch Ungeschickteren, begnügen sich damit, sich untereinander zu unterhalten. Aber plötzlich reagiert einer von ihnen auf einen Zuruf mit einer Gebärde: Er lupft den Hemdkragen vom Hals. Das gilt als tödliche Beleidigung.

Im Nu ist ein untersetzter Bursch vom Gegentisch aufgesprungen und schlägt seine Faust dem Beleidiger über das Auge, das bläulich anschwillt.

Handgemenge, Faustschläge, Püffe, Würgen. 317

Der Tisch mit Flaschen und Tassen und Biergläsern fliegt klirrend zur Erde, Biergläser werden zum Angriff gehoben, Leibriemen als Waffe losgeschnallt, der Wirt, der Riese Jarda (Unwillensfalten streichen seine Blatternarben und seine Sommersprossen durch) und der andere Kellner stürzen herbei, reißen Ochsenziemer aus der Hose, mit Hieben und klammernden Griffen zerren sie die verzahnten Parteien voneinander.

Die Kämpfenden setzen sich blaß und keuchend zu ihren Tischen; zwischen den höhnischen Zurufen, mit denen sich jede Partei ihres Sieges brüstet, bilden sich immer längere Pausen, – die Schlacht verglimmt. An den anderen Tischen hat man mit forciertem Gleichmut weiter Karten gespielt.

Dergleichen ist kein Grund zur Aufregung, geschieht ja in jeder Nacht einigemal. Nicht einmal die Polizei ist eingeschritten, was im Jahr hier etwa hundertmal vorkommt. Aerger ist das, was sich oben an einem Tische ereignet. Ein Gast kann das Bier nicht bezahlen, das er ausgetrunken hat. Der muß freilich hinaus! Nachdem er einige furchtbare Ohrfeigen, auch Fußtritte erhalten hat, schleudert man ihn aus dem Lokale. Nun liegt er, von den Ausgestoßenen ausgestoßen, mißhandelt und beschämt auf dem Pflaster des Teinhofes, über das einst stolz die deutschen Kaiser geschritten sind. 318

 

Dramaturgie des Flohtheaters

In billigen Nachtlokalen kommt man oft mit Menschen zusammen, die den »Ehrennamen« von »bürgerlichen Existenzen« nicht verdienen, aber dennoch nicht etwa auf irgendwelche unredliche Weise ihr Geld verdienen. Menschen, mit irgend einer Begabung zur Welt gekommen, die nicht auf den Schienenstrang des gewöhnlichen Lebens paßt. So entgleisten sie und ihre Lebensbahn verlief nun auf Seitenwegen. Man stelle sich aber vor, daß man plötzlich in einer friedlichen Straße einer Eisenbahn begegnet: Man würde unwillig den Kopf schütteln, man würde sie zumindest anstaunen. Das wissen die Entgleisten. Und weil sie weder zu unwilligem Kopfschütteln, noch zu erstauntem Anstarren den Anlaß bieten wollen, so gehen diese verschämten Originale bei Tag möglichst wenig unter Menschen und wagen sich sozusagen nur bei Nacht an das Licht des Tages. Bei Nacht macht sich das Spießertum der Menschheit nicht so geltend, man bringt den Männern aparten Berufes ein neugieriges Verständnis entgegen und oft findet sich ein ganzer Kollegentag von solch seltsamen Talenten zusammen, Silhouettenschneider, Marktschreier, Chantantdirektoren, Jahrmarktsakrobaten, Schnellmaler, Taschenspieler, Wetterpropheten, Coupletsänger, Gedankenleser, Harmonikavirtuosen, Exzentriktänzer und ähnliche Künstler.

Die allerinteressanteste von diesen Prager Figuren ist zweifelsohne Ferda Mestek de Podskal, denn er hat nicht bloß von einer dieser absonderlichen Arten des Gelderwerbes sein abenteuerliches Leben gefristet, sondern er hat alle denkbaren Berufe versehen. »Du bist doch schon alles gewesen, Ferda,« bemerken seine Freunde manchmal, wenn er gerade in seiner lustigen Art etwas aus seinem Leben erzählt hat. Da 319 protestiert er ganz sachlich: »Nein, nein! Hebamme war ich noch nie.«

Da kein genealogisches Taschenbuch die Geburtsdaten dieses wunderlichen Adeligen verzeichnet, sei hier knapp und sachlich sein Curriculum vitae verzeichnet:

Die Wiege Ferdinand Mesteks, dem erst später die Prager Flamender-Gilde für seine Verdienste auf dem Gebiete von Kunst und Wissenschaft taxfrei den erblichen Adelsstand mit dem Prädikate »de Podskal« verliehen hat, stand auf dem Wasser oder besser gesagt im Wasser: Er wurde als Sohn des Prager Schneidermeisters gleichen Namens am 17. März 1858 während der großen Hochwasserkatastrophe geboren, als die Fluten der Moldau die Podskaler Werkstätte und Wohnung des Schneiders Mestek bereits überschwemmt hatte. Zum Glück gelang es den Soldaten der Genietruppen, in einem Ponton den Schneider, seine Gemahlin, die fünf Töchter und den Erbprinzen zu retten, dessen Geburt eben durch Kanonenschüsse von der Bastion XIX. herab dem Lande verkündet war. (Die Behauptung, daß der Anlaß dieser Schüsse das Hochwasser war, ist eine perfide Verleumdung.) Von diesem ersten Tage seines Lebens begann der kleine Mestek das Wasser zu hassen, das sein noch unschuldsvolles Dasein vernichten wollte, und bis in sein hohes Alter kann er nicht begreifen, daß manche Leute diese unsympathische Flüssigkeit als Genußmittel ansprechen.

Mestek-Vater mietete rasch im Eckhaus der Ferdinandsstraße und der Charvatgasse eine neue Wohnung und begann ungesäumt zu säumen. Auch sein einziger Sohn sollte das Schneiderhandwerk lernen, aber Ferdas Sinn stand nach Höherem. Er wollte ein Gelehrter werden, und interessierte sich frühzeitig für Zoologie. Er schlich in den Klostergarten von Maria Schnee, streifte in den Anlagen auf dem Wyschehrad umher und durchforschte die ganze Scharka nach allerhand Getier, wie Mäusen, Igeln, Salamandern, Raupen, Blindschleichen und Käfern, mit deren Hilfe er die väterliche Wohnung 320 zu einer Menagerie umgestaltete. Bei Nacht sperrte er die Tiere in eine Holzkiste, bei Tag ließ er ihnen – man bemerke seine Vorahnung des Hagenbeckschen Systems – größtmögliche Bewegungsfreiheit. Nur einmal vergaß er sich, einen Igel in dessen Nachtquartier einzuschließen, dieser kroch in das Bett einer Tante Ferdas und dort auf die Tante. Zeter und Mordio, furchtbare Prügel, Auflassung des Tierparkes und strenge Verwarnungen waren die Folgen des unglücklichen Versäumnisses. Als sich Ferda trotzdem nicht an das Verbot hielt und weiter verschiedene Säugetiere und Reptilien nach Hause schleppte, wurde er an jedem Morgen vom Herrn Papa durchgebläut. Diese Züchtigung wurde zu einer täglichen Uebung. »Warum schlägst du mich, ich habe ja nichts angestellt,« heulte er einmal während der Bastonnade, erhielt jedoch zur Antwort: »Das macht nichts, du wirst ja heute doch noch eine Lausbüberei anstellen.« Das war eine Prophezeiung, die für das ganze Leben Ferda Mesteks Gültigkeit behielt. Es hat wohl kaum einen Tag gegeben, an dem er nicht irgend ein Lausbubenstückel verübt hätte.

Als Ferda zehn Jahre alt war, starb sein Vater, und er kam zum Goldarbeiter Held in der Purkyněstraße in die Lehre. Er freute sich darauf, denn es kam ihm wunderbar vor, Gold arbeiten zu lernen. Aber damit war es nichts. Seine Tätigkeit erstreckte sich darauf, die Kinder seines Prinzipals zu warten, Holz zu spalten und der Frau Held in der Küche zu helfen. Aus dieser Zeit stammt seine Kenntnis der Kochkunst, die er oftmals rühmt. Aber noch niemand hat es gewagt, einer seiner Einladungen zum selbstgekochten Mittagessen Folge zu leisten. Sieben Jahre hatte er so geschuftet und nun glaubte der Bibelfeste, daß jetzt sieben fette Jahre kommen müßten. Ohne ein Wort deutsch zu verstehen, machte er sich im Jahre 1875 auf, durch Deutschland zu wandern. Er kam nach Bayern, nach Baden, nach Elsaß-Lothringen und sogar nach Frankreich, und fand auf seinen Wanderungen als 321 Viehtreiber, Hutschenschleuderer und Karusseldreher angesehene Beschäftigungen. Die Heimreise brauchte er nicht mehr zu Fuß zurückzulegen, er konnte bereits mit der Bahn fahren – er wurde nämlich aus Paris »mit Marschroute« per Schub nach Prag befördert. Hier fand er Stellung als Emailleur bei der Firma Lokesch auf dem Ziegenplatz, und als die böhmische Granatenindustrie in Schwung kam, fand er auf Grund seiner siebenjährigen Tätigkeit bei einem Goldschmied in einer Granatschleiferei Stellung. Obwohl er verschwiegen hatte, daß er bei dem Juwelier nur Dienstbotenarbeit verrichtet habe, erkannte man seinen Mangel an Praxis schnell, und entließ ihn in Gnaden.

Nun übernahm er ein Amt, das ihn in der Lebewelt der unteren Zehntausend Prags mit einem Schlage populär gemacht hat: Er wurde Tanzmeister der Hetzinsel-Restauration und veranstaltete dort u. a. Winzerfeste bei Bier, Maskenfeste ohne Masken, Damenabende mit Herren, Herrenabende mit Damen, aber bei den großen Lumpenbällen waren wirkliche Lumpen anwesend. Bei den Mestekschen Routs auf der Hetzinsel spielten drei Musikkapellen, manchmal gleichzeitig, und wer nicht vom Bier und von der Liebe trunken war, der wurde von dem philharmonischen Konzert der drei durchaus egoistisch spielenden Orchester wirr im Kopf. Die Herren waren unternehmungslustig, die Damen waren erhitzt und der Garten war groß und schattig, – warum hätte es den Hetzinsel-Redouten an Zuspruch fehlen sollen?

Aber Tanzmeister Mestek de Podskal begann selbst die Quadrille zu tanzen, die Amor seit altersher zu arrangieren pflegt. Herr Mestek war der »Schamster« eines schönen Dienstmädchens aus Mähren geworden, heiratete sie und diese mochte es gewesen sein, die ihn von dem flatterhaften und versuchungsreichen Gewerbe eines Tanzarrangeurs abzog, ihn veranlaßte, ein reeller, seßhafter Kaufmann zu werden. So wurde er – – Jahrmarktskrämer und zog an der Seite von Frau 322 Anna von Stadt zu Stadt und verkaufte auf den Märkten eine kalte Limonade in Flaschen, als Allheilmittel gegen Cholera, eine unfehlbar gegen Podagra helfende Seife und verschiedene andere Dinge, die er mit der Suada eines Doktor Eisenbart anzupreisen wußte. Nachdem die geprellten Kunden und die Behörden seinem schwunghaften Handel den Garaus gemacht hatten, zog er wieder nach Prag.

Er etablierte sich im Ghetto als Hökler. Es war gerade die Zeit des jüdischen Osterfestes. Mestek sah in dem Schaufenster der Bäcken Makronen ausgestellt, und stellte daher auch Makronen aus. Aber niemand kaufte sie. Er erkundigt sich, und erfuhr, daß die Juden nur in solchen Geschäften Makronen kauften, denen vom Oberrabbinat bescheinigt sei, daß sie nach ritueller Vorschrift gebackene, d. h. ungesäuerte Makronen führten. Dem Greißler Mestek war um guten Rat nicht bange. Er forderte einen besonders hoffnungsvollen der Josefstädter Knaben namens Friedl Brod (Brod ist heute Kellner und wegen seiner Kunstfertigkeit berühmt, mit den Fingern auf zwei Blechtassen ganze Opern trommeln zu können) auf, ihm ein solches Attest zu beschaffen. Der kleine Brod nahm es geschickt von der Türe eines Bäckers und brachte es seinem Auftraggeber, der es schnell affichierte. Noch schneller aber wurde der Schwindel entdeckt, und die Affiche entfernt. – »Leider hatten erst zwanzig Judenkinder die Todsünde begangen, von meinen Makronen zu fressen,« bemerkt Ferda traurig, wenn er davon erzählt.

Aber der Kaufmann Mestek konnte sich über dieses Ungemach trösten, denn sein Geschäft florierte auch ohnedies. Alle Waren fanden reißenden Absatz und selbst das Gebäck, das schon fünf Wochen alt war, ging ab, wie frisches Brot. Jedoch die Sache hatte einen kleinen Haken. Alle Kunden nahmen auf Kredit, niemand bezahlte, und die Firma »Ferd. Mestek« machte Bankerott.

»Ferdo,« sagte Frau Anna tiefbetrübt zu ihrem Ehegemahl, »Ferdo, du hast nun einmal Pech auf dieser 323 Welt! Wenn du eine Leichenbestattungsanstalt hättest, ich schwöre, kein Mensch würde sterben. Und wenn du doch einen Sarg auf Bestellung abgeliefert hättest, – am nächsten Tag brächte dir ihn der Tote zurück und würde sagen: Ich war nur scheintot.«

Von diesem Tage an nahm Ferda Mestek de Podskal seine Tätigkeit als reisender Kaufmann wieder auf. Zunächst wurde er Gastwirt bei verschiedenen Ausstellungen, und es ist sein großer Stolz, daß auf der Militärausstellung in der Wiener Rotunde im Jahre 1894 auch einmal Kaiser Franz Josef in der Gastwirtschaft Mesteks eingekehrt ist, »und die Schweinerei gesoffen hat, die ich als Pilsner Bier ausgegeben habe.« Das Endresultat war immer, daß Ferda Mesteks Unternehmen kaput ging. Schließlich brachte er auch nicht mehr den Pachtzins auf, der für seine Beteiligung an weiteren Ausstellungen nötig gewesen wäre.

So wurde er Impresario und erwarb sich als Reisebegleiter verschiedener Abnormitäten und Schaustellungen einen zweifelhaften Weltruf durch seine heiteren Schwindeleien, die er in allen Teilen Europas verübt hat.

Der große Impresario hat mit Kleinem begonnen: mit Flöhen. Wer ihm diesen Floh ins Ohr gesetzt hat – wir wissen es nicht. Ebensowenig weiß ja auch in E. T. A. Hoffmanns »Meister Floh« der große Delfter Mikroskopiker Antony von Leeuwenhoek auf die Frage des George Pepusch eine befriedigende Antwort darüber zu geben, warum er nach seinem Tode in Berlin ein Flohtheater eröffnete, statt in seinem Grabe in der Delfter Kathedrale stillzuliegen, wie es sich für anständige Tote geziemt, oder wenigstens seiner eigentlichen wissenschaftlichen Tätigkeit obzuliegen und Lupen und Linsen zu fabrizieren. Und ebensowenig gibt Mephisto den ehrenwerten Stammgästen in Auerbachs Keller eine Auskunft darüber, aus welchen Motiven eigentlich der König den jungen Floh wie seinen eigenen Sohn liebte. Es scheint also diesem kleinen, blutsaugerischen Tierchen 324 eine dämonische Macht innezuwohnen, die starke Naturen veranlaßt, sie zu bändigen. So ist auch in Ferdinand von Mestek wahrscheinlich der Entschluß emporgewachsen, ein Flohbändiger zu werden.

In seinem Zimmer verfertigte er mit der Geschicklichkeit des in der Küche ausgelernten Goldschmiedes eine Reihe von filigranen Equipagen, Omnibussen, Velocipeden und auch Kanonen, da er die Absicht hatte, eine Batterie ins Treffen zu führen, wie denn einem ordentlichen Flohtheater ebenso wie einem ordentlichen Heere nur eine gutgeschulte Artillerie zum Siege zu helfen vermag. Nachdem er sich so den Fundus für seine Bühne geschaffen hatte, begann er Personal zu engagieren. Er ließ ein Inserat in die Zeitung einrücken, daß er für jeden Floh zehn Kreuzer österreichischer Währung bezahle; er suchte jedoch »nur Menschenflöhe aus guter Familie«. Um den Verkäufern die Auffindung des Weges zu seiner Wohnung zu erleichtern, plakatierte er an dem Haustore und auch an der Restauration der Hetzinsel, wo er aus der Zeit seiner Tätigkeit als toleranter Tanzarrangeur der Redouten in hohem Ansehen stand, je einen riesigen Anschlag des Textes: »Hier werden Flöhe gekauft.« Die Tafel vor seinem Hause war der Anlaß zu den ersten Kämpfen, die Ferdinand de Mestek in seinem neuen Beruf zu bestehen hatte. Die Mietsparteien fühlten sich verletzt, auf dem Hof, im Stiegenhaus und auf den Korridoren rotteten sie sich in bedrohlicher Haltung zusammen, sie würden nicht mit Flöhen im selben Hause wohnen, der Volksmund werde das Haus den »Flohpalast« nennen, Mestek habe keinen Gewerbeschein zur Flohdressur und keine Theaterkonzession, er zahle keine Steuer für lebende Haustiere und das, was er betreiben wolle, sei elende Tierquälerei. Der Hauswirt stellte sich an die Spitze der Empörten, aber die Wogen des Aufruhrs brandeten an dem Redeschwall der Gattin Mesteks: Frau Anna, die sich später dank ihrer Interventionen bei unterschiedlichen Amtspersonen den Ehrennamen einer 325 »Behördengeißel« erworben hat, jagte mit der Kraft ihrer Rede alle in die Flucht.

Bald darauf stellten sich die Verkäufer von Flöhen ein. Neue Schwierigkeiten! Ausdrücklich hatte Mestek in seiner Annonce betont, daß man die Tiere in trockenen Flaschen aufbewahren müsse, aber die wenigsten hatten sich an diese Vorschrift gehalten. Die meisten Leute brachten ihre Beute in Schnapsflaschen. Ferda Mestek erklärte, daß diese Exemplare durch den Alkoholgeruch berauscht und für ewig dem Alkoholismus verfallen seien, und er könne keine Säufer in seinem Ensemble brauchen. Andere Verkäufer hatten ihre lebende Ware in Seidlitzpulverschachteln mitgebracht. Diese Tierchen würden ewig an Diarrhöe laborieren, diagnostizierte Mestek, und lehnte den Ankauf ab. Die enttäuschten Verkäufer ließen natürlich, da sie das Ungeziefer nicht wieder nach Hause schleppen wollten, dem raffinierten Kaufmann die mühselig zur Strecke gebrachten Tiere umsonst ab.

Eine Dame der Halle brachte in einer ordnungsgemäß trockenen Flasche fünfundzwanzig Stück lebender Flöhe und verlangte ein Schußgeld von zwei Gulden und fünfzig Kreuzer. Nun, so teuer war guter Rat für den zukünftigen Zirkusdirektor nicht. Er stülpte seinen durchsichtigen Kneifer auf die Nase und beguckte mit ostentativem Kopfschütteln die Tierchen, immer eines nach dem anderen:

»Mütterchen, wo haben Sie denn die gefangen? Das sind ja lauter Weibchen! Die kann ich nicht brauchen. Weibchen haben einen Hinterleib wie Lipizzaner Hengste. Damit können sie nicht springen. Nehmen Sie sie nur gleich wieder mit.«

Die alte Dame war ganz bestürzt, und wußte vor Aufregung nicht, ob sie ein Männchen oder ein Weibchen sei. Sie habe die Fünfundzwanzig zu Hause gejagt, und dabei gesehen, daß sie springen könnten . . .

»Freilich können sie springen. Alle Flöhe und alle Menschen können springen, aber das reicht noch nicht 326 für den Zirkus. Weibliche Flöhe kommen für den Zirkus nicht in Betracht.«

Da konnte die Alte nichts mehr zugunsten der Flöhe sagen, und gab nur ihrer ehrlichen Verwunderung Ausdruck, daß sie durchwegs Flöhe des zarten Geschlechtes gefangen habe. Na ja, aber eines sei wahr: An ihrem Manne hätten sich seit je bloß weibliche Wesen festgesetzt, und immer nur solche, die nichts taugten. »Könnten Sie mir nicht doch dafür ein paar Kreuzer geben?«

Schließlich erbot sich Ferda Mestek, für den ganzen Wildbestand zehn Kreuzer zu bezahlen, damit die Frau den Weg nicht umsonst zurückgelegt habe. Die Verkäuferin nahm die zehn Kreuzer, Ferda Mestek die fünfundzwanzig schönen Flöhe und lachte sich ins Fäustchen.

Dann kam ein Dienstmädchen mit zwei Flaschen des im Inserate verlangten Inhaltes. Sie diene bei Fräulein v. T. und die mitgebrachten Flöhe stammten von dieser Dame. »Vornehme Tierchen,« rekommandierte die Besucherin eifrig, »höchst feudale Tierchen, sie trinken nur blaues Blut . . . Ich selbst habe mir eines von ihnen auf den Arm gesetzt – glauben Sie, daß es mich gestochen hätte? Fiel ihm gar nicht ein. Na ja, unser Fräulein ist vom Parfüm umduftet und hat süßes Blut, weil sie immer Cachous lutscht und sich bloß von Konfekt nährt, und . . .«

Ferda Mestek schaute die Tiere an. »Die sind ja durch das Parfüm ganz verblödet! Die regen sich gar nicht!«

»Was fällt Ihnen ein,« rief die schlagfertige Donna, »sie schlafen bloß jetzt, da sollten Sie sehen, was die bei Nacht aufführen, die treiben im Bette der Gnädigsten solche Allotria, daß darin niemand ein Auge schließen kann, solche Ludern sind das.«

»Nun, mir ist mit den Tieren nicht geholfen, die so verwöhnt sind, daß sie den ganzen Tag schlafen. Meine größte Einnahmsquelle sind doch die Nachmittagsvorstellungen.« 327

»Also gut,« entgegnete die angebliche Kammerzofe des hochgeborenen Fräuleins von T. und reichte dem präsumptiven Flohbändiger die andere Flasche. »Diese hier sind nicht verweichlicht, das sind nämlich meine eigenen, schauen Sie sich diese einmal ordentlich an, sehen sie nicht aus wie Pinzgauer Pferde, die könnten Sie gleich vor das schwerste Fuhrwerk spannen, so gesund und kräftig sind die, die schütteln mich manchmal am Körper, daß ich geradezu umzukippen drohe.«

Ferda Mestek beeilte sich, galant zu versichern, daß ihm der Inhalt der zweiten Flasche viel besser gefalle und daß er gerne bereit sei, noch einige wilde Flöhe gleicher Provenienz dazuzufangen. Er könne das trefflich, und Buffalo Bill sei gegen ihn ein reiner Stümper in der Kunst des edlen Weidwerkes. Das Mädchen war es zufrieden, aber kaum hatte es die Bluse aufzuknöpfeln begonnen, als Frau Anna auf der Bildfläche erschien. Da wurde der kühne Jäger klein, ganz klein, viel kleiner als ein Floh.

Die nächste Verkäuferin, die ankam, eine Herbergswirtin, brachte das geringste Quantum: nur zwei der Säugetiere aus der Insektenwelt. Aber diese beiden wurden die Protagonistinnen des Mestekschen Flohtheaters: Die zusammengewachsenen Zwillinge Lo und Hedda, von denen die ältere schwarze Augen, die jüngere schöne tiefblaue Augen hatte, wie Ferdinand Mestek de Podskal später bei seinen Konferenzen niemals hervorzuheben vergaß.

Als am Abend der Theaterdirektor in spe die Häupter seiner Lieben zählte, sah er, daß es dreihundert waren, er also sich mehr Personal engagiert hatte, als ursprünglich beabsichtigt gewesen war. Aber die Gagen waren klein, die Kräfte gut, und Herr Mestek war sehr zufrieden. Er wollte eben die Stube verlassen, um die Firmatafel vom Haustor abzunehmen, als ein Betrunkener in die Wohnung torkelte, eine Flasche mit Flöhen in der Hand schwingend. 328

»Die Assentierung ist schon beendet,« wehrte ihn Ferda gleich ab.

Aber der Trunkenbold zog nicht ab. »Mensch,« schrie er, »Mensch, ich habe fünfundachtzig gefangen, dafür habe ich acht Gulden und fünfzig Kreuzer zu kriegen. Ich lasse sie Ihnen um acht Gulden, da machen Sie ein Bombengeschäft.«

»Zu spät, lieber Freund.«

»Menschenkind, ich habe die ganze Nacht gejagt, bevor ich die Kompagnie beisammen hatte, hundertmal mußte ich mir Kraft antrinken, und nun verschmähen Sie meine Soldaten!? Sie müssen sie anwerben, Sie haben inseriert.«

»Wären Sie früher gekommen.«

Der Schnapsbruder begann zu brüllen, das sei Betrug, er habe geschuftet, und müsse eine Entschädigung haben, wenigstens einen Gulden, sonst schlage er alles kurz und klein.

»Nicht einen Kreuzer,« mischte sich die Frau Anna ins Gespräch.

»Halten Sie das Maul,« brüllte der bezechte Kerl, »und mischen Sie sich nicht in Geschäftsangelegenheiten, die ich mit dem Herrn Direktor abzuwickeln habe, Sie blöde Vettel!«

Da packte Frau Anna resolut den Beleidiger und wollte ihn aus der Stube drängen. Das gelang ihr, aber sie konnte nicht verhindern, daß der Betrunkene die Flasche mit Wucht auf den Fußboden schleuderte. Das Glas zersprang und die Kompagnie desertierte nach allen Windrichtungen, eine Flohhatz begann, gegen die jene des gottseligen Johannes Fischart ein Idyll war, aber das Weib siegte auch hier: Frau Anna fing die Mehrzahl der Tachenierer unter ihren Röcken.

Der zukünftige Dompteur schied nun aus der Truppe einige Sandflöhe und einige Hundeflöhe aus, die er bei dem Massenandrang nicht als solche minderwertige Exemplare erkannt hatte, teilte die Truppe in Solo-, in Orchester- und in Chormitglieder ein, widmete 329 eine Flasche zum Aufenthaltsorte für die Komparserie und begann nun die Fütterung und Dressur der kleinen Raubtiere.

Man weiß, daß schon die Mitglieder eines Menschentheaters schwer zu behandeln sind. Was will das aber gegen ein Personal besagen, das durchwegs dem Geschlechte der Pulicidae irritans entstammt! Das ist erst recht ein sprunghaftes, ein bissiges Bühnenvölkchen von geradezu blutsaugerischer Natur, es gibt keinen Menschen, den es mit seinen Sticheleien verschonen würde, und ist dem Trunke ergeben. Aber Direktor de Mestek verstand es, mit ihnen umzugehen.

Zuerst ging er an die Fütterung. Er schüttelte die Flöhe in eine Flasche, in der unten trockene Sägespäne waren und die oben einen breiten Hals hatte. Diese weite Oeffnung wurde mit der flachen Hand verschlossen, dann stülpte man die Flasche vorsichtig um, und die kleinen Raubtiere begannen buchstäblich aus der Hand zu fressen. Mit ihrem Saugrüssel bissen sie sich auf der Handfläche fest und ließen nicht eher los, als bis sie sich vollgetrunken hatten. Dann fielen sie mit Hinterlassung eines blutigen Stiches wieder auf ihr Himmelbett aus Sägespänen zurück.

Wenn die Fütterung vorüber war, kamen die Künstler in ein anderes Gefäß, das der Direktor als »Probebühne« bezeichnete. Es war dies eine flache Glasglocke, so flach, daß sich die Tiere unbedingt anschlagen mußten, wenn sie ihrem Trieb des Springens hätten freien Lauf lassen wollen.

»Ich werde den Biestern das Springen schon abgewöhnen,« brummte Mestek grimmig in seinen Bart, wenn er sie in die niedrige Zelle einsperrte. »Ich kann doch den Kerlen nicht nachspringen. So klein sie sind, so hoch springen sie. Wenn die so groß wären wie Hunde, – bei meiner Seele, die würden den Pulverturm überspringen.«

Nach einigen Tagen begann die Einkleidung. Mit einer leicht befeuchteten Schaufel kleinster Dimension 330 hob der Dompteur je eines der vollgefressenen Tierchen aus der Flasche, nahm es vorsichtig zwischen zwei Finger der linken Hand, während er in der rechten Hand eine Fangrute lauernd bereit hielt. Eine winzige Schlinge aus versilbertem Kupferdraht, die an einer langen Nadel befestigt war. Begann sich nun der Floh aus der Umarmung der Finger herauszuarbeiten, warf ihm Ferda mit der Virtuosität eines Cow-boys das drahtene Lasso um den Hals, zog vorsichtig mit einer Pinzette die Schlinge oberhalb des Saugrüssels zu und das kleine Raubtier war für den Rest seines Lebens festgeschmiedet, wie die lebenslänglich Verurteilten in der sibirischen Katorga an ihre Ketten: Ferda Mestek konnte sein Personal im wahrsten Sinne des Wortes im Zaume halten.

Nun wurden die Rollen verteilt. Einige Tierchen wurden vor die kleinen Karossen und Omnibusse gespannt. Andere (die Kanoniere) am Fuß der Lafetten befestigt. Einem guten Schüttelreim zufolge, ist »ein Sattel für den Steiß der Mücke das Meisterstück der Meisterstücke«. Ein nicht Geringeres vollbrachte Mestek, als er seinen Reitflöhen Sättel anschmiedete.

Die beiden Duellanten – diese Nummer, die zum Repertoire aller ernsteren Flohtheater der zivilisierten Welt gehört, ist von Ferda Mestek de Podskal erfunden, – erhielten ihre kleinen Papiersäbel, die sie sich aus der »Hand« zu schlagen hatten.

Die zierlichen Damen erhielten Ballettröcke aus Seidenpapier, und eine von diesen sogar einen verkehrten Ballettrock, so daß es aussah, als ob sie auf dem Kopfe tanze, was Ferda Mestek auch mit Vehemenz behauptete.

Einen anderen Regietrick mußte er anwenden, weil die zu Zugtieren bestimmten Viecher ihre Vehikel nicht ziehen wollten. Er versuchte es, unter der dünnen Tischplatte einen Hufeisenmagnet zu bewegen, und richtig: die kleinen Wagen schoben sich vorwärts samt dem Saumzeug aus festem Draht und samt den eingespannten 331 Flöhen. Und es sah wirklich so aus, als ob die Flöhe die Equipagen zögen. Bei den Vorstellungen konnte er das Publikum maßlos in Erstaunen setzen, wenn auf seinen Befehl die kleinen Fahrzeuge im Zickzack fuhren, wenn die Zugtiere aus der Insektenwelt auf das Kommando »Halt« stehen blieben, und die Avisi »Rechts« oder »Links« strikte befolgten. Wer konnte denn ahnen, daß unter dem Tisch ein Gassenjunge sitze mit einem Hufeisenmagnet in der Hand? Da war es doch viel wahrscheinlicher, daß die gebändigten Flöhe mit einer unerhörten Intelligenz begabt und auf jeden Wink ihres Herrn dressiert seien!

Zu jener Zeit hatte der amerikanische Riesenzirkus »Barnum und Bailey« den großen Invalidenplatz gemietet, um dort bei seiner bevorstehenden Ankunft seine Zelte aufzuschlagen. Ferda Mestek wollte nun auf dem Kleinen Invalidenplatz die Konkurrenz errichten: Alle aus Prag und Karolinental kommenden Besucher Barnums sollten zunächst an seinem Flohzirkus vorbei und bei ihm einkehren. »Ich werde die amerikanischen Marktschreier schon ruinieren.« – –

Aber der Bezirksleiter des Polizeikommissariats hatte bedauerlicherweise kein Verständnis dafür, daß der heimischen Kunst vor der auswärtigen der Vorzug zu geben sei. »Was wollen Sie eigentlich errichten?« fragte er den Meister aller Flöhe.

»Ein Flohtheater.«

»Also ein Theater! Theaterkonzessionen können für Prag nur vom Landesausschuß nach eingeholter Zustimmung der Intendanzen beider Landestheater erteilt werden. Adieu!«

Ferda begann zu winseln, er fürchtete eine fühlbare Zeitverzögerung.

»Nein, nein, kein Flohtheater will ich errichten. Einen Flohzirkus.«

»Einen Zirkus? Wissen Sie denn nicht, daß auf dem großen Invalidenplatz der bedeutendste Zirkus der 332 Welt eröffnet wird? Da müssen Sie doch Bankrott machen.«

»Oho! Ich werde den Amerikanern schon zeigen, daß ich ihnen im Humbug überlegen bin.«

»So, Sie wollen also Humbug machen? Nun, ich werde Ihnen schon auf die Kappen gehen! Vor allem müssen Sie zwanzig Meter vom Rande der Liebener Landstraße Ihren Standplatz haben, damit die Passage freibleibt, verstanden? Sie werden mir das schriftlich geben.«

Was half es dem armen Ferda, daß er beteuerte, dies sei sein Ruin, und er habe doch nur auf die Neugierde der Vorübergehenden gerechnet! Er mußte blutenden Herzens den Schein unterschreiben.

Ferda baute nun seine Bretterbude hart an der Landstraße. Die Aufschrift lautete:

»Größter amerikanischer Floh-Zirkus Europas«

und darunter: »Königliches Landes- als Flohtheater«. Ein Plakat verkündete: »352 Artisten und 700 Reservisten. Den ganzen Tag Vorstellungen! Zwei eigene Musikkapellen: Eine Floh-Damenkapelle unter Leitung des Frls. Anastasia Stich und eine Zigeuner-Flohkapelle unter persönlicher Leitung des Barons Springer.«

Der erste Gast, der den neuerbauten Musentempel betrat, war der Polizeibezirksleiter. In seiner Hand schwang er den Schein, wie Shylock den seinigen: ». . . zwanzig Meter vom Rande der Liebener Landstraße«, las er drohend vor.

»Und . . .?« fragte Direktor Mestek naiv.

»Sind das zwanzig Meter? Sie stehen doch direkt an der Straße!«

»Pardon, Herr Oberkommissär, haben Sie denn diesen Rand gemeint? Ich habe es vom jenseitigen Rand gemessen und die Straße ist genau zweiundzwanzig Meter breit. Eigentlich hätte ich also meinen 333 Zirkus auf die Landstraße stellen können. Aber ich dachte mir, da würden Sie mit Verkehrsstörungen viel zu schaffen haben. Und ich werde doch einem Herren von der hohen Polizei keine Ungelegenheiten machen, wenn er mir so liebenswürdig entgegengekommen ist. So habe ich Ihnen, Herr Oberkommissär, die zwei Meter geschenkt.«

Das Auge des Gesetzes lachte Tränen. »Mestek,« sagte endlich der Oberkommissär, »Mestek, Sie sind ein Obergauner! Jetzt glaube ich selbst, daß Sie dem Barnum Konkurrenz machen werden.«

Die Bude blieb an der Landstraße stehen und das Theater konnte beginnen. Wie jeder bessere Bühnenleiter mietete auch Mestek zunächst die Claque, indem er durch Ausgabe von zehn Freibilletts zehn Gassenbuben zu ehrlich begeistertem Applaus verpflichtete. Er selbst stellte sich vor das Portal seines gezimmerten Palastes auf, und rief das Volk bombastisch an:

»Mundus vult decipi! Das sind drei lateinische Worte und bedeuten: Kommet, sehet, bewundert! Noch niemals hat die Wissenschaft bislang einen solchen Triumph gezeitigt, wie er sich hier, hinter dieser schlichten Wand offenbart. Welch ein erstaunliches Wunder der Dressur, welch herrliche Frucht der Energie ist hier zu sehen! Einem einzelnen Manne ist dies alles geglückt, mir, Ferda Mestek de Podskal, der nichts besitzt, als seinen adeligen Namen und die blanke Ehre seines Wappenschilds: dreier Ohrfeigen auf rotem Felde. Mir ist es geglückt, die kleinsten Tiere, die man allgemein in der Laienwelt als »Flöhe« bezeichnet, zu Menschen zu erziehen – nein, was sage ich: zu Künstlern. Sie turnen und jonglieren wie die trefflichsten Akrobaten und Jongleure der Menschenwelt, sie fahren als Passagiere in Automobilen und Kaleschen, deren Chauffeure und Kutscher gleichfalls ihre Stammesgenossen sind, sie fechten, – diese blutrünstigen Geschöpfe! – mit Fleuret und italienischem Säbel gegeneinander auf Leben und Tod, sie jagen aus der 334 Manege in gestrecktem Galopp vor das Publikum und reiten die hohe Schule auf prächtigen Juckern, sie tanzen moderne Tänze, sie produzieren sich als Kunstfahrer auf dem Veloziped, als Seiltänzer und Equilibristen.

Der Star unseres Ensembles aber, unsere Primaballerina, ist Mademoiselle Nudelmaier. (Bei dem Stichwort »Nudelmaier« begannen die zehn Mitglieder der Claque im Innern des Theaters wie wütend zu applaudieren.) Die höchsten Gagen wurden ihr von anderen Unternehmen geboten, auch ›Barnum und Bailey‹ haben sich um sie bemüht, um wenigstens eine gute Nummer in ihrer betrügerischen Schaustellung zu besitzen, aber Mademoiselle Nudelmaier ist treu, wie doch nur eine Ballerina sein kann, und ihre Konventionalstrafe ist von schwindelhafter Höhe. Wenn sie auftritt, ist das Publikum geradezu begeistert, man wirft ihr Blumenarrangements, Buketts und Orangen auf die Bühne, ja neulich warf ihr ein Verehrer in seiner Begeisterung einen Ziegelstein zu, weil er nichts anderes bei sich hatte.

Höret Ihr die paradiesische Musik, die eben im Theater drinnen ertönt? Ihr glaubt, es wäre ein Grammophon? Fehlgeschossen! Das ist unsere Damenkapelle, die unter persönlicher Leitung des Floh-Fräuleins Anastasia Stich während der Vorstellung konzertiert. Fräulein von Stich dirigiert die schwersten Symphonien, Lieder und Tänze – Stücke, die so schwer sind, daß sie nicht einmal der Meisterstemmer Rasso vom Erdboden zu heben möchte. Und wie sie frisiert ist! A la Sezession. Und erst ihre Kleider und Hüte! Alles neueste Fasson, Pariser Mode.«

Nachdem Ferda Mestek de Podskal solcherart die Notabilitäten seiner Truppe einem P. T. Publikum vorgestellt hatte, begann er – gleichfalls ganz nach dem Muster seines Konkurrenten Barnum – über die Organisation und die sozialen Einrichtungen seines Unternehmens Verkündigungen zu machen: 335

»Wir haben unsere eigenen Jäger, die oft die größten Gefahren bestehen müssen, weil sie ja ihr Wild lebend heimzubringen haben; ihr Handwerk erfordert besondere Geschicklichkeit, da sie die Flöhe im Fluge fangen müssen.

Wir haben unsere eigenen Sanatorien, unser eigenes Krankenhaus, unsere eigenen Floh-Aerzte und wir haben unsere eigene Invaliditäts- und Altersversicherung, sowie Heirats- und Sterbekassa.

Während Barnum und Bailey, der eigens aus Amerika herüberkam, um uns Konkurrenz zu machen, großmäulig verkündet, daß er 300 Artisten engagiert habe, nennen wir nicht weniger als 352 auftretende Künstler unser eigen, und 700 Reservisten stehen uns zur Verfügung. Wir haben 90 Ammen mit süßem Blute; sie müssen mit den Flöhen schlafengehen, und sind fürstlich gezahlt, da sie nicht einmal am Sonntag Ausgang haben, und damit sie nicht sagen können, daß sie bei unserem Unternehmen ausgesaugt werden.

Spazieren Sie weiter, meine Herrschaften, solange noch einige Plätze frei sind, der Eintritt kostet nur einen Sechser, Militär vom Feldzeugmeister aufwärts zahlt die Hälfte. Nicht drängen, meine Herrschaften, um Gotteswillen nicht so drängen! Bitte, hübsch einer nach dem anderen.«

Das war die Rede, die er hielt, – ein Prager Theophrastus und Hagenbeck, ein Cagliostro und Till Eulenspiegel zugleich, allerdings im Flohformat. Wehe dem, der den Sirenenklängen mit großen Erwartungen folgte! Der sah bloß einige Flöhe, die herumhüpften, wie andere Flöhe auch. Wenn man nach den berühmten Flöhen fragte, zeigte Herr Ferda oder Frau Anna bald auf dieses, bald auf jenes Mitglied der Truppe. Die Sanatorien, die Damenkapelle usw. seien in der Manege, der Eintritt dorthin aber wegen Lebensgefahr verboten. Ein Bauer ging auf Mestek zu und verlangte sein Geld zurück: 336

»Ich bin zweimal herumgegangen und habe nichts gesehen.«

»Was? Zweimal sind Sie herumgegangen? Da kriege ich noch zehn Kreuzer.«

Der Bauer begann zu schimpfen, aber Frau Anna warf ihn hinaus, und Ferda verkündete draußen dem Publikum, daß der Mann an einem Rundgang nicht genug hatte und ohne nachzuzahlen, am liebsten noch zehnmal die Herrlichkeiten angestaunt hätte.

Eine alte Frau blieb nach Schluß der »Vorstellung« sitzen, wartete die nächste und die dritte ab. Dabei schluchzte sie herzzerreißend.

»Was, das hat Sie so gerührt, daß diese winzigen Tierchen so geschickt sind?!« kam der Flohdirektor ganz stolz auf die Alte zu.

»Ach nein, deshalb weine ich nicht. Ich weine um den Sechser, den ich als Eintrittsgeld bezahlt habe . . .« 337

 

Typen der Straße

Das, was man metaphorisch als»Bild der Straße« bezeichnet, ist das Bild der Menschen, die in der Straße sind. Aber die Flüchtigen, die Zufälligen, die Passanten sind nicht das Unbedingte für dieses Bild, – kein ernsthafter Maler eines historischen Winkels wird eine eben dort verübte Verunreinigung mitverewigen, keinem Landschafter wird es beim Malen eines Gletschers beifallen, auch das zigarettenrauchende Gigerl aufzunehmen, weil es gerade am Gletscherrande steht. Der, für den die Straße eine (dem Verkehr) dienende Stellung innehat, der gehört nicht zu ihrem Bild und sieht auch ihr Bild nicht. Aber um den, dem sie mehr, dem sie ein Garten, ein Promenadeweg oder eine Wirkungsstätte ist, um den spannt sie einen kostbaren, den Wert des Gemäldes erhöhenden Rahmen. Und der pensionierte Gerichtspräsident, der, im Pelz und den Elfenbeinknauf des Stockes ans Kinn gepreßt, ihr gravitätisch Fensterpromenade macht, ist ihr ein ebenso zu begünstigender Verehrer, wie der schlenkernde Bettler, der Weichensteller auf seinem Stockerl ebenso wie das auffallende Dämchen, der Studentensensal ebenso wie der privilegierte Fremdenführer, der hilflose Blinde ebenso wie der unerschütterliche Polizist, der kleingewachsene Herr, der immer beim Spinka die bereitstehenden Wagen an die P. T. Trauergäste aufteilt, ebenso wie der Hausierer, der die Gasthäuser abgrast, der Drehorgelspieler ebenso wie der Teeverschleißer am Kandelaber, der Herr, der zu Fuß zum Zionistenkongreß nach Basel gewandert ist und nun das Kongreßabzeichen am ostentativ geschwellten Busen trägt, ebenso wie die Harfenistin im Hausflur, der Pseudo-Amerikaner aus der Ferdinandsstraße ebenso wie die dunkelrotbackige Händlerin am Obstmarkt, der 338 übermenschlich große Mundwassererfinder ebenso wie der winzige Statistenakquisiteur, und E. T. A. Hoffmanns Meisterfeuilletonist in »Vetters Eckfenster« ebenso wie der Dienstmann, der kurzfristige »Ehen« vermittelt.

Die Straße kennt keinen Standesunterschied. Alle Mitglieder ihres Ensembles werden in gleicher Lettergröße auf dem gleichen Plakat angekündigt, alle müssen vor der gleichen Kulisse spielen, und es liegt nur an dem Künstler selbst, sich die größere oder geringere Beachtung auf der gleichen Szene zu erringen. Die Popularität, die man auf der Straße auflesen kann, ist ja nicht minder erstrebenswert, als die eines hohlen Possenreißers, eines phrasenhaften Versammlungsredners oder eines Verfassers von Schundromanen. Und wenn man im Wege eines Plebiszits feststellen wollte, wer der bekannteste Mann Prags sei, so würde sicherlich auf keinen Politiker, auf keinen Gelehrten, auf keinen Künstler die Stimmenmehrheit entfallen, sondern wohl auf irgend einen tragikomischen Excentric der Straße.

Den Haschile zum Beispiel kennt jeder, Haschile hat sich eben die Aufmerksamkeit der Straße erworben. Eine übertrieben lange Nase, eine Garderobe, die ihn entweder bloß zu den Ellenbogen und Knien oder aber über Fingernägel und Stiefelspitzen hinausreicht, ein gehetzter, fluchtartiger, unregelmäßiger Gang in der Mitte der Straße, so daß die Passanten beider Trottoirs den Anblick ihres Bekannten gleichermaßen genießen können, und sein Beruf, der des Schnorrers, haben ihm dazu verholfen. Sein Bild ist in Vierfarbendruck auf Ansichtskarten verewigt, und diese Karte ist eine der meistgekauften. Man will einem Freunde in der Fremde die Erinnerung an die Heimat wachrufen. Soll man ihm eine Ansicht des Nordwestbahnhofes oder des Wyschehrader Tores schicken, das er vielleicht kaum kennt? Man schickt ihm den Haschile in effigie. Dabei kennt vielleicht keiner von Haschils Bekannten und Mäzenaten seine Biographie. Er heißt Jakob Weiß, ist, 339 wie wir mit lokalpatriotischem Stolze feststellen können, in Prag (am 27. November 1863) geboren, aber zur größten Freude der Beamten der Koliner Schubstation nach Kolin zuständig. Ständiger Lebensberuf: beschäftigungsloser Handlungsdiener. Zwanzig Jahre alt, im wunderschönen Monat Mai 1883 wurde er zum erstenmal verhaftet, unbefugten Hausierens mit Zündhölzchen wegen, seither etwa dreißigmal bestraft wegen Bettelei, unbefugten Fremdenführens, Gassenexzeß, Trunkenheit, Verunreinigung einer Hausflur, Beschimpfung, Bedrohung &c., und einmal unter dem Verdacht der Brandstiftung unschuldig verhaftet. Er hatte viel Zeit seines Lebens mit psychiatrischen, humanitären, polizeilichen, gerichtlichen und autonomen Behörden zu schaffen. Einmal wurde irrtümlich in seinem Nationale das Rubrum »Lebensberuf« mit dem Worte »Taglöhner« ausgefüllt. Darauf lief bei dem Amte prompt eine tadellos stilisierte Beschwerde ein: »Ich ersuche, dies auf der Stelle zu ändern, da ich weder jemals Taglöhner war, noch es gegenwärtig bin.« Unterschrift: »Jakob Weiß, genannt Haschile.« In seiner Jugend hat er Bettelfahrten bis nach Deutschland unternommen, und er erzählt stolz, daß Rothschild in Frankfurt zu seiner Klientel gehört habe. Damals besuchte er auch in Prag nur ständige Kundschaften, von denen er stets zehn Kreuzer erhielt. Gab man ihm nur ein Fünferl, so protestierte er: »Bin ich ein Bettler?« Und wenn er nun erstaunt gegengefragt wurde, was er denn sei, so war seine stolze Antwort: »Ich bin kein Bettler, ich bin ein Schnorrer.«

Was Haschile bei Tag ist, ist »Chaloupko tancuj!« bei Nacht. Punkt Mitternacht kommt er (wenigstens in Friedenszeiten war das so) aus dem Tor des »Schönflock«-Ausschankes auf den Wenzelsplatz hinaus und schlottert mit eingeknickten Knien und gesenktem Kopf durch die Ferdinandsstraße und über den Franzenskai in seine Wohnung in der Wendischen Gasse. Wenn man ihn anruft, so kommt er herbei, und nun braucht man 340 nur seinen Namen mit dem angehängten Imperativ auszusprechen, so fängt er schon an, das Gebrumme eines Bären und dessen ungelenkes, täppisches Tanzen nachzuahmen, – so lange, bis er seine Gage, – ein Fünferl, in Empfang nimmt. Wer aber solches Benehmen psychoanalytisch zu deuten versuchen, und den Einfluß irgendwelcher, durch einen Tanzbären verursachter Kindheitseindrücke und Erinnerungskomplex diagnostizieren wollte, würde literarische Unbildung verraten. Denn es gehörte zu den allerersten Aufgaben des deutschen Naturalismus, einen Doppelgänger Chaloupkas auf die Bühne zu stellen. Im ersten Drama der neuen Aera, in Gerhart Hauptmanns »Vor Sonnenaufgang« finden wir den Hoppslabär, und erkennen daran, daß wir in Chaloupka weder eine lokale Eigenart noch ein atavistisches Menschheitsexemplar oder ein Produkt psychosexueller Komplexe besitzen. Der Prager Hoppslabär und der ostpreußische Chaloupka gehören vielmehr zu jener Sippe bettelarmer Zechbrüder, die im Wirtshaus den zu Tieren betrunkenen Gästen wieder die Menschenwürde verleihen, indem sie sich tierischer benehmen als diese. »Chaloupka tanze!« mochte einst einer, der freihielt, dem armen Chaloupka zugerufen haben. Und Chaloupka brummte und tanzte, zum Gaudium des Freigebigen, der sich mächtig vorkam, weil er zu befehlen hatte, und weil er sich nicht wie ein Bär benahm, sondern wie ein Schwein. Chaloupka aber bekam sein alkoholhältiges Honorar, und ist ein Hoppslabär geblieben. Bei Tag aber tut er seine Pflicht, und ist, obwohl er nicht lesen noch schreiben kann, ein in den Setzereien bekannter Meister im Ablegen und Einordnen der Typen unbrauchbar gewordenen Setzmaterials. Er arbeitet fehlerlos und mechanisch, wie eine Maschine.

Der »alte Friedland« ist noch in Erinnerung, obwohl er schon gestorben ist. Man sieht also, daß auch die Popularität der Straße nicht im Lethe stirbt. (Zur Zeit unserer Eltern war der närrische Bettler »Karliček 341 Bum« die bekannteste Straßentype; obwohl er schon lange tot ist, lebt sein Angedenken noch fort und die Dienstboten erzählen sich die sentimentale Sage, daß er infolge verschmähter Liebe den Verstand verloren hatte.) Dabei hat der alte Friedland gar nicht viel dazu getan, um sich Unsterblichkeit zu erringen, die ja nichts einträgt. Seinen Namen hatte er nicht etwa deshalb erhalten, weil zur Zeit seiner Wirksamkeit noch Friede im Lande war, und auch eine Aehnlichkeit mit seinem herzoglichen Namensvetter aus dem dreißigjährigen Kriege hätte sich schwerlich feststellen lassen. Wenigstens hat uns Hallwich nie etwas davon berichtet, daß Wallenstein mit seinem Tablett voll »unzerreißbarer Portemonnaies« und anderer »unzerreißbarer« Dinge – welch dehnbarer Begriff! – in der Nacht von einem Prager Gasthause zum anderen hausierte und sich mit altersschwach zitternden Händen, einem diskret sein wollenden Augenzwinkern und im Flüsterton nach der Kauflust und den Liebesabsichten der Gäste erkundigte: »Wie ist die Stimmung?«

Francis Drake hat die Kartoffel nach Europa gebracht, das Grammophon hat Frankl bei den Prager Familien eingeführt. Wenn sie beim Abendbrot saßen, tauchte er mit seinem Wunderkasten auf, und es entspann sich eine Szene von solch unendlicher Komik, daß sie den Teilnehmern ewig unvergeßlich bleiben wird. Schon Frankls ernstgemeinte Maske war zwerchfellerschütternd. Er faßte seinen Besuch nicht als Bettelgang, sondern als das Auftreten eines Künstlers auf, und hatte sich fein herausgeputzt, einen schwarzen, an allen Teilen silberglänzenden Bratenrock angelegt, eine weiße Krawatte unter den fossilen Vatermörder und über die zerknitterte Hemdbrust gespendelt, und trug einen Chapeau claque, riesige weiße Handschuhe, Hosen, die unten unabsichtlich wie Mokassins zerfranst waren, und zerfetzte Stiefel. Mit unnachahmlicher Grandezza stellte er den Zauberkasten auf den Tisch, zog ihn langatmig auf, und Arimondis Stimme tönte von 342 den Membranen. Ob aber Herrn Frankl diese Leistung zu gering schien, ob er Sängerehrgeiz besaß und sich nun mit Arimondi im Sängerkrieg zu messen wünschte, – wer wagt es zu ergründen, warum er plötzlich die behandschuhte Hand an seinen Busen legte und mit krächzender, krähender und kreischender Stimme den Maestro zu begleiten begann? Mochte man ihn noch so sehr um Gnade anschreien, mochte man ihm Honorar und Abfindungssumme auf seinen Apparat legen, er sang, sang, bis man den Kasten unter seinen Arm schob und ihn selbst aus der Türe.

Nicht durch Betteln, nicht durch Tanzen, nicht durch Hausieren und nicht durch Singen, sondern bloß durch sein absonderliches Aussehen hat sich der »blinde Kilian« die Popularität der Prager Straße erworben. Er trägt einen weißen Drillichanzug und niemals einen Hut oder eine Mütze auf seinem runden, teils kahlen, teils kahlrasierten Kopf, Bartstoppeln starren aus seinem Gesichte, so daß er vollkommen wie ein Sträfling aussieht. Aber er ist ein ehrlicher, fleißiger Mann, gesuchter Klavierstimmer. In einer Blechbüchse, die ihm vom Halse über den Bauch baumelt, hat er sein Essen für den ganzen Tag, und mit einem etwa drei Meter langen, breiten Bambusstock tappt er vor sich auf das Straßenpflaster, selbständig wie ein Sehender durch das Gewühl auf Bürgersteig und Fahrbahn schreitend. Sein Gegenspieler ist der vollbärtige alte Blinde, der an den Straßenkreuzungen so lange stehen bleibt, bis ihn ein hilfsbereiter Passant unter den Arm nimmt, und auf dem anderen Ufer absetzt. Beim Obstmarkt-Eingang des großen Basars stand jahrzehntelang ein stiller Blinder, und es galt den zur Staatsprüfung gehenden Juristen als segenbringend, dem armen Manne einen Obolus zu reichen.

Nicht blind und doch nicht sehend geht der »schlafende Honziček« noch immer seinen Gang durch die Finsternis der Prager Altstadt. Mit geschlossenen Augen, intensiv schnarchend, marschiert er unbeirrt 343 seinen Weg und ist nicht zu erwecken. Auf seinem Arm trägt er einen Korb, in dem er einst Bretzel hatte. Wollte man welche kaufen, mußte man neben ihm gehen, die Bretzel wegnehmen und das Geld hiefür in den Korb werfen. Wer kein Kleingeld hatte, mußte entweder Großgeld einwerfen – oder er warf wohl gar nichts ein. Das mochte den schlafwandelnden Phlegmatiker dazu bewogen haben, seine allnächtliche Wanderschaft mit leerem Korb zu unternehmen. Und tatsächlich wirft ihm hie und da ein Bummler ohne Gegenleistung einen Kreuzer in den Armkorb, und Honziček kommt bereichert und ausgeschlafen nach Hause. Den Seinen schenkt's der Herr im Schlafe.

»Wilhelm von Prag« recte Muneles, der Pennbruder mit den Büchern unter dem Arm, hatte sein Vermögen von 3000 Kronen in einer Schnapsbutik zwischen seinen beiden Lieblingsflaschen deponiert; dort fand man die Einlagsbücher erst geraume Zeit nach Eröffnung seines Testamentes, und konnte nun die Legate an jenen Wachmann und jene Wärterin des Barmherzigen-Spitales auszahlen, die von »Wilhelm von Prag« zu Universalerben eingesetzt worden waren, weil er ihnen zu Lebzeiten am meisten Mühe gemacht hatte. Harmlose Gaukler waren Fiala, der Wetterprophet im Radmantel (dessen Biographie mir leider schon Jakub Arbes wegpubliziert hat, nachdem Ján Neruda, dem Vorgänger Fialas, dem Wettermacher Sejček ein literarisches Denkmal gesetzt hat), und »Ferda Mestek de Podskal«, Impresario aller Abnormitäten, Landfahrer und Schaubudenbesitzer, der mir seinen ganzen handschriftlichen Nachlaß mitsamt Programmen, Prospekten und Korrespondenzen vermacht hat. Auch sie sind bereits tot. Die triefäugige Rosa und die ewig keifende Frau Blowitz sind aus den Straßen verschwunden, da sie Asyle gefunden haben. Pepile Brenner aber übt noch seinen Beruf als Kistenpacker aus und für ein Honorar an Zigaretten pfeift er mit Meisterschaft jede Opernouverture und jede Arie, die man von ihm 344 verlangt. Er ist jung geblieben, wie er es zur Zeit unserer Vorfahren war. Und das ist das Seltsame an den Straßentypen: Sie altern niemals. Weil sich eben ein Typus nicht verändern kann. 345

 

Die drei Freunde vom Hippodrom

(Eine umgekehrt erzählte Geschichte.)

Und so schließt die nachstehende Geschichte: Helenka dankte ihm nicht.

Sie hatte sich nur erstaunt umgedreht, als aus der marschierenden Kolonne laut ihr Namen wie ein Aufschrei klang. Als sie sah, daß es ein schmutziger Infanterist (Viktor) war, dem der verklungene Ausruf noch auf den Lippen stand, trippelte sie weiter auf dem Semliner Trottoir. Sie sah sich gar nicht mehr nach rechts um, wo die Doppelreihen auf der Fahrbahn weiterzogen, sondern wandte im Gegenteil einen knappen Blick nach links, ob sie keiner der auf dem Trottoir gehenden Etappenoffiziere gesehen habe. Helenka hätte sich geschämt, daß ihr Namen aus der Soldatenreihe gerufen worden war, aus der Menge von Mannschaftspersonen, schützengrabenbedreckten Infanteristen.

In den Schächten und Stollen der Matschwa, in den wassergefüllten Schützengraben an der Kolubara und im Massenmordkampf auf dem Avala hatte er, in Schlaf und Wachen, nur ein System im Weltgeschehen zu erkennen vermocht:

»Alles bewegt sich im Kreise. Manchmal geht's schneller, manchmal langsamer. Manchmal sitzt man hoch zu Roß und glaubt sich unendlich erhoben über die Menschheit und lächelt ihr zu, damit sie nicht glaube, man sei stolz. Aber von unten nimmt sich die Höhe des Sitzes gar nicht so absonderlich groß aus, wie man oben vermutet; untenstehend, lächelt man über das wichtigtuerische Gebaren des Menschen, der im Sattel sitzt. Manchmal wird man auch auf die Erde geschleudert. Wenn man reitet, müht man sich ab, erhitzt sich, um dann plötzlich absteigen zu müssen und aus der Manege zu verschwinden.« 346

Gewiß! Man wird über diese billige Definition des Lebens lächeln. Mit den gleichen Worten, in denen Viktor seine Auffassung vom Leben zusammenfaßte, könnte ebensogut der Betrieb im Hippodrom geschildert werden. Aber habt ihr denn vergessen, daß Viktor (wovon erst jetzt erzählt werden wird) die schönste Zeit seiner ganzen Jugend im Hippodrom zugebracht hat?

Bemerkung: wenn hier auf den folgenden Seiten vom Hippodrom gesprochen worden ist, so ist weder die Rennbahn der Quadrigen zu Olympia, noch das gleichnamige Stadion des Septimius Severus zu Byzanz, noch das Versammlungslokal der französischen Revolutionäre, noch das Hippodrom des Herrn Kotyš auf dem Belvedere gemeint, jenes Herrn Kotyš, der auch einmal so berühmt gewesen, wie der Taraxippos, wie Septimius Severus und wie Danton, wenn auch nur in der Lokalrubrik. Herr Kotyš hatte nämlich – lange bevor er sich mit seinem Hippodrom zwischen Belvedererestauration und D. F. C.-Platz etabliert hatte – bei unserer tapferen Bürgerkavallerie gedient, und sein Pferd war es gewesen, das beim Begräbnis des Kardinals Schwarzenberg plötzlich Sponponadeln gemacht und so viel Unheil angestiftet hatte. Bei der Gerichtsverhandlung . . . nein, wir wollen uns nicht (so sehr uns auch das Vorleben des Herrn Kotyš lockt) von unserem Thema ablenken lassen, sonst kämen wir nie zum Beginne unserer Geschichte.

Also das Hippodrom, von dem hier aller Voraussicht nach die Rede ist, lag im Herzen der Stadt, nicht etwa wie das des Herrn Kotyš, das . . . pardon, man verzeihe den neuerlich versuchten Seitensprung. Was ist das, ein Hippodrom? Ein Hippodrom ist ein Ringelspiel mit lebendigen Pferden, wahrscheinlich die Endstufe in der Entwicklung des Ringelspielwesens. Wem Steckenpferd und Schaukelpferd nicht mehr die gewünschte Illusion geben, ein dummer, dummer Reitersmann zu sein, der setzt sich am Jahrmarkt auf eines der rotierenden Holzrösser. Die waren in der Urzeit des 347 Ringelspieltums plumpgeschnitzte hölzerne Ungetüme. Dann versuchte man, den Holzklötzen durch Anwendung von braunem und goldenem Lack und durch sorgfältigere Schnitzerei mehr Lebenswahrheit einzuhauchen, man versah sie mit regelrechtem Saum- und Sattelzeug und ließ die Pferdegolems vor- und rückwärts springen (was nicht einmal lebende Pferde können). Schließlich wurde ihr hölzernes Pferdefleisch mit wirklicher Haut überzogen, eine echte Mähne und ein echter Schweif angesetzt. Parallel mit diesem Aufstieg ging jener der Begleitmusik: Harmonika, Drehorgel und dann die verschiedenen Stadien des Orchestrions, immer mehr Instrumente nachahmend. Die Technik kam der Natur immer näher, bis ihr eben nur ein Schritt übrig blieb – alle Technik durch Natur zu ersetzen. Wozu es eigentlich gar keines so komplizierten Vorganges der Nachahmung bedurft hätte. Kurzum: Nun drehten sich lebendige Pferde im Kreise und eine lebendige Musikkapelle spielte auf. (Ueberraschungen waren freilich noch weniger möglich, als zu Zeiten von Holzpferd und Orchestrion.) Mit dem Hippodrom hatte das Ringelspiel seinen Kreislauf beendet, aber der letzte Sprößling war schon ein Verfallsprodukt, ein Dégéneré. Er starb – wie wir es in einem der nächsten Absätze unserer Schilderung vorausgesehen haben – wenige Jahre nach seiner Geburt.

Nachdem nun der Tod des Hippodroms festgestellt worden ist, fahren wir in unserer Erzählung fort, und kommen zur Beschreibung seines Lebens. Ach, was war das für ein Leben! Es roch nach frischgefallenen Aepfeln und nach Zirkus, und war – was die Hauptsache ist – nur bei Nacht offen. Bei Tag war das Hippodrom eine Reitschule, und die Kriegsgewinner des Friedens ließen hier ihre Sprößlinge in die hippischen Geheimnisse einweihen, weil das nobel war. Bei Nacht kamen aus ähnlichem Motiv die Kriegsgefallenen des Friedens, die übernatürlich blassen Burschen und die übernatürlich geröteten Damen des Nachtgeschäftes, 348 manchmal aber auch ganz junge Vorstadtfratzen hierher, die um des Spieles mit lebendigen Pferdchen willen von zu Hause entlaufen waren. Eintritt zwanzig Kreuzer, ein Ritt zehn. Die Burschen ließen sich von den Damen den Ritt bezahlen, und die Damen von jenen Herren, die an den Tischen saßen. Wer galant war, ließ sich gerne um die zehn Kreuzer wurzen. Reiten und reiten lassen! Während der Musikpause trat man in die Manege und bestieg eine Mähre, von der eben, bedauernd oder aufatmend, jemand absprang. Der Stallknecht nahm den Blockzettel entgegen. Die Kapelle machte durch Blechhörner ihrer Antipathie gegen Nachtarbeit und schlechtes Bier Luft. Und die armen Pferde, die die Vertrottelung der Menschen und die Melodien aus dem »Walzertraum« schon bis zum Ueberdruß kannten, begannen sich in gelangweilten Trott zu setzen, ohne daß es erst des Kitzels der langstieligen Stallmeisterpeitsche bedurft hätte. Nach den zehn Runden, d. i. fünf Minuten, in denen die Musikkapelle ihr Stück beendete, bedurfte es keineswegs mutiger Troßknechte, schnaubenden Rossen in die Zügel zu fallen. Die Pferdchen blieben schon selbst stehen – froh, daß sie stehen bleiben durften.

Manchmal gab es Versuche, Attraktionen zu gewinnen: Die Stallburschen hatten Spaßfracks angelegt, die Ponies bekamen Strohhüte, und was dergleichen Auswüchse einer göttlichen Phantasie mehr sind! Später ließ man das sein. Man kann auf die Zukunft dieses Hippodroms neugierig sein. Es wird sich wohl nicht lange halten!

Die Erinnerung an dieses Treiben füllte Viktors Gedanken ganz aus, seit jenem serbischen Abend, an dem er beim Maschinengewehrstand die Todesnachricht erhalten hatte. Was blieb ihm denn übrig, als bloß das Denken an die Zeit im »Hipák« und die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Helenka? Nun, da sein einziger so plötzlich wiedergefundener Freund gefallen war? Viktor war ja zum Kaffeekochen, Speckrösten und 349 Wäschewaschen zu ungeschickt und konnte kein Talent zum Anekdotenerzählen entfalten. Wie hätte er sich da in den Unterständen der Matschwa die Beliebtheit auch nur eines einzigen Kameraden erwerben können? Von den Kanzleikollegen diente niemand bei seinem Regiment, und andere Freunde aus dem Zivil hatte er ja nicht.

Andere Freunde außer jenem, zu dem er eben mit einem gegen prächtige Zigaretten eingetauschten Stück Zucker geeilt war. Und über den er jetzt auf seine Frage die Nachricht erhielt: »Das Schutzschild-Tragtier? Ist gestern nachts von einer Granate erschlagen worden.«

Vorgestern war Viktor mit einer Meldung zum Kommandanten der Maschinengewehrabteilung in die Reservestellung gesandt worden. Und da hatte er den alten Freund getroffen und gleich erkannt, obwohl dieser den Kopf traurig gesenkt hielt. Auf der Stirne leuchtete ein weißer Fleck. »Bella!« hatte Viktor begeistert ausgerufen, Bella hatte den Kopf erhoben und es schien, daß sie ihren alten Stammgast aus Hippodromtagen erkannt hätte, obwohl der jetzt in Infanteristenuniform steckte. Der Tragtierführer saß daneben:

»So, du kennst den Gaul aus'm Zivil? Der war wohl früher im Zirkus, nicht? Der Krampen hat nämlich die Drehkrankheit . . .«

Traurig hatte Viktor seiner Bella in die Augen gesehen. Natürlich, du kannst dich nicht in die neuen Zeiten finden! Deine Welt hatte einen Radius von sechs Metern, was sollst du also plötzlich an der Peripherie eines Kreises, der von Riga bis zum Ochridasee, von Flandern bis Aegypten reicht? Wenn man dich einst mit Gewalt zur Kreislinie gezwungen hat, wozu will man dich jetzt wieder zu Geraden zwingen?

Viktor hat dem armen Tragtier das alte Hippodrom-Lied »Piccolo, Piccolo, tsin-tsin-tsin« gepfiffen, worin bekanntlich alle Weisheit liegt, Bella hatte die Ohren gespitzt, und ihr Hinterfuß begann zu zucken, als wollte er auf die Manegewand schlagen, und dafür einen Peitschenhieb des Herrn Sršen empfangen. Aber 350 kein Stallmeister war da, und auch Viktor mußte wieder fort. Er tätschelte Bella noch auf den Stirnfleck, flüsterte ihr leise den Namen »Helenka« ins Ohr und versprach ihr fest, morgen wiederzukommen.

Bis zu dieser Begegnung hatte es keine Abwechslung gegeben. Noch ärger als die Abrichtung (die im nächsten Satz erwähnt werden wird) war die Front mit Hunger, Frost und Schüssen. Auch schon die Abrichtung (hab' ich's vorausgesagt?) war übel genug, und Viktor sehnte sich tausendmal nach dem Kontor zurück, und ach, wie gerne hätte er sich wieder vom Disponenten beschimpfen lassen. Aber jetzt waren Gefreite seine Disponenten, und der Exerzierplatz war sein Bureau!

Wie der scharfsinnige Leser bereits erraten haben wird, war Viktor vorher zum Militär eingerückt. Und warum, war etwa ein Krieg ausgebrochen? Ja, ein Weltkrieg sogar! Und es hatte auch in der jäh aufsteigenden Kurve des Unheils für Viktor nichts Geringeres kommen können. Knapp vorher war das Hippodrom geschlossen, knapp vorher war Bella verkauft worden, noch früher hatte Viktor, um sich über das unbegreifliche Ausbleiben Helenkas zu trösten, täglich den Stirnfleck ihres Lieblingsrosses gestreichelt und war auf diesem drei Rundenserien geritten, und begonnen hatte der Niedergang damit, daß Helenka aus unbekannten Gründen nicht mehr in den »Hipák« kam.

Allerdings hatten die Verhältnisse im Hippodrom viel zu wünschen übrig gelassen, und es hatte tief innerliche Konflikte gegeben. Wenn Schönheitskonkurrenz war, war auch Helenka Frau genug, um nicht leer ausgehen zu wollen, und sie mußte um die Gunst der stimmberechtigten Herren buhlen, was Viktor blutenden Herzens ansah. Und bei der Beliebtheitskonkurrenz der Herren, bei der die Damen abstimmten, und bei der natürlich – wie immer in Prag – nationale Motive den Wahlkampf erbitterten, mußte sich Viktor auf die Seite seiner nationalen Gegner stellen, denn er hatte längst bemerkt, daß der Kandidat seiner Volksgenossen 351 Interesse für Helenka hatte; und der Sieger in der Damenwahl hat Anrecht auf – Damenwahl. Das Aergste aber war, daß der peitschenknallende Stallmeister begann, die jungen Mädel, die aus Freude am Zirkus von zu Hause entlaufen waren und an gar nichts anderes dachten, mit Androhung von Lokalverbot und anderen Pressionen zur Hebung des Geschäftes beizutragen. Auch Helenka mußte daran glauben. Aber gewiß würde sie sich rächen, und sich (wie wir oben sehen werden) ganz vom Besuche des »berittenen Bordells« fernhalten.

Aber damals – das erstemal – hatte sich Viktor an die Barriere gestellt und nichts anderes gesehen, als daß die Augen des Mädchens leuchteten, und sie sich Amazone glaubte. Und das hatte er bewirkt, (siehe unten) seine zehn Kreuzer! Er war nicht mehr ein zwecklos, freudloses, einsames Schreiberlein, vergessen war der heutige Konflikt mit dem Disponenten, er war mächtig, ein Herzog, der seiner Geliebten ein Reitpferd gekauft. Und die Geliebte lächelte ihm dankbar zu, und als die Rundenserie zu Ende war, blieb sie auf Bellas breitem Rücken sitzen und bettelte von dort aus um eine neue Fahrt. Gewährt, gewährt! Von da ab war sie sein Leben.

Das Pferd aber, auf dem sie saß, hieß »Bella«. Es war klein, hatte einen weißen Fleck auf der Stirn, so daß es wie ein Clown aussah, und sein Zuckfuß schlug fortwährend an die Manegewand. Wie aber hieß das Mädchen? Ich will sie »Helenka« nennen. Also Helenka war auch klein, hatte eine sogenannte Ponyfrisur und starke Fesseln, die man sehr deutlich sehen konnte, wenn sie im Herrensitz zu Pferde saß.

Bevor er – sich des geringen Betrages schämend – die paar Heller aus seiner Börse geklaubt hatte, war sie schon fortgewirbelt, über die Reitbahnbarriere in die Piste gesprungen und saß auf einem Pferd.

»Nur zehn Kreuzer.« 352

Das war die Antwort auf seine Frage: »Was kostet denn das?« Er war aber schon entschlossen, ihr den Wunsch zu erfüllen, wenn es auch seine letzten Kreuzer kosten sollte.

Der Wunsch war: »Zahl' mir einmal Reiten.«

Ein etwa fünfzehnjähriger Fratz hatte ihn im Bettelton angesprochen. Die Kleine war auf ihn zugesprungen, als er hinter die vom Portier beiseite geschobene Portiere getreten war, und sich in einer Art von Zirkus fand. Alles dreht sich im Kreis, man wird schon vom Zuschauen schwindlig.

Das grelle Licht der Bogenlampe draußen hatte ihn zum Kassenschalter und vorher in die Sackgasse gelockt, als er vom ewigen Einerlei des Kontors wie alltäglich müde und von seiner Einsamkeit zerrissen, und heute überdies, infolge eines Konfliktes mit dem Disponenten, mißgestimmt durch die Straßen gezogen war.

So beginnt meine Geschichte. Einmal war es. 353

 

Café Kandelabr

Es ist ein famoser Trunk, der 80gradige, mit angenehm im Magen flammendem Rum vermengte Tee, der hier kredenzt wird, – aber er bleibt doch nur ein Frühstück, ein ekelhaft kategorischer Schlußpunkt nach einer schönen, kaum begonnenen Nacht. Es ist wirklich zu arg mit den Ehrungen dieser Welt. Jedes Schulkind weiß z. B., daß der Erfinder der Dampfmaschine James Watt hieß. Weil dieser beim Brodeln eines Teekessels auf die Idee kam, die Dampfmaschine zu erfinden. Auch schon etwas? Ein anderer Erfinder, der wohl beim Vorbeifahren einer Dampfmaschine, sei es einer Lokomotive oder einer Lokomobile, auf die Idee kam, sie als Teekessel zu verwerten, ist keinem Schulkinde bekannt, seinen Namen meldet kein Lied, kein Heldenbuch. Dennoch ist die Verwendung der Lokomotive als Teekessel – das »Café Kandelabr« – eine Erfindung, die Hunderten von müden Pilgern auf nächtlichem Pflaster die Wohltat eines aufpulvernden, wärmenden Trankes gewährt. Und der Namen eines solchen Wohltäters wird in der Weltgeschichte nicht verzeichnet!

»Frau Jemelka, noch einen Achtziggradigen, Zwanzigprozentigen um fünf, etwas zum Aufweichen und zwei Retten.«

Frau Jemelka stellt ein Glas unter die Mündung des Messingrohres, dreht den Hahn nach rechts und läßt die Essenz in das Glas rinnen, in welches nun das heiße Wasser kommt. Dann sucht sie eine Mohnbuchte zum »Aufweichen« aus und gibt dem Besteller zwei »Sport«. Sie weiß ganz gut, daß mit der Bestellung der Retten – so wird der Ausdruck »Zigaretten« in vorgerückter Nachtstunde abgekürzt – nur »Sport« gemeint sein können, damit die Zeche die runde Summe von 20 Hellern ausmache. 354

Frau Jemelka steckt das Zwanzighellerstück in eine Blechbüchse, die ihr als feuer- und einbruchssichere Kassa dient. Zwölf Prozent gehören der »Cafetiere«, die nicht selbständige Unternehmerin ist, sondern eine Angestellte der Kleinschen Likörfabrik vom »Roten Stern« in Karolinental. Das fahrbare Teehaus ist Eigentum der Kleinschen Fabrik, und die liefert die Essenz, die Tee, Rum und Zucker enthält. Den Erlös der verkauften Quanten, abzüglich der Provision von zwölf Prozent, muß Frau Jemelka abführen.

Keine Angst; die gesetzte, ins Pragerische transponierte Geisha kommt trotz alledem auf ihre Kosten. Das ambulante Teehaus, das manchen nächtlichen Passanten nährt, nährt auch seinen Mann. Im Winter kommen die Bettmeider frierend zu dem Teeverschleiß. um sich an dem Koksofen zu wärmen, im Sommer aber gibt es zahllose Menschen, welche den im Einkehrhaus »U Valšu« zu entrichtenden Logierpreis von 20 Hellern als eine überflüssige Ausgabe betrachten, und lieber in der lauen Luft der Gassen umherspazieren. Die statten dann dem »Café Kandelabr« längere Besuche ab und geben oft dreimal soviel Geld aus, als das Nachtquartier kosten würde.

Außerdem haben die Kandelabr-Cafetiers noch Nebeneinkünfte. Wenn irgend ein Neuling kommt – an der Frage nach dem Preise eines Glases Tee ist er erkennbar – dann wird ihm statt der feinen, der 10-Heller-Essenz, die 8-Heller-Essenz gereicht, aber das Greenhorn muß den teueren Preis bezahlen. Oder es wird der Hahn des Kesselrohres zurückgedreht, bevor das vorschriftsmäßige Quantum der Essenz herausgeronnen ist. Wehe aber, wenn der Teemann eine solche Manipulation bei einem gewiegten Bummler in Anwendung bringen wollte, bei einem Flamender! Der weiß ganz genau, daß der rechts der beiden durch ein festes Schloß vor Verfälschung oder Verwässerung durch den Kandelabrwirt geschützte Kessel die teure, der linke Kessel die billige Essenz birgt, und wacht mit 355 Argusaugen darüber, daß kein Tröpfchen der vorgeschriebenen Essenzmenge im Rohre des Kessels bleibe.

»Café Kandelabr«. Eigentlich haben die gastlichen Lokomotiven, die in der Nacht an den Straßenecken Station machen, offiziell einen anderen Namen. »Ambulance heißer Getränke« steht mit goldenen Lettern auf der Wagenfront. Aber der Ausdruck hat sich nicht eingebürgert. Er trifft auch nicht mehr so recht zu. Freilich ist das Teehaus ambulant, und um die neunte Abendstunde kann man das nicht mehr ungewohnte, darum aber nicht minder seltsame Schauspiel genießen, eine Lokomotive mit einer vorgespannten Dogge durch die Straßen fahren zu sehen. Dann aber bezieht sie ihren Standplatz, den sie jahraus, jahrein innehat, der Hund kuscht sich zwischen den Rädern, und Wagen und Hund rühren sich bis zum Morgengrauen nicht von der Stelle. Früher, vor etwa dreißig Jahren, war das anders. Da fuhr der Teemann durch die Straßen und machte nur auf Anruf eines hungrigen oder durstigen Passanten Halt. Dieses Geschäft, das nur auf dem Zufall einer solchen Begegnung aufgebaut war, rentierte sich nicht. So blieben denn die Teemänner resigniert stehen, lehnten sich müde an die Ecke zweier Straßen oder an den Kandelaber auf einem Platz. Und siehe da! Als der Berg nicht mehr zu Mohammed kam, kamen die Mohammedaner zum Berg. Der Ausdruck »Café Kandelabr«, dessen beide Worte so prächtig miteinander kontrastierten, wurde populär und er ist dieser Erfrischungsstelle bis zum heutigen Tage geblieben, obwohl jetzt eine Verwechslung möglich wäre, da sich ein findiger Wirt für sein Nachtkaffeehaus in der Karlsgasse (dessen Stammgäste sich aus denselben Gesellschaftsschichten rekrutierten, aus denen die Gäste der fahrbaren Teehäuser stammen), den Namen »Café Kandelabr« behördlich protokollieren ließ.

Die fahrbaren Teehäuser erfreuten sich seit ihrem Avancement vom Planeten zum Fixstern steten Zuspruches. Die Droschkenkutscher des nahen »Staffels« 356 und der gleichfalls dicht benachbarte Würstelmann polemisierten und pokulierten, bis längst das Licht auf der Höhe des städtischen Kandelabers verlöscht und die Wagenlaterne des »Kaffeehauses« angezündet war. Zu ihnen gesellten sich Nachtvögel verschiedener Gattungen und blieben auch keine kürzere Zeit stehen. Der Teewagen auf dem Altstädter Ring erfreute sich einer so außerordentlichen Beliebtheit, daß sie dem Wirte sogar verhängnisvoll wurde. Hier strömten nämlich zu der Zeit, als noch die Josefstadt nicht assaniert und voll von wunderbaren Beiseln war, nach der Gasthaus-Sperrstunde verschiedene Leute zusammen, hier ihre Affären der Liebe, des Alkohols und des Verbrechens fortzusetzen. Das ging gar nicht leise und gar nicht ohne blutige Raufhändel ab. Das »Café Kandelabr« war fast täglich in den Rapporten des Altstädter Polizeikommissariates erwähnt, und schließlich verbot man dem Wirt diesen Standplatz. Er durfte den Ring überhaupt nicht mehr passieren, und erst als die bizarren, dunkelsten Häuser des fünften Viertels von Prag dem Erdboden gleichgemacht worden waren, durfte er wieder in das gelobte Land einziehen. 357

 

Gifthütte, Tanz mit der Leiche

Dorthin, in die Teile Prags, die sich südlich von der Krankenhausgasse und der Katharinagasse bis gegen Slup und Nusle hinunterziehen, geht man selten spazieren. Es ist eine Stadt der Kranken, die sich hier breitet. Die Institute der medizinischen Fakultät, Kranken und Irrenhäuser halten mit ihren Gärten den ganzen Komplex besetzt. Nur dort, wo die Weinberggasse in die Apollinargasse mündet, scheint die Stadt der Institute aufzuhören, scheint ein Dorf zu beginnen. Ein freier Platz, nicht gepflastert, große Kastanienbäume wachsen darauf. In den Ecken des Platzes wuchert üppiges Gras. Ein steinerner Heiliger, Sanct Adalbert, blickt vom Piedestal seiner Säule friedlich auf die Kinder hinab, die zu seinen Füßen mit Kugeln spielen. Da kommt eine Schar von Mädchen, Hand in Hand, ohne Hut, mit weißen Schürzen des Weges. Wer nicht weiß, daß es Wärterinnen sind, müßte glauben, sorglose Dorfmädchen vor sich zu haben. Alte Männer sitzen vor den Häusern und schmauchen ihre Pfeife. Und die Häuser sind einstöckig.

Das letzte Häuschen, das von der Adalbertssäule sichtbar ist, das Häuschen, das an das Dorfkirchlein grenzt, ist das Dorfwirtshaus, wie man aus der roten Aufschrift erkennt. Eigentlich sieht diese Hütte selbst für ein Dorfeinkehrhaus zu schäbig, zu verwahrlost aus. Aber was kann man auch für Ansprüche an das Gasthaus eines so gottverlassenen Dörfchens stellen?

Mit der Illusion, in einem Dorf zu sein, ist es freilich aus, wenn man sich in den Wirtsgarten setzt, hart an die niedrige Grenzmauer, und in das Tal schaut, das sich unten in weitem Boden streckt. Nichts weniger als ein ländliches Idyll. Dort oben starren hinter den Pankrazer Feldern versteckt die Mauern der 358 Strafanstalt herüber, halb rechts recken sich zu den Felsenhöhen des Wyschehrad die Festungswälle mit den Kasematten hinauf, die Ferdinand von Saars intensivster Novelle Schauplatz sind. Oben auf der Höhe des Wyschehrad die Basilika mit dem Kirchhof und den Ehrengräbern. Unten im Sluper Tal die großen Institute der Fakultäten, dann zwei sehr bekannte »Hotels für Einheimische«, dann Zinskasernen, auf deren Hinterfronten mit riesigen Lettern Firmenreklamen stehen. Ueberall rauchen Fabriksschlote. Und um die Idylle vollends vergessen zu machen, wird der Blick durch ein markerschütterndes Geschrei in den angrenzenden Garten gelenkt, wo Wärterinnen eine Irre in eine Zwangsjacke zu pressen versuchen . . .

Es ist die Kehrseite Prags, die man hier vom Gasthausgarten sieht. Das Wirtshaus, das diesen Ausblick gewährt, heißt die »Gifthütte«. Wohl nicht deshalb, weil es das andere Prag zeigt. Auch wegen des Bieres führt es wohl seinen Namen nicht. Denn die Bezeichnung stammt schon von altersher, und das Bier wurde hier durchaus nicht in Dosen vertilgt, wie sie bei Giftgenuß in Anwendung zu kommen pflegen. Vielleicht hieß es so, weil hier besonders die Mediziner verkehrten, die mit Giften hantierten.

In vergilbten Auflagen des Lahrer Kommersbuches findet sich auch ein Prager Studentenlied. Ein Doktor der Medizin hat es an einem Maiabend des Jahres 1853, also zu einer Zeit ersonnen, da Deutschlands Musensöhne zu Hunderten nach Prag zogen, wo auf der medizinischen Fakultät zum ersten Male die Kunst gelehrt wurde, die Lungenentzündung ohne Aderlaß zu behandeln. Die in diesem Liede ausgesprochene. Sehnsucht

»Auf den Windberg, auf den steiligen,
Möcht' ich zu den Jungfrau'n eiligen . . .«

hat noch in späteren Stundentengenerationen wiedergeklungen, und allabendlich »eiligten« sie den steilen 359 Windberg hinauf, um hier beim »Jodoform-Kränzchen« nicht zu fehlen.

Fast alle Aerzte der Irrenanstalt und die Assistenten der Kliniken tanzten hier unbekümmert um ihre ärztliche Würde bis längst die Sonne das Nusler Tal vergoldete. Und wenn ein Patient oder eine Patientin in einem der nahen medizinischen Institute der ärztlichen Hilfe dringend bedurfte, dann war sie rasch zur Hand. Brauchte man ja nur hinunter zum Jodoform-Kränzchen oder Zangenball in die Gifthütte zu schicken.

Die Damen rekrutierten sich aus drei Gesellschaftsschichten: 1. den dienstfreien Wärterinnen der medizinischen Institute; 2. den Dienstmädchen der in den Instituten wohnenden Professoren der philosophischen und der medizinischen Fakultät und 3. aus der Hörerschaft der Hebammenkurse, die alle vier Monate abwechselnd in deutscher und tschechischer Sprache im nahen Gebärhause abgehalten wurden. Die Ballgespräche waren medizinischen Geistes voll. Die Wärterinnen berichteten ihren Vorgesetzten und Tänzern über irgend ein interessantes Symptom im Krankheitsverlauf eines Patienten der Klinik, und den Professorenköchinnen flüsterte manchmal in vorgerückter Stunde ein Tänzer die verschämte Bitte ins Ohr: »Fräulein, kochen Sie morgen dem Professor ein feines Essen. Ich mache nachmittags Examen.«

Eine Spezialität der Jodoform-Kränzchen war die sechste Tour der Quadrille. Sie zog sich bis tief in den Garten hinaus . . .

Der Gründlichkeit halber sei auch erwähnt, daß außer den drei erwähnten Damengattungen auch einmal eine vierte am Gifthütteball vertreten war. Das war so: Einige übermütige Mediziner hatten einem eben nach Prag gekommenen Ordinarius erzählt, daß sich allabendlich ein großer Teil der Medizinerschaft in einem nahen »Gifthütte« benamsten Gasthaus zum Tanze versammle. Es sei zwar eine ganz ungezwungene Gesellschaft, aber wenn der Herr Professor mit seinen 360 Töchtern den Studenten die Ehre erweisen wolle . . . Herr Professor erwies den Studenten wirklich die Ehre und kam am Abend mit seinen beiden Töchtern hin. Sprachlos blieb er in der Tür stehen. So ungezwungen hatte er sich die Sache doch nicht gedacht: die Herren in Hemdärmeln, die Damen in Schürzen und das Lokal, das einer Verbrecherkneipe viel ähnlicher sah als einem Ballsaal! Aber als die Herren Mediziner auf die beiden Professorentöchterlein zutraten und höflich um ein Tänzchen baten, taten sie und der Herr Papa so, als ob sie sich zwingen würden, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, und tanzten. Als später einmal eine der beiden Professorentöchter als Professorsgattin nach Prag kam, hat sie ihr Balldebüt in der »Gifthütte« zum Besten gegeben und ehrlich eingestanden, daß sie sich seither bei keinem Ball so gut unterhalten habe, wie damals bei diesem seltsamen »Medizinerkränzchen«. Wo sie doch die sechste Quadrilletour gar nicht getanzt hatte!

Nicht so günstig wie die Professorentöchter hat über die Jodoform-Kränzchen der Siebzigerjahre der damalige Pfarrer von Sankt Apollinar (diese Kirche ist nur durch die Kegelbahn vom »Gifthütten«-Garten getrennt) geurteilt. Der Pfarrer richtete an den Regierungsrat Professor Weber von Ebenhof, den Bruder des damaligen Statthalters, eine Zuschrift, die eine Philippika gegen die Bälle war und in der Professor von Weber ersucht wurde, er möge den Hebammen den Ballbesuch verbieten. Aber Regierungsrat Weber, der selbst in der»Gifthütte« im Hörerkreis seinen täglichen Frühschoppen trank, legte den Ballbericht ad acta und erließ keinen Boykottbefehl.

Die alten Mediziner wissen allerhand zu erzählen. Von der Krönung der Gifthütten-Könige, von den Plakaten, die der König affichieren ließ, von Wurstfesten und von Kegelabenden, von medizinischen Dauersitzungen, die so lange währten, bis Frau Schuh nichts mehr ankreiden wollte, und von dem Beduinenknaben, den der Afrikaforscher Dr. Glaser seinem in der 361 »Gifthütte« wohnenden Bruder zur Pflege übergeben hatte und der bald der Liebling der Apollinargasse war. Sie wissen auch davon, daß in der »Gifthütte« in der Zeit, da die Universität noch ungeteilt war, tschechische Studenten mit deutschen Burschenschaften und Corpsiers manches feuchte Quodlibet gelöffelt haben. Aber dann verpflanzte der Nationalismus sein Gift in die »Gifthütte«, die deutschen Mediziner blieben aus und die tschechischen, die sich nun untereinander streiten mußten, bald auch. Dem Medizinerbeisel fehlten die Mediziner und bloß das Beisel war geblieben. Der Wirt veranstaltete Schrammelkonzerte, aber die lockten keine Katze ins Haus. Wiederholt kam das Gasthaus unter den Hammer und wechselte seinen Besitzer. Heute tanzen am Abend keine Professorentöchter mehr hier, sondern bloß die Dämchen, die auf der nahen Walstatt den schweren Nachtkampf ums Dasein führen müssen. In den neuen Kommersbüchern steht das Prager Lied nicht mehr.

Nur wenn brave Kameraden einen der Ihren befreien wollen, der sich aus dem Strafgericht in die Irrenanstalt simulierte, dann ist ihre Operationsbasis hier, in der Gifthütte.

Auch Krankenwächter und Leichendiener sind noch Stammgäste, aber sie vertragen nicht viel: Wenn sie eine gestorbene Wöchnerin von der Gebäranstalt in das Pathologische Institut tragen, so machen sie immer hier Halt, weil die Gifthütte genau in der Mitte des Weges liegt.

Und es ist für den Augenzeugen eine nicht auszumerzende Erinnerung, wie einst zwei bezechte Träger, aus Wut darüber, daß kein Mädel mit ihnen tanzen wollte, die Frauenleiche aus der Truhe zerrten, und mit ihr tanzten, Walzer, Polka, Schlapak mit der Toten. 362

 

Sparkassa Schnapsbutik

Auf der Straße hatte die Straßenfigur ihren Tod gefunden. Die Elektrische hatte den Schnorrer Wilhelm Muneles, genannt »Wilhelm Prag«, überfahren, als er, wie immer, die Bücher unter dem Arm, über die Fahrbahn schlenkerte. In seinen Taschen hatte man ein Testament gefunden, in dem er einigen Wachleuten, die ihn besonders oft verhaftet hatten, dem Barmherzigen Brüder-Spital, einer Pflegerin dieses Krankenhauses und seiner Quartiergeberin Geldbeträge vermachte. Das stand auch so in den Zeitungen.

Etwa vierzehn Tage später bettelte mich »Haschile« an, dessen Konkurrent der Wilhelm gewesen war. »Ich gebe Ihnen nichts,« wies ich ihn ab, »Sie müssen genug Geld bei Ihrem Geschäft verdienen. Das sieht man am Testament des Muneles.« Aber da ereiferte sich Haschile: »So ein Schwindler, der Muneles! Nicht einen Neukreuzer hat er hinterlassen. Aber ein Testament hat er gemacht, wie wenn ja! Im Rathaus haben Sie nur gelacht!« Und wirklich, da ich mich bei der Behörde erkundigte, erfuhr ich, daß das Testament keine reale Deckung besessen habe, daß sich der Bettler, der sich schon zu Lebzeiten mit Büchern unter dem Arme großgetan, noch über den Tod hinaus wichtig gemacht habe. Aber kaum hatte ich diese Nachricht in die Zeitungen gegeben, als schon der Nachlaß beim Notar deponiert wurde, und flugs auch die Nachricht hievon in eine tschechische Zeitung kam. Also hatte man doch ganz ungerechtfertigterweise vermutet, daß der alte Muneles in seinem letzten Willen über Geld verfügte, über das er nicht verfügte. Der Kaufmann Kouba habe, so hieß es früh in dem tschechischen Blatte, die Sparkassabücher des tödlich verunglückten Bettlers beim Notar Ulihr hinterlegt. »Der Kaufmann Kouba?« Das 363 kann doch nur der Besitzer der Branntweinschenke sein, die zwischen einer Lottokollektur und einem Nachtcafé in der Schalengasse eingebettet daliegt. Bei einem Glase »Bittern« könnte man den Herrn Wirt ganz fein über die Geheimnisse des Depots ausfragen.

»Sie sind ja heute ein berühmter Mann, Herr Kouba. Sie stehen ja in der Zeitung!«

»Ja, haben Sie es gelesen? Das hab' ich hineingegeben, damit das Gemunkel aufhört, ich hätte mir das Geld des Muneles gelassen. Im Bierausschank beim Piskaček hat man noch gestern davon gesprochen, ich hätte es für mich behalten. No ja, vorgestern ist in den Zeitungen gestanden, daß man das Geld vom Muneles nirgends gefunden hat . . .« (In mir regt sich das böse Gewissen.) ». . . und da hat das Reden angefangen: ›Beim Kouba muß er ja Geld haben, und uns hat der Kouba gesagt, er hat's schon abgeliefert?‹ Na ja, was brauch' ich jedem alles auf die Nase zu binden, nicht? Und wenn ich das Geld ein paar Tage später abgeliefert hätte, was läge daran? Ich hab' nicht viel Zeit, zu den Aemtern zu laufen. Aber wenn so ein Kerl mir dann irgend etwas ins Gesicht gesagt hätte – ich kenn' mich – ich bin ein plötzlicher Mensch – ich hätt' ihm eine heruntergedroschen, daß er zeitlebens nicht mehr an meiner Ehrlichkeit gezweifelt hätte . . .«

»Das Geld hatte Muneles schon seit langem bei Ihnen niedergelegt?«

»Er hatte überhaupt kein Geld bei mir. Nur Sparkassabücher. Sehen Sie, dahier zwischen den zwei Flaschen habe ich meine Korrespondenz.« (Herr Kouba deutet auf zwei riesige verkorkte Gläser, deren Vignetten, »Čert« und »Rum«, den Inhalt verlockend künden, und zwischen denen gelbe Zettel und Kuverts stecken.) ». . . Und dort waren seine Büchel. Da ist er immer gegen den Ersten im Monat gekommen und hat mir gesagt, ich soll ihm die Büchel geben. Na, und da ist er dann weggegangen und ist nach einer Stunde wieder 364 zurückgekommen; immer waren zwei bis drei Kronen eingetragen.«

Ein alter Gast, der an der »Bar« kauert, mischt sich gurgelnd ins Gespräch: »In der Städtischen Sparkasse hat er das Geld gehabt . . .«

»Ja, Schmarren,« (houby) herrscht der Herr des Hauses den Alten an, der sich vor Respekt noch mehr zusammenrollt. Sehr selbstsicher scheint er hier nicht zu sein. »Früher hat er freilich sein Geld dort gehabt, aber jetzt schon lange nicht mehr,« erklärt der Wirt und packt eine Bestätigung des Notars Uhlir aus der Tasche. »2953 Kronen 14 Heller hat er bei der Zentralbank tschechischer Sparkassen liegen gehabt und 4 Kronen in der Guthschen Wechselstube Merkur.«

»Und hatte er die Büchel schon lange bei Ihnen, Herr Kouba?«

»No, schon seit ich hier bin. Das wird jetzt fünfzehn Jahre her sein. Früher hat er es beim alten Oplatek gehabt, dort beim »Stoupa« am Wenzelsplatze, wo ich im Branntweinausschank angestellt war. Dort habe ich ihm es verwaltet. Na, und wie ich mich dann selbständig gemacht habe, hat er mir's übergeben. Fünfzehnhundert Kronen waren es ungefähr am Anfang.«

»Fünfzehnhundert Kronen? So viel? Da hat er in den letzten Jahren nicht viel erspart.«

»Nein, nein. Er hat auch immer über die schlechten Zeiten geklagt. Und dabei hat er noch Zinsen von einem Inwaldschen Legat bekommen und der Fabrikant Elbogen vom Heuwagsplatz hat ihm jeden Monat in den Ausschank vier Kronen geschickt.«

»Ja, der Herr Fabrikant Elbogen, das ist ein feiner Mann, der hat mir früher auch immer . . .« versucht der Alte zu erzählen. Aber das Gespräch geht über ihn hinweg.

Ein junger Bursch, der gerade – zum drittenmal seit ich im Laden bin – sein geleertes Sliwowitzglas 365 verlangend auf die Blechplatte des Schenkers stellt, mischt sich ins Gespräch:

»Ja, er hat auch fein gelebt, der Wilhelm. Sechzig Kreuzer hat er auf der Kleinseite täglich fürs Quartier gezahlt.«

»Er war auch ein sehr feiner Mensch, sehr gebildet,« rühmt eine triefäugige Dame, »ich hab' ihn einmal mit einem Engländer englisch sprechen gehört, daß es eine Freude war.«

Der Junge hat gerade das Sliwowitzstamperl ausgesogen und lacht: »Nána Dřevo es wird ein Engländer aus Wysotschan gewesen sein!« Alle lachen über das Wortspiel »Angličn z Vysočan«, nur die alte Nana Drevo wehrt sich keifend gegen die Zumutung, daß sie einen Engländer von einem Wysotschaner nicht zu unterscheiden vermöge. Ich versuchte das Gespräch auf das ursprüngliche Geleise zu bringen:

»Hat man den Muneles nie gefragt, was er mit dem Geld machen wird?«

»Sehr oft. Aber er hat jedesmal nur geantwortet: ›Ich trage mein Testament immer bei mir.‹«

»Na, die Florentini im Barmherzigen-Spital, die hat sich die 500 Kronen verdient, die hat ihn immer gewaschen.«

»Und der 340er ist mir auch der liebste von allen Wachleuten.«

»Ja, ja, er war ein gescheiter Kerl, der Wilhelm, ich sag's ja,« triumphiert Nána Dřevo.

Aber der Bursch, der seine Freundschaft für Sliwowitz durch seine Feindschaft gegen Fräulein Dřevo zu paralysieren versucht, regt sich auf:

»Daß du redest! Wenn er ein gescheiter Kerl gewesen wäre, wäre er nicht zerlumpt und verlaust betteln gegangen, obwohl er so viel Tausender hatte.«

»Recht hat er gehabt,« ruft ein Klachel, der kurz vorher in den Laden gekommen ist. »Wenn man Geld 366 hat, braucht man sich nicht zu waschen. Dann kann man auf die ganze Welt pfeifen.«

»Du wäscht dich ja jetzt auch nicht, obwohl du kein Geld hast, du Dreckkerl.«

»Wenn ich ein solches Mädel hätte, wie du, hätte ich auch Geld.« 367

 

Das Lied vom Kanonier Jaburek

Gefechte im Gasthaus werden manchmal gegen Zivilisten geführt. Diese sind aber verächtliche Gegner. Sie haben keine Waffen. Man wirft die Kerle einfach hinaus, und gut ist's.

Ernster war es schon, wenn sich zwei Teile der einstigen österreichisch-ungarischen Armee, jener, der dem Reichskriegsminister, und jener, der dem Landesverteidigungsminister unterstand, wacker bekriegten.

Ob es nun bei Trunk oder Tanz war, – immer kam die Rivalität zwischen k. k. und k. u. k., zwischen Angehörigen der Landwehr und jenen des Heeres durch Fernkampf der Biergläser oder Nahkampf der Ohrfeigen zum Ausdruck, immer war die Wehrmacht in zwei Gruppen gespalten. Ja, selbst wenn eines jener Soldatenlieder, deren Absingung im Felde die Offiziere nur nach Gewaltmärschen nachsichtig und stillschweigend duldeten, im Wirtshause angestimmt wurde, störte die feindliche Gruppe durch ein anderes Lied die Harmonie der Stimmen. Eine Ausnahme bloß gab es: das Lied vom Kanonier Jaburek. Zu dessen Gesang vereinigten sich Landwehrmänner mit Heeressoldaten, die Träger der schwarzen und jener der grauen Mützen, Infanteristen und Sanitätssoldaten, die Soldaten, die Wunden lindern, die Pioniere, die im Kriege Bauten errichten, und die Artilleristen, die im Kriege Bauten zerstören. Hochheiliger Kantus!

Die einmütige Ehrung, diesem Liede gezollt, ist ein Beweis von Sinn für kriegerische Heldentaten. Denn der Kanonier Jaburek, über dessen Persönlichkeit leider weder das deutsche, noch das tschechische Konversationslexikon etwas zu verzeichnen wissen, ist ein Mann, gegen den die anderen Helden der Kriegsgeschichte aller Zeiten und Völker ein Nichts darstellen. Der 368 vielbesungene Leonidas zum Beispiel hat bei der Verteidigung des Engpasses von Thermopylae – wie ein zeitgenössisches Marterl meldet – nicht anders gehandelt als »wie das Gesetz es befahl«. Aber der Kanonier Jaburek! Wo steht in irgend einem Wehrgesetz, irgend einem Reglement geschrieben, daß jemand, dem der Kopf wegfliegt, sich noch entschuldigen muß, daß er seine Hände nicht salutierend an den Kopf legen könne, wo steht im Exerzierreglement, daß jemand . . . aber dem Liede sei nicht vorgegriffen.

Die Epopöe hat siebzehn vierzeilige Strophen und ist in tschechisch-deutscher Sprache abgefaßt. Eigentlich ist sie tschechisch, aber sie ist von militärischen Ausdrücken, wie »Feuerwerkr«, »Kmán« (Gemeiner), Lunte, »meldovati« und deutschen Flüchen derart durchsetzt, daß vom Tschechischen wie vom Deutschen nicht viel übrig bleibt. Komponist und Textdichter des Liedes sind, wie jene des Liedes »Prinz Eugen, der edle Ritter«, nicht bekannt. Das Lied vom Kanonier Jaburek behandelt – wie vielleicht schon der Name erraten läßt – die Geschichte des Kanoniers Jaburek. Dieser hat in der Königgrätzer Schlacht im dichtesten Kugelregen, während sich Gemeine, Chargen, Offiziere, Pferde und Kanoniere (man beachte die Reihenfolge dieser Rangliste) in ihrem Blute wälzten, seinen Heldenmut bewährt:

»Bei der Kanone dort
Stand er und lud in einem fort
Bei der Kanone dort
Stand er und lud noch fort.«

Jedesmal, wenn eine seiner zwei Zentner schweren Kanonenkugeln in die preußischen Reihen einschlägt, hört man auf der Gegenseite auf Jaburek fluchen. Aber dieser schießt weiter. Der General, der von Jabureks tapferem Verhalten gehört hat, eilt herbei und bietet diesem einen Trunk aus seiner Feldflasche an. Aber der Kanonier weist die freundliche Aufforderung mit der 369 noch freundlicheren Aufforderung ab, der General möge seine Spassetln für sich behalten, ihm . . . auf den Buckel steigen und ihn weiter schießen lassen:

»Bei der Kanone dort
Stand er und lud in einem fort &c.«

Der Held schießt wie ein Wahnsinniger und zertrümmert ein feindliches Regiment. Kronprinz Friedrich von Preußen reitet vorbei und sieht den Recken – oder, um mit den Worten des Liedes zu sprechen:

»V tom ho viděl kronprinz Friedrich:
Her je, den Kerl erschieß ich.«

Der Kronprinz selbst feuert gegen Jaburek, und die ganze preußische Armee erwählt sich das gleich Ziel, um sich beim Kronprinzen einzuschmeicheln. Eine Kartätsche fliegt dem Artilleristen durch den Mund in den Magen, aber der Getroffene nimmt sie schnell wieder heraus und schießt ruhig weiter. Eine gegnerische Petarde reißt dem Schützen beide Arme ab, doch er zieht schnell seine hohen Stiefel aus und schießt mit den Füßen weiter. Schon aber kommt, von einem preußischen Freiwilligen (»prajský frajbilik«) gefeuert, ein Schrapnell herangeflogen und reißt Jabureks Kopf ab. Der Kopf fliegt am General vorbei und meldet diesem im Vorübergehen, daß er nicht salutieren könne. Aber Jaburek selbst steht noch immer bei der Kanone dort und ladet in einem fort. Endlich wird seiner Aufopferung eine Grenze gesetzt: Der Feind schießt auf seine im Fluge befindlichen Geschosse, und diese fallen in die eigenen Reihen zurück. Da gibt Jaburek das Laden auf (bei dieser Strophe sollte eigentlich der Refrain entfallen, entfällt aber nicht) er packt seine Kanone und eilt aus der Schußlinie. – Dafür über – für die Rettung der Kanone nämlich – wird er geadelt und heißt von da ab »Edler von die Jaburek«. Er hat jetzt den Adelsstand, und über das Fehlen seines Kopfes tröstet er sich mit dem 370 Bewußtsein, daß – das Lied schließt sehr gehässig – die kopflosen Adeligen angeblich doppelt geachtet seien. Auf seinem Wappen stehen die Worte:

»Bei der Kanone dort
Stand er und lud in einem fort,
Bei der Kanone dort
Stand er und lud noch fort.«

Dieses ist das Lied vom Kanonier Jaburek, dessen Namen die Kriegsgeschichte verschweigt. Aber sein Ruhm lebt im zechenden Soldatenkreise weiter, und jedesmal, wenn das Lied den Refrain »laden« bringt, nehmen die Sänger dem tapferen Recken zu Ehren eine stärkende Ladung zu sich.

Und das Lied hat siebzehn Strophen. 371

 

Drehorgelspieler

Für jene Leser, welche den Titel nicht verstehen sollten, sei gleich vorweg bemerkt, daß »Drehorgel« auf pragerisch »Flaschinett« heißt. Wenn aber hier nicht dieser allgemein verständliche Ausdruck als Titel gewählt worden ist, geschah dies, weil sich Fremdwörter immer sehr vornehm ausnehmen. Außerdem würde man eine Beschreibung des in Rede stehenden Instruments im Lexikonbande 6 (»Erdessen bis Franzen«) weder unter dem Schlagworte »Flaschinett« noch unter »Folterwerkzeuge« vorfinden. Man muß vielmehr den Band 5 (»Differenzgeschäfte bis Erde«) hernehmen und in diesem nicht die Rubriken »Duldsamkeit« oder »Darlehensschwindel« nachschlagen, sondern das Kennwort »Drehorgel«. Gleich nach »Drehkrankheit« kommt es.

Das Wort »Flaschinett« findet sich aber auch unter Chiffre »Drehorgel« weder im Brockhaus noch im Meyer. Diesen Ausdruck muß man wieder im Bande 6 sub »Flageolett« nachsuchen, wo mitgeteilt wird, daß das Flageolett oder Flaschenett – man beachte die falsche Orthographie der Herren Brockhaus und Meyer – ein kleines Blasinstrument, der letzte Sprosse der Familie der Schnabelflöten ist, und nur in Frankreich und Belgien noch in Gebrauch steht. Nun wird jener zudringliche Leser mit der Frage hervortreten, wo da die Logik sei, wenn man in Prag ein Musikwerk mit dem Namen einer im Aussterben begriffenen Seitenlinie der Schnabelflöten bezeichnet. Darauf kann dem Fragesteller bloß mit dem Wunsche geantwortet werden, daß ihm während seines heutigen Nachmittagsschläfchens ein Drehorgelspieler so lange ein Ständchen bringe, bis beide Plagegeister auf alle weiteren Schikanen Verzicht leisten. 372

In Prag ist die Ansicht verbreitet, daß es ungefähr zwei- bis dreitausend Drehorgelspieler gebe. Dem ist aber nicht so. Erwähnter Irrtum dürfte darauf zurückzuführen sein, daß gewöhnlich zwei Drehorgelspieler gleichzeitig in derselben Gasse konzertieren, was eine Art zweihändigen Vierhändigspielens darstellt und die harmonischen Wirkungen dieses Instrumentes erheblich erhöht. Besonders prächtig sind diese musikalischen Effekte, wenn aus einem Leierkasten die Töne des »Donna e mobile« entquellen, während aus dem anderen beharrlich das klassische Lied »O Emane«– Heimatkunst! – hervorgekurbelt wird. Dieses multiplizierte Auftreten von Drehorgelspielern in derselben Straße ist aber kein Beweis von deren großer Zahl, sondern es ist nur ein ehrendes Dokument für das Vertrauen, das die Hofmusiker in die Freigebigkeit der Bewohner dieser Häusergruppe setzen.

Im Bureau IIIa der Prager Polizeidirektion, dem Departement für öffentliche Belustigungen, welches ein ebenso alter wie richtiger Wortwitz als »Departement für öffentliche Belästigungen« bezeichnet, erfährt man zum atemlosen Staunen, daß es in Prag nur zweiundzwanzig Drehorgelspieler gibt. Wenn man naiv ist, gibt man sich mit dieser Erklärung zufrieden, und geht nach Hause, in der Meinung, eine zufriedenstellende Auskunft erhalten zu haben, da ja diesem Departement für öffentliche Belustigungen natürlich auch die Konzessionserteilung und die Handhabung der Vorschriften für Drehorgelspieler untersteht. Wenn man aber nicht naiv ist, so begibt man sich in ein Departement, das mit der Konzessionserteilung an Leierkastenmänner nichts zu tun hat, das Departement, dem die Wahrung der öffentlichen Sicherheit und daher vor allem das Drehorgelspielen untersteht. Allerdings nur insoweit, als es unbefugt ausgeübt wird. Da erfährt man ganz andere Ziffern: Die Zahl der nichtkonzessionierten Werkelmänner ist etwa dreimal so groß, als die der behördlich autorisierten. 373

Und was für Exemplare sind darunter! Da sind zum Beispiel zwei Brüder Chwatal, ihre Altenfaszikel sind so groß, daß zwei Zivilwachleute ausgesandt werden müssen, um sie aus der Registratur zu holen. Der eine der Brüder hat allein vierhundertdreißig Akten. Aus denen kann man die ganze Biographie Wenzel Chwatals herauslesen. Als Kind hatte er einen sehr ernsten Beruf: Er sang an jedem sechsten Jännertage, mit einer papierenen Goldkrone angetan, vor den Wohnungstüren das Lied von den heiligen drei Königen. Den Rest des Jahres scheint er sich über die Freigebigkeit der Wohnungsinhaber orientiert zu haben, um sich dann als König nicht ein Refus zu holen. Bei diesen Orientierungsgängen ist er, wie Wenzel Chwatals Akten künden, wiederholt verhaftet worden und residierte dann für kurze Zeit im Polizeiarrest. Als unser Wenzel herangewachsen war, entsagte er seinem königlichen Berufe, aber der Musik blieb er treu. Er gründete mit einem gleichgesinnten Manne, dem das Schicksal keine Füße beschert hatte, ein Kompagniegeschäft. Sie liehen sich einen Leierkasten aus. Chwatal trug ihn auf seinem rüstigen Leibe und entlockte ihm durch liebevolles Drehen der Kurbel die herrlichsten Weisen, die im Busen eines Flaschinetts schlummern. Der fußlose Kompagnon ging einsammeln. Später verdroß es den unternehmungslustigen Chwatal, das sauer verdiente Spielhonorar zu teilen, er engagierte ein billiges Bürschchen und besorgte das Inkasso selbst. Das Geschäft florierte, und Wenzel Chwatal, dessen einziger Schmuck bislang eine sorgsam gepflegte Stirnlocke gewesen war, konnte sich eine Samtjacke kaufen. So, jetzt war er ein Künstler. Aber die Wachleute schreckten selbst vor der schönen Samtjacke nicht zurück und fragten, durch die magischen Klänge herangelockt, den Spieler, ob er eine Konzession habe. Das war eine herzlich alberne Frage, denn die Bewilligung zum Spielen wird nur alten, vollkommen erwerbsunfähigen Leuten erteilt, die so arm sind, daß sie nichts anderes mehr besitzen, 374 als eine Protektion bei der Polizei. Und Chwatal war doch ein fescher Kerl, nicht? So verneinte er des Wachmannes Frage, und folgte diesem zur Polizei. Dort wurde nach seiner Einlieferung eine »Anhaltungs- und Verhaftungsanzeige« ausgefüllt, die fast jedesmal gleiche Worte trägt: »Wenzel Chwatal, geboren in Prag am 7. November 1872, wurde wegen unbefugten Drehorgelspielens angehalten und dem Polizeikommissariate eingeliefert. – Corpus delicti: Eine Drehorgel. – Eigene Effekten: Lederner Schutzriemen, Leibriemen, Spiegel, Kamm, Anhängtasche, drei Zigaretten und 64 Heller Bargeld.« Dann wurde Chwatal abgestraft und diese Strafe auf einem zweiten Akt, dem sogenannten »Strafregisterblatt« gebucht, auf den stereotyp geschrieben wurde: »Wenzel Chwatal wird der Uebertretung des Erlasses der k. k. Statthalterei für das Königreich Böhmen vom 21. Juni 1889 schuldig erkannt und wird nach der kaiserlichen Verordnung vom 20. April 1854, Z. 96 RGBl., zu einer Haft von 24 Stunden verurteilt. Gegen diese Erkenntnis kann bei der Statthalterei oder der k. k. Polizeidirektion binnen drei Tagen Berufung eingelegt werden.« Aber dem Wenzel Chwatal fällt es gar nicht ein, Berufung einzulegen. Auch das breite Rubrum, in welchem für »die Rechtfertigung oder das Geständnis der Beschuldigten« weitester Platz gelassen wird, füllt Chwatal nur lakonisch aus: »Doznávám« – »Ich bekenne mich schuldig.« Auch Sokrates verschmähte die Verteidigung.

So steht es in den meisten Akten, und nur wenige lauten anders. So z. B. die Beschwerde eines konzessionierten Harmonikaspielers, der sich durch Chwatals Konkurrenz geschädigt fühlte. In dieser Beschwerde wird ausgeführt, daß Chwatal bettle, aber gleichzeitig vier Liebschaften unterhalte und allen vier Damen Wohnung, Kleidung und Nahrung bezahle. Ob diese Erfordernisse für Chwatals Harem besonders große sind, steht nicht in der Beschwerde des empörten Harmonikaspielers, und es ist anzunehmen, daß der schöne 375 Chwatal seine vier Verhältnisse eher unter Einnahmen als unter Ausgaben buchen könnte. Wie dem auch sei: Chwatal ist ein Lebemann. Das geht auch aus einer anderen Anzeige hervor: Eine Frau – nur den Ruf der Dame zu schonen, sei sie hier mit dem Decknamen »Veronika Potvora« bezeichnet – macht der Polizei davon Mitteilung, daß Wenzel Chwatal ihre Tochter Philomene Potvora entführt habe. Dieser Familienzwist scheint bald beigelegt worden zu sein, denn acht Tage später meldet eine Note des Kommissariats Prag-Josefstadt, daß der Drehorgelspieler und Vagant Wenzel Chwatal mit seiner Geliebten Philomena Potvora aus seiner bisherigen Wohnung ausgezogen und zu Frau Veronika Potvora, der Mutter seiner Geliebten, übersiedelt sei. Andere Akten berichten davon, daß Chwatal sich seiner Verhaftung widersetzt, bei seiner Arretierung gelacht habe. Und unter jedem Akte steht immer: »Doznávám – Ich gestehe«. So übte er weiter sein Handwerk aus, und da man ihm den Leierkasten nicht pfänden kann, weil dieser nicht sein Eigentum ist, so wird man wohl noch viele Scherereien mit ihm haben. Chwatal steht ja im schönsten Mannesalter. Einmal hat er um die Konzession zum Drehen der Leierkastenkurbel angesucht, aber er bekam sie nicht. »Mir ist es Wurscht,« meinte er überlegen.

Die Blütezeit des Leierkastenspiels in Prag ist vorbei. Früher hat es in Prag noch Savoyardenknaben gegeben, welche mit ihren Miniatur-Drehorgeln, ihrer verschnürten Tracht und ihren gebräunten Gesichtern Aufsehen und Mitleid wachriefen. Früher durften die Werkelmänner ihr Instrument in der Mitte der Straße aufstellen, heute sind nur die Höfe der Häuser ihr Rayon und in den neuen Häusern gibt es gar keine Höfe. Früher durften die Drehorgelspieler von Früh bis Abend werkeln und kamen oft in die Geschäfte betteln, bevor diese noch einen Kreuzer verdient hatten; heute dürfen sie an Wochentagen nur von zwölf Uhr mittags an, an Sonntagen bloß von vier Uhr nachmittags an 376 bis zum Einbruch der Dunkelheit spielen. Immerhin scheint das Werkeln noch ein lukratives Geschäft zu sein, wie vor ein paar Jahren die Geschichte des Raubmordes an dem Drehorgelspieler Janeček gelehrt hat, und wie die zahllosen Gesuche um Konzessionsbewilligung beweisen, die im Spektakel-Departement der Polizei einlaufen. Ja, es kommen sogar Gesuche von begüterten Gemeinden, man möge diesem oder jenem ihrer Ortsarmen die Bewilligung zum Leierkastenspiel – in Prag gewähren.

Aber es werden für Prag keine neuen Konzessionen ausgestellt, und auch die Bewilligungen für die zum Polizeirayon gehörenden Vorstädte jetzt nur in den seltensten Fällen erteilt. Und mögen es die Dienstmädchen, welche ihren letzten Kreuzer in den Hof hinunterwerfen, um das Lied von der »Unglückseligen Armut« da capo zu hören, und mögen es die Vorstadtkinder, welche so gerne zu den verstümmelten Klängen des Walzers aus der »Lustigen Witwe« umherhopsen, noch so bitter empfinden, – die Drehorgel ist auf den Aussterbeetat gesetzt. Das Flaschinett wird verschwinden wie jenes Blasinstrument, dessen Namen es entlehnt hatte, es wird verschwinden, so wie es gelebt: sang- und klanglos. 377

 

Mordnacht im Omnibus

Aus den Winkelgassen der Altstadt ist das Mädchen vor dem sinnlosen Verfolger hinaufgeflüchtet in die Flut elektrischen Lichtes, in die Ferdinandstraße, die es sonst nicht einmal zu nachmitternächtlicher Stunde zu betreten wagt. Hier glaubte es sich vor den Wutangriffen des Eifersüchtigen sicher. Aber kaum war die Arme in den Bannkreis der Glühlampen getreten, als totsicher und totbringend das Messer des Fleischers in ihren Hals fuhr. Im weitem Bogen sauste ihr Körper auf das Trottoir und beugte sich noch zweimal konvulsivisch auf. Bevor sich die Promenierenden noch ihres Entsetzens klar geworden waren, hatte sich schon der Mörder sechsmal das Schlächtermesser in die Brust gestochen. Man trug die beiden Körper in den »Platteis«. In dem graugelben Gesicht der Toten, über das sich das grüne Haarband geschoben hat, hat ein Polizist die Kellnerin aus dem Gasthaus »Omnibus« vom Kleinen Ring erkannt. Ein anderer Wachmann war in die Spelunke gesandt worden und hatte sich dort die Bestätigung geholt, daß die Ermordete wirklich die Kellnerin Karoline Kotab war. Und in die Apathie dieses Beisels sind nun Stimmungen von Mord und Tod gedrungen.

Ein langgestreckter Raum von kaum zweieinhalb Meter Breite, eine leichte Wölbung des Plafonds, – man kann sich wirklich in das Innere eines Omnibus versetzt denken. Einmal mag das ein Ehrenname gewesen sein, zur Zeit, da noch das Fahren in der Diligence etwas Nobles war. Heute müßte der Namen anders lauten, wenn er so vornehm klingen sollte, mindestens »Automobil«. Die Wände: früher waren sie wohl braun, jetzt werden sie von schwarzen, wolkenähnlichen Flecken überdeckt, dem Niederschlag von 378 Schmutz und Rauch. Nur zwei schmale Tische, die in einem Abstande von kaum zwei Handbreiten aneinander stehen, haben in dem engen Zimmer Platz, – wie eine Kneiptafel sieht es aus, alle Gäste sitzen beieinander. Unten die Musikanten. Ein glatzköpfiger Violinist mit hohlen Wangen und zuckenden Augenwimpern, ein vierschrötiger Harmonikaspieler mit tief in die Schläfe gekämmtem Zinnoberrothaar und ein greiser Lautenspieler, dessen Nase und Wangen leuchtende Stellen haben. An die Kapelle schließt sich die Reihe der übrigen Gäste, blatternarbige, vertierte Weiber, und Männer, die man in den Gassen nachts hinter ihnen schleichen sehen kann.

Abseits schluchzt eine pockennarbige Beauté: »Sie war ein Luder, sie hat's zehnmal verdient. Aber um den Jarda ist es schade.«

»Wer weiß, ob er tot ist,« tröstet ein hünenhafter Trainsoldat das Mädel. Sein Extramantel ist ihm viel zu klein, – ein Einjährig-Freiwilliger trauert ihm wohl noch nach.

»Er ist tot,« sagt ein schwächlicher Mann ohne Stirn. »Sie haben ihn in die Pathologie gefahren, ich weiß es.«

»Du weißt es? Du weißt immer einen Dreck, du verkümmerter Bretzelmann,« schreit ihn der Soldat an, und der Stirnlose zuckt ängstlich zusammen.

»Schade wär's um ihn! Ich muß fortwährend weinen.« Die Pockennarbige spricht das.

»Die Tränen hast du dir wohl mit Salz im Kübel angemacht, du Gefühlvolle, was?« ruft ihr die unerhört dicke Kellnerin Žanda zu. Sie hat das Bestreben, die Unterhaltung in ein lustigeres Fahrwasser zu bringen.

Die pockennarbige Blondine läßt sich aber von ihrer sentimentalen Anwandlung nicht fortreißen. »Ein feiner Bursch war er . . .« Und dann, nach einer tränenreichen Pause, fängt sie an zu summen: »Co dělá má žna . . . Das war sein Lied!« 379

»Ja, das war das seine,« bestätigte die einbeinige »Policajtka« und schreit zu den Musikanten hinüber: »Geigenspieler, blase in deinen Apparat!«

Harmonika, Laute und Geige klingen und alles singt das Leiblied des Mörders mit:

»Was macht denn meine Frau,
Wenn ich zu Haus' nicht bin,
Was macht denn meine Frau,
Bleibe ich fort?
Sie sitzt bei der Luke
Und ruft den Fischern zu:
Mein Mann ist heut' fort!«

»Sie hat immer gesagt, daß ein Geliebter einmal alle anderen an ihr rächen werde.«

Den Kopf an die Tischkante gelehnt, hat Frau Broum, die Renitenteste von allen der Prager Sittenpolizei unterstellten Weibern, bisher fest geschlafen. Sie heißt jetzt »Remiška«, weil ihr derzeitiger Galan jener Herr Remiš ist, der in den Prager Nachtlokalen mit kunstverständiger Hand und einem flachgehaltenen Taschenmesser aus Visitkarten plastische Blumen und auf Briefpapier und Korrespondenzkarten schöngeschwungene Namenszüge ausschneidet. Frau Broum-Remiška reckt sich aus dem Schlafe empor: »Vorgestern abends habe ich dem Jarda ein Fleischermesser entwunden, als er die Karla vor dem ›Grünen Frosch‹ damit stechen wollte. Ich hab' dort gerade herumgelungert, da hab' ich sie schreien gehört, bin hingelaufen – und schon hab' ich das Messer gehabt. Zeig' das Messer, Žaninka!«

Žaninka, die mit diesem diminutiven Kosenamen angesprochene, beleibte Kellnerin Žanda, sperrt die Zigarrenschatulle auf und zeigt ein großes Fleischermesser in die Höhe. »Gestern hat er es haben wollen. Er werde heute arbeiten gehen, sagte er mir. Dann komm' es dir früh holen, hab' ich ihm gesagt. Gut, antwortete er, im Notfall genügt mein Taschenmesser.« 380

»Er war doch ein Blödian, daß er sich mit ihr eingelassen hat,« meint der Bretzelmann, »sie war doch viel älter als er. Sie war sechsundzwanzig Jahre und er einundzwanzig.«

»Wer sagt dir, daß er einundzwanzig war, du Schindluder?« schreit die Remiška den wieder zusammenfahrenden Bretzelmann an. »Fünfundzwanzig war er. Ich muß es wissen. Ich bin seine Landsmännin. Das war sein Malheur,. daß er aus Laz stammte. Der Melichard, der Gastwirt vom Leonhardiplatz, ist auch aus Laz, und am Weihnachtsabend waren alle Landsleute bei ihm. Die Kotab war damals dort Kellnerin, und dort haben sie sich ineinander verliebt. Vier Gulden hat der Jarda damals dort ausgegeben! Für mich hat er auch gezahlt! Das vergess' ich ihm nicht. Ein braver Kerl!«

Ein blutjunger Bursch von stieren Gesichtszügen, der – an ein Mädel geschmiegt – bei der Türe sitzt, bemerkt: »Wenn der Jarda gesund wird, so werde ich ihm bei Gericht nützen.«

Herr Novaček, der Wirt des »Omnibus«, fragt ihn: »Wie willst du das machen?«

»Na, ich würde zu Gericht gehen und sagen, daß der Jarda ein braver Bursch ist. Ein Wort macht viel.«

»Du Esel, vor dir hätten sie Respekt. Sie würden dich gleich dort lassen.« Höhnisches Gelächter bricht allgemein los. Das Mädel wird rot; sie schämt sich der Dummheit ihres Galans. Der Bursche will beschwichtigen und sagt ganz naiv: »No, dann werde ich eben nicht hingehen.«

Ein hünenhafter Kerl, der Direktor des Kasperltheaters vom Josefi-Markt am Altstädter Ring, ruft der Kellnerin zu:

»Žanda, zeig' mal das Messer her!«

»Oh ja, dir werde ich das Messer in die Hand geben, du Strahower Stier! Da hätten wir gleich noch einen Funus.« 381

»Ja, richtig, wann ist der Funus?« Von allen Seiten wird die Frage aufgeworfen, wann das Begräbnis stattfinden könne. »Der ganze Omnibus muß ausrücken und Betka Gulasch muß die Fahne tragen.«

Betka Gulasch, eine grauhaarige Trinkerin, ruft dem Soldaten zu: »Dich zerreiß' ich in Fetzen und werde dich als Fahne tragen.«

»Vorher aber wirst du selber in der Pathologie liegen,« gibt ihr der Soldat zurück. »Dann kannst du dem Liebespaar zuschauen, wie es . . .«

Alles lacht und die pockennarbige Sentimentale, deren Tränen schon getrocknet sind, wirft der Betka Gulasch den Stummel ihrer Zigarette zu: »Das kannst du dem Jarda mitbringen.« 382

 

Rauferei mit dem Ringkämpfer

Die Mitternacht ist schon da. Bierflaschen stehen am Tisch und man spricht von allerhand Dingen, die morgen im Polizeirapport stehen werden.

Tonik Kapsa und Rechnungsunteroffizier Pollak haben endlich je ein Queue gefunden, dem noch das Lederkäppchen nicht fehlt, und beginnen zwei gelbe (einst weiß gewesene) und einen blaßrosa (einst rot gewesenen) Billardball über die Renommierschmisse des Tuches zu jagen; die Points markieren sie mit Kreidestrichen auf einer an der Wand befestigten Tafel, der Generationen von Billardspielern die Glätte und die Schwärze genommen haben. Vom Nebentisch her überdröhnt das Einzelfeuer niederknallender Spielkarten die Musik, die hier nicht fehlt. Ein Virtuos der Ziehharmonika und ein Violinist spielen aus der Wölbungsnische das Lied hervor: »Bin ein Waisenkind, – In Prag gebar man mich; – Mutter, Vater kannt ich niemals, – Bin ein Waisenkind . . .« Die kurzröckige Wlasta singt in unmäßiger Dehnung der Worte das Lied mit. Sie lehnt sich dabei verzückt in den Stuhl zurück, ohne den schnauzbärtigen Portier loszulassen, um dessen Hals sie ihren Arm geschlungen hat. Der Portier hat hier nur eine Kriegsdienstbestimmung. Im Frieden aber, d. h. wenn weder ein Gast hinauszuwerfen, noch ein Polizeisukkurs zu holen ist, trinkt er sein Bier wie jeder Gast. Sein Dienstesabzeichen aber legt er nie ab: Die rote Mütze, über deren Schild der Adler eines infanteristischen Extra-Ueberschwungs befestigt und durch Tinte und Grünspan in einen grünen Adler verwandelt worden ist. Denn wir sind im Kaffeehaus »Zum grünen Adler«, tschechisch »Zelený orel«. Rechnungsunteroffizier Pollak pflegt es freilich, mit einer Vermengung 383 zweier Landessprachen zu einer dritten, »Zum grünen Orl« zu nennen.

Ueber dem Billard flackern zwei Gasflammen. Die Fensterladen sind mit einem gelben Vorhangtuch überzogen, daß nicht etwa von der Gasse aus jemand ein Auge voll der paradiesischen Wonnen dieses Cafés unentgeltlich erhasche. Ueber dem Vorhang kann jeder, der der Spiegelschrift kundig ist, den Text der Glasmalerei entziffern: »Ranní polévka« – »Morgensuppe« steht einladend unter dem gemalten Topf samt Dampf und Löffel. Unter den beiden gekreuzten Billardqueues, zwischen denen eine rote und zwei weiße Kugeln gemalt sind, verkündet eine Inschrift »Kulečník« – »Billard«. Eine Inschrift ist auch an der Tür: »Bitte sich ausschließlich des Aborts zu bedienen.«

Der morgige Polizeirapport ist bald durchbesprochen. Die Pepa Durdik ist beim »Walsch« von der Streifung festgenommen worden, Franta Vitasek, der mit sechshundert Kronen seines Chefs nach Dresden durchgebrannt war, ist – ohne die Ella – heute wieder zurückgekommen und hat sich selbst gestellt. »Hat sich Ella halt eine Woche lang fein gehabt.« Und: »Sechs Wochen werden sie ihm geben.« Das sind die ganzen Konklusionen.

Die Stimmung ist stier. Da macht sich die Tür auf und herein kommt Tom Jackson. Sein Eintritt ist eine ungeheure Sensation. Fast alle kennen den unwirschen Australier von den Ringkämpfen her. Fast alle haben dort in das Pfeifen und Gröhlen eingestimmt, mit dem das Publikum diesen Verhaßtesten aller Ringer begrüßt, den Wilden Mann des Ringer-Ensembles. Aber auch die, die ihn nicht kennen, sind starr vor Staunen. Ein solcher Koloß! Die Zweimeterlänge, die ungeheure Breite der Schultern, die verquollenen Augen, die riesigen Hände, – das flößt hier Respekt ein. Tom Jackson hat den Hut auf dem Kopf und schaut sich im Lokal um. Gusta Wotitzky, der mit dem Riesen hereingekommen war, weist ihm einen Platz an – gerade 384 gegenüber der Tischgesellschaft. Gusta Wotitzky hat sich an der Sensation geweidet, die der von ihm eingeführte Gast beim Eintritte erregt hat. Um dieses Eindrucks willen hat er den Ringer ja mitgebracht. Wenn er auch selbst im ersten Moment von dem dunklen Riesen verdunkelt, nicht beachtet worden war, – jetzt wird er imponieren. Er ist so aufgeregt über die Wichtigkeit der Rolle, die er spielt, daß er seiner Platte drüben nicht in die Augen zu schauen vermag, sie nicht einmal begrüßt hat. Er beginnt laut mit Tom Jackson englisch zu sprechen.

Da merkt man die Absicht. Rechnungsunteroffizier Pollak gibt seinem Partner, der die Serie vor Staunen unterbrochen hat, einen Stoß, daß Tonik Kapsa aufknirscht, und herrscht ihn an: »Was glotzt du wie blöd? Es gibt doch nichts zu sehen! Spiel' weiter.«

Unter den am Tische Sitzenden schürt Franzek Rothbaum den Haß. Franzek war mit Gusta Wotitzky in Amerika gewesen, und sie sind gegenseitige Konkurrenten im Erzählen über diesen ganz besonders wichtigen Erdteil. »Gusta macht sich wichtig. Nicht einmal umgeschaut hat er sich auf uns. Uns will er mit seinem englischen Gekakitz imponieren!«

»Wahrscheinlich hat er vor dem Varieté auf die Ringkämpfer gewartet und sich ihnen aufgedrängt,« kombiniert einer, »aber nur der Jackson ist mitgegangen.«

»Der Jackson ist überhaupt der ekelhafteste Kerl von allen. Der hat nichts, wie seine rohe Kraft. Alle Ringkämpfer werden ohnmächtig, wenn er mit ihnen ringt, eine solche Kraft hat der,« weiß der eine.

»Der eine Sieg wurde ihm nicht angerechnet, so roh hat er gerungen,« weiß ein anderer.

»So ein Kerl sollte einen Waffenpaß für seine Hände haben,« meint ein Sozialreformer aus dem Kreis.

»Na, aber gegen die Buschigen wär' er nicht schlecht.« 385

Das ist allerdings wahr, gegen die »Buschigen«, die Polizisten, wäre er nicht schlecht, und Franzek befürchtet, daß man doch an dem Begleiter Gustas sympathische Züge entdecken könnte, und lacht ironisch: »Wenn ein Buschiger den Revolver hebt, fällt der ganze Jackson in Ohnmacht.« Und dann ruft er über die Tische dem buckligen Vinzenz, der blaß und schwächlich, seine Harmonika im Schoß, in der Musikantenecke sitzt, in tschechischer Sprache zu:

»Geh' hin und hau' dem Herrn Riesen eine Ohrfeige herunter, Vinzenz. Aber nicht zu fest, sonst erschlägst du ihn.«

Alle Gäste lachen, denn im ganzen Lokal ist der australische Gigant Tischgespräch. Franzek freut sich sichtlich über den Erfolg seines Witzes. Diesen Moment hält Gusta Wotitzky für geeignet, um den Versuch zu machen, die feindliche Stimmung zu zerstören, die sich gegen ihn geregt hat. Er geht auf den Tisch seiner Freunde zu, und will sich dort niedersetzen. Aber Franzek reißt ihm den Sessel weg: »Auf einmal kennst du uns wieder? Schau', daß du weiterkommst, du Sauhund.« Gusta will etwas antworten, aber . . .

Dort am Tische gegenüber hat sich der Champion mit ungeschlachter Schnelligkeit in seiner ganzen Größe vom Sitze erhoben und bewegt seinen Körper herüber. Seine Augen glänzen tierisch. Alle im Saale sind entsetzt aufgesprungen. Was wird geschehen? Gusta versucht, den Meisterringer zu beruhigen, aber Tom Jackson schiebt ihn mit einem Finger weit aus dem Weg und steht etwa zwei Schritte vor Franzek Rothbaum, der krampfhaft an seiner Virginia zieht.

»Who is a Sauhund?«, fragt der Athlet, und ohne die Antwort abzuwarten, packt er den Franzek und zieht ihn an sich, damit er sich nicht näher zu ihm bemühen müsse.

Und berührt – ohne auszuholen – mit den fünf Fingern, die er tatzenartig zusammengeschlossen hat, Franzels Stirne gerade oberhalb des rechten Auges. 386

Im Nu schwillt die Stelle blutunterlaufen an.

Franzek will auf Jackson zu, aber die anderen halten ihn vor diesem Selbstmordversuch zurück.

Tonik Kapsa hat entsetzt zugesehen, wie seinem Ideal, dem Franzek Unheil widerfuhr. Das Queue in der Hand, im Gesicht grün wie Billardkreide, stellt er sich neben den Meisterringer. »Sie – – dürfen nicht ihn schlagen, Sie sind nicht – in Australien.« Tonik ist es nicht gewöhnt, deutsch zu sprechen, die Aufregung vergrößert seine Anstrengungen noch. Jackson wendet sich nun dem Kapsa zu. Aber der schnauzbärtige Portier mit dem grünen Adler auf der Mütze stellt sich zwischen Kapsa und den Riesen und mißt diesen mit den Augen. Seine Dulcinea versucht ihn fortzuzerren. »Laß mich,« herrscht er die Wlasta an, »vielleicht werde ich vor dem Kerl nicht auf den Arsch fallen.« Aber schließlich läßt er sich doch gerne wieder zu seinem Platze zerren, bevor er einen Denkzettel in Empfang genommen hat. Franzek hat den Saal verlassen, um die Wache zu holen. Rechnungsunteroffizier Pollak nimmt hastig seinen Ueberschwung samt »Johannisbrot« von der Wand, schnallt ihn um und verschwindet, um dem Wachmann nicht zu begegnen, – erstens hat er keine Ueberzeit, zweitens ist Soldaten seines Regiments der Besuch des Lokales verboten.

Tom Jackson hat sich schnaubend wieder zu seinem Platz gesetzt. Wird er wieder aufspringen, wird er den Polizisten folgen, wird er an Franzek nochmals Rache nehmen? Erregung sondergleichen ist im Lokal.

Schließlich kommt ein Polizist, nur einer. Der Wachmann Cada – er ist um vier Köpfe kleiner als der Champion – tritt auf ihn zu und fordert ihn durch Gesten auf, mitzugehen. Ohne viel Worte der Widerrede folgt der Australier, nachdem er gezahlt hat, auf die Gasse. Draußen rangiert sich der Zug zur Wachstube, alles geht mit. Auch Gusta will mitgehen. Kapsa warnt ihn: 387

»Geh' lieber nicht mit, sonst zahlen wir's dir morgen heim.«

»Ich kann den Jackson doch nicht allein ins Wachzimmer gehen lassen, er versteht ja nicht deutsch,« versucht Gusta Wotitzky schüchtern einzuwenden. Aber als ihm der Portier drohend: »Schau', daß du abschwirrst,« sagt, schlägt er sich seitwärts in eine Gasse.

Auf der Wachstube gibt der Festgenommene seine Personalien an: Tom Jackson, geboren 1870 in Wallington (Neu-Seeland), derzeit in Karolinenthal, Viaduktgasse 3, bei Frau Sejk.

»Ich habe ihn nicht geschlagen,« wiederholt er unaufhörlich den Wachleuten, die auf die Kunde von dem Besuch des hohen Gastes von den Kavalets aufgesprungen und in die Wachstube geeilt sind, »ich habe ihn nicht geschlagen. Wenn ich ihn geschlagen hätte, läge er ja tot am Boden.« Franzek übersetzt dies selbst den Wachleuten, großmächtig seine englischen Kenntnisse produzierend. Er verfällt in den Fehler Gustas, um dessentwillen der Kampf entbrannt war. Die Polizisten nicken zu Jacksons Argument mit dem Kopf. Es ist allerdings ein unwiderleglicher Beweisgrund.

Der Wachkommandant bedeutet der Tischgesellschaft, daß sie die Wachstube verlassen könne, aber Tom Jackson muß noch dableiben, »damit sichergestellt werde, ob die Angaben des Vorgeführten auf Richtigkeit beruhen«. In Wirklichkeit will der Wachkommandant wohl nur vermeiden, daß Jackson gleichzeitig mit seinen Widersachern das Wachlokal verlasse. Der Hüne ist verzweifelt in einen Sessel gesunken.

»I must rest there?«, fragt er ganz verstört.

Niemand versteht ihn. Da dreht sich Franzek, dessen Stirn noch schmerzhaft geschwollen ist, nach ihm um und tröstet ihn: »Only for a few minutes.«

Denn der Athlet sitzt hilflos da, wie ein großes Kind, und tut allen leid. 388

 

Kleine Hochstaplerin!

Die Botitsch-Elli ist es gewohnt, porträtiert zu werden; denn sie ist Modell. Eigentlich heißt sie Marie. Aber als sie aus Michle nach Prag kam, um hier das große Leben kennen zu lernen, nahm sie sich vor, den Pragern einzureden, daß sie etwas sehr, sehr Vornehmes sei, und deshalb legte sie sich den Namen »Elli« bei. In der Malerakademie hatte man diesem ihrem angeblichen Rufnamen den Namen des stinkenden Baches Botitsch vorgesetzt, der ihre Heimatsstadt Michle durchfließt, und so heißt die Kleine heute in Künstlerkreisen bloß die »Botitsch-Elli«.

Am Anfang merkt man es gar nicht, daß die hochstapelt, ja, es scheint sogar, man habe es hier mit einem einfachen und besonders bescheidenen Mädel von rührender Aufrichtigkeit zu tun. Aber gerade diese für andere bescheidenen Geschichten sind Auswüchse der Großmannssucht.

»Mein Ring hat drei Kronen bei Cley gekostet,« bemerkt sie.

Zur Darnachachtung: Es wäre ganz verfehlt, zu antworten, daß man dies dem Ring nicht ansähe, er schaue aus wie echt; denn entweder glaubt sie überhaupt nicht an Echtheit von Edelsteinen oder vermeint sie gar, um drei Kronen könne man bei Cley einen echten Brillanten kaufen. Ebenso verfehlt wäre es, zu erwidern, der Ring sei um drei Kronen spottbillig gekauft; dann würde sie dich für einen Dummkopf halten, dem man noch viel, vielmehr über den Löffel balbieren könne. Der Ring hat in der Galanteriewarenhandlung Vojtiechovsky (Trebizkygasse) sechzig Heller gekostet, und die Geschichte von den drei Kronen und der Cleyschen Provenienz hat sie nur erfunden, um zu bluffen: Was, ich trage kostbaren Schmuck. 389

Oft stochert sie im Atelier mit dem Fingernagel im Zahn, und bemerkt ärgerlich: »Verfluchter Kalbsbraten! Mir ist ein Stückchen im Zahn geblieben, nicht und nicht herauszubringen.« Wie lacht sie sich ins Fäustchen, wenn sich ein unerfahrenes Malerlein galant beeilt, ihr ein Zündholz zu einem Zahnstocher zurecht zu schnitzen! Sie hat ihren Zweck erfüllt und ihrem Opfer vorgetäuscht, daß sie heute Fleisch zu Mittag hatte. Und mutig geworden, fährt sie fort, zu hochstapeln.

»Ich habe heute im Restaurant »Zur Stadt Laun« zu Mittag gegessen. Eine Krone vierzig hab' ich gezahlt.« So raffiniert wegwerfend sagt sie das, als ob es gar nichts bedeuten würde, im Restaurant »Zur Stadt Laun« in der Lindengasse zu speisen, als ob eine Krone vierzig Heller kein Vermögen, sondern für sie eine Bagatelle wäre. O, die Botitsch-Elli ist schlau.

Ein wichtiges Hilfsmittel für ihre Protzerei ist ihr Kamm; sie trägt ihn, seit ihn ein Mädel, das im künstlerischen Geschmack eines Malers ihre Vorgängerin war, im Atelier vergessen hat. Der Kamm ist fürwahr ein prachtvolles Stück: Schildpattimitation, unter Brüdern achtzig Heller wert. (Wenn nicht mehr!) Den zieht sie bei jeder Gelegenheit aus den Haaren und bemerkt: »Der ist aus einer Garnitur.« Man bedenke: Aus einer Garnitur!

»Heute hab' ich den alten Hartmann gesprochen.« Und wenn diese Worte ihre Wirkung verfehlen, dann sagt sie noch hinzu: »Ich habe lange mit ihm unterhandelt.« Da wird man neugierig, und irgend jemand fragt, wer denn das sei, der alte Hartmann. Dann lacht sie unsagbar verächtlich: »Das weißt du nicht?« Wie Kolbenschläge fallen nun auf den Ungebildeten die Worte der Erklärung nieder: daß der alte Hartmann kein Geringerer sei als der Direktor der Singspielhalle »Zu den kleinen Bären« auf dem Bergstein. Wenn dann diese Erklärung ihre tiefe Wirkung getan hat, dann wiederholt sie noch einmal, nun des mächtigen 390 Eindruckes sicher: »Eine halbe Stunde haben wir unterhandelt.«

Auf eindringliches Bitten verrät sie zögernd, daß – aber noch nicht weiter erzählen, bitte! – der alte Hartmann für sie das Chantant gewinnen wolle. Er biete ihr dreißig Kronen fixe Monatsgage, in jeder Saison zweimal Benefize und einmal wöchentlich Ausgang. Natürlich sei ihr das viel zu wenig. Er gebe ihr aber keine Ruhe mit seinen Engagementsanträgen. So habe sie ihm denn versprochen, es sich noch bis zur nächsten Woche zu überlegen. Aber nochmals, meine Herren: Diskretion Ehrensache! Noch nichts verraten! Sie habe nämlich die Einwilligung der Mutter nicht, die sei sehr moralisch und fürchte, daß sie beim Chantant auf Abwege geraten könnte. »Meine Mutter hat zum Beispiel noch heute keine Ahnung, daß ich . . . . Gott, wenn die das wüßte. Ich würde kein Nachtmahl bekommen.«

Ja, mit dem Chantant. Das habe sie dem Vater schon gesagt, aber die Mutter sei gerade in der Küche gewesen.

Es gibt in Ellis Wohnung keine Küche. Oder nur eine Küche. Denn die Wohnung besteht nur aus einem Raum. Aber so geschickt flicht Botitsch-Elli die Erwähnung der Küche in ihrem Roman ein, daß die Hörerschaft selbst bei diesem Kulminationspunkt nicht zu zweifeln wagt, und alle in Ehrfurcht von der Noblesse der »Botitschellischen« überzeugt sind, die außer dem Wohnzimmer noch eine Küche haben!

Ellis Aufschneiderei kennt keine Grenzen. Ohne mit einer Wimper zu zucken, beginnt sie zu prahlen, daß sie gestern mit der Drahtseilbahn auf den Laurenziberg gefahren sei, daß das »Goldfisch«-Lied, das eben den Raum des Café Tunnel durchtönt, auf ihre Bestellung hin vom Klavierspieler angestimmt wurde, daß ihr der Maler Kostial einmal im Atelier zwei Gläschen Kognak angeboten habe, daß ein »Kanzlist vom Magistrat« sie einlud, mit ihm am Sonntag nach Podol zu fahren, 391 – und was dergleichen Ausgeburten einer entfesselten Phantasie, einer in unendlichen Sphären schwelgenden Wunschsucht mehr sind.

Aber: So weit sich ihre Gedanken auch versteigen, sie finden nach und noch doch ihre Erfüllung und schließlich werden alle ihre Lügen zur Wahrheit. Ein Mädchenleben vom Schlage des ihren gleicht ja immer einer Parabel, und noch bewegt sich die Botitsch-Elli auf dem aufsteigenden Ast. Gerade die erfundenen Tatsachen sind Punkte, die dieses kurvengleiche Leben durchläuft. Die jungen Künstler, die ihr zugetan sind, haben allmählich gelernt, die Aufschneidereien der Botitsch-Elli zur Kenntnis zu nehmen und als Wünsche zu werten, und eilen, sie nach Kräften zur Wahrheit zu machen; die älteren, blasierteren hinwiederum führen die Elli in die Situationen, von denen sie geschwärmt hat, um sich an ihrer Verlegenheit zu weiden. Schon hat ihr einer aus der erstgenannten Verehrerkategorie wirklich einen Brillantring bei Cley um drei Kronen und ein Paar durchbrochene Strümpfe gekauft, trotzdem sie geschwindelt hatte, daß sie ein solches zu Hause habe. Während einer von der zweitgenannten Künstlerkategorie im Montmartre-Café übermütig den alten Hartmann heranwinkte. »Siehst du denn nicht, daß hier dein so heiß ersehnter Zukunftsstar sitzt?« Da wurde denn die Botitsch-Elli wirklich mit dem Direktor des Chantants »Zu den drei kleinen Bären« bekannt.

Und schon erkennt sie, daß ein Ring von Cley, durchbrochene Strümpfe und die Bekanntschaft des alten Hartmann nicht unerreichbar hohe Dinge, nicht der Inbegriff aller Seligkeiten des Phantasielandes sind. Schon erzählt sie lügend von einem goldenen Ring mit einem echten weißen Saphir, den sie bekommen werde, schon hört sie auf, mit den nun wirklich in ihrem Besitz befindlichen durchbrochenen Strümpfen zu renommieren, erklärt sie als unfein, und schon berichtet die Hochstaplerin von einem Paar halbseidener Strümpfe, die sie zu Hause habe, und schon unterhandelt sie nicht 392 mehr mit dem alten Hartmann, sondern mit dem Direktor der Pistek-Arena – merkt ihr den Unterschied?! – wegen ihres Engagements.

Bald wird die kleine Botitsch-Elli den Scheitelpunkt der Parabel erklommen haben, und wird deren absteigenden Ast hinunterschreiten. Wieder Schritt für Schritt – so wie sie des Weges gekommen war. Sie wird es bemerken, daß sie sich auf dem Abstiege befinde, wird sich aber damit trösten, daß es ihr immerhin besser gehe, als es ihr zur Zeit des Beginnes ihrer Laufbahn ging. Die Folge wird ein Prahlen mit ihren bescheidenen Anfängen sein, aus denen sie es so herrlich weit gebracht. An dem Tage, da das Geld nicht mehr zum Ankauf von Seidenstrümpfen reichen wird, und sie sich wieder mit Halbseide begnügen muß, wird sie sich zu Bekannten rühmen: »Jetzt trage ich Seidenstrümpfe und mit einfachen, durchbrochenen Strümpfen habe ich begonnen.«

Allmählich wird der Sekt vom Tisch verschwinden, aber sie wird beim Souper von Suppe, Braten, Mehlspeise und Wein noch selbstgefällig und übertreibend bemerken: »In meiner Jugend hatte ich nur Kalbsbraten und Bier zum Nachtmahl.«

Die Sehweite ihres geistigen Auges hat sich nicht vergrößert. Im Erinnern bleibt sie so kurzsichtig, wie sie es im Erträumen war. Das ist gut so. Denn nur der vorigen Etappe gedenkt sie und hat längst vergessen, wie es oben am Scheitel der Parabel aussah, wie groß der Weg ist, den sie seither zurückgelegt hat.

Sie wird sich nicht einmal besonders wundern, wenn aus den Akten konstatiert werden wird, daß sie, die bei der Razzia Festgenommene, gar nicht »Elli« heiße, wie sie seit zehn Jahren schon selbst glaubte, sondern »Marie«. Ohne Staunen wird sie aufhören, die Botitsch-Elli zu sein. 393

 

Bekanntschaft in London

Mein Heißhunger nach Heimatlichem war bisher unbefriedigt, trotzdem ich ins Empire-Theater in Finnsbury Park gerannt war, wo man unter ungeheurem Zulauf ein Ausstattungsstück »Percy Honry in Bohemia« spielt. Es ist das Drama des eleganten Tausendsassas Percy Honry, dessen Frau, von wahnwitzigem Taumel nach allen Freuden des Lebens, nach unerhörten Wonnen und nach ewiger Musik erfaßt, nach – Böhmen flieht. Honry setzt ihr nach, und wir finden ihn in Böhmen wieder, wo – wie wir mit Befriedigung konstatieren, – nicht alle Leute die einfache Bajazzotracht tragen. Nein, auch bizarre Narrenkostüme, auch Pierrot- und Pierettengewänder, mit waghalsig großen Schneeballenknöpfen finden wir hier, auch aus grünrotkarierten, schellenbehangenen Harlekinen, aus buntnasigen und buntgetupften Clowns und aus Ballettmädchen mit Gazeröckchen setzt sich die Bewohnerschaft Böhmens zusammen. Aber in einem ist die Bevölkerung vollkommen einheitlich: Alle Männer halten lange Nickeltrompeten in der Hand und blasen mit virtuosem Geschick den »Alexander Ragtime-Marsch«. Natürlich will Mrs. Honry aus diesen Gefilden der Seligen nicht nachhause zurückkehren und entflieht immer und immer wieder ihrem Gatten, bis das Theaterstück damit seinen Ausgang findet, daß er die ganze Jagd nach Böhmen nur in seinem englischen Jagdschloß geträumt hat.

Ich hoffte, Granville Barker, der im Savoy-Theater das Shakespearesche Wintermärchen in einer den Reinhardtschen Glanz weit übertreffenden Aufführung auf die Bühne bringt, werde noch gründlichere Studien über Böhmen gemacht haben. Ich mußte nun zu meiner Ueberraschung erfahren, daß zur Zeit, da Böhmen noch am Meere lag und ein Königreich unter Polixenes war, 394 die Diener indianische Gewänder trugen und die meisten Männer eine savoyardische Tracht, und daß die Tänze der Hirten von einem Ballettmeister einstudiert waren. A propos – Ballettmeister: Ich wollte ja von böhmischen Tänzern erzählen.

Natürlich gehe ich in die »Variété Music Hall«, um die tanzenden Landsleute zu sehen, »Troupe of Tcheque dansers« steht auf den Plakaten. Acht Mädchen und ein Mann tanzten dort. Ihr glaubt natürlich, daß sie böhmische Tänze zeigten? Nein. Sie tanzen den Fandango, die Tarantella, irgend einen Phantasiereigen und andere Künste, die man im Ballett sieht. Nicht schlecht. Und die Kleine am linken Flügel sieht wundernett aus, nicht? Auf die Gefahr hin, der Uebertreibung geziehen zu werden, spreche ich es aus: Sie erinnerte mit ihrem schlanken Körper und den braunen Scheitelflächen direkt an die Jindra Nechleba aus Holleschowitz. Wie ich meinem Trieder entnehmen konnte, hatte sie hellblaue Augen und je einen kleinen böhmischen Granatstein in den Ohrringen. Diagnose: Nicht verwöhnt.

Also gut, ich wartete nach der Vorstellung vor dem Bühneneingang. Sie kam mit zwei Kolleginnen und stellte sich mit den übrigen Mitgliedern der Truppe an. Ich stand, ein stattliches Stück entfernt, ungesehen im Schatten. Nur von Zeit zu Zeit klang ein Bruchstück des Gespräches zu mir herüber, tschechische Worte.

Endlich verabschiedeten sich die Künstler voneinander. Meine Schöne ging mit einer Freundin. Ich unbemerkt ein beträchtliches Stückchen hinter ihnen. Je später ich sie tschechisch anspreche, desto überraschter wird sie sein, kalkulierte ich. High Holborn, New Oxford-Street und Tottenham Court Road hatten wir schon durchschritten.

In den Straßen ist rasches Leben, das letzte Aufbäumen eines sterbenden Riesenkörpers. In wenigen Minuten wird Mister Londons laute Stimme verstummen, in seinen Arterien wird das Blut zu zirkulieren aufhören, hilflos und regungslos wird er daliegen. 395 London ist keine Stadt der Nacht, kein Wien, kein Berlin, kein Budapest, kein Paris. Wer gegen ein Uhr den letzten Zug der Untergrundbahn versäumt und kein Geld für einen Wagen hat, kann ein Stückchen Weges, wie es die Strecke von Prag nach Brandeis ist, zu Fuß nach Hause spazieren. Karosserien jagen den Klubs zu, alle Leute rennen zur Tube und zum Omnibus, niemand beachtet die Lichtreklamen und Auslagefenster, hie und da verlöschen tausend Glühlämpchen eines Geschäftes, aus dem Gummiknüppel des Polizeimannes entsteht ein breiter Gummimantel. Es wird dunkler, das Stoßen und Hasten intensiver.

Meine beiden Schönen sind nahe dem Euston Square. Jetzt ist's Zeit, mich anzuschmeißen. Irgendwie raffiniert. Ich eile also den Damen auf der anderen Trottoirseite unbemerkt voraus, gehe ihnen entgegen und stoße, wie unversehens, heftig in sie hinein.

»Sorry«, beteuere ich, aber tue so, als ob mir das englische Entschuldigungswörtchen vor Ueberraschung im Halse stecken bleibe, vor Ueberraschung und Entzücken über die Schönheit der beiden Damen.

»Can I accompany you?«, bitte ich.

»Not engliš« Ohne mich eines Blickes zu würdigen, lehnen die Mädchen die Begleitung des zudringlichen Kerls ab, der zuerst wuchtig in sie hineingestoßen war und sie nun noch belästigt. Aber ich lasse nicht locker:

»Ah, les dames sont Françaises; ça va sans dire ce chic cette élégance! Vous êtes Parisiennes, n'est ce pas?«

Aber die biederen Mädchen verstehen die Schmeichelei, daß ich sie für Pariserinnen halte, gar nicht. Sie rümpfen die Schultern und gehen weiter.

»Sprechen die Damen deutsch?«

»Verstauch daic, nix sprech,« wird mir zur Antwort.

»Bravo, das ist wenigstens etwas. Wenn Sie nur deutsch verstehen. Bitte, sagen Sie mir, welche Sprache die ihre ist. Ich spreche alle Sprachen.« 396

Wieder Achselzucken und Weitergehen.

»Bitte, bitte, meine Damen, sagen Sie mir wenigstens, welche Sprache Sie sprechen. Dann werde ich Sie nicht weiter belästigen. Italienisch? Türkisch? Holländisch? Russisch? Japanisch? Ungarisch? Slowenisch?«

Da flüstert meiner Auserkorenen deren Freundin zu: »No, tak mu to řekni.«

Es war nur geflüstert, aber ich habe es doch gehört. Ich wiederhole langsam: »No, tak mu to řekni,« und fügte nachdenklich hinzu: »Das ist tschechisch.«

»Ano, ano,« freudig und schnell klingt diese Bejahung aus zweien wie aus einem Munde.

»Tschechisch kann ich auch.« Ich denke einen Augenblick lang forciert nach und dann in tschechischer Sprache:

»Woher sind Sie, Fräulein?«

»Aus Prosek, bitte.«

»Aha, das liegt im Nordosten von Prag, nicht wahr?« Ich frage dies tschechisch und die ganze Konversation wird von da ab tschechisch geführt.

»Das weiß ich, bitte, nicht«

»Unterhalb Proseks liegt Wysotschan und dahinter Prag, nicht?«

»Ježišmante, der Herr ist ein Prager!« Nun erst hat sie das Wunder appercipiert, nun erst macht sich ihr grenzenloses Staunen in Worten Luft. »Das hätte ich nicht gedacht, daß ich in London einem Prager begegnen werde.«

»Nein, mein Fräulein, ich war noch nie am Kontinent, noch nie aus England draußen.«

»Das ist nicht möglich. Sie sprechen doch fließend tschechisch.«

»Das habe ich im Oxforder College gelernt, dort werden ja alle Sprachen unterrichtet.«

»Aber so?«

»Gott, auf Prag legt man den größten Wert. Doktor Groš ist das kommunalpolitische Ideal des 397 Mansion house,. das ›Echo Prahy‹ ist die meistgelesenste Zeitschrift in England, jedes Jahr reisen die städtischen Ingenieure Londons nach Prag, um dort die sanitären Maßnahmen zu studieren usw.«

»No ja, Prag ist halt einzig! Das sollten Sie sich einmal anschauen . . . Gibt es in London auch ein Repräsentationshaus?«

Mir fällt gerade das Repräsentantenhaus ein und ich entgegne: »Natürlich, das House of Lords.«

»Ich bitte Sie, was bedeutet das Wort »Lord«, ich höre es hier so häufig?«

»Lord? Das ist eine Zusammenziehung der Anfangsbuchstaben des Titels »Londynský obecní representační dům«, sowie ja auch bei Ihnen der »Pražský representační dům« einfach . . .«

»Je – je, das ist interessant.«

Auch sonst lernte sie vielerlei von mir: »Sehen Sie den Herren dort, Fräulein?«

»Den, der sich gerade die Krawatte richtet?«

»Ja, das ist Sherlock Holmes.«

»Gott, wie interessant! Welchem Mord der gerade nachspüren mag! Das schlaue Gesicht, das er hat. Wie meine Freundinnen in Prag schauen werden, bis ich ihnen schreiben werde, ich habe den Sherlock Holmes gesehen!«

Ob sie schon die englische Krankheit bekommen habe? Nein, noch nicht. Da könne sie von Glück sagen.

Wie ich heiße? »Egon.« – »Eine Freundin von mir, die Tini Sekan, hat eine ernste Bekanntschaft auch mit einem Egon gehabt, über vierzehn Tage lang.« – Ich hüte mich, diese Uebertreibung zu berichtigen, obwohl mich die Tini schon nach zwölf Tagen schmählich verlassen hat.

Lange währte unsere Unterhaltung, sehr, sehr lange, oft wird sie durch Fragen ihres Zweifels unterbrochen: 398 »Sind Sie wirklich kein Prager?« Aber schließlich glaubt sie mir doch.

Und zum Abschied spricht sie die Erkenntnis aus: »Ihr Engländer seid doch ganz andere Menschen.« Dann reicht sie mir die Hand: »Tě bůh, Egone!«

Ist's wirklich die Glocke der Westminsterabtei, die eben achtmal durch den Morgennebel ruft? 399

 

Zitate vom Montmartre

Aus tausend und einer Nacht drängten sich die Figuren des Prager »Märtyrerberges« in meine Erinnerung.

Die Mädchen! Ich darf ihre Personalsbeschreibung nicht geben, ihre vollen Namen nicht nennen, mit denen man sie einst von Tisch zu Tisch rief. Sie sind ehrsame Frauen geworden, oder grandes dames die Fratzen, die von zuhause entlaufen waren, um im Hippodrom bis 1 Uhr nachts zu reiten und von 1 Uhr nachts bis 4 Uhr früh im Montmartre zu tanzen. (»Montmartrée,« sagten sie fein.) Keine Lockung, nicht Uniform, nicht Brieftasche, nicht Liebe hätte sie je davon abgebracht, dieses Programm zu unterbrechen, sie dazu veranlaßt, zu schwänzen. Aber wenn die Kapelle Gauč ihre Instrumente zusammenpackte, oder der dicke Trumm sein vierzigstes Glas Bier geleert auf sein Klavier stellte, dann waren sie nicht wählerisch hinsichtlich ihrer Begleitung. Denn sie hatten kein Obdach. Es waren naive Mädeln, die von nächtlichem Ponyzirkus, im morgendlichen Tanzlokal und täglichem Stundenhotel jetzt zumeist in bürgerliches Eheglück gelandet sind.

Die Karla saß hier und las Romane von Dumas, von acht Uhr abends an bis zur Sperrstunde. Wer auf sie wartete, mochte warten. Und es wartete immer jemand, sonst wäre sie, die keine Zeche machte, kein Gast gewesen, den man dulden konnte.

Franzka? War sie nicht so naiv, daß sie nach einem Ausflug nach Hodkovička (einzige Eisenbahnfahrt ihres Lebens), ohne Ahnung davon, daß ein Hotel auch dem Fremdenverkehr dienen könne, entsetzt über die Verderbtheit der Dorfbewohner, erzählte, in dem Nest sei auch ein Hotel! 400

Die Sophie? Ihr Vater ließ die Verschwundene suchen, die Polizei fand sie im »Montmartre«, der Kommissär sagte ihr, ihr Bild sei für den nächsten Tag als das einer Vermißten in den »Illustrovaný Kurýr« eingeschaltet, sie schluchzte über die Schande und brachte nur die Frage hervor: »Was – – für – eine – Bluse – hab' ich – auf – dem – Bild?«

Und Ruženka Müllerova? Zehn Jahre lang dachte sie darüber nach, warum in der deutschen Schule, die sie drei Wochen lang besucht hatte, als ihr Vater in ein deutsches Nest versetzt worden war, die Lehrerin jeden zu ihr gesprochenen Satz mit »Milerosa« eingeleitet hat. Verblüfft erfuhr sie von uns, daß das »Müller Rosa« heiße . . .

Kleine Olynka! Du sahst wie ein Porträt aus von Manets Meisterhand. »Wie ein Manet,« konstatierte jeder Maler, aber Olynka ließ sich das nie gefallen. »Du bist ein zehnmal ärgerer Manet als ich!«

Die Burschen aber, wer darf sie nennen, wer sie bekennen! Der Umsturz hat sie erhoben, Sektionschefs geschahen aus ihnen, Professoren, hohe Beamte, drei wurden Minister, wirkliche Minister, drei von den Teilnehmern des parodistischen Radiokongresses, dessen Schauplatz das Montmartre war. Und einer von ihnen hatte doch während jener Tagung noch die Habsburger geschützt, indem er dem Delegierten Jaroslav Hašek auf dessen Zwischenruf »Borg mir eine Krone« ex praesidio die feierliche Rüge erteilte: »Bitte, die Krone nicht in die Debatte zu ziehen.«

Sie war gut besucht, die Künstlerkneipe, die der Kabarettier Josef Waltner aus der Dirnenspelunke »Olympia« gemacht hatte und stand wirklich an geistiger Qualität der Gäste jener des Moulin de la Galette auf dem Pariser Montmartre keineswegs nach, glich sogar noch eher den Stammlokalen der Maler, Literaten und Studenten im Lateinischen Viertel, dem Bal Bullier z. B. oder der Closerie des Lilas. Sie war 401 beliebt, die Künstlerkneipe der Prager Altstadt, und das Gedicht, das Freund Karl Ernst Schlesinger »vom Montmarterpfahl« geschüttelt hatte, war nicht bloß richtiger Schüttelreime, sondern auch unanfechtbarer Wahrheiten voll: »Um 12 Uhr, zur Montmarter-Zeit, begegnet man manch zarter Maid, – Herr Waltner freudig harrt der Massen, die niemals das Montmarter hassen, – Hochadel und gelahrter Mob, sie singen des Montmarter Lob. – Erstaunen selbst Nick Carter müßte, – Wüßt er, wer im Montmarter küßte . . .«

Die Fortsetzung ist im Stammbuch nachzulesen, in das die besten jungen Dichter von hüben und drüben alkoholisch trunkene und erotisch sehnsüchtige Stimmungen abreagierten, die Maler Porträts und Szenen verewigten. Auch an den Wänden hingen kubistische Rebusse und futuristische Bilderrätsel, hier gerne an Zahlungsstatt angenommen. Und die Dichter schrieben auch außerhalb des Stammbuches Dichtungen, deren Schauplatz das Montmartre war, besonders der rotnasige Nobelkellner Hamlet, das Fräulein Revoluce mit ihren Tänzen und Tänzern wurden Helden von Novellen in seriösen Zeitschriften, von Zeitungsnotizen und Feuilletons. Auch gab es alljährlich ein gedrucktes Werk, das »Jahrbuch des Montmartre«, das von der Kunstdruckerei »Grafia« bibliophil ausgestattet, in dreiausend Exemplaren erschien, mit Beiträgen von Autoren des Nationaltheaters, von Preisträgern der böhmischen Akademie, Verfassern ernster Bücher, Redakteuren hochpolitischer Blätter. Aus dem Bande von 1914 muß hier, so peinlich mir das ist, eine Skizze wenigstens auszugsweise übersetzt sein, nicht bloß weil sie einen wichtigen Stammgast des »Montmartre« betrifft, sondern auch weil diese von dritter Seite stammende Schilderung ein dem Autor dieses Buches ausgestelltes Legitimationspapier darstellt, die Bestätigung seiner Zugehörigkeit zu den vorliegenden Abenteuern in Prag.

Der Titel der Skizze ist schwarz umrändert, und lautet »Za Egonem«, was sich im Deutschen etwa mit 402 »Nachruf für Egon« übersetzen ließe. Der Herausgeber des Jahrbuches setzte folgende Fußnote hinzu: »Egon, das ist Kisch, Egon Erwin Kisch, unser Kisch, der Egonek, was zur Erklärung für jene hinzugefügt sei, die im Prager Leben nicht versiert sind.« Der Nachruf selbst aber lautete: »Hiemit gebe ich allen Bekannten traurige Nachricht davon, daß mein lieber Egonek ins ewige nächtliche Jenseits abgegangen ist, wo man schon keinen »Šoůrák« mehr tanzt und keinen »Schlapak« zum Klang des Liedes von der »Schattigen Linde«, wo man, dem Himmel sei es geklagt, nur Schieber tanzt und ähnlichen Mist. Egonek ist für ewige Zeiten nach Berlin abgegangen. Es ist mir in diesem überaus traurigen Augenblicke, unmittelbar nach seinem Abgange in die ewigen Jagdgründe des weißen Gottes, unmöglich, die ganze Tätigkeit Egoneks in einem kurzen Nekrologe zu schildern. Facta trahunt: Egonek wurde einst in der Nähe des Montmartre geboren. (Allerdings war das Montmartre damals noch nicht entdeckt. Erst später als Christoph Holub [lat. Columbus] zu Waltner sagte: »Siehst du, Pepik, ich habe im Wacholdergäßchen ›Amerika‹ entdeckt, was wirst du vollbringen?«, erwiderte ihm Waltner: »Da werde ich eben den Montmartre entdecken, der ist gleich daneben.«)

»Was den Egonek anbelangt, hatte er schon jung, um weltmännisches Auftreten zu gewinnen, an festlichen Zusammenkünften der höheren Klassen sich beteiligt, in deren eleganten Lokalen, wie z. B. ›Beim grünen Frosch‹ (wo er Vorsitzender des Henker Mydlař-Stammtisches ist), ›Na zednickych‹, ›Zu den drei Sternchen‹, ›Na Kukliku‹, ›Tunnel‹ und ›Hundertjähriges Kaffeehaus‹, er sich durch sein schlichtes und vornehmes Wesen eine ganze Reihe uneigennütziger Freunde erwarb . . . Nach seiner letzten Entlassung aus dem einfachen, ohne besonderen Luxus eingerichteten Zimmer im Garnisonsgericht begab sich Egonek ins ›Hippodrom‹, wo er die Nacht vom 17. November auf den 15. Dezember verbrachte. Hier erhielt er den 403 Schönheitspreis für Männer und den ›Preis für besondere Beliebtheit bei Damen‹, und zwar mit einer Mehrheit von 83 Stimmen (größtenteils von toten Wählerinnen). Der Preis, ein silbernes Zigarettenetui, wurde ihm noch in derselben Nacht von Mademoiselle Renée Chocholoušek aus Nusle gestohlen. Am 15. Dezember wurde er endlich aus dem Hippodrom von der Polizeimannschaft hinausgetragen, trotzdem er sich gegen diese Ehrung mit Händen und Füßen wehrte. Das war in der Zeit, da man berühmten Persönlichkeiten die Pferde auszuspannen pflegte, und da die Polizei, Kisch's begeisterte Verehrerin, keine Pferde zur Hand hatte, spannte sie eben den Egonek selber aus. Von dieser Zeit an trieb sich unser lieber Junge ohne Beschäftigung in Prag herum. Als Waltner das Café Montmartre eröffnete, sprach Egonek das historische Wort, ebenso weise, wie treffend, das Wort, das in seiner Exaktheit und Lapidarität zu den glänzendsten Kundgebungen der Genies aller Zeiten gehört, eine Aeußerung, die epochal wirkte und den Ruhm Egoneks in ungeahntem Maße steigerte. Egonek sagte nämlich damals wörtlich: ›Na, endlich!‹

Von seinen gefeierten Werken seien angeführt: ›Der Vopičák-Tanz‹ (verfaßt gemeinsam mit Tonči Nechvátal, Verlag Montmartre, 1911), der Schlapak, ›Manina‹ oder ›Die Holleschowitzer Haide‹ (gemeinsam mit Jindra Roztocil, 1911), der ›Tanz der Paralytiker‹ (gemeinsam mit Manja Jesenska, 1912) und aus dem Jahre 1913 der ›Holleschowitzer Apachen-Tanz‹ mit Emtscha Revoluce (112. Auflage!) . . .«

In diesem Stile geht der Nekrolog weiter, später läßt der Autor, Arne Laurin, allerdings auch den menschlichen Eigenschaften des also »Gefeierten« Gerechtigkeit widerfahren. Es sind auch choreographisch ernste Artikel in den Zeitungen über die Tänze der Emtscha, gen. »Revoluce«, und ihres Partners erschienen, – – aber es sei genug. Das Montmartre zu feiern, die Bohême in Bohemia könnte nur ein mächtiges Werk, gegen das Strindbergs »Rotes 404 Zimmer«, Zolas »L'oeuvre« und Jägers »Christiania-Bohême« allerkitschigste Schmachtfetzen sein müßten. Und dieser Prager Bohêmeroman muß sich zu jenem Murgers so verhalten, wie der Pariser zum Prager Montmartre. 405

 

Lever der Stadt

Schon wieder ist's Tag geworden. Man registriert dieses Faktum, wenn man die Türe schließt und auf die Straße tritt. Da drinnen spielen die Zigeuner den Rákoczy-Marsch zum Abschied, aber die aufpeitschenden Zimbaltöne dringen nur gedämpft heraus und haben in der Morgenluft ihre faszinierende Wirkung eingebüßt. Man knöpft sich fröstelnd den Rock zu, entzündet die letzte »Prinzesas« und ist der Sonne gram, die schon wieder einmal über dem Wysotschaner Firmament aufgestiegen ist, bevor man noch zuhause im Bette liegt. Man flucht dem diabolischen Raffinement der Nachtlokalbesitzer, die in den sonst so verschwenderisch ausgestatteten Räumen keine Uhr anbringen. Man verflucht Wein, Gesang und Weib. Verflucht sich selbst.

Beim »Spinka« bleibt man stehen. Die ersten Elektrischen fahren auf, immer in einer Richtung von der Remise kommend, so schnell, daß man denken könnte, man wäre in Berlin oder sonst in einer Großstadt. Aber bekanntlich wird das Tempo immer langsamer und erst um Elfe abends, auf dem Wege zur Remise, erlangen die Waggons wieder Schnelligkeit. Vom oberen Wenzelsplatz kündigen große Staubwolken das Herannahen der Hygieia an, den stattlichen Zug Prager Straßenkehrer mit dem Zeichen ihrer Macht, dem Kehrbesen. Sonst ist der Platz menschenleer, auf den sich die Prager sonst so viel einbilden, weil er die Stelle ist, auf der sich das Großstadtgetriebe ent- und abwickelt, und weil er einen Inselperron hat wie der Potsdamerplatz. Auch das Kandelaber-Grandcafé fehlt schon beim »Spinka«, Punkt vier Uhr ist das geräderte Teehaus zur städtischen Sparkasse übersiedelt, wo es den Marktweibern, den Fuhrleuten, deren Helfershelfern und den 406 mächtigen Marktpolizisten einen heißen Morgentrunk kredenzt. Auch der Standplatz der Droschken ist verwaist. Nur der Polizist steht Tag und Nacht da; mißmutig wartet er mit heißem Sehnen auf den Missetäter oder mit noch viel heißerem auf die Ablösung.

Aus den Nachtlokalen tönt noch Musik, ersterbend. Der alte Fiala in seinem alten, abgetragenen Havelock, der nächtliche Wetterprophet, kommt vorüber. Um zwei Kreuzer prophezeit er den Gästen das schönste Wetter, um drei Kreuzer gibt er es sogar schriftlich; sein Stolz ist, daß er den Zusammenstoß des Halleyschen Kometen mit der Erde und ihrem Untergang mit derselben Bestimmtheit vorausgesagt hatte, wie die Sternwarte der Harward-Universität.

Die alte Frau da mit der alten Seidenmantille, die wohl auch einstens bessere Nächte gesehen hat, spielt den Gästen in einer Weinstube auf der oberen Neustadt bis früh zum Tanz auf; sie hat eine Familie zu ernähren und weiß nicht, ob der Erlös der Nacht ausreichen wird, aber sie darf sich ihre Besorgnis nicht anmerken lassen und muß das belebende Lied von den »Honey boys« immer wieder mit Verve spielen, muß immer wieder ihre Zündhölzchenkunststücke zum Besten geben und muß immer wieder den Pommery trinken, den ihr splendide Gäste widmen. Dort kommt im Laufschritt ein Einjährig-Freiwilliger. Vor drei Stunden konnte man ihn noch bei »Gogo« tanzen sehen. Aber welch eine Metamorphose hat er durchgemacht! Mitten in all dem Glanz und Flitter da hatte er blitzende Lackschuhe, elegante, hellblaue Kammgarnhosen mit Strupfen, einen tiefdunklen Waffenrock mit hohem Kragen und strahlenden Silbersternen und eine Mütze – die Vorschriftswidrigkeit selber. Jetzt aber ist der Glanz der Sterne verblichen, der der Schuhe verblaßt, der Kragen zusammengeschrumpft, die Mütze die Vorschrift selber, die Uniform hat ihre Buntheit eingebüßt und ist grau und fad wie der Morgennebel und wie der Staub, der in dichten Schwaden aus dem Besen der 407 Straßenkehrer emporwächst. Und der Blick des Marsjüngers, der um zwei Uhr nachts so stolz und sieghaft war, ist jetzt müde und neidisch, wie eben der Blick eines Soldaten sein kann, der nach durchjubelter Nacht zum Exerzieren auf den Sandberg eilt und einen Zechkumpan trifft, der jetzt ruhig schlafen geht. Dort kommt der alte Lederer, seit langem Detektivinspektor im Ruhestande. Aber er kann nicht schlafen. An vierzig Jahre hat er gelauert wie eine Spinne, hat er gefahndet und inspiziert, – nun kann er das Nachtwachen nicht mehr lassen und geht die ganze Nacht spazieren. Ein Gummiradler kommt vorüber. Valeska, die »Direktrice« des Moulin rouge fährt nach Hause. Gleich hinter dem Gummilutscher rollt ein schweres Gefährt durch die Gasse: Die Kanalräumer haben ihr nächtliches Tagewerk beendet.

Es ist die Stunde des Schichtwechsels. Ein Teil der Stadt geht schlafen, ein Teil der Stadt erwacht. Noch ist nicht Frühstückszeit und schon leiht die Sorge um den Mittagstisch den Gassen das Gepräge. Eine lange Kette von Landwagen, Geflügel als Passagiere. Hundegespanne mit Gurkenladung, riesige Streifwagen mit Kohlköpfen und Salat, die weißen Wagen der Dampfmolkereien, Bauersleute mit gemüsebeladenen Schubkarren, alte Weiber mit Schwämmen, Erdbeeren und anderen Waldfrüchten eilen der Altstadt zu. Sie bringen dem »Bauche von Prag« ihre Opfergaben. Die Weiber, die seit dem Abend unter den Lauben des Kohlmarktes auf dem Straßenpflaster zusammengekauert oder lang ausgestreckt geschlafen haben, stellen sich längs des Trottoirs hinter ihren Körben auf, in denen Obst und Pilze sind. Sie suchen die Ware in der Zeit von vier Uhr bis sieben Uhr früh loszuwerden, da sie innerhalb dieses Zeitraumes noch keine Marktgebühr zu entrichten haben. Deshalb ist in diesen drei Stunden die Ware billiger, die armen Proletarierfrauen, die reichen Gemüsegroßhändler und die noch reicheren Zwischenhändler decken schon jetzt ihren Bedarf. 408

Auf dem Altstädter Ring ist um diese Zeit Markt. Haben Hussiten ihre Wagenburg rings um die Statue der Mutter Gottes aufgerichtet? An hundert Gemüsewagen stehen hier mit vorgespannten Pferden und lassen drei Straßen frei, in denen sich das Kaufgetriebe abspielt. Es sind fast durchwegs Gemüsehändler, die einkaufen. Nur an der letzten Wagenreihe, die der Teinkirche am nächsten ist, drängen sich auch Frauen. Hier werden Kartoffeln feilgeboten und die Arbeiterfrauen müssen einkaufen, bevor in den Preis die Marktgebühr einbezogen wird. Punkt sieben Uhr rollen die letzten Wagen davon, der Platz wird gefegt, und die Prager, die erst jetzt erwachen und über den Ring gehen, haben jahraus, jahrein keine Ahnung, daß hier vor kurzem Jahrmarktstreiben herrschte.

Um diese Zeit neigt sich auch das wogende Leben, das von drei Uhr morgens ab in den Kaffeehäusern und Suppenstuben der Galligasse und der Rittergasse herrschte, seinem Ende zu. Hier sitzen die Damen der Halle im Lokale, in dessen Mitte, ganz wie im Orient, der Herd steht, und besprechen bei einer Tasse Kaffee, die 20 Heller kostet, und bei einer Wuchtel um 6 Heller die österreichische Agrarpolitik und ihre Einwirkung auf die Fleischteuerung. Vergleichsziffern aus alten, besseren Zeiten illustrieren diese politischen und wirtschaftlichen Enunziationen. Manchmal ißt man vielleicht auch eine »drštková polévka« dazu, was laut Ranks Wörterbuch deutsch »Kuttelflecksuppe« heißt. Na ja, Ranks Wörterbuch ist eben kein Kochbuch, und so kann darin nicht verzeichnet sein, welche Fülle geheimnisvoller Ingredienzien eine gewöhnliche Kuttelflecksuppe zu einer landesüblichen »drštková« stempelt. Die Schnapsbutiken sind voll von Leuten, die sich aus den zahllosen Fäßchen den bunten Lethe irdischer Unterwelt reichen lassen. Die Gassen beleben sich immer mehr. Bäckerjungen, Fleischergehilfen, die auf dem Rade aus der Holleschowitzer Zentralschlachtbank in den Laden fahren, 409 Nachtwächter, Plakatankleber und Zeitungsausträgerinnen sind die Passanten.

Schon wird der Posten eingezogen, der während der Nacht im »Alten Gericht« die Kasse des Steueramtes bewacht hatte. Der Hausmeister öffnet das Haustor, der Bedienstete der »Wach- und Schließgesellschaft« geht nach Hause.

 


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