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Zehntes Kapitel

Am Eingange ins Dorf, wo ein schmaler Seitenpfad von der Hauptstraße abführte, lag die Erdmannsdorfer Schicksenpenne, die Herberge für fahrende Frauen und Mädchen, die in ihren Geschäften mancherlei durch diese Gegend zogen. Ein altes, baufälliges einstöckiges Haus mit einem Nebengebäude, dessen oberes Stockwerk einen Tanzboden bildete, war der Schlupfwinkel für diese Töchter Evas, die teils wegen früher Fehltritte von ihren Eltern verstoßen, teils als elternlose Kinder der ehelosen Liebe ohne Heimat und Arbeit umherirrten. Verarmte Frauen mit ihren Kindern, die gleich der Liese sich von der Erregung des bürgerlichen Mitleides ernährten, Frauen, die mit Beerensuchen, Hopfenpflücken oder Erntearbeit sich eine Zeit des Jahres durchbrachten, um in der übrigen Zeit herumzuvagabundieren, Mädchen, welche mit jungen Handwerksburschen gemeinsame Sache machten und aus der Liebe zu diesen einen ärmlichen klingenden Lohn erwarben, verarmte, abgebrannte Bäuerinnen, die über Land zogen, um Arbeit zu suchen, Riesendamen und Wahrsagerinnen, welche sich nur auf Dörfern und in kleinen Städten sehen ließen, blinde, alte Weiber, die an den Straßenecken eine Drehorgel spielten und Mitleid erweckten, Hausiererinnen, die mit Strohdeckeln, schlechten Streichhölzchen oder Blumen und Kräutern an den Thüren erschienen und mit diesen handelten, um, im Falle man nicht kaufte, um eine milde Gabe zu flehen – sie alle, jeden Alters und hübsch und häßlich, sauber oder verwahrlost, schuldig und unschuldig, stiegen hier in der Schicksenpenne ab, um da zu rasten, für geringe Pfennige einen Kaffee oder Schnaps und ein Lager zu erhalten. Denn die meisten von ihnen nahm kein anderer Gasthof auf; sie irrten von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt, hielten sich vielleicht auch einmal länger in einer Gegend auf, wurden aber zumeist, wenn man sie nicht ins Arbeitshaus steckte oder in einem Krankenhaus unterbrachte, über die Grenzen der Bezirke und Länder abgeschoben, wo sie dann weiter suchen mußten, wie sie sich samt ihren Kindern durchbrachten.

Der Wirt, ein verkommener Mensch, der ehemals ein großer Häuserspekulant und Güterschlächter in Berlin war, aber sich dabei arg verspielt, hierauf in Hamburg ein Tingeltangellokal eröffnet hatte, welches er gleichfalls nicht halten konnte, hatte hier nun einen ruhigen Zufluchtsort vor der Welt gefunden, der ihn mit seiner Frau sogar recht behaglich ernährte. Augenblicklich herrschte besonders guter Verdienst, denn die anbrechende wärmere Zeit, zu welcher man in den meisten Städten Gruppen von Handwerksburschen und »armen Reisenden« mit ihren Bündeln auf dem Rücken einziehen und weiter wandern sah, hatte auch in die weibliche Kundenwelt eine allgemeine Bewegung gebracht. Die einen zogen zur Arbeit und zum Sommerverdienst bei den Bauern aus. Andere suchten Abenteuer, und da man in vielen Fabriken wegen des schlechten Geschäftsganges auch viele Fabrikarbeiterinnen entlassen hatte, so kam manches arbeitslose Fabrikmädchen wohl auch hier an, ungewiß, welchem Lebenslose es in die Arme fallen würde. Wenn der Abend niedersank, und oben auf dem Tanzboden die trüben Öllampen brannten, da schlichen denn auch von weit und breit dunkle Männergestalten über die Äcker heran, und bald darauf hörte man oben den Tanzboden dröhnen vom übermütigen Tanze der »armen Reisenden« und ihrer »Frauen« und »Bräute«, da wurde gelacht und gescherzt und manches laute Gelage gefeiert.

Hans Landmann, der durch Jette vor den Nachstellungen der Polizisten in diese Frauenherberge geflüchtet war und oben auf dem Boden schon einige Nächte auf einem Bündel Stroh verbracht hatte, welches ihm das mitleidige Mädchen hinaufgeschafft, saß allein im unteren Gastzimmer der Penne und flickte mit Zwirn und Nähnadel seine stark zerrissenen Beinkleider. Die Jette hatte ihm von der Wirtin Zwirn und Nähnadel besorgt, da sie selbst aber das Nähen nicht verstand, so hatte sie es dem vermeintlichen Schlossergesellen allein überlassen müssen, seine Kleidung, die ihm zerlumpt war, in Ordnung zu bringen. Um aber auch etwas zum gemeinsamen Haushalt zu thun, war das Mädchen, wie alle Tage vorher, schon früh ausgerückt, um die nötige Nahrung für sich und Hans auf den neuen Tag an gastlichen Thüren einzusammeln.

Auch die meisten anderen Mädchen und Frauen, die vorübergehend auf der Herberge hausten, waren schon ausgerückt zu ihren »Geschäften«, die fauleren aber lagen noch oben in ihren Betten oder kämmten und strähnten ihre langen Haare. –

Hans hatte den günstigen Zeitpunkt, da er allein im Zimmer war, benutzt, um seine Oberbeinkleider auszuziehen, sodaß er wie ein Schneider mit untergeschlagenem Beine auf einer Bank an der Wand hockte, nur mit Unterbeinkleidern, Rock und Weste angethan. Er flickte mit Ungeschick an einem großen Loche in dem Knie seiner Hose herum, suchte den Faden ins Nadelöhr zu schieben und fuhr zu seiner großen Verzweiflung wiederholt mit dem Faden vor dem Öhr vorbei. Er mühte sich lange ab und begann endlich vor Ungeduld zu pfeifen. Da der Faden immer noch nicht wieder richtig fassen wollte, so sank er endlich mit dem Ausdruck stiller Ermattung und Verzweiflung in die Bank zurück, während die halbgeflickte Hose traurig auf seinem Schoße lag.

Er betrachtete sich den schwarzberäucherten Raum, in dem er sich befand, und besann sich, daß er ja eigentlich, um Studien zu machen, hier war. Merkwürdig, das hatte er beinahe vergessen. Es fiel ihm ein, daß er in der Not der letzten Tage eigentlich gar nicht mehr mit Bewußtsein und Wissenschaft beobachtet hatte. Sein Notizbuch war ohne Aufzeichnungen geblieben; er hatte schier vergessen, warum er ausgezogen war, und welche bessere Vergangenheit hinter ihm lag. Er wunderte sich, wie schnell der Mensch sich an einen Zustand gewöhnt und in ihm aufgeht, wenn er ihn wider Willen erleben muß, und wie die Not des Augenblickes sogar das Gefühl des eignen Wertes verwischen kann.

Er betrachtete den großen Herd, der mit einem Rauchfang überdacht war, und sah mit Nachdenken die Kinderwindeln, die Nachthauben und Schnürleiber an, welche hier aufgehängt waren. Um den Ofen war eine ganze Station von ärmlichen, zerstoßenen Kinderwagen, mit und ohne Plane zusammengefahren, und ein witziger Kopf hatte deshalb auf den Rauchfang mit schwarzer Holzkohle geschrieben: »Haupthaltestelle für Ehestandslokomotiven«. Auf der Diele lag ein ausgerissener Frauenzopf, Zeuge irgend einer heftigen Scene, die zwischen zwei Töchtern Evas am Morgen stattgefunden haben mochte. An den berußten Wänden, die vor langen Jahren einmal weiß getüncht sein mochten, aber sah man rätselhafte Inschriften mit Rötel, Kreide und Kohle angebracht, Herzen, von Pfeilen durchbohrt, flammende Herzen und in riesengroßen Buchstaben die Inschrift: »Als Verlobte empfehlen sich der lange Hannes und die lahme Annaliese«. An der Wand gegenüber war in roten Buchstaben zu lesen: »Die Geburt eines munteren Stammhalters und Erben zeigen allen lieben Freunden und Verwandten hocherfreut an: Der helle Friedrich mit seiner Louise«. Hans konnte sich nicht enthalten, diese Anzeigen in sein Notizbuch zu kopieren. In kleinerer Schrift fand er auch noch folgende, mit Kreide geschriebene Empfehlung auf der anderen Wand: »Junge Witwe, Vermögen: ein gut erhaltener Kinderwagen und zwei Paar Strümpfe, ohne Anhang, wünscht sich baldigst wieder glücklich zu vermählen. Wirklich reelles Heiratsgesuch. Direktion Ehrensache. Anonyme Anerbietungen nicht berücksichtigt. Näheres durch Liese Leisegang, bis auf weiteres allda«.

Unterhalb dieser Inschrift standen zwei Harfen an die Wand gelehnt und eine Geige war daneben in den Fensterstock gelegt. Sie gehörten drei böhmischen Harfenschwestern, die gestern Abend angekommen waren, und, wie es schien, war eine dieser Harfenschwestern die junge Witwe, die auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege einen neuen Ehegemahl für die Weiterreise auf dem Pfade dieses Lebens suchte.

Hans hatte nicht ohne Erheiterung diese Inschriften gelesen und notiert und knüpfte weitere Betrachtungen daran über die Sitten und Gebräuche, welche in dem wandernden Bettelstaate herrschten, den er studierte, und wie da eigentlich alles ein umgekehrtes Spiegelbild der geordneten Welt war. Er besann sich, daß er seine Beinkleider flicken mußte, und begann von neuem den Zwirn einzufädeln. Es gelang über Erwarten, und wenn er sich auch ein paarmal, in Ermangelung eines Fingerhutes in den Finger stach, so schritt doch das Werk langsam und sicher vorwärts.

Heute wäre nun der Tag gewesen, wo er wieder auf das Polizeiamt in Neustadt hatte gehen sollen, um die Erfolge zu erfahren, welche man dort in der Verfolgung des Diebes seiner Papiere gehabt hatte. Er hatte es nicht gewagt. Er sagte sich, daß er an jenem Tage doch ohne Zweifel wegen öffentlichen Bettelns angehalten worden und von irgend einem Dämon in seiner Seele in die Flucht getrieben worden war. Auf dem Polizeiamt würde man ihn sofort wieder erkannt haben, und Unannehmlichkeiten mußten auf alle Fälle daraus entstehen. Er hatte einen falschen Verdacht auf sich geladen, und da er ohne Papiere war, so bestand die größte Wahrscheinlichkeit, daß man ihn vorläufig in Haft nahm, auch wenn aus Berlin die Bestätigung seiner Angaben eingetroffen war.

Er hatte es vorgezogen, statt sich diesen Unannehmlichkeiten auszusetzen, die ihm ja doch vielleicht in seiner Laufbahn schaden konnten, das gestohlene Geld einstweilen seinem Schicksal zu überlassen. Er hatte statt dessen einen Brief an seine Braut geschrieben, zu dem die Jette ihm die nötigen zehn Pfennige schenken mußte, ohne zu ahnen, daß er an eine Nebenbuhlerin gerichtet war. Hans hatte Emma gebeten, ihm, da sie seine Gelder verwahrte, eine größere Summe postlagernd unter der Chiffre H. L. 12., ohne Wertangabe nach Haidefeld, einem Städtchen sechs Stunden von Erdmannsdorf entfernt, zu schicken. Dort wollte er in einigen Tagen das Geld abholen und bis dahin in Gottes Namen die Jette für sich fechten lassen, bis er es dem Mädchen dann reichlich zu lohnen hoffte. Er ahnte nicht, daß sein Brief uneröffnet in Berlin liegen würde, da Emma keine Anweisung gegeben hatte, ihr Briefe nach Neustadt nachzusenden.

Hans blickte von seiner Arbeit auf und sah zum Fenster hinaus, als er draußen unerwarteter Weise das Gesicht Hasenklaus hinter der Scheibe hereinlugen sah. Dieser war nach verschiedenen Fahrten in der Umgegend in den letzten Tagen angekommen mit dem Briefe Emmas, in der Hoffnung, in der Frauenpenne einen sicheren Unterschlupf allen Verfolgungen gegenüber zu finden. Er war nicht wenig überrascht, als er das Opfer seines Raubes so friedlich, mit dem Nähen von Beinkleidern beschäftigt, drinnen auf der Ofenbank hocken sah, als wäre er ein wandernder Schneidergeselle. Mit der ihm eigenen Geistesgegenwart aber übersah er sofort die ganze Lage der Dinge und beschloß darnach zu handeln.

Als er bemerkte, daß Hans ihn erkannt hatte, fuhr er beruhigt mit dem Kopfe zurück, denn er hatte aus dem Blicke, mit dem der verkleidete Herr Privatdozent ihn ansah, erkannt, daß dieser nicht den geringsten Verdacht hegte, er sei der Räuber seiner Papiere. Er begab sich leise in den Hinterhof des Anwesens und trat dort durch die Thüre in die Küche ein, wo er die Wirtin beim Kochen fand.

Er begrüßte diese, die sich freute, den Gast nach längerer Zeit wiederzusehen. Nach einigen allgemeineren Reden übergab Hasenklau ihr den Brief mit den Worten:

»Da, edle Krone, ist übrigens auch ein Kassiber für den Schlossergesellen Finke, der ja wohl bei dir in der Stube drinsitzt. Er ist mir von einem Herrn übergeben worden. Ick habe einen triftigen Grund, ihn selbst nicht zu übergeben, ick will jetzt zu ihm in die Stube hineingehen und wenn ich ein Weilchen drin bin, dann rufst du Finke schnell in die Küche heraus und giebst ihm den Kassiber und sagst, eine Bote hätte ihn gebracht.«

Die Wirtin, die schon gewöhnt war, allerhand Geheimnisse mit Hasenklau zu haben, versprach zu thun, was er wünschte. Sie frug nicht, warum; es war Geschäftsgrundsatz, daß sie sich nie zu nahe einweihen ließ, je mehr sie allen Kundenstreichen willig Vorschub leistete.

Hasenklau ging wieder durch den Hof zurück um das Haus herum und zur Hauptthür herein. Er öffnete die Thüre der Gaststube, wo Hans saß, und ging diesem mit ausgebreiteten Armen entgegen.

»Sei mir gegrüßt, du Mann des hohen Lebens,« sagte er mit schauspielerischer Feierlichkeit. »Wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt, edler Finke und Vogelsteller? Daß wir uns hier wiedersehen, hätte ick mir in meiner Schulweisheit nicht träumen lassen.«

Hans mochte nicht recht mit der Sprache herausrücken und sein Mißgeschick vermelden. Er zuckte die Achseln: »Gott, man hat eben auch mancherlei erlebt,« meinte er.

Hasenklau nahm seine Hosen in die Hand, wendete sie nach allen Richtungen und meinte: »Na, die Weitchen scheinen auch viel erlebt zu haben, und ick glaube gar, du bist darüber zum Stichler Schneider. geworden, Finke. Hast ja ein recht gutes Stück Arbeit da gemacht!«

In diesem Augenblicke rief draußen die Wirtin hinter der Küchenthüre »Finke! Finke! Komm' mal schnell heraus. Ein Brief ist für dich angekommen!«

Hans sprang auf und wollte die Beinkleider schnell anziehen, um hinauszugehen. Hasenklau aber hielt sie in der Hand und sagte: »Mach schnell, mach schnell; sie hat einen Kassiber für dich; ich glaube, es ist eine ganz wichtige Sache.«

Hans ließ unwillkürlich die Beinkleider fahren und, aufgeregt über die Nachricht, sprang er, wie er war, in die Küche hinaus.

Das hatte Hasenklau beabsichtigt. Er blickte sich rasch um, ob auch die Thüre hinter dem Privatdozenten richtig zugegangen war. Als er sich davon überzeugt hatte, wendete er mit stiller Gelassenheit das Beinkleid in der Hand und murmelte: »Natürlich. Da hinein, der Mohr von Venedig hat seine Schuldigkeit gethan, der Mohr kann gehen.«

Er griff in seine Tasche und suchte rasch die Papiere des Privatdozenten hervor. Schnell und sicher schob er sie dann in die Tasche von Hans Landmanns Beinkleidern und trällerte dabei das Liedchen: »Letzte Rose du des Sommers«.

Er sagte sich, das sei der einfachste und natürlichste Weg, jeden Verdacht von sich abzulenken. Er konnte die Papiere hier doch nicht mehr brauchen; ein Hauptgaunerstück aber erschien es, wenn Hans eines Tages die Papiere in seiner eigenen Tasche fand und demgemäß nicht einmal behaupten konnte, daß man sie ihm entwendet habe. Jetzt mochte die Polizei kommen und ihn, Hasenklau, untersuchen, sie würde nicht den Schatten eines Papieres bei ihm finden. Er hatte jeden Verdacht von sich abgelenkt. Mochte der verkleidete Mann der Wissenschaft selber sehen, wie er sich darüber verantworten sollte, daß man seine eigenen Legitimationspapiere bei ihm fand.

Nachdem er das in der Eile erwogen und vollbracht, trat er an die Küchenthüre und rief: »Finke! Finke! – Du sollst mich hören stärker beschwören! – Finke!«

Hans hatte eben draußen den Brief erhalten und die Handschrift seiner Braut erkannt. Verwundert, daß er durch einen Boten abgegeben und ohne Freimarke war, zögerte er, ihn zu öffnen. Er vernahm die Stimme des ehemaligen Schauspielers hinter der Thüre und frug: »Was giebt's?«

»Finke, du hast deine Unaussprechlichen hier liegen lassen!« meinte der Schauspieler, indem er die Thüre aufmachte. Er hatte die Beinkleider auf der Bank liegen lassen, damit es den Anschein erweckte, als habe er sie gar nicht berührt.

»Na, denn gieb mir sie heraus,« sagte Hans, in Gedanken auf den Brief schauend; »ich finde, es ist hier etwas kühl.«

»Du ahnungsvoller Engel du!« versetzte Hasenklau, ging und schleifte die Beinkleider auf der Diele nach der Thür. Er warf sie in die Küche zur Thür hinaus, schloß letztere wieder und murmelte pathetisch vor sich hin: »Da lieg, Unseliger, verführt zu schwer gelöstem Liebesbande.«

Er setzte sich nun an einen Tisch in der Ecke hinten und packte aus Rock und Weste einige größere Banknoten, sowie Goldstücke und Silberthaler aus, die er verstohlen zählte, um nun einmal mit Muße zu übersehen, was er eigentlich auf seiner Rundfahrt mit Landmanns Papieren erobert hatte. Er konnte zufrieden sein. Er besaß gegen fünfhundert Mark, und er wendete die Scheine zärtlich in der Hand herum.

Wie es aber zu gehen pflegt, daß unrecht Gut nur selten gedeiht, so fühlte Hasenklau einige Sorge, was er mit so vielem Gelde anfangen sollte. »Zuviel, zuviel des teuren Mammons!« dachte er. Ein Teil davon soll und muß verjubelt werden, denn wenn man so viel Geld bei mir findet, kommt doch auch wieder der Verdacht auf mich. Denn daß ich rückständige Gagen aus früherer Zeit ausgezahlt erhalten hätte, das werden sie mir ja doch nicht glauben.«

Er seufzte und hob die Brust gegen eine Art von Beklemmung, die ihn erfaßte. »Ach, daß der Mensch nie aus den Sorgen herauskommt!« dachte er, indem er den Kopf auf die Hand stützte und den Arm auf den Tisch gestemmt die ausgebreitete Barschaft überblickte. »Aber dann, dann will ich in Ruhe das Meinige genießen und als Rentier leben.«

Er überlegte, daß wenn er jetzt hier auf der Penne in unmittelbarer Nähe von Landmann verblieb, auch am wenigsten der Verdacht auf ihn fallen würde, denn daß ein Dieb in unmittelbarer Nähe des Bestohlenen blieb, war wohl nicht gerade häufig der Fall.

Als Hasenklau sein Geld eingestrichen hatte, wunderte er sich, daß draußen in der Küche alles auffällig still geworden war. Was mochte wohl der Brief für den Privatdozenten enthalten haben?!

»Sieh da, sieh da, Timotheus! Seh' ich recht im Mondenscheine? Mein alter Freund Doktor Leberecht? Wie kommen Sie in diesen Tempel der Vestalinnen?!« Mit diesen Worten begrüßte der Schauspieler den Studenten, der mit einem Sacke voll alter Bücher in die Gaststube trat. Der hatte bisher noch gar keine Geschäfte mit seinem wandernden Antiquariate gemacht, denn all die gelehrten Bücher, die ihn so lebhaft interessierten, hatten die wandernden Kunden und die Bauern, bei denen er damit hausierte, nicht im mindesten angezogen. Er war daher ziemlich abgetrieben, und seine Hoffnungen, sich aus dem Pennenleben herauszureißen, waren schon einigermaßen geringer geworden. Er war erfreut, den Schauspieler hier zu finden, wo er einige Geschäfte zu machen hoffte, und sagte: »Sehe ich recht? Hasenklau – Orbassany?! Ich bin auf der Durchreise.«

»Mit diesem Sack voll alter Scharteken?!«

»Bitte sehr, Monsignore. Das ist kein Sack, das ist vielmehr mein Geschäftslokal, und diese Bücher sind nicht Scharteken, sondern das Antiquariat, Verlags- und Sortimentshandlung von Max Leberecht sen. Nachfolger.«

»Wie nun?!« frug Hasenklau mit großer Überraschung.

»Ach, weißt du, alter Kollege,« meinte Leberecht, indem er sich ermüdet an einem Tische niedersetzte, »es war doch ein Lungerleben, das meiner nicht würdig war. Ich will wieder ein nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft werden, ich will die Mälzerei aufgeben und, wie der Lateiner sagt, mich wieder herausmausern. Ich habe mir von meinen Fechterersparnissen diese Bücher gekauft. Es ist sozusagen der Grundstock meines Geschäfts.«

Er begann seinen Sack auszupacken und die Bücher vor sich auf dem Gasttische aufzulegen wie ein Jahrmarktsantiquar. Er suchte einige Bücher heraus, die ihm für Hasenklau zu passen schienen, und sagte:

»Hier, Kollege, ist z. B. ein seines Buch: heißt ›Die Ehre‹, und beweist, daß man eigentlich jar keene Ehre zu haben braucht. Was giebst du dafür?«

»Modern?« frug Hasenklau mit einer etwas verächtlichen Miene.

»Freilich, das Allerneueste.«

»Lese ich nicht,« entgegnete Hasenklau mit abweisender Gebärde. »Ick beschäftige mir nur mit klassischer Litteratur; und wat jeht mir die Ehre von anderen Leuten am? Ick habe ooch meine Ehre für mich. Schiller, Joethe, Lessing, Shakespeare lese ick noch, da kann man noch wat lernen, aber wer kann denn so einen modernen Dichter citieren? Es gibt ja gar keene geflügelten Citate in diesen Schriften, weil ihnen die nötige Lebensweisheit mangelt. Ick bin mehr für den Schwung und das Ideale.«

Leberecht zuckte die Achseln, als hätte er es schon erwartet, daß er auch hier kein Geschäft machen werde. »Das ist die ›Kritik der Vernunft‹« sagte er, »die will ich hier an eine Schickse verkaufen und ihr sagen, es wäre ein schönes Kochbuch und handelte vom Wurstmachen, weil drin gelehrt wird, wie man die ›Unvernunft‹, als da sind Blutwurst, Leberwurst und Schlackwurst, in lauter reine Vernunft schmackhaft zubereiten könne. Wenn ich's auf diese Weise nicht los werde, will ich's für ein Traumbuch oder Wahrsagebuch ausgeben, wo jedes Wort, das die Mädel nicht verstehen, eine Prophezeiung bedeutet, eine Chiffreschrift, welche sie enträtseln können, wenn sie das Buch nachts unter ihr Kopfkissen legen; am anderen Morgen wissen sie dann, was es bedeutet. Auf diese Weise werde ich die Bücher mit Profit los und später gründe ich vom Überschuß in Hamburg eine große Buchhandlung.«

»Aber Max, du wirst doch nicht? Du, der gewaltigste von aller Handwerks- und sonstigen Burschenherrlichkeit! Mensch, sage mir, wohin ist es mit dir gekommen?!« warf der verwunderte Schauspieler ein, dem diese Anwandlung von Solidität gar nicht gefiel.

Leberecht ordnete seine Bücher zum Verkauf und sagte mit einer Art von hartnäckigem Eigensinn: »Nein. Diesmal ist mein Entschluß unabänderlich. Kein Rückfall mehr. Und ein fliegendes Antiquariat ist für mich immer noch das beste. Ich lese nämlich alle Bücher erst selbst, und dann verkaufe ich sie außerdem noch mit doppeltem Profit. Sind diese hier mit Gewinn verkauft, so handle ich neue ein, bis ich einst in Leipzig oder in Stuttgart oder Hamburg eine große Buchhandlung mit Leihbibliothek errichtet haben werde, wo vom neuesten Roman gleich hundert Exemplare angeschafft werden. Denn ich bin ein self-made-man; ich habe es nur dadurch so weit gebracht, daß ich die Charakterstärke besitze, aus eigener Kraft mich zu dieser Stellung emporgeschwungen zu haben. Da, sieh! Kant, Hegel, Schopenhauer – das alles wird meine Bildung unterdessen vertiefen. Und hier sind lauter Bücher vom Zukunftsstaat, da kannst du erst 'mal sehen, wo eigentlich alle menschliche Entwickelung hinaus will.«

»Und was soll mit mir werden? Mit mir?!« begann hierbei Hasenklau jammernd zu fragen. Mit hohler Feierlichkeit frug er: »Weißt du auch, daß du mir mein Herz zerreißest? Ich werde vereinsamen und entbehre jeglichen Umgangs. Max, bleibe bei mir, geh nicht von mir, Max – es ist unmöglich –!«

Leberecht fühlte wohl, daß man ihn seinen guten Vorsätzen entfremden wolle; wieder begann der Kampf in seinem Herzen; wieder frug er sich, ob er nicht besser gethan hätte, mit den Visitenkarten des Neustädter Professors auf Kundengeschäfte auszugehn, statt hier mühsam nach einer bürgerlichen Beschäftigung zu streben, die er, wie er selbst fühlte, doch nur äußerst unpraktisch und dilettantisch anfaßte. Aber er wollte seine guten Vorsätze nicht so schnell aufgeben und erwiderte dem Verlocker mit einer einfach-edlen Gebärde: »Vergeblich. Ich habe gesiegt. Dies Leben liegt nun hinter mir.«

»Aber bedenke doch, alter Freund und Gönner,« versetzte Hasenklau aufgeregt, »wenn du das thust, so fehlt mir ja jede höhere geistige Anregung. Soll ich mit arbeitslosen Pechhengsten, Schuster. Pipendrehern, Zigarrenmacher. Fettläppchen, Tuchmacher. Flammern Schmiede. und Rollern Müller. zusammensitzen, soll ich mit entlassenen Kutschern und Pferdebahnkondukteuren, mit Kohlenarbeitern und arbeitslos gewordenen Setzerlehrlingen gemeinsame Sache machen? Soll ich mit dem Ausschuß aller Gewerke und Arbeitsklassen, soll ich mit den Schlachtopfern aller sozialen Nöte und wirtschaftlichen Krisen sowie Ausstandsbewegungen mir gemein machen? Ein Mann von Bildung muß doch seinesgleichen haben zum Austausch über Wissenschaft, Kunst und Politik. Ich brauche einen wirklichen geistigen Verkehr, und deine wissenschaftliche Bildung ergänzte so schön mein künstlerisches Ideal.« Hasenklau deklamierte diese Klage heraus, indem er mit großen Schritten im Zimmer auf- und abging. Jetzt blieb er stehen und fügte hinzu: »Und gerade heute, Max, heute, wo ich so gut bei Gelde bin. Da, sieh, was ich habe! Laß die Scharteken, trinke eins, heute muß was draufgehen!«

Er griff in die Tasche und legte mit einem kräftigen Handschlag drei Goldstücke auf den Tisch. Leberecht erschrak vor dem klingenden Ton und schaute neidisch auf das Geld.

»Was? Soviel Draht?! Du Glücklicher!« stammelte er, indem er von dem Gelde wegschielte, als könnten seine Augen diesen Goldglanz nicht vertragen. Mehr in sich selbst hinein, wie um sich zu bestärken in der Tugend, murmelte er aber: »Aber nein, ich werde nichts davon nehmen, selbst wenn man es mir böte –!«

Hasenklau warf einen Blick der erforschenden Menschenkenntnis auf ihn, griff in seine Westentasche, legte eine Banknote auf den Tisch, schlug heftig mit der Hand daneben und rief: »Und wenn alle Stränge reißen, so sage ich: Heidi! und lege dir diesen Fünfzigmarkschein auf den Tisch. Friß, Vogel, oder stirb!«

Die Versuchung war schwer. Leberecht zuckte es in den Fingern, das Geld zu nehmen. Aber er bekämpfte sich doch. Er zuckte ein paarmal mit den Achseln, wendete sich ab, um in seinen Büchern zu kramen und sagte mit Haltung: »Charakterstärke ist eben das, was den Mann von Bildung und Gewissen macht. Wer weiß, wo's her ist, das Geld.« »Gutes Geld! Gutes Geld!« verschwor sich Hasenklau hoch und teuer, indem er den Eidfinger aufgeregt erhob. »Nein, heute darfst du noch nicht heraus, heute bleibst du noch, heute bist du noch Mensch! heute genießest du noch ein freies, lichtes Dasein im Schoße der holden Sorgenlosigkeit, frei von Angst und Not, entbunden vom Joche der Alltäglichkeit, die in ihres Antlitzes saurem Schweiße, da wo die Könige bauen, die Kärrnerdienste des Lebens thut! Da nimm! Denn ich habe dir überdies noch eine höchst wichtige Mitteilung zu machen.«

»Eine wichtige Mitteilung?!« frug Leberecht. Und nach einer Weile, nachdem er einen neuen Blick auf das Geld geworfen hatte, meinte er schüchtern: »Sind das wirklich fünfzig Mark?!«

»Sauer erworben und gut gezählt,« bestätigte der Schauspieler, indem er ihm mit dem Handrücken das Geld zuschob.

»Na, denn laß deine Mitteilung hören,« sagte der Studiosus, indem er sich zurecht setzte. Hasenklau strich die Goldstücke ein und that, als wolle er auch den Schein wieder an sich nehmen; da griff Leberecht mit einer unwillkürlichen Handbewegung zu und legte seine Hand über die Banknote. Zögernd schob er sie dann wieder ein Stück von sich fort; endlich versenkte er sie aber doch scheinbar achtlos in seine Westentasche, und das leise Achselzucken, mit dem er es that, sprach die innere Empfindung aus, daß es für ihn doch keine Rettung mehr gäbe, und daß er wieder lieber zum alten Walzerleben zurückkehren wollte.

Die Mittagszeit war herangekommen, und es waren schon während diesen Verhandlungen mehrere Landstreicherinnen eingetreten, Mädchen mit verwogen auf ihren Zöpfen sitzenden Hüten, in schlechten Kleidern und Schürzen und nachschleppenden Röcken, Frauen mit Kopftüchern um das Gesicht, unter denen auch wohl manche Gewohnheitsdiebin sich befinden mochte. Das eigentliche männliche und weibliche Verbrechertum verkehrte hier zwar weniger. Die Mehrzahl war von denjenigen, die nur verarmt und heruntergekommen war, kleine polizeiliche Vergehen, allenfalls einmal einen Gelegenheitsdiebstahl auf dem Gewissen hatte und lediglich obdachlos und arbeitslos umherstrich. Einzelne faulere Mädchen waren von oben heruntergekommen, hatten sich nebeneinander auf die Ofenbank gesetzt, strähnten ihre Haare und halfen sich gegenseitig dieselben machen, stießen sich an, kicherten und tauschten ihre Bemerkungen über die Mannspersonen aus, die sich heute schon so früh hier einfanden, während sie sonst zumeist erst gegen Abend zum Tanzvergnügen kamen. Heinz Henning, der Schneider, war mit der Liese und ihren drei Kindern erschienen. Zwischen diesem heiteren Mann und der Frau schien ein schönes Verhältnis sich angeknüpft zu haben, denn sie gebärdeten sich wie bejahrtere, verständige Brautleute, welche die Absicht haben, einen gemeinsamen Hausstand zu begründen. Sie setzten sich mit den Kindern an einen Tisch, und, da sie heute gute Geschäfte gemacht zu haben schienen, so wurde bei der ab- und zugehenden Wirtin ein Mittagsessen bestellt, in dem sogar von Fleisch die Rede war. Zu ihnen setzte sich bald ein langes, hageres Frauenzimmer, das mit der Liese ein langes, geschäftliches Gespräch begann, in dem viel von den dabei sitzenden Kindern die Rede war. Man schien eifrig hin und her zu handeln; die lange Jule schien Bedingungen hören zu wollen, die Liese mochte diese zu hoch ansetzen, Henning, als Mann und besonnener Vermittler, schien allzuheftigen Streit durch weise Bemerkungen verhindern zu wollen. Darüber brachte die Wirtin das Essen in einer großen Schüssel, die lange Jule wurde eingeladen, mitzuhalten und einen Augenblick schwiegen die Verhandlungen, und die Löffel fuhren aus der Schüssel in den Mund.

Mit neidischen Blicken saß am anderen Tische die Kunstreiterfamilie Bill Will und kaute trockene Brotstücken, die sie erbettelt hatte. Der Beruf des Kunstreiters genoß bei den Bauern umher zu wenig Achtung; und wenn Bill Will seine wahre, jammervolle Leidensgeschichte erzählte, so erhielt er nur kärgliche »Miete«, denn er gehörte einem verachteten Stande an. »Ja, wenn ich ein heruntergekommener Weinhändler oder Offizier, ein verdorbener Advokat oder so etwas wäre, da würden sie mir wohl was anderes als trockne Brotrinden schenken, da kriegte ich Unvernunft und Fettigkeit genug und auch wohl 'mal eine warme Suppe! Aber als Kunstreiter! Was gilt heutzutage die Kunst und das Höhere!«, sagte er zu seiner ausgehungerten Frau.

»Na, denn mußt du eben als so etwas gehen!« meinte diese, indem sie an ihrer Rinde nagte und zur inneren Erwärmung einen Schnaps trank. »Dann mußt du eben den Bauern erzählen, du wärst ein verarmter Graf, denn brauchte ich hier auch nicht zuzusehen, wie andere warmes Gemüse essen.«

»Das würde mir meine Stellung und mein Künstlerstolz ein für allemal verbieten!« entgegnete der Kunstreiter mit einem strafenden Blicke seiner Gattin. »Mich für irgend etwas auszugeben, was ich nicht bin, das geht gegen meine Grundsätze.«

Der arme Bill Will büßte seine Grundsätze damit, daß man hier seinen näheren, gesellschaftlichen Umgang mied, da er als »Künstlerproletariat« unter so wohlhabenden Leuten, wie sie hier verkehrten, nicht für voll angesehen wurde. Auch er hatte, um vor polizeilichen Nachstellungen sicher zu sein, sich in dieses Haus verirrt.

Die Schicksen und Mädchen, die erst am Ofen gesessen hatten, waren jetzt an den Tisch getreten, wo Leberecht seine Bücher ausgebreitet hatte, und sie fingen an, kichernd und scheltend in den Büchern zu kramen, um sich mit Verwunderung die vielen unverständlichen Titel anzusehen. Die dicke Rosa, ein wildes und ebenso gefährliches Frauenzimmer, die mit allerhand Scherzen ihr Thun zu bemänteln suchte, stahl in der Eile einen zerlesenen Kolportageroman und verbarg ihn unter ihrer Schürze. Die lahme Anna blätterte in mehreren Büchern, bis sie heimlich Stirners Werk »Der Einzige und sein Eigentum« unterschlug und unter ihren Rockschlitz schob in der Meinung, »Der Einzige« das sei ein interessanter Liebhaber, dessen Geschichte sie interessierte.

Hasenklau nahm indessen Leberecht bei Seite, um ihm die besprochene wichtige Mitteilung zu machen.

»Also, du kennst doch Finke, den sogenannten Schlossergesellen. Der ist auch hier,« begann der Schauspieler geheimnisvoll.

»Was? Will er sich eine Frau suchen?!« meinte Leberecht. Denn das war ja gemeinhin die Veranlassung, um derenwillen die Kunden und »armen Reisenden« auf den Schicksenpennen sich einstellten.

»Nein, sicher nicht!« erwiderte mit schlauem Augenblinzeln der Andere. »Denn siehst du, ich habe jetzt auch herausbekommen durch geschickte Kreuz- und Querfahrten, weß Geistes Kind der edle Junker ist. Und nun rate einmal, denn daraus werden wir noch eine große Sache erleben und viel Kapital schlagen.«

»Ja, das ist schwer,« meinte Leberecht. »Elementenfärber ist er nicht, Roller nicht, denn er schmeckt nicht nach Mühle; ein Galgenposamentier ist er auch nicht, denn er sieht nicht aus, als könnte er Seile drehn. Ein Pflanzer könnte er wohl sein, denn er hat so neue Stiefeln wie ein Schustergesell; vielleicht ists aber nur ein Fackler, denn er hat die Hände eines schnöden Advokatenschreibers. Wie soll ich's wissen.«

»Na, denn höre einmal und staune!« sprach Hasenklau lauter. »Ein Mann ist er, der vom ehrlichen Leben anderer Leute hinterrücks mitlebt, eine Art Jack der Aufschlitzer, denn er schlachtet jeden lebendigen Menschen wissenschaftlich aus, der ihm hier in die Augen fällt, und kurz und gut, er ist weiter nichts als ein Schriftsteller, ein Privatdozent und Gelehrter. Er ist ein Dr. Hans Landmann aus Berlin und er reist, um ein wissenschaftliches Werk über die Walzerei zu schreiben. Also da kommen wir alle hinein, du und ich natürlich auch –!«

»Ei, die schwere Not der Zeit! Ein Federfuchser!« rief der Studiosus aus. Und als wäre jetzt auf einmal sein Entschluß reif geworden, schlug er Hasenklau auf die Schulter und sagte: »Na, da will ich doch noch eine Weile bei der Thürklinkenputzerei bleiben, den Finke muß ich mir mit Muße besehn; da will ich doch noch einmal bleiben, was ich war und sein werde!« Er sprang auf seinen Büchertisch los, fuhr mit den Händen hinein und warf rechts und links die Bände unter den Tisch, feuerte die »Kritik der reinen Vernunft« und Bellamys »Rückblick aus dem Jahre zweitausend«, gleichzeitig die Bücher ergreifend, über die Köpfe der Essenden weg hinter den Ofenherd, daß sie mit flatternden Blättern durch die Luft flogen und rief den Mädchen zu: »Da, Ihr Schicksen, da habt Ihr was! Lauter Traumbücher und Kochbücher, lauter gedruckter Hirnschweiß von allen möglichen irrenden Geistern die sich den Kopf zerbrochen haben über diese Welt und ihre Einrichtungen, und es hat alles nichts geholfen! Heute laufen wir noch gerade so herum und betteln dem Herrgott seine Gedanken ab, wie die Walzer und Fechter in der seligen Odyssee! Hier, ihr Mädels, hier ist sie, lest sie, die Geschichte von einem König, der als Fechtbruder in sein eigenes Königreich zurückkam und seinen eigenen Schweinehirten anbetteln mußte und hernach alle Schickseln in seinem Hause an Stricken aufhing, daß sie nur so zappelten. Hier ist das wahre Buch, das wahre Vademecum der Walzerei, wo ein König in Lumpen geht und alle diejenigen umbringt, die ihn nicht ordentlich mit Miete und Bettelgaben belohnten. Na, und wenn der das alles gethan hat und sich mit dem Fechtbruder Iros herumgeschlagen hat, warum sollte ich's nicht auch thun?!«

Er hielt ein Exemplar der Odyssee in die Höhe, die Mädchen drängten sich herum, endlich erwischte es die dicke Rosa und die anderen Schickseln stürzten sich nun wild auf die Bücher los, rissen sich darum, zerflederten die Bände, warfen die Stücke im Saal herum und begannen sich kratzend, schreiend und in den Zöpfen zausend einen tollen Streit um die einzelnen, ihnen preisgegebenen Bücher.

Hasenklau aber breitete seine Arme feierlich aus, da er sah, wie Leberecht alle guten Vorsätze fallen ließ und sagte, indem er ihn umarmte: »Immer, Max, immer bleibst du bei mir! Du bist der geborene Thürklinkenputzer! Bruder, wir sind wieder vereint!«

Unterdessen hatte Bill Will sich neben sie gestellt und neugierig den Eröffnungen zugehört, die Hasenklau über Hans Landmann gemacht hatte. In einem Tone, in welchem sich tiefe Kränkung mit dem Gefühle der Neugier mischte, frug er sehr laut:

»Was hat er gesagt?! Schriftsteller? Gelehrter ist dieser Unmensch, der sogenannte Finke?!«

Hasenklau legte den Finger auf den Mund und gebot ihm Schweigen. Die Sache müsse Geschäftsgeheimnis bleiben. Aber der Kunstreiter rief laut und im Tone erneuerter Kränkung:

»I, da könnte doch gleich eine alte Bombe platzen! Geschäftsgeheimnis! Er hat mich um mein ganzes Geschäft gebracht, seit er mir vorgeflunkert hat, er besäße ein Pferd. Darauf hatte ich meine letzte Hoffnung gesetzt, und wie die so grausam enttäuscht war, ist mir die Lust zum Arbeiten überhaupt verflogen, und ich bin moralisch so herunter, daß ich nie mehr aus diesem schlimmen Leben herauskann. Moralisch, das ist das Faule dran!« Die letzten Worte sagte er im Tone des höchsten Jammers. Mit schadenfroher Bosheit aber ging er in die Mitte der Stube und rief laut, daß es jedermann hören konnte: »Und darum sollen es alle wissen, die hier sind: Hört! Hört! Finke, dieser Finke ist überhaupt gar kein ehrlicher Walzbruder, sondern weiter nichts als ein ganz gewöhnlicher Schriftsteller, der unter falschem Namen geht, und von dem die Leute schon so wie so genug reden, denn er ist sogar bekannt geworden!«

Die letzte schreckliche Beschuldigung wurde mit erhobener Stimme wider den Abwesenden ausgesprochen, Henning, Sorger, der auch sich eingefunden hatte, und eine Anzahl der Mädchen sprangen neugierig auf und drängten sich um Hasenklau und Bill Will, höchst betroffen und zum Teil verschämt, daß ein solcher fremder Mann unerkannt unter ihnen umgegangen war und wer weiß was für Schwächen ihnen abgesehen hatte. »Was hat er gesagt? Was?!« murmelte man beklommen unter einander.

»Na, so rede doch wenigstens nicht so laut,« sagte Hasenklau unwillig, sonst hört er's draußen. Er wendete sich an diejenigen, welche ihn umringten und erzählte:

»Ach, ja, meine Verehrten, ich habe Ihnen leider die betrübende Mitteilung zu bestätigen, daß es dem unerforschlichen Schicksal in seinem allmächtigen Rate gefallen hat, Herrn Finke aus diesem Leben abzuberufen. Er ruhe sanft. Auferstanden aber ist er als der volkswirtschaftliche Schriftsteller Landmann aus Berlin, der weiter nichts will, als ein Buch schreiben, in das ihr alle miteinander hineinkommen sollt. Und du, Bill Will, natürlich zuerst.«

»Das verbitt' ich mir!« meinte der Kunstreiter, höchst peinlich berührt von dieser Aussicht.

»Ein Schriftsteller! meinte Henning verwundert. Na, das hab' ich ihm aber auch gleich angesehn, weil er immer so in der Tinte war.«

»Stichle nicht, Regierungsrat, bist doch nur ein Schneider,« redete der Schauspieler den letzteren an und, an die anderen gewendet, fuhr er fort: »Also, meine Verehrten, ick jebe Ihnen nun aber auch den guten Rat, nichts weiter zu sagen und gegen diesen Mann zu thun, als wenn Sie gar nichts wüßten. Comprenez-vous français?!«

Man fand diesen Vorschlag allgemein richtig, und jedes dachte darüber nach, wie es die veränderte Lage der Dinge gegenüber dem Nationalökonomen für sich ausnützen könnte. Insbesondere waren die Gemüter etlicher Mädchen in Sorge, was für Absichten der Mann eigentlich mit ihnen haben konnte, daß er sich unter ihnen bewegte, als gehöre er zu ihnen. Eine Schicksel fragte: »Was ist denn das, Volkswirtschaft?!«

»Nun, er will eben sehen, was das für eine Wirtschaft hier unter euch Volk ist, nehmt euch in acht!« erklärte Henning.

Sorger aber, der höchst betroffen war mit Rücksicht auf die Seiten seines Charakters, die er in dem Handel mit Jette Fremder vor dem Nationalökonomen entwickelt hatte, suchte sich über seine heimliche Angst damit hinwegzutäuschen, daß er renommierte und ausrief:

»Und die Jette muß er nun auch noch nehmen, das ist ein Hauptspaß! Hat er mit ihr angebändelt, so soll er sie nun auch heiraten. Und daß ihr der Jette nichts sagt. Die will immer was Bessres sein, und wenn sie dann hinterdrein mit einem Schriftsteller was erlebt, der sie im Stiche läßt, wenn sie ihn sich eingebildet hat, so ist es ihr zur Lehre!«

Dieser Gedanke gefiel den anderen Mädchen außerordentlich. Sie gönnten der Jette die Täuschung von Herzen, die sie mit einem Manne erleben mußte, der sich für etwas ganz anderes ausgab, als er wirklich war, und sie beschlossen das Ihrige dazu zu thun, um diese Enttäuschung zu einer möglichst großen zu machen.

Hasenklau verpflichtete von neuem alle zum Schweigen und ermahnte sie: »Also Geheimnis! Verkohlt soll er werden, daß es kracht, denn es ist eine Kühnheit sondergleichen, hier unsre Boudoirgeheimnisse auszustöbern und sie jedem Leihbibliotheksleser schriftlich preiszugeben oder uns zu wissenschaftlichen Objekten zu machen, die man wie ausgestopfte Vogelbälge ausstellt und wie Hirschkäfer mit einem Zettel darunter aufspießt. Er macht ja die reine Naturgeschichte aus uns. – Na, Bill Will,« sprach er schadenfroh an den Kunstreiter gewendet, »wenn du erst in det Buch hineinkommst mit deinem Pferd – du wirst eine schöne Rolle spielen.«

Sorger, Henning und Leberecht lachten schadenfroh über den Kunstreiter, waren aber alle drei voll heimlicher Sorge, was der Gelehrte etwa Anzügliches über sie schreiben könnte, so daß ihr Gelächter etwas kleinlaut endete. Der Kunstreiter aber lief aufgeregt umher in großer Angst, seine Privatverhältnisse könnten durch den Verrat des Schriftstellers in weiteren Kreisen bekannt werden, und rief: »Das ist zu gemein! Einen armen brotlosen Kunstreiter in ein Buch zu bringen! Himmel, macht mich nicht giftig – ich kann so etwas gar nicht vertragen!«

Die Kunden und Schicksen standen aufgeregt beisammen und erörterten des weiteren den bedenklichen Fall, machten ihre Glossen darüber und neckten sich mit den Aussichten, die ihnen aus demselben erwuchsen.

Die lange Jule und die Liese waren unterdessen über ihren Fall handelseinig. Jule sprach jetzt so laut, daß Hasenklau den Gegenstand ihrer Unterhaltungen erraten konnte, als er die Worte hörte:

»Na, Liese, dabei bleibt's also. Du borgst mir Deine Schrabbiner, den Fritz und die Grete, zum Betteln für drei Tage. Ick jebe dir fünfundzwanzig Prozent von allen Einnahmen, dafür kann ick aber mit den Kindern machen, was ick will: Ich kann sie als meine Kinder ausgeben, ich kann sie allein schicken, ich kann sie auch in die Hand schneiden, und ihnen Verwundungen beibringen, wie ick will, daß sie besser ziehen bei den Leuten, ohne Schaden für die Gesundheit. Aber dabei bleibt's!«

Die Liese nickte; ihr Töchterchen, die kleine Grete aber sprang fröhlich vom Tische auf, tanzte herum und klatschte in die Hände und rief:

»Ei, ei, wir werden verborgt! Die Mutter verborgt uns an die lange Jule, da können wir mit der betteln und schmal machen!«

Und Fritzel tanzte nicht minder erfreut um die Grete herum und rief:

»Und einen neuen Vater haben wir auch wieder, den Herrn Henning, der ist aber mit der Mutter gut.«

Der Liese war es ganz recht, daß sie dieses Geschäft mit ihren Kindern machen konnte, da sie mit Henning allein zu sein wünschte, um den neuen Ehebund zu schließen, der sich ganz unerwartet und schnell in einem Heuschober angeknüpft hatte, in welchem Henning die Liese am vergangenen Tage mit ihren Kindern getroffen. Die Jule nahm die beiden Kinder an die Hand und wollte auch sofort mit ihnen aufbrechen. Hasenklau aber, der den Handel vernommen hatte, trat dazwischen und rief vermessen über die ganze Stube:

»Nichts da! Heute nicht! Heute steigt niemand auf die Fahrt! Heute müssen alle Schicksen dableiben, heute gibt's ein großes Fest mit Tanzvergnügen und das richte ich aus. Heute laß ich was springen! Ich gebe einen Lumpenball. Wer lacht da?!« –

Er erklärte, daß er in Zeiten, da er in München und Wien gewalzt habe, an diesen Orten zur Karnevalszeit sogenannte »Lumpenbälle« gesehen habe, wo Maler und seine Herren sich als Fechter und Walzbrüder verkleidet und auf diese Weise lustige Bettelmannsbälle abgehalten hätten. Er erzählte, daß diese Lumpenbälle dort jährlich einmal stattfänden, er habe auch an einem teilgenommen und sich gar nicht erst zu verkleiden brauchen. Kein Mensch habe ihm angemerkt, daß er ein wirklicher Fechter unter lauter nachgemachten Lumpenkerlen gewesen sei. Hasenklau schien sehr stolz darauf und rief wiederum, indem er Geld auf den Tisch warf:

»Also, alle dableiben, ihr Mädel!« Er wendete sich an die Wirtin und sagte: »Sie da, edle Krone, ich bestelle für alle Anwesenden und alle, die heute noch kommen, ein Festmahl, und wenn's mich hundert Mark kostet. Ich habe schwer Draht. Alles bar. Machen Sie in Ihrer Küche frische Polizeifinger, Möhren. Feldhühner, Schwimmlinge, alles was schmeckt und dazu einen richtigen Braten und zwar oben im Tanzsaale, da gehen wir dann alle hinauf. Und hinterdrein Schieberling, denn ohne Kuchen, ohne Schieberling thun's die drallen Mädel ja doch nicht. Und Soroff, Bier und Wein her oder wir fallen alle um.«

Er zeigte der Wirtin einen Hundertmarkschein, und diese lief eilig in die Küche, um alles, was sie vorrätig hatte, sogleich zu dem großen Balle mit Mahl herzurichten. Die Schickseln und Frauen aber umfaßten sich, tanzten herum und riefen durcheinander: »He, Schieberling, Schieberling giebt's! Und getanzt soll werden, daß die ganze Lüneburger Heide wackelt!«

Sie waren im tollen Übermute zu einem Knäuel zusammengedrängt, als die Jette mit einem vollen Korbe am Arme von ihrer heutigen Fahrt ins Zimmer trat. Mit ihr kam ein junger Barbier, der sein Barbierbecken und Rasierzeug hinten auf sein Felleisen aufgeschnürt hatte und daher sogleich kenntlich war. Er sah sich etwas schüchtern um, denn er schien noch nicht auf eine solche wilde Mädchenherberge geraten zu sein, und setzte sich verwundert an einen Tisch, die Jette aber blieb in der Thüre stehn, und da sie sich, im Gefühle ihrer Liebe zu ihrem Schlossergesellen in einer poetisch gehobenen Stimmung fühlte, so sprach sie unter die Mädchen hinein:

»Na, ihr tanzt aber schön herum. Gerade wie die Elfen im Mondenschein, wovon man doch das Elfenbein gewinnt, wenn eine det Been gebrochen hat. Was ist denn los?!«

»Hab' ich's nicht gesagt?!« antwortete ihr Hasenklau mit einer Anstandsverbeugung. Die Jette hat manchmal sogar Geist, wenn sie nichts getrunken hat. Einen Ball gibt's, Jette – hochfein!«

»Jawohl, Jette,« sprach die Frau Liese, indem sie sich wichtig vordrängte. Es ist zu deiner Hochzeitsfeier, 's ist bloß wegen dir.«

Das Mädchen blickte sich betroffen und beklommen um. Alle machten die ernstesten und glaubwürdigsten Gesichter. Jette, von einer glücklichen Ahnung erfaßt, senkte die Augenlider und meinte verschämt: »Ach nee, das ist ja Unsinn.«

»Nein, nein, Jette,« sprach die Liese noch eifriger, boshaft triumphierend, als sie die Leichtgläubigkeit des Mädchens sah. Heute machst du mit Finke Hochzeit. Er hat's vorhin gesagt, er will dir nun endlich heiraten, denn ein langer Brautstand ist ja doch nie gut. Hasenklau richtet die Hochzeit aus.«

Jette erschrak heftig über diese Worte. Sie zitterte so sehr vor heimlicher Freude, daß sie ihren Korb vor sich niedersetzen mußte auf die Bank. Sie blickte sich wie im Traum entrückt um und frug: »Nee?! Is et wahr? Das hat Finke gesagt?!«

Alle anderen Mädchen bestätigten mit großem Eifer die Sache, und die Liese, welche heimlich den anderen ein Zeichen gab, sagte mütterlich: »Nu, freilich, Jette.«

Die Jette sah sich nochmals wie eine Traumverklärte im Kreise um. In ihren Augen glänzte es wie ein überirdisches Glück, das sie aus ihrer Armut in eine bessere Welt zu erheben schien. Aber gleichzeitig ging ein Ausdruck wie stille Verzweiflung über ihre Augenbrauen, als sie leise die Hände ringend sagte: »Ach nee, ach nee, das ist nicht möglich!« Plötzlich schluchzte sie bitter auf, sank sitzend auf die Bank neben ihren Korb, verbarg die Augen unter ihren Händen und klagte weinend mit erstickter Stimme: »Ach, daß mir das geschehen könnte, dazu bin ich doch ein viel zu armes, dummes Tier!« Ein solcher Jammer klang aus ihren Worten, daß alle still umherstanden und nichts zu sagen wagten. Dann fing sie wieder heimlich unter ihren Thränen zu lachen an und flüsterte halb vor sich hin: »Nee, is denn wirklich wahr? Heiraten will er mich? Und gleich jetzt! O Jotte doch, det Leben is doch zu schön! Und wenn's nicht wahr wäre, da möchte ich am liebsten doch gleich ins Wasser gehen in meinem Elend!«

Sie sah wieder mit einem scheuen Blicke tiefer Verzweiflung auf, als der Gedanke ihr kam, sie könne getäuscht sein. Hasenklau aber konnte den Jammer nicht recht ansehen; er wischte sich heimlich die Augen und sagte milde: »Na Jetteken, Jetteken, beruhige dich nur!« Er schüttelte den Kopf und sagte mit einem Ausdrucke, der tiefes Herzweh zu verkünden schien: »Ach, laßt mich, laßt mich! Ick habe ein so weichet Jemüt!«

Liese warf ihm einen mißbilligenden Blick zu, schien aber doch auch ein Bedürfnis zu haben, die Jette zu trösten, denn sie sagte, als wäre sie über sich selbst gerührt: »Na, siehst de, Jette, wenn er dir jetzt auch nur zu seiner Kundenfrau nimmt, später macht er dir ja wohl zu seiner Frau Meisterin, und dann bist du ja wohl wat viel Jroßartigeres, als ick mit meinen verflossenen Männern!« Die anderen Mädchen stießen sich bei diesen Worten heimlich an und versammelten sich näher um die Jette. Diese aber, von plötzlicher neuer Seligkeit erfaßt, sprang auf, faltete innig die Hände, erhob sie und sprach leidenschaftlich: »Wenn ick ihn nur habe! Wenn ick ihn nur habe. Mir ist alles jetzt einerlei! Meisterin oder nicht. Wenn er mir nur will, denn bin ick auch seine Frau, denn er ist der beste Mensch, der jemals in Mannsstiebeln gegangen ist und viel zu gut für diese schlechte Welt! Er soll mich nehmen, wie er mich auf der Straße findet, ick thue allens, wat er will!«

»Na, Jette, denn mußt du dir aber auch 'n bisken auffrisieren. Geh nur hinauf auf den Boden und zieh' dein Brautkleid an, wenn du eins hast. Nachher kommst du herunter auf den Tanzboden, da wird die Hochzeit gefeiert.« Die Liese glaubte mit diesem Rate das schadenfrohe Vergnügen noch zu steigern, wenn dann am Ende der Schlosser gar nicht daran dachte, das Mädchen zu nehmen.

Jette strich sich die Haare aus der Stirn zurück und meinte leise: »Na, 'n bisken will ick mir herrichten; man sieht doch gleich besser aus.« Sie wendete sich glückstrahlend an die Jule und frug: Jule, gehst du mit?!« »Na, freilich, Jette,« erwiderte die lange Jule mit einem tückischen Ausdrucke. »Ich bin die höhere Kammerjungfer; die Brautjungfer.« Sie sah sich etwas dumm im Kreise um und suchte ihren Gefühlen über die ganze Angelegenheit mit einem zweifelvollen: »Nee – so was!« den entsprechenden Ausdruck zu verleihen.

Jette aber nahm sie bei der Hand und hieß sie mitkommen. »Ach, det Jlück, ach, det Jlück!« flüsterte sie selig und innig vor sich hin. Nun werde ich ja wohl in ein besseres Leben versetzt und aus der Hölle herausgeholt, worin mir der Herrgott herabgestoßen hat, mich armes Frauenzimmer. Komm, Jule.«

Und damit gingen beide aus der Stube und stiegen nach dem Boden hinauf, um sich aus allen möglichen Läppchen ein passendes Brautkleid zurechtzustutzen.

Es war ein Stillschweigen entstanden, als Jette das Zimmer verlassen hatte. Alle fühlten unbewußt das Elend ihrer eigenen Lage, aus der sich das betrogene Mädchen so schmerzlich heraussehnte. Sie vergaßen ihre Scherze und mochten sich gegenseitig nicht recht ansehen, um nicht die Lumpen zu bemerken, die ihnen am Körper hingen. Hasenklau hatte, trotz aller schauspielerischen Verflüchtigung seines Gemütslebens eine Empfindung, als sei er wirklich in eine Hölle herabgestoßen oder als leide er die Qualen des Tantalus, um den goldbäckige Äpfel hingen, die er nie zu erreichen vermochte. Leberecht saß stumm in einer Ecke und stützte den Kopf in beide Hände. Der Jammer des Mädchens war ihm ein Bild seines eigenen Hoffens, aus dieser Welt erlöst zu werden, wozu seine eigene Kraft nicht ausreichte. Eine Weile herrschte eine traurige, jammervolle, schweigsame Stimmung in der schwarz beräucherten Herberge; wie die Schattengestalten der homerischen Unterwelt hockten die Armen beisammen, stierten leblos und vertrauert vor sich hin und empfanden den ganzen Jammer, Ausgestoßene und Verachtete der menschlichen Gesellschaft zu sein.

Da war es denn eine Erleichterung der allgemeinen Stimmung, daß Sorger sich an den jungen Barbier heranmachte, der eben sein Bündel aufschnürte und ihn frug: »Kenn Kunde! Na, was bist denn du für einer?!« »Doktor, Medizinalrat. Ich gehe in neue Stellung über Land; zuletzt war ich in einem Bäckerladen in Halberstadt und will hinüber nach Quakenbrück an der oldenburgischen Grenze. Ich fechte mich 'mal durch zur Probe.«

»Heidi! Der Verschönerungsrat ist da!« rief Sorger in die Hände klatschend. »Na, weißt du was, da kannst du mich gleich 'mal rasieren, Doktor. Wir feiern ein Fest. Da soll's reinlich hergehn.«

Leberecht kraute sich im Backenbarte, stand auf und meinte, aus seinem stumpfen Hinbrüten erwachend: »Muß einmal das Terrain bloßlegen, um die feindlichen Truppen auf offenem Felde zu überraschen. Kannst mich auch abholzen.«

»Und mich auch!« rief Bill Will.

Hasenklau aber rückte sich sogleich einen Stuhl in die Mitte der Stube, setzte sich darauf, hielt den Kopf zum Rasieren hin und deklamierte: »Na, denn schlage deinen Schaum, empörte Meeresbrandung. Unterwasche dieses Eiland, denn eins thut not. Du bist auch zum Feste geladen, Verschönerungsrat.«

»Na, denn los,« meinte der Barbier, froh, hier gleich einigen Verdienst zu finden. Er schlug den Schaum in seinem Becken zurecht und begann sein Rasiermesser auf dem Leder zu schleifen. Leberecht, Sorger, Bill Will und Hasenklau setzten sich Stühle in die Mitte der Stube, ließen sich darauf nieder und warteten mit schräg gehaltenen Wangen, daß der Barbier sie einseifen sollte. Dieser begann damit, Henning in einen dicken Mantel von Seifenschaum einzuhüllen. Als Fritzel, das hoffnungsvolle Söhnchen der Liese, diese Veranstaltungen sah, stellte auch er sich einen Stuhl neben Henning hin und setzte sich darauf. Der Barbier frug ihn: »Was willst du denn, Kleiner?!«

Fritzel hielt sein Köpfchen schief und sagte ernst: »Ich will auch rasiert sein.«

Unterdessen saß draußen im Hofe Hans Landmann auf einem Hackeblock und starrte wie ein Träumender, den Kopf schüttelnd vor sich hin. Der Brief seiner Braut hatte ihn mit tiefer Verzweiflung erfüllt. Er konnte nicht begreifen, wie es möglich war, daß sie ihm so plötzlich die Verlobung aufkündigte. Beim ersten Lesen des Briefes hatte er zwar den Entschluß gefaßt, einen Schritt zur Wiederversöhnung zu thun, denn er war sich nicht bewußt, eine Schuld zu tragen. Aber je mehr er über der Sache nachgrübelte, desto mehr schien ihm in der Verkettung seines Mißgeschickes die Trennung von Emma unabwendbar. Die Erlebnisse der letzten Tage hatten ihn mit der Vorstellung erfüllt, daß er wider Willen aus der bürgerlichen Gesellschaft ausgestoßen war, und daß alles zusammenwirke, um ihn in jenes Leben vollends hineinzuwerfen, das er ursprünglich nur hatte studieren wollen. Aber indem er es studierte, erlebte er es auch, und der Ernst dieses Lebens übte eine dunkle Gewalt über sein Gemüt aus. Das Bewußtsein, er habe gebettelt aus wirklicher Not, die seltsamen Vorwürfe, die er sich darüber machte, daß er so nahe an einem Diebstahl gewesen war, drückten auf seine Stimmung. Eine tiefe Teilnahme für die Jette, welche nur in der Sorge für ihn aufging, schlief unbewußt in seinem Inneren. Tiefe Teilnahme auch für das Elend und das Mißgeschick all der Unglücklichen, unter denen er lebte, hatte sich seiner bemächtigt, die mit einer gewissen stumpfen Verzweiflung sich in ihm äußerte, ja, wie eine Gemütskrankheit sich in ihm festnistete. Er hatte eine Art Widerwillen am geordneten bürgerlichen Leben, am Staate, am ganzen Getriebe der modernen Kultur mit ihrer erbarmungslosen Reibung der Kräfte, daß er sich im stillen fürchtete, wieder in die alten Verhältnisse zurückzukehren. Der Brief Emmas aber schreckte sein Gemütsleben dermaßen zusammen, daß er nur mit Beängstigung daran denken konnte, wie es werden sollte, wenn er wieder in sein Amt, seine Stellung, in die Welt zurückkehrte, die ihm ohne Emma entsetzlich öde und leer erscheinen würde. Um so öder und leerer, als der Brief seiner Braut eine große Herzlosigkeit zu verraten schien. Wie schnell hatte sie den Vorwand, daß er es mit einem Mädchen aus dem Volke halte, benutzt, um ohne Verteidigung ihm sofort das Brautverhältnis aufzusagen. Eine große, kummervolle Öde blieb in seinem Herzen zurück, und seine Furcht, nun, da er Emma verloren hatte, ein freudloses Leben in einem freudlosen Berufe führen zu müssen, wuchs so stark an, daß er sich lieber willenlos dem Leben unter den Unglücklichen überlassen wollte, mochte daraus werden, was da wollte. Er verliebte sich in den Gedanken, daß auch er zu den Ausgestoßenen, den Überzähligen, den Schiffbrüchigen gehöre, er suchte Trost darin, unglücklich mit den Unglücklichen zu sein, und glaubte den Sinn der Lehre zu verstehen, welche Weltentsagung und ein Leben in Armut verlangte. Er erfuhr an sich, wie das Elend eine magnetische Kraft der Heranziehung hat, wie es denjenigen, der sich ihm nähert, mit hundert Fesseln der Liebe und des Erbarmens in sich verstrickt, weshalb der Glückliche und Besitzende es auch instinktiv meidet und sich fern hält. So gemütskrank fühlte sich Landmann, daß er beschloß nicht nach Berlin zurückzukehren und Emma aufzusuchen, sondern das Schicksal hinzunehmen, wie es kam, und sich willenlos vom Zufall treiben zu lassen. Er wollte mit der Jette, die ihm verklärt erschien im Lichte christlicher Milde und Selbstlosigkeit, weiter wandern in unbekannte Gegenden, nur damit er vergessen konnte, vergessen auch all das, was ihn an die eigene Braut gefesselt hatte. Und wenn er in dieser Sucht nach Selbstlosigkeit sein eigenes Selbst gänzlich verloren hätte, wenn er der Welt gänzlich verloren ging und ihr verscholl, es dünkte ihm Trost in seinem stillen Leiden, seinem wundersamen Jammer über die Menschheit, über all das Elende und Traurige, was er gesehen und annähernd auch selbst erlebt hatte.

In solcher Stimmung erhob er sich endlich, um wieder ins Gastzimmer zurückzukehren. Eine Stimmung der Selbsterniedrigung hatte sich seiner zu alledem bemächtigt, im Hinblick darauf, daß er sich von Jette erhalten ließ und erhalten lassen mußte, weil er wohl sah, daß es nicht seine Sache war, wie ein Bettelmönch die Gaben der Mildthätigkeit zu sammeln. Er erhob sich mit dem Gedanken, sein inneres und äußeres Mißgeschick vertrinken zu wollen. Ein paar Gläser Schnaps, hoffte er, sollten ihm die stille Verzweiflung wegen Emmas Brief überwinden helfen, und so trat er trübsinnig in das Gastzimmer, wo die eingeseiften Kunden im Kreise saßen und die wohlthuende Wirkung des Rasiermessers erwarteten.

Als er eintrat, entstand eine eigentümliche Stille im Zimmer. Alle brachten sich zum Bewußtsein, daß der Eintretende nicht ihresgleichen war, sondern nur den Zweck hatte, ihr Leben und ihr Thun auszukundschaften. Man warf sich verständnisvolle Blicke zu, man räusperte sich und fühlte sich von einer gewissen Scheu erfüllt, sich so natürlich und ungezwungen gehen zu lassen, wie man es bisher gethan. Bill Will stand verlegen von seinem Stuhle auf, als trete ein hoher Herr ein, den man ehrerbietig begrüßen mußte. Hasenklau bemerkte das und rief, als mache er sich nicht das mindeste aus dem Eingetretenen: »Na, was habt ihr denn? Was steht ihr denn auf, ihr Dummriane? Ihr thut ja, als wäre Finke ein königlicher Leibdiener oder so etwas, und er ist ja doch bloß ein armer Schlossergeselle.« Die Kunden sahen sich einander an und warfen sich verständnisvolle Blicke zu, um nicht zu verraten, daß sie in Landmanns wirkliche Absichten eingeweiht waren.

Hans wollte sich ein großes Glas Branntwein geben lassen, sah aber ein, daß er kein Geld dazu hatte. Sein Bedürfnis nach einem Vergessenheitstrunk war indessen so groß, daß er mit einem Gefühle gesteigerter Selbsterniedrigung einen Stuhl hinter Hasenklau rückte, sich darauf setzte und den Schauspieler leise auf die Schulter klopfte.

»Na, was denn, Finke?!« frug dieser, indem er den eingeseiften Kopf gönnerhaft zurückwendete.

Hans suchte etwas verlegen um einen passenden Vorwand: »Es ist eben so eine Sache. Mein Geld ist mir immer noch nicht nachgeschickt.«

»So, so,« meinte der Schauspieler bedächtig.

»Aber ich denke, ich muß in diesen Tagen neues bekommen von zu Hause,« fuhr Landmann fort.

»Na, wird schon 'mal kommen,« sagte Hasenklau.

»Du, Hasenklau, kannst du mir nicht fünf Neugroschen leihen?« bat der Privatdozent sehr leise.

Hasenklau machte eine abwehrende Geberde. »Fünf? das ist ein Kapital.«

»Nur bis mein Geld kommt. Wenigstens drei, vier –«

In diesem Augenblicke kam die Reihe des Rasierens an Hasenklau. Während der Barbier sein Messer neu wetzte, griff der Schauspieler in seine Westentasche und reichte mit einer herablassenden Gebärde dem Gelehrten ein Geldstück. Und während der Barbier begann von seiner Wange den Seifenschaum zu schaben, meinte er:

»Da hast du eine Mark. – Es liegt so in meiner Natur, weißt du, daß ich, wenn ich einmal gebe, gleich ordentlich gebe. Im Grunde habe ich ein weiches Gemüt. Als Schauspieler gelangen mir die rührenden Scenen stets am besten. Die Scene mit Cordelia zum Beispiel: 's ist unrecht, daß ihr aus dem Grab mich nehmt. Det janze Parket badete sich in Thränen: irisch-römisch. Da, Finke, hast du noch einen Groschen.« Er gab das Geld aus der Hosentasche heraus. »Daß ich so in dieses Lumpenleben hineingekommen bin, das verdanke ich ooch nur meinem guten Herzen. Wenn eener mir 'mal schilderte in einem Roman oder so, da müßte das ein Hauptcharakterzug werden. Wie nämlich 'mal meine Direktorin von ihrem fünften Kinde niederkam und mir gar nicht bezahlen konnte, da habe ick ihr freiwillig meinen letzten Groschen gegeben und habe gesagt, ick werde mich auch 'mal mit Fechten durchbringen und Ihnen meine Gagen stunden, bis Sie wieder auftreten können, und det Jeschäft wieder in Flor kommt. Hat sich! Als ich wiederkam, sagte sie, einen Fechtbruder möchte sie nicht engagieren, und ließ mir sitzen. Na, denn bin ich eben bei der Walzerei geblieben, aus lauter Verzweiflung über die Undankbarkeit der Menschen, denn ick sage schon als König Lear, daß Undank ein Basilisk ist. – Ich habe ja auch meine Fehler, welcher Mensch hatte die nicht, aber det jute Herz, det jute Herz, das kann mir keiner absprechen. Geh, Finke, laß dich auch rasieren; es giebt ein Fest für dich, und wir hier auf der Penne, wir kommen auch nicht ungewaschen auf den Subskriptionsball.«

Hasenklau schwieg, da er glaubte, sich nunmehr im besten Lichte gezeigt zu haben, mit einer gewissen Beschämung still und wischte sich mit dem Handtuch des Barbiers das Gesicht ab. Der Barbier hielt Hans eine Hand voll Seifenschaum vor das Gesicht, um ihn gleichfalls einzuseifen, und eh der Privatdozent sich dessen versah, war sehr gegen seinen Willen die obere Wange eingeschäumt, und mit all seinem Leid im Herzen mußte er still halten und die Reden der anderen Walzbrüder anhören, ohne noch zu einem Glase Branntwein gelangt zu sein. Er fühlte sich durch Hasenklaus Freigebigkeit gerührt und dachte bei sich, daß unter diesen gesellschaftlich Verlorenen mehr Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe herrschte als unter weit besseren Leuten. Während Hans rasiert wurde, hub Heinz Henning zu reden an und erzählte, indem er seufzend einen Blick in die Vergangenheit warf:

»Ach, ja, wenn mancher so in seiner Jugend wüßte, wie es ihm gehen wird, wenn er einmal ins Walzen kommt und dann nicht wieder heraus kann. Mir war's auch nicht an der Wiege gesungen. Du, Finke, brauchst du Geld?!«

Er holte einen Geldbeutel hervor, kramte darin und steckte Hans gleichfalls Geld zu. »Na, nimm es nur, es kommt aus einem frohen Gemüt. Was ich für Geschichten erlebe, wenn ich mir die alten Kleider zusammenbettle, das geht in die Puppen. Helle, weißt du! Einmal bettelte ich doch auch in Berlin bei einem großen Künstler, der mir ein Paar alte Hosen schenkte. Na, wie ich sie zu Hause anzog, da waren sie zwar ein bischen ausgefranst, aber det machte nischt. Auf einmal fahre ich mit de Hände in de Hosentasche, und was ziehe ich da heraus? Een janzen Pack Briefe von seiner Liebsten an ihn, worin sie auf alle seine Kollegen und auch auf seine Frau räsonnierte und ihn zu verschiedenen Stelldicheins mit Champagner einlud. Nun, ick las so'n bißchen drin und wußte schon genug. Na, dachte ich, wenn du diese Briefe veröffentlichst, da kannst du ihn auf einmal von seiner Höhe herunterstürzen, und wenn du sie an eine Zeitungsredaktion verkaufst, da machst du außerdem ein feinet Jeschäft. – Aber so sind wir nicht, Finke! Weißt du, was ick gemacht habe? Det rätst du nicht. – Ick habe die Briefe zusammengepackt und wieder in die Tasche gesteckt, und denn habe ick die Hosen ausgezogen, bin nach Berlin zurück, habe bei dem berühmten Künstler geklingelt und ihn persönlich herausgebeten. Und wie er vor mir stand, habe ick die Hosen samt den Briefen drin mit einem ergebensten Diener zurückgebracht und bloß gesagt: »Mit Dank zurückerstattet, mein Herr. Die Hosen sitzen mir im Schnitt nicht ganz richtig und sind unten auch ein bischen zu lang; aber et macht nischt; ick werde Ihnen trotzdem auch fernerhin meine jeehrte Kundschaft zuwenden.« Mit Selbstbewußtsein schloß Henning diese Erzählung: »Nobel, was?! – Ja, nobel bin ick, det muß mir der Neid lassen.«

Hans konnte sich nicht enthalten, indem er darüber nachdachte, daß in der bürgerlichen Gesellschaft nicht immer gleiche Diskretion ausgeübt würde, wohlwollend zu sagen:

»Henning, das war anständig von dir.«

Der Schneider fühlte sich durch dieses Lob nicht wenig geschmeichelt, schob dem Nationalökonomen heimlich noch einen Groschen zu und sagte mit Würde: »Denn das muß ooch 'mal in meiner Lebensbiographie stehn, trotzdem ick nur'n Walzbruder bin.«

Unterdessen hatte Leberecht dem Kellner wiederholt zugeblinzelt mit den Augen und heimliche Zeichen mit Bezug auf Bill Will gemacht.

»Du, Sorger, weißt du schon, was Bill Will früher gewesen ist, ehe er Kunstreiter war?!« frug der Student.

»Nee,« meinte Sorger.

»Pferdehändler,« behauptete Leberecht mit unverkennbarer Anspielung. Der sächsische Kunstreiter hielt den Kopf schief und zuckte mit den Achseln. »Und vorher Schwarzkünstler,« fuhr der Student fort. »Ich kenne eine sehr berühmte Geschichte von ihm, die sollte man 'mal aufschreiben.«

Der Sachse erhob sich und sagte, halb gegen Hans gewendet, als wolle er für diese Lügen um Entschuldigung bitten, mit großer Höflichkeit: »Das ist eine Gemeinheit, entschuldigen Sie – ich bin kein Schwarzkünstler –«

»Die Geschichte ist so,« fuhr der Student gelassen fort. Bill Will kommt eines Tages auf die Penne. Man fragt ihn, wer er früher war, und, weil er früher als Zauberkünstler gegangen ist, der immer so lange bunte Bänder aus dem Halse zog, sagte er stolz: Schwarzkünstler, Er wußte nämlich nicht, daß man auf der Herberge vielmehr den Schornsteinfeger Schwarzkünstler nennt. Da sprach der Herbergsvater zu ihm: »Du, Bill Will, da kannst du gleich 'mal in meine Esse fahren, hier hast du einen Besen, wirf dich aber dabei nicht zu sehr in's Trauerkostüm.«

Hans lachte, und die anderen lachten mit. Da wehrte sich aber der Kunstreiter mit heftigen Gestikulationen und rief gekränkt: »Glaub's nicht, Finke, glaub's nicht – mich in so einem Lichte darzustellen, das ist eine neue Gemeinheit – ich bin auch niemals Zauberer gewesen – und wenn du dich unterstehst –«

Er wollte fortfahren: »so etwas über mich zu schreiben,« Hasenklau aber unterbrach ihn, denn er fürchtete, Landmann könne merken, daß man um sein Geheimnis wußte, und so legte er dem Kunstreiter mit einer stolzen Gebärde die Hand auf den Mund und sagte: »Pst! Pst! Laßt doch Finke gehn. Keinen Streit nicht.« Er wendete sich an den Barbier und meinte: »Laß den Finke aufstehn, wenn du ihn rasiert hast. Er ist nun genug eingeseift.«

Auf dieses Wort stießen sich die Kunden heimlich an, die Mädchen, die hinten um den Herd hockten und mit schlauen Mienen zugehört hatten, kicherten, sich mit ihren Gesichtern nach den Winkeln abwendend, alle aber befleißigten sich möglichst anständiger Manieren, suchten feine Worte zu brauchen und nahmen ein geziertes und ungewöhnliches Wesen an. Die Wirtin wunderte sich über die Frauen und Mädchen, die sich heute höchst anständig von den Männern abgetrennt hielten, während sie sonst nur zu schnell mit denselben sich zusammen zum Schnaps setzten und ununterbrochene Orgien mit den zureisenden Handwerksburschen und Fechtern feierten. Das Bewußtsein, daß einer da war, der ihr Benehmen, ihr Thun und Treiben studieren wollte, bewirkte ein allgemeines zurückhaltendes, bei einigen fast verschämtes Wesen. Hätte Hans sich noch mit bewußtem Beobachten abgegeben, so würde er diese Frauenherberge wohl als einen Ort der Tugend, des Anstandes, der vestalischen Reinheit geschildert haben. Aber er beobachtete nicht mehr. Er hatte auch dazu die Lust verloren. Er fühlte sich schon unter seinesgleichen und lebte nur noch, um zu vergessen. Als die allgemeine Bartschererei und Einseiferei beendet war, und die Kunden mit reinlicheren und glatten Gesichtern sich schier verwundert betrachteten mit dem Gefühl einer Sauberkeit, die sie vor sich selbst einschüchterte, zog Hasenklau ein Fläschchen hervor, betupfte mit dem Inhalt desselben sein Taschentuch, seine Haare und seinen Rock und meinte: »So, das wird die Toilette vollenden. Immer gentlemanlike

»Wat machst de denn da, Hasenklau,« frug ihn der Schneider neugierig.

»Ich träufele mir mit Bisam ein. Gut gegen die deutschen Reichskäfer. Ich liebe den Bisam besonders, weil ich schon als König Lear sage: ›Gieb mir Bisam, guter Apotheker, um meine Phantasie zu würzen‹ Seitdem habe ich eine Vorliebe für diesen ›Haut-gout‹.«

»Na, darum riecht auch alles, was du an dir hast, so sehr nach Bisam,« meinte der Schneider. Auch Hans brachte sich zum Bewußtsein, daß der Schauspieler stets nach Bisam roch. Er ahnte nicht, welche Entdeckungen ihm aus diesem Umstände bevorstehen sollten, Entdeckungen, die seine wunderbaren Erfahrungen über das Walzerleben aufs überraschendeste ergänzen sollten.

Henning nahm indessen den Schauspieler bei Seite, als habe er eine wichtige heimliche Frage an ihn zu stellen. Mit unterdrückter Stimme frug er mit einem Hinweis auf den Sozialforscher: »Du, wenn er mir nun in det Buch bringen wird, glaubst du, daß er mir ooch hübsch nobel auffassen wird?!«

»Na, et wäre mir doch ganz schnuppe, wat so einer, über mir schriebe!« antwortete der Schauspieler von oben herab. Er mochte es nicht merken lassen, daß ihm am Urteil des Mannes, den er bestohlen hatte, weit mehr lag, als er sich selber eingestehen mochte.

In diesem Augenblicke erschien in der Thüre der Gaststube die Jette in Begleitung der Jule. Jette hatte ihr buntes Zigeunerkleid angethan und sich mit einigen bunten Läppchen wunderlich aufgestützt. Auf dem Kopfe aber trug sie, statt der Myrte, die sie hier nicht hatte auftreiben können, einen Kranz aus Epheu und Vergißmeinnichtblumen. Die hatten sie hinter dem Haus in dem kleinen Blumen- und Gemüsegarten der Wirtin gepflückt. Hinter der Jette, welche verschämt vor sich niederblickte, stand die lange Jule mit einem alten, großen Federhut auf dem Kopfe phantastisch aufgeputzt als Brautjungfer.

Hans fand, daß Jette mit ihrem Epheukranz wunderhübsch, wie eine kleine Italienerin in ihrem Kostüm, ja, wie eine epheubekränzte Bacchantin aussah. Er wunderte sich, sie in diesem Kleide zu sehen, da er noch gar nicht in den ganzen Handel eingeweiht war, und bemerkte nur, daß die Mädchen, welche sich um die Jette drängten und die Männer mit einer gewissen erwartungsvollen Verlegenheit von ihm zur Jette und von der Jette wieder auf ihn schauten.

Hasenklau aber rief: »Achtung, meine Herrschaften, die Braut ist da. Und somit kann die Geschichte ihren Anfang nehmen. Zur Feier der Vermählung dieses edlen Paares schlage ich nun also einen großen Lumpenball vor mit allgemeiner Table d'hôte. Alles auf meine Kosten. Und damit der Maskenball wie bei vornehmen Leuten hergeht, soll jeder in dem Kostüm seiner ehemaligen Beschäftigung kommen, wo er noch ein sogenanntes nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft gewesen ist. Ich werde als König Lear teilnehmen, denn das ist meine Lieblingsrolle gewesen.

»Heidi! rief Leberecht, indem er aufsprang. Und ich komme als Bruder Studio im Wichs wie zu meiner anständigen Zeit!«

»Und ich als Equilibrist wie in meiner Glanzzeit!« ergänzte Bill Will. Die Männer riefen zu diesem Einfalle bravo und sprangen hinaus, um die wundersame Mummerei oben vorzunehmen und sich zusammenzusuchen, was sie brauchten. Auf dem Tanzboden, wo im Seitensaale bereits die Tische zu dem Festmahl aufgestellt waren, sollte dann alles zusammenkommen. Auch einige von den Frauen und Mädchen liefen mit hinaus, um sich anzuziehen zu dieser Mummerei, gleichzeitig aber die Scene nicht mit anzusehen, die jetzt zwischen der betrogenen Jette und dem fremden Herrn Sozialforscher stattfinden mußte. Die Liese stand vor der letzteren und sagte in ihrer Verlegenheit immer nur: »Ach Jette, Jette, wie fein du aussiehst. Gerade wie eine Jrafenbraut.« Hans hatte ein brennendes Weh in sich aufsteigen fühlen, als er die Jette so hübsch geschmückt mit dem Kranze dastehen sah. Sollte sie doch eingewilligt haben, mit dem Kellner in ein Verhältnis zu treten? Ihn jammerte des Mädchens, das er schon in einem solchen Leben immer weiter herabkommen sah, wo er im stillen gehofft hatte sie allmählich den Verhältnissen zu entziehen, in denen sie lebte. Er frug daher ziemlich beklommen:

»Was ist denn das für eine Hochzeit?!«

Sorger machte sich vertraulich an ihn heran und meinte: »Na, Finke, thu nur nicht so. Deine Hochzeit. Heute feiert die Jette eben ihre Schicksenhochzeit und nimmt dich zu ihrem Mann auf fünf Jahre, drei Monate und sechs Tage.«

»Wieso denn?! frug Hans, höchst erstaunt, hier das erste Wort von einer Sache zu hören, an die er nicht im entferntesten gedacht hatte.

»Ich trete sie dir freiwillig und gratis ab, flüsterte Sorger ihm zu, der sich jetzt in einem besseren Lichte zeigen wollte, als früher. Man soll sehen, daß wir hier auf der Penne auch unser Ehrgefühl haben. Da darf man keine falsche Schilderung machen!«

»Ich weiß nicht, was das heißen soll. Ich habe ganz und gar keine Absicht, die Jette zu heiraten,« entgegnete Hans leise, aber bestimmt. Ich würde das Mädchen wohl als Begleiterin mitnehmen, um sie einmal in bessere Verhältnisse zu bringen –«

»Ei, wie! Ei, wie! antwortete der Kellner verschmitzt. Das geht nicht, das geht nicht! Hier auf der Herberge geht's hochanständig zu. Wer mit einem Mädchen geht, der muß sie auch heiraten.« Er rief die Liese und einige andre Mädchen, die dicke Rosa und die lahme Anna heran und frug: »Ist das nicht wahr, daß einer, der ein Mädel für sich betteln läßt, sie bei uns auch heiraten muß? Nein, Finte, wenn du das noch nicht weißt, da kennst du eben die Verhältnisse auf der Penne nicht. Hast du dich soweit mit ihr eingelassen, daß du ihr Brot gegessen hast, so mußt du auch in ein ordentliches Verhältnis zu ihr kommen, denn solche schlechte, lüderliche Sachen, wie sie bei anderen Leuten vorkommen mögen, die dulden wir hier nicht. Aber alles in Ehren, alles in Ehren!«

Liese und die Mädchen stimmten Sorger vollkommen bei. Sie hatten ja alle das Interesse, ihr Leben so ordentlich als möglich erscheinen zu lassen und außerdem der Jette den Schabernack zu thun, daß man sie mit einem »Herrn« verheiratete, ohne daß sie es wußte. Hans wurde durch die wiederholten Versicherungen, er habe nach Kundenbrauch die Verpflichtung, durch eine »Heirat« den guten Ruf Jettes zu schützen vor übler Nachrede, dermaßen in die Enge getrieben, daß er selber glaubte, er sei der Jette eine Genugthuung schuldig, trotzdem er nur der brüderlichsten und rein menschlichsten Gefühle für das Mädchen sich bewußt war.

Im Grunde war ihm ganz einerlei, was er jetzt that oder ließ, denn er fühlte sich in dem Gedanken, daß seine Hoffnungen auf eigenes Lebensglück durch Emmas Brief ihm alle geraubt waren, unwiderstehlich zu Jette hingezogen, die sich seiner so gutmütig angenommen hatte. Ja, indem er das Bettelkind mit seiner Braut verglich, erschien ihm dieses so menschlich und gut, daß er um keinen Preis den Ruf der Jette unter ihren Genossen hätte schädigen mögen.

Wenn er die Hand dazu bot, da es so Brauch schien, sich mit der Jette ganz offen zu verheiraten, so hatte diese Ceremonie ja nicht den geringsten bindenden Wert für ihn, nicht die geringste rechtliche Folge oder Verbindlichkeit. Daß er das Mädchen nicht heiraten werde wie der Bräutigam die Braut, fühlte er, denn die eigentümliche, tiefe Zuneigung warmer Dankbarkeit, die er für das Mädchen hegte, war gänzlich frei von jedem Verlangen und Begehren. Selbst als er sie jetzt so schmuck mit dem Kranze vor sich sah, freute er sich mehr wie ein Bruder an der geliebten Schwester. Er fühlte sich schier verpflichtet, auf die Komödie einzugehen.

»Ja, will denn die Jette, daß ich sie heirate!« frug er.

»Ja, freilich,« erwiderte Sorger. »Das arme Ding, das grämt sich ja nach dir zu Tode, und da würde ich an deiner Stelle sie auch nehmen. Sie wird sich nicht eher trösten. Ein Schlossergeselle wie du muß alles kennen lernen,« setzte er mit Bedeutung hinzu.

»Sie grämt sich?!« frug Hans bestürzt.

»Wenn du jetzt nein sagst, so rennt die Jette ins Wasser, sie hat es vorhin gesagt.«

»Die arme Jette!« dachte Hans bei sich und sein Entschluß, solange sie hier waren, der Jette die Genugthuung zu verschaffen, daß er auf diese Scheinheirat einging, reifte stärker heran. Und wieder kam ein Gefühl absichtlicher Selbsterniedrigung dazu, welches ihn ein solches Verhältnis gerade für das ansehen ließ, was für ihn, nach dem Erlebnis mit seiner Braut, das Richtige war. Es war ein mönchisches Gefühl der Selbsterniedrigung, und wundersam!, daß es in ihm erwachsen war im Anblick so vieler Menschen, welche das selbstsüchtige Getriebe des modernen sozialen Lebens ausgestoßen hatte und die eigene Schwäche und Unfähigkeit sich im Lebenskämpfe kräftig zu behaupten.

»Na, Jette, was stehst du denn dahinten? Fürchtest du dich vor deinem Zukünftigen?! Ja, ja, die Ehe ist ein wichtiger Lebensabschnitt!« rief Sorger mit einer Art von väterlichem Wohlwollen der buntgeschmückten Braut zu, die noch immer im Hintergrund des Zimmers stand und sich nicht getraute näher heranzukommen. Sie hatte bemerkt, daß Verhandlungen um ihretwillen stattfanden, aber sie konnte nicht verstehen, was die Männer redeten, und so stand sie in Erwartung des Bräutigams verschämt da. Wie Hans sie nun Liebe erwartend und lieblich seiner harren sah, faßte ihn ein unwiderstehliches Gefühl des Mitleides und der Zuneigung. Er ging zu ihr hin und nahm ihre Hand und blickte ihr lange in die braunen Augen hinein, die sie bang und doch hoffnungsvoll zu ihm aufschlug.

»Na, Jettchen, ist es wirklich wahr, daß du ins Wasser gingst, wenn ich dich nicht nähme?!« frug er mit einem innigen und traurigen Mitgefühl.

»Ach, Hans, Hans, es ist also doch wahr? Du nimmst mich?!« antwortete ihm das Mädchen in überströmender Leidenschaft. Ach, mit Strychnin hätt' ick mir vergiftet,« sprach sie, indem sie sich an seinen Hals hing. Sie faßte ihn mit beiden Händen am Kopf und küßte ihn mit schmerzlicher Heftigkeit mehrere Male. Und mit erstickter Stimme flüsterte sie: »Aber nun, nun hab ick dir doch und will dir in Grund und Boden hineinküssen, du süßer, herzinniger Schatz.«

Sie wiegte sich in seinem Arm und verbarg ihr Gesicht an seiner Brust, als wollte sie viel stilles Weh, viel Gefühl der Verlassenheit und des Ausgestoßenseins vergessen.

Hans fühlte sich von dieser plötzlichen, heftigen Leidenschaft stark erschüttert. Er strich der armen Elendsbraut die Haare von der Stirn zurück, über welche zerknickte Vergißmeinnichtblümchen aus dem Kranze herabhingen, und sagte: »Na, du alte, gute Jette, sei nur nicht so heftig. Es wird schon alles noch gut werden.«

Sanft erwiderte das Mädchen: »Ja, das wird's. Und wenn wir jetzt auch nur so aufs Geratewohl heiraten, nicht wahr, wenn du später deine eigene Werkstatt hast, dann läßt du dich nachträglich mit mir trauen und machst mich zu deiner Meisterin? Denn siehst du, Hans, das ist ja mein einziger Gedanke, daß ich durch die Partie aus dem Leben hier herauskomme.«

Arme Jette! dachte Hans, indem er sich gerührt über sie neigte. Er wischte sich stille die Augen und meinte bei sich, er müsse ein schlimmer Mann sein, wenn er für dies Wesen nicht alles thäte, und somit ihr auch das Opfer brächte, sie als seine kleine Kundenfrau zu ihrer Beruhigung zu betrachten. Er legte den Arm um ihre Schulter und führte sie auf Sorgers Anordnung hin zur »Trauung«, wie es hieß, auf der alten, verfallenen, engen Holzstiege nach dem Tanzboden hinauf. Jette ließ sich mit gesenktem Köpfchen wie ein Schlachtopfer führen; die Mädchen aber liefen als Brautjungfern hinterdrein, im stillen höchlichst über diese komödiantische Hochzeit ergötzt, gleichzeitig aber beflissen, sich ein möglichst seines Ansehen zu geben und vor dem gelehrten Herrn als sittsame Frauenzimmerchen zu erscheinen. Während der ganze Zug die Stiege hinaufstieg, streute die lange Jule vor dem Brautpaar Feldblumen, Löwenzahn und Gänseblümchen, und die Jette schluchzte plötzlich auf, gerührt über den blumigen Weg, auf dem sie zu ihrem Glücke emporzusteigen glaubte.

Oben auf dem Tanzboden begann nun ein buntes, festliches Leben. An den Wänden hin waren die Tische gedeckt und aneinandergerückt; die Mitte des Saales blieb frei für den großen Lumpenball zu Ehren des hochzeitlichen Paares. Hasenklau erschien mit einem langen weißen Barte und einer weißen Perrücke als König Lear; er hatte ein Bettlaken als Königsgewand umgeschlungen, den Kopf mit Stroh bekränzt und einen Strohwisch als Zepter in der Hand, wie jener unglückliche König in seinem Wahnsinn. Bald drängten sich auch die anderen Kunden in den Saal hinein, die Mädchen klatschten in die Hände und riefen: »Herrje, jetzt kommen die anständigen Leute, jetzt kommt die vornehme Welt.« Sie betrachteten mit Ausrufen des Erstaunens die unterschiedlichen Mummereien. Leberecht hatte ein altes Cerevis schief auf dem Kopfe sitzen; ein Paar Fuhrmannsstiefeln sollten die Studentenstiefeln vorstellen; ein Paar riesige Packhandschuhe vertraten die Fechthandschuhe, und ein langer Bratenspieß, den die Wirtin aus der Küche geliefert hatte, wurde als Schläger in der Hand geführt. Um den Wichs zu vervollständigen, hing statt der Schärpe ein Schürzenband um die Schulter, welches eines der Mädchen abgetreten hatte. Im Getümmel des bunten Durcheinanders erblickte man Bill Will im vollständigen Trikot; man sah ihm an, er fühlte sich nicht wenig in dem Gedanken, hier einmal als anständiger Künstler zu erscheinen und sich der Täuschung hinzugeben, daß er sein Handwerk noch einträglich betreibe. Henning hatte einen alten Frack an und hielt eine große Schere als Wahrzeichen seines ehemaligen Berufs in der Hand; sämtliche Fingerhüte, die er bei der Wirtin und den eingekehrten Frauen bekommen konnte, hatte er auf seine zehn Fingerspitzen gestülpt, und so sprang er lustig, wie ein Ziegenbock mäckernd, auf dem Tanzboden herum, als Schneidermeister Kakadu. Auch Herr v. Wesel hatte sich eingefunden. Der kam als Premier-Lieutenant der Infanterie, was er ja früher auch gewesen war. Statt des Säbels trug er ein Scheit Holz an einem Bindfaden um die Lenden; die Pickelhaube war ein alter Küchenkessel; statt der Achselstücke hatte er ein paar alte, zerlederte Schuhsohlen mit Draht auf seiner Schulter befestigt. Er stolzierte, wie immer halb berauscht, militärisch im Saale auf und ab, faßte die Mädchen ans Kinn und sprach vornehm: »Jawohl, ihr Schicksen – ich war meiner Zeit Lieutenant – immer schneidig – na, ja, det bunte Tuch, det sticht euch wohl in die Augen?!« Auch viele andere hatten sich ähnlich aufgeputzt; ein verlumpter Gesell hatte sich ein Hufeisen an den Hals gehangen, um anzudeuten, daß er ein ehemaliger Schmied war; einige Mädchen kamen als Kellnerinnen mit Schürzen und Bierseideln in der Hand; andere als Wäscherinnen mit einem Korb voll Wäsche auf dem Rücken; es war, als kämen alle möglichen Handwerke und Beschäftigungen personifiziert, aber sehr heruntergekommen herein.

»Na, ja,« sagte Hasenklau zu Hans im Anblicke des bunten Getümmels, »da haben wir ja den ganzen Rum des Kleingewerbes durch die Maschinenwirtschaft und den Großbetrieb; da kommen sie ja nach und nach alle, die heruntergekommenen Schuster und Klempner, die Schneider und Bäcker herangewackelt. Da kann man sehen, was jeder gewesen ist und was aus ihm hätte werden können, wenn ihn die Maschine nicht um sein Brot und seinen Erwerb gebracht hätte.« Er betrachtete seinen Bart streichend Hans und Jette und frug, indem er großartig um sich blickte: »Ist das Brautpaar einig?«

»Ach, ja,« flüsterte Jette, während Hans träumerisch das traurige Bild dieses Maskenballes betrachtete, der ihn mit einer wunderlichen Wehmut erfüllte, da er so viele vernichtete Existenzen vor seinem Auge umhertanzen ließ.

»Na, denn tretet heran,« sprach Hasenklau feierlich zu dem Brautpaar. Die Kunden und die Mädchen in ihren Verkleidungen bildeten einen Kreis um Hasenklau und das Paar und betrachteten sich neugierig die Jette.

»Denn will ick abgesetzter König Lear euch als standesgemäßer Standesbeamter kopulieren,« sagte Hasenklau feierlich, indem er mit den Händen allerhand Zeremonien über den Köpfen der beiden vornahm. »Denn wenn mir armen König meine sauberen Töchter auch so schlecht behandeln, daß ick dem Wind und Wetter preisgegeben auf der Straße liegen muß, so brauche ich doch Soldaten für meine Armee, und darum bin ich ein Freund vons Heiraten. Einst war ich ein König und regierte die halbe Welt, aber weil meine Pelikantöchter mir verkannten, bin ich unter die armen Reisenden gegangen und mußte auch bei Mutter Jrüne schlafen. Aber, wie gesagt, jeder Zoll ein König. Jungfer Jette, Augustine, Dittrichine Hoffereich, bist du gewillt, mit diesem Mann des Unglücks, der gänzlich obdachslos und mittellos ist und arm wie ein Prophet unter den Zöllnern und Sündern sitzt, in den Stand der heiligen Bettelmannsehe zu treten? Wo nichts und nichts zusammenkommt, da kann nichts werden, sage ick schon vor meinem heiligen Wahnsinn; aber was werden kann, det ist die Liebe in Armut und die Armut mit Liebe und Pellkartoffeln. Seid ihr dazu gewillt?!«

Die Jette schlug die Augen nieder und flüsterte: »Ach, ja.« Hans aber gelobte sich, wenn er jetzt auch zu einer Täuschung des armen Mädchens die Hand bot und keine Neigung fühlte, sie ernstlich zu ehelichen, doch ein geschwisterliches Zusammenleben mit ihr zu führen und in diesem den Schmerz zu vergessen, den ihm seine Braut angethan hatte.

Hasenklau erhob seinen Strohwisch segnend über das Paar und sprach pathetisch: »Na, denn is't jut. Denn seid ihr jetzt ein verheiratetes Bettelmannspaar, und denn könnt ihr auf die Hochzeitsreise nach Grönland zu den Eskimos gehn. – Und nun zeigt mal, was es zu essen gibt,« schloß er, indem er die gedeckten Tische betrachtete. Er faßte Hans harmlos am Arme und meinte: »Ah – nobel bin ich, das muß ich sagen. Wenn ich mal bei Gelde bin, ich wend' es immer gut an, Finke; das mußt du mir lassen, wenn ich mal im Börsenspiel gewinne, denn gründe ich nur noch Wohlthätigkeitsanstalten. Du darfst auch mitessen, Finke, denn du hast wohl lange nichts recht Ordentliches gespeist.«

Es klang ein leiser Ton von Schadenfreude aus diesen Worten, der Hans auffiel und ihm die Frage nahe legte, woher der Schauspieler denn eigentlich das Geld herhaben mochte, um eine solche Schmauserei zu bezahlen. Ein leiser Argwohn stieg in Hans auf, und er würde denselben wohl verfolgt haben, wenn ihn nicht ein tiefes Gefühl von Gleichgültigkeit gegen das Schicksal seines Geldes erfaßt hätte. Er sagte sich auch, daß der Schauspieler unmöglich der Dieb seiner Papiere sein konnte, da er so harmlos hier mit ihm verkehrte, auch augenscheinlich gar nicht aus der Gegend weggewesen war.

Auf Hasenklaus Einladung hin setzten sich nun die vermummten und wunderlich verkleideten Stromer und Mädchen an den Tischen hin. Sie bewahrten auch dabei einen gewissen verlegenen Anstand, und manchem fielen bessere Tage ein, an denen er sich an eine gute Tafel gesetzt und einen verlockenderen Speisezettel vor sich gesehen hatte, bei dem man sich kaum zur Wahl dessen entschließen konnte, was man von all den guten Sachen wählen sollte.

Oben an der Tafel saßen Hans und Jette, und, während die anderen sich gierig darüber machten, in großen Portionen die Gerichte zu verschlingen, welche die Wirtin auftrug, aßen sie nur wenig, in verschiedener Weise innerlich aufgeregt über das, was sie thaten und erlebten. Die dicke Rosa schlich sich von hinten heran und setzte Hans einen großen Kranz aus Laub von Buchen und Eichen auf den Kopf, was große Beklemmung bei einzelnen erregte, da sie diese Kühnheit etwas achtungswidrig fanden. Sorger aber nahm schnell ein Handtuch, steckte es als Kellnerserviette unter den Arm und rief: »Achtung! ich bin jetzt hier der Oberkellner für die reisenden Herrschaften. Da kann man sehen, was ich meiner Zeit für einer war.«

Er nahm eine Schüssel vom Tisch und ging an den Stuhlreihen hinter den Sitzenden her, indem er präsentierte und sprach: »Noch eine Schüssel gefällig, mein Fräulein?!« – »Der Herr Baron befehlen Sekt?!« sprach er zu Wesel und schenkte ihm ein Glas Bier ein aus dem Kruge, der vor diesem stand. Er wandte sich an die lange Jule und frug mit einer eleganten Verbeugung: »Vielleicht noch ein wenig Entrecot aux fines herbes gefällig, Frau Oberamtsgerichtsrätin?!« – »Befehlen Excellenz noch ein Rippenstück mit Kaperntunke?!« frug er den Schneider. »Tunke, Excellenz, wir eleganten Kellner haben nur noch deutsche Speisezettel« – »Gnädige Frau befehlen noch einmal Rindslende auf Haushofmeisterart?!«

Die letzteren Worte richtete er an die dicke Rosa. Diese war einigermaßen verlegen über die feine Manier des Kellners und wußte nicht recht, wie sie sich dabei benehmen sollte. Dann aber wies sie mit einer sehr vornehmen, herablassenden Geberde auf eine Schüssel mit Möhren und sprach: »Na, geben Sie mir lieber mal ein paar von den Polizeifingern da, denn dein Chaldäisch versteht ja heute doch kein Mensch.« Sorger gab ihr die Möhren und fühlte sich sichtlich gehoben in dem Gefühle, nach langer Zeit wieder einmal seinen Beruf ausüben zu können.

Jetzt erhob sich Max Leberecht, schlug dreimal mit seinem Bratenspieß auf den Tisch, als sollte ein Kommers beginnen, und rief darauf, ans Glas klopfend: » Silentium für mich! Meine Damen und meine Herren! Wir haben bewiesen, daß wir, wenn es darauf ankommt, auch über die nötigen Pariser Toiletten und die entsprechende Lebensart verfügen, und weil denn dieses Fest hier aufs würdigste verläuft, als ein Zeichen, was für falsche Vorstellungen die Polizei und die sogenannte anständige Welt sich oft über uns macht, indem sie von unserm unschuldsvollen Leben die haarsträubendsten Schilderungen entwirft, rufe ich: ›Det geehrte Brautpaar lebe hoch! höher! turmhoch‹!«

Die Mädchen kicherten, die Stromer erhoben sich, stießen mit ihren Gläsern an und riefen mit übermütigem Lärm: »Hoch! Finke soll leben und die Finkin daneben.« Es entstand ein kurzer Aufstand, man ging zu Landmann, umarmte ihn brüderlich, wünschte ihm Glück und log ihm allerhand Geschichten vor, mit denen man sich bei ihm zu insinuieren suchte und seine moralische und sonstige Anständigkeit betonte.

Unterdessen lag Hasenklau mit weißem Bart und wallendem Haupthaar großartig hingegossen auf seinem Stuhl und überlegte träumerisch, was für ein schöner Gedanke es sei, daß er hier von dem Gelde Landmanns diesen selbst und das ganze edle Lumpengesindel so königlich bewirte. Er wiegte sich in majestätischer Sicherheit und betrachtete gönnerhaft die Jette und ihren wundersamen Bräutigam. Sorger trat zu ihm hin mit einem Zettel, verbeugte sich und frug:

»Würden Eure Majestät geruhen zu befehlen, daß ich allerhöchst derselben den Inhalt des Menüs zur Auswahl vortrage? Zuerst soupe à la reine, zu deutsch Königinsuppe –«

»Gieb mir von dieser Suppe, Sklave, denn sie ist standesgemäß,« sagte der Schauspieler mit königlicher Herablassung.

Als die Umarmungen zwischen Landmann und den allmählich lallenden Fechtbrüdern etwas nachgelassen hatten, schlug auch Hans an sein Glas, um eine Rede zu halten. Es hatte sich seiner eine Art von wilden, schmerzhaften Humors bemächtigt, und es drängte ihn, seine Empfindungen in Worte von innerer Bedeutung zu fassen. Alles wurde still; man wartete beklommen, was der verkleidete »Herr« sagen werde.

»Meine Damen, meine Herren! Es drängt mich, nachdem wir hier so traulich zusammensitzen, die Wünsche zu erwidern, die man dem neugeschaffenen Brautpaare der Armut so gütig gespendet hat. Obwohl ich nur ein Schlossergeselle bin, – die Kunden stießen sich bei diesen Worten heimlich an – so wäre ich doch in der Lage gewesen, diese Hochzeit selbst auszurichten und etwas springen zu lassen, wenn ein Spitzbube mir nicht meine Papiere gestohlen und aus schwindelhafte Weise meine Gelder an sich gebracht hätte –«

»Hört! hört!« rief Hasenklau mit Entrüstung.

»Ich bin leider augenblicklich ganz verarmt. Wenn ich in meine Taschen fahre und ihnen das verwaiste Hosenfutter zeige –«

Er that es und wollte sein Taschenfutter zum Beweis seiner Leerheit hervorziehen. Dabei aber fühlte er etwas Festes und im Herausziehen fielen plötzlich seine Legitimationen vor ihn auf den Tisch. Jette fing sie auf, er griff zu, warf einen Blick darauf und unterbrach seine Rede mit dem erstaunten Wort: »Na nu! Was ist denn das?! – Jesus, meine Papiere! Das ist aber merkwürdig, da wären sie ja gar nicht gestohlen gewesen?!«

»I wo! Wer wird denn unter Kunden solche Papiere stehlen?!« rief der Schauspieler höchst unschuldig.

Hans aber stand eine Weile fassungslos da. Er wußte nicht, wo er seinen Verdacht hin richten sollte. »In die Hosentasche hatte ich sie gesteckt?!« Er hatte einen Augenblick eine Empfindung, als könne ihm nichts Unangenehmeres zustoßen, als daß er nun wieder seine bürgerliche Sicherheit wieder hatte. Er hatte sich so in den Glauben hineingelebt, er müsse obdachlos und unlegitimiert in der Welt umherstreichen, daß es ihm eine Art Enttäuschung war, sich sagen zu müssen, daß er nun wieder in bester polizeilicher Ordnung war. Er steckte die Papiere in seine Brusttasche.

»Aber mein Geld ist doch weg,« fuhr er fort, sich an die Abenteuer auf der Post erinnernd. »Mein Geld ist doch weg und, meine Herrschaften, Sie sehen mich daher arm wie eine Kirchenmaus als unverfälschten Fechter in Ihrer werten Gesellschaft. Nun, ich bin stolz auf diesen Stand!« Er rief in wilder Begeisterung: »Das größte Glück ist die Arbeitslosigkeit, der vornehmste aller Stände sind wir! Wir sind hier diejenigen, um welche das ganze Arbeiten, Ringen, Gewinnen, Rennen und Jagen der Erwerbenden besteht. Könige und Kaiser, Staat und Gesellschaft, Recht und Besitz, warum sind sie eigentlich da? Nun, ich denke für uns, zu unserem Schutze, meine Damen und Herren. Wir sind hier die eigentliche Aristokratie der Menschheit!« –

»Hört! hört!« erscholl es am Tische von mehreren Stimmen der Kunden.

Hasenklau fand den Gedanken wunderschön, und, da er ein lebhaftes Bedürfnis fühlte, eine gewisse Beklemmung von sich wegzureden in Anbetracht der Entdeckung, die Hans gemacht hatte, rief er ergänzend: »Jawohl! Wir sind die eigentliche Aristokratie! Da würgen sich die Menschen herum, wollen einen Zukunftsstaat gründen, wo jeder arbeiten muß, damit aller Besitz gemeinsam sei, da zerbrechen sich die andern den Kopf, wie sie's verhindern wollen und lösen an der sozialen Frage im Schweiße ihres Angesichts das Brot ihrer armseligen Gedanken kauend. Alles vergeblich, alles falsche Utopien. Sie alle schaffen doch nur für uns. Denn wir, wir arbeiten nicht und sind prinzipielle Gegner jeder allgemeinen Arbeitspflicht als die wahren Aristokraten des Geistes, uns wäre schon det Couponschneiden eine zu anstrengende und unwürdige Thätigkeit; wir sind die wahren Lilien auf dem Felde; wir säen nicht und ernten doch, uns ist der ganze Zukunftsstaat einerlei, wir haschen nicht nach Erwerb, wir erhalten gratis wie ein Geschenk der Götter die schweißbedeckte Arbeit unsrer Sklaven –«

»Ja, wie die alten Götter des Olymps,« fuhr nun Hans, in einer aufgeregten, schier verklärten Stimmung fort, thronen wir über ihnen allen und des Lebens Mühsal; uns werden die Abfälle als Opfer gebracht, für uns wird geräuchert und gebacken, für uns schlachten und schneiden sie, für uns dampfen und treiben die Maschinen ihre Räder, damit wir den schuldigen Göttertribut empfangen –«

Ein großer Tumult entstand bei diesen Worten; man stimmte allgemein bei und Henning flüsterte seinem Nachbar zu: »Det is jut! Finke is jut! Na, wenn's so ein Nationalökonom sagt, denn muß es doch auch wahr sind!«

Hans aber steigerte sich in höhere Aufregung, und in einer Stimmung, in welcher er alles Weh seines Herzens in einem verklärten Humor aufzulösen suchte, schloß er:

»Darum werfen wir Sorgen, Angst und Kummer von uns. Darum erheben wir uns ins Reich des Ideals von der Mühsal des Lebens. Denn das Leben ist ein Elend, wenn man's nicht durch ein wenig Phantasie verklärt, die selbst ein Lumpenkleid zum Göttergewande macht. – Nun frage ich Sie aber, meine Damen, wem verdanken wir heute diese verklärte Stimmung? Wer hat uns heute zu Göttern gemacht? Ein Mann, dessen Freigebigkeit ihresgleichen nicht hat, ein edler Mann, ein braver Mann, der lebt und leben läßt, dessen nützliches Geld uns in diese angenehme Lage brachte – Sie erraten ihn – mein Hoch gilt dem Spender dieses Festes – dort sitzt er, sehen Sie ihn – er lebe hoch – Fritz Hasenklau, genannt Orbassany, er lebe hoch!«

Hans erhob sein Glas und trank wehmütig beglückt dem Schauspieler zu. Hasenklau machte eine demütig abwehrende Bewegung, die Kunden und Mädchen aber erhoben sich, umdrängten ihn, umarmten ihn und erhoben ihn endlich auf ihre Arme und trugen den phantastischen König Lear mit Johlen und Hochrufen auf ihren Schultern im Saale herum. In diesem Augenblicke stürzte mit verzückten Mienen und freudigem Mützenwerfen Weber, der Bergarbeiter, der seine Polizeihaft abgesessen hatte, in den Saal, sprang herum und tobte und rief:

»Ach, Kinder, Kinder, Kinder! Ihr glaubt's ja gar nicht. Ich kann's ja gar nicht sagen. Ich möchte lachen und heulen vor Freude.«

»Was hast du, Sterblicher? Was drängst du so ungestüm herein in den Göttersaal?!« frug Hasenklau gelassen von seiner Höhe auf den Schultern zweier Kunden herab.

»Arbeit hab' ich bekommen! Heute laß' ich was springen, ich kam gerade vorüber und dacht', ich müßte's euch doch sagen. Arbeit hab' ich. Ein anständiger Mensch bin ich wieder. Bruder, ich bin zu glücklich!« Er wollte Hans umarmen; Hasenklau aber rief stark und mächtig von seiner Höhe:

»Arbeit? Schmeißt ihn hinaus aus dem Göttersaal. Schmeißt ihn in den Tartarus zu Sisyphus und Tantalus. Götter arbeiten nicht. Du bist nicht unseresgleichen, Sterblicher. Schmeißt ihn hinaus.«

Und ehe Weber sich dessen versah, war er von mehreren kräftigen Kundenfäusten am Kragen gepackt. Man umdrängte ihn, und unter wildem Triumphgeschrei, an dem die Mädchen sich beteiligten, welche mit ihren Händen gleichfalls auf Weber losschlugen, warf man den Arbeiter zur Thür hinaus und die enge Holztreppe hinab, wo er unten verschwand in der Dämmerung wie ein plötzlich erloschenes Meteor.

Während man ihn hinauswarf, hatten sich ängstlich die drei böhmischen Harfenschwestern mit ihren Harfen in den Saal gedrängt, in der Hoffnung, hier etwas zu verdienen. Hans erblickte sie kaum, als er aufgeregt rief:

»Aber da sind schon die Musen! Seid gegrüßt, ihr Musen! Spielet auf zum Tanze! Laßt die Leier tönen, ihr Schwestern Apollos!«

»Aufgespielt, ihr böhmischen Harfenschwestern!« rief der Schauspieler. »Wir wollen den Tanz der Horen tanzen, nachher essen wir weiter. Wir sind hier vornehme Leute und tanzen nur nach klassischer Musik. Darum singt und spielt das Menuett aus des göttlichen Mozarts Don Juan. Also los, ihr Mädel!«

Die Schicksen und die Mädchen klatschten fröhlich in die Hände und machten sich zum Tanze zurecht. Einige alte Zeitungen wurden zusammengefaltet und Papierfächer daraus gemacht, mit denen sich die Mädchen, wie vornehme Balldamen auf den Stühlen hingelehnt, zufächelten. In Ermangelung von Ballhandschuhen zog die dicke Rosa ihre Strümpfe aus und zog diese auf ihre Arme und Hände und koquettierte wie eine lang behandschuhte Engländerin. Ein altes Kartenspiel aber wurde unter die Stromer und die Mädchen verteilt und sollte die Tanzkarten vorstellen. Die Harfenstimmen begannen in langsamem Zeitmaß, die lieblichen, anmutigen Töne des Mozartschen Menuettes in einer wehmütig-verklärten, traurig-graziösen Art zu spielen, in welche die Harfenakkorde voll hineinschlugen. Sorger und Henning pfiffen den Takt, und zwei Paar drehten sich langsam, wundersam in ihren Vermummungen anzuschauen, auf dem Saalboden herum.

»Na, Jette, da wollen wir mal die Parkettierung prüfen und den Ball eröffnen,« sprach Hans. Er nahm die zigeunerhafte Braut, mit dem Vergißmeinnichtkranze auf dem Kopfe, um die Hüfte und tanzte langsam mit ihr zu den wundersamen Mozartschen Klängen, während Jette ihr Gesicht auf seine Brust drückte. Es folgten mehrere Paare, und weil die Mozartschen Töne in ihrer edlen Anmut alle wie etwas Höheres und Reineres traurig berührten, so schienen sie auch traurig und langsam umherzutanzen.

Auf einmal begann Jette an der Brust ihres Geliebten zu schnüffeln und im Tanzen meinte sie: »Hans, ick weiß jar nicht – du riechst so nach Bisam –«

»Ich? Bisam? Wie so denn?!« frug dieser.

»Na, hier aus der Rocktasche heraus. Ich kann den Geruch gar nicht leiden,« meinte die Jette, indem sie die Nase rümpfte. Sie blieben am Saalrande etwas stehen, um zu veratmen.

Unterdessen näherte sich Hasenklau der Liese und sprach: »Meine schöne Gräfin, dürfte ich das Glück haben, Sie zur nächsten Quadrille zu engagieren?!« Die Liese knixte tief und verbarg mit künstlicher Verschämtheit ihr Angesicht hinter dem großen Papierfächer, mit dem sie sich kokett zuwedelte. Der weißhaarige König Lear tanzte darauf, während sein Gewand nachschleppte und sein Strohkranz einzelne Halme verlor, mit langsamen und großen Schritten an der Seite der Schickse im Saale herum. Unterdessen hatte Hans seine Papiere aus seiner Rocktasche gezogen und meinte heimlich zur Jette: »Der Geruch kommt wirklich aus meinem Rock.«

»Drum auch. Deine Papiere sind's,« sagte die Jette, indem sie diese anroch.

»Bisamgeruch an diesen Papieren?!« meinte der Privatdozent überrascht. Sollte etwa?! – »Herrgott, mir geht ein Licht auf! Sollte etwa dieser nach Bisam riechende König Lear –? Na, Jette, komm', jetzt soll einmal erst ein Tanz losgehen –!«

Er umfaßte rasch das Mädchen, um aufgeregt wieder in den Tanz einzutreten. Kein Zweifel, er hatte den Dieb seiner Papiere gefunden. Kein Zweifel, wovon dieses Fest bezahlt wurde. Alle Kümmernis, aller Trieb der Selbsterniedrigung waren mit einem Male verflogen, und nur die energische Absicht, den Schwindler gründlich zu entlarven, erfaßte mit wilder Siegeszuversicht sein Herz. Er beobachtete im Tanzen mit scharfen Augen sein Opfer, auf das er sich bei erster Gelegenheit losstürzen wollte. Unterdessen hatten alle Kunden und Schicksen sich dem langsamen, wehmütig-heiteren Zauber der Mozartschen Töne gefügt und tanzten mit stillem, schattenhaftem Ausdrucke in ihren Gesichtern langsam und mit dem Bestreben, zierlich aufzutreten, in einzelnen Gruppen herum. Die Harfentöne schlugen wie leises Schluchzen und Zittern in den Tanz hinein, der immer stiller und stiller wurde. Leberecht stieg mit großen Schritten zwischen den Paaren großartig auf und ab und klatschte als Tanzordner in die Hände. Er gedachte der besseren Zeiten, die er erlebt, wo er noch als ehrlicher junger Mann Tänze geordnet und hübschen Mädchen den Hof gemacht.

» En avant – chassez – croisez – changez les dames – immer vornehm!« rief er aus.

Leise und piano ging der Tanz weiter, zuletzt traten auch Fritzel und Gretel, die Kinder, in den Tanz ein und hüpften leise und mit ernsten Gesichtern zwischen den Erwachsenen mit herum. Als der arme Leberecht das sah, ging er bei Seite aus dem Tanze weg, sank auf einen Stuhl, legte das Gesicht über seinen Arm auf die Tischplatte und, gepackt von einem grenzenlosen Schmerze der Erinnerung, schluchzte der Verlorene: »O, mein verfehltes Leben! O, meine schöne Jugendzeit!«


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