Rudyard Kipling
Schlichte Geschichten aus den indischen Bergen
Rudyard Kipling

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Rosenkreuzer Gaukelspiel
War des Morgenlandes Ziel.
Die auf solche Lehren schwören,
Kannst du am Jaktala hören.
Suchst du Paracelsus Fluren,
Folge Floods, des Suchers Spuren,
Der da spricht: ich laß dich ahnen,
Aller Sonnen Sonnenbahnen, –
Laß dir, folgst du meinen Kreisen,
Lunens Apogäa weisen.

Es gibt in Simla Anstellungen auf ein Jahr, Anstellungen auf zwei und auf fünf Jahre, und es gibt oder es gab wenigstens früher dauernde Anstellungen, wo man sein Leben lang in Simla bleiben konnte und guter Gesundheit und guten Einkommens sicher war. Natürlich durfte man in der kalten Jahreszeit aus Simla fort, denn dann ist es dort recht langweilig.

Tarrion kam, der Himmel weiß woher, – irgendwo weit, weit her, aus einer gottverlassenen Gegend Mittelindiens, wo man schon Pachmari für ein Sanatorium hält, und, wie ich glaube, noch mit einem Ochsengespann ausfährt. Er stand bei einem Regiment, aber seine Sehnsucht war, loszukommen und bis in alle Ewigkeit in Simla leben zu können. Er hatte keine besonderen Schwächen außer für gute Pferde und nette Gesellschaft. Er glaubte, überall etwas leisten zu können; und das ist ein herrlicher Glaube, wenn man felsenfest davon überzeugt ist. Er war vielseitig, sah gut aus und machte sich seiner Umgebung stets angenehm, – sogar in Mittelindien.

So kam er nach Simla. Da er klug und unterhaltend war, fühlte er sich immer mehr zu Mrs. Hauksbee hingezogen, die alles vertrug, nur keine Dummheit. Einmal leistete er ihr einen großen Dienst. Sie hatte sich mit dem diensttuenden Adjutanten verzankt und war deshalb von ihm aus Wut, wohlberechnet, statt zum großen Fest am 26. nur zu dem kleinen Ball am 6. geladen worden. Sie wollte das Fest sehr gern mitmachen, konnte es aber nicht, bis nicht Tarrion ihr das Datum auf der Einladungskarte änderte. Es war eine sehr geschickte kleine Fälschung. Als nun Mrs. Hauksbee dem Adjutanten ihre Karte zeigte und spöttelte, daß er seine Rachezüge nicht geschickter mache, glaubte er wirklich, sich versehen zu haben. Er sah ein, daß es zwecklos sei, gegen Mrs. Hauksbee Krieg zu führen, was sehr weise war. Sie war Tarrion dankbar und fragte ihn, was sie für ihn tun könne. Er antwortete offen: »Ich bin ein Kriegsmann und passe auf Beute. In Simla habe ich keinen Zoll breit Boden. Wer eine Anstellung zu vergeben hat, kennt mich nicht; und ich brauche gerade eine gute, dauerhafte, einträgliche Stellung. Ich glaube, Sie können alles erreichen, was Sie wollen. Helfen Sie mir!« Mrs. Hauksbee besann sich einen Augenblick und zog die Lasche ihrer Reitgerte durch die Zähne, was sie immer tat, wenn sie nachdachte. Dann blitzten ihre Augen, und sie sagte: »Ich will es tun!« und gab ihm ihre Hand darauf. Tarrion hatte vollstes Vertrauen zu dieser großen Frau und grübelte nicht weiter nach, es sei denn, daß er überlegte, welcher Art wohl seine Anstellung sein würde.

Mrs. Hauksbee fing an auszurechnen, um welchen Preis sie die Spitzen der Behörden und Staatsräte ihrer Bekanntschaft für ihren Plan gewinnen könnte, und je mehr sie darüber nachdachte, um so mehr lachte sie. Denn sie war mit ganzer Seele bei der Sache, und sie machte ihr Spaß. Dann ging sie die Stadtverwaltung durch, bei der es ausgezeichnete Stellen gibt. Aber zuletzt hielt sie es doch für das beste, Tarrion in dem diplomatischen Dienst des Landes unterzubringen, obwohl Tarrion ihr dazu eigentlich zu gut war. Ihre Pläne, wie sie ihren Zweck zu erreichen gedachte, tun nichts zur Sache. Das Glück oder der Zufall spielten ihr den Erfolg in die Hände, und sie brauchte nur den Dingen ihren Lauf und sich die Ehre zuschreiben zu lassen.

Alle Vizekönige sind zu Beginn ihrer Tätigkeit schrullenhaft besorgt um die »Wahrung diplomatischer Geheimnisse«. Im Laufe der Zeit gewöhnen sie es sich wieder ab. Aber sie werden hier ohne Ausnahme von dieser Krankheit befallen, weil ihnen das Land zu fremd ist. Der damalige Vizekönig litt in hohem Maße daran. (Es ist schon lange her, noch ehe Lord Gufferin aus Kanada und Lord Ripon aus dem Schoß der englischen Kirche Vizekönige waren.) Infolgedessen hatten alle Leute, die nicht daran gewöhnt waren, diplomatische Geheimnisse mit sich herumzutragen, unglückliche Gesichter. Und der Vizekönig war stolz darauf, seiner Beamtenschaft einen Begriff von Verschwiegenheit beigebracht zu haben.

Nun hat aber die hohe Regierung die leichtsinnige Gewohnheit, ihre geheimsten Pläne dem Stempelpapier anzuvertrauen. Auf diesen Bogen werden alle möglichen Dinge behandelt: von der Zahlung von zweihundert Rupien an einen im Geheimdienst verwandten Eingeborenen bis zu Verweisen an »Vakils« und »Motamids« einheimischer Staaten und Schreiben an einheimische Fürsten, denen anbefohlen wird, Ordnung zu halten, keine Frauen zu stehlen oder Übeltäter mit gestoßenem roten Pfeffer vollzupfropfen, und ähnliche Dinge mehr. Selbstverständlich sollen derartige Extravaganzen nicht an die Öffentlichkeit kommen, denn offiziell fehlen einheimische Fürsten nie, und offiziell sind ihre Staaten nicht minder gut verwaltet als die unsrigen. Ebenso eignen sich außerordentliche Zuschüsse an gewisse fragwürdige Persönlichkeiten nicht gerade zur Bekanntgabe in den Zeitungen, wenn sie auch manchmal eine interessante Lektüre bieten. Wenn die hohe Regierung in Simla ist, werden auch dort diese Schreiben verfertigt und in Aktenmappen oder durch die Post den Adressaten zugestellt. Dem damaligen Vizekönig war seine Theorie ebenso wichtig wie die Praxis. Er war daher der Ansicht, daß ein wohlwollender Despotismus wie der unsrige selbst Kleinigkeiten wie die Anstellung eines Unterbeamten nicht vorzeitig in die Öffentlichkeit dringen lassen dürfe. Er hatte stets ungewöhnlich starke Grundsätze.

Eine Reihe sehr wichtiger Akten war damals in Vorbereitung. Sie sollten von einem Ende Simlas zum anderen von Hand zu Hand weitergegeben werden. Sie steckten nicht in einem amtlichen Umschlag, sondern in einem großen, viereckigen mattrosa Kuvert. Das Manuskript bestand aus dünnem, weichem Papier. Die Adresse lautete: »An die Hauptkanzlei usw. usw.« Nun ist zwischen einem verschnörkelten »An die Hauptkanzlei usw. usw.« und zwischen einem »An Mrs. Hauksbee« kein allzu großer Unterschied, zumal wenn die Adresse in einer schlechten Handschrift geschrieben ist. Der Amtsdiener war nicht dümmer, als Amtsdiener gewöhnlich sind. Er hatte nur vergessen, wo dies höchst unamtlich aussehende Kuvert abzugeben war und bat darum den ersten besten Engländer, der gerade in großer Eile nach Annandale ritt, ihm die Adresse vorzulesen. Der Engländer warf nur einen flüchtigen Bück darauf, sagte: »Mrs. Hauksbee« und eilte weiter.

Ebenso machte es der Amtsdiener, denn der Brief war der letzte in seiner Mappe, und er wollte rasch mit seiner Arbeit fertig werden. Da er keine Unterschrift brauchte, steckte er den Brief Mrs. Hauksbees Diener in die Hand und ging gemütlich rauchend mit einem Freunde weiter. – Mrs. Hauksbee erwartete gerade Schnittmuster aus dünnem Papier von einer Freundin. Wie sie die große viereckige Sendung erhielt, rief sie: »Ach, das rührende Geschöpf!«, schnitt das Kuvert mit einem Papiermesser auf, und die Manuskriptblätter fielen zu Boden.

Mrs. Hauksbee las. Wie gesagt, die Akten waren nicht gerade unwichtig. Mehr braucht man nicht zu wissen. Sie bezogen sich auf einen gewissen Briefwechsel, auf zwei Verfügungen, einen entscheidenden Befehl an einen einheimischen Häuptling und auf ein halb Schock andere Dinge. Mrs. Hauksbee rang beim Lesen nach Luft. Denn der erste flüchtige Blick in die kahle Maschinerie der großen indischen Regierung, wenn sie aller Umhüllungen, ihres Firnisses, ihrer Farbe und ihres Räderschutzes entkleidet ist, macht selbst auf den dümmsten Menschen einen tiefen Eindruck. Und Mrs. Hauksbee war eine kluge Frau. Zuerst war sie erschrocken; es war ihr zumute, als hatte sie plötzlich das Ende eines Blitzes gepackt, ohne zu wissen, was sie mit ihm anfangen solle. Am Rande der Papiere standen Bemerkungen und Monogramme. Einige davon waren noch gefährlicher als der Inhalt selbst. Die Monogramme bezeichneten Leute, die heute im Grabe ruhen, die aber zu ihrer Zeit große Männer gewesen waren. Mrs. Hauksbee las weiter und überlegte dabei in aller Ruhe. Allmählich wurde sie des Wertes ihres Fundes inne und sann auf die bestmögliche Art, ihn auszunutzen. Da sprach Tarrion vor. Sie und er lasen die Papiere gemeinsam durch. Tarrion, der nicht ahnte, wie sie dazu gekommen war, schwor, Mrs. Hauksbee sei die größte Frau von der Welt. Und ich glaube, das ist wahr, oder wenigstens fast wahr.

»Der gerade Weg ist immer der beste,« sagte Tarrion nach anderthalbstündiger Durchsicht und Beratung. »Wenn ich recht bedenke, wäre eigentlich der Informationsdienst für mich das Rechte. Entweder das oder das Auswärtige Amt. Ich werde jetzt die hohen Götter in ihren eigenen Tempeln belagern.«

Er suchte keinen kleinen Mann auf, auch keinen kleinen großen Mann, auch nicht die schwache Spitze einer starken Behörde, sondern er ging zu dem größten und gewaltigsten Mann der ganzen Regierung und erklärte, er wolle in Simla eine Stellung mit gutem Gehalt haben. Diese ausgesuchte Unverschämtheit belustigte den Gewaltigen, und da er im Augenblick nicht beschäftigt war, hörte er die Vorschläge des dreisten Tarrion mit an. »Sie haben vermutlich doch noch besondere Fähigkeiten, außer Ihrem Selbstbewußtsein, zur Begründung Ihrer Ansprüche?« fragte der Gewaltige. »Diese Entscheidung bleibt Ihnen überlassen,« sagte Tarrion. Und nun begann er, da er ein gutes Gedächtnis hatte, einige der wichtigeren Punkte aus den Akten anzuführen, langsam, einen nach dem anderen, ganz wie man Chlorodyne in ein Glas tropfen läßt. Als er zu dem entscheidenden Befehl kam, – und es war wirklich ein entscheidender Befehl, – wurde der Gewaltige unruhig. Tarrion schloß mit den Worten: »Und ich bin doch der Ansicht, daß solch eine eingehende Kenntnis wenigstens ebensosehr zu einer Anstellung im, – sagen wir, – Auswärtigen Amte befähigt, wie die Tatsache, der Neffe einer hohen Offiziersfrau zu sein.«

Das traf den Gewaltigen tief. Denn er wußte, daß die letzte Anstellung im Auswärtigen Amt auf böseste Protektion hin erfolgt war.

»Ich werde sehen, was sich machen läßt,« sagte er.

»Vielen Dank,« sagte Tarrion. Er ging fort, und der Gewaltige auch, um nachzusehen, wo er eine Stelle einrichten könne.

*

Es folgte eine Pause von elf Tagen, während der es donnerte und blitzte. Viele Telegramme flogen hin und her. Die Anstellung war nicht sonderlich bedeutend. Sie brachte nur 500–600 Rupien monatlich. Aber man müßte, wie der Vizekönig sagt, an dem Prinzip der »Wahrung diplomatischer Geheimnisse festhalten«, und es wäre doch wahrscheinlich lohnend, einen jungen Menschen mit so guten Informationen zu versetzen. Und somit versetzte man ihn. Man hat ihn aber doch wohl im Verdacht gehabt, daß er seine Informationen nicht nur seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten, wie er behauptete, zu verdanken hatte. – Ein gut Teil dieser Geschichte, wie das Nachspiel wegen des fehlenden Kuverts, muß man sich selbst ergänzen, denn aus gewissen Gründen kann es nicht niedergeschrieben werden. Wer die Verhältnisse »Oben« nicht kennt, wird behaupten, es sei ein Unding.

Der Vizekönig sagte, als ihm Tarrion vorgestellt wurde: »Das ist also der junge Mann, der die indische Regierung im Sturm nahm! Merken Sie es sich, so etwas gelingt nur einmal.« Er muß also doch irgend etwas gewußt haben.

Tarrion sagte, als seine Anstellung bekanntgegeben wurde: »Wäre Mrs. Hauksbee zwanzig Jahre jünger und ich ihr Mann, dann wäre ich in fünfzehn Jahren Vizekönig von Indien.«

Mrs. Hauksbee sagte, als er ihr fast mit Tränen in den Augen dankte, zu ihm: »Ich habe es Ihnen ja vorausgesagt,« und zu sich selbst: »Was sind die Männer doch für Narren!«


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