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Für und wider die Theosophie

I.

Der Schreiber dieser Zeilen ist nicht Theosoph und wird so leicht keiner werden. Der kritische Philosoph oder der, welchem Leben Forschen und Forschen Prüfen bedeutet, dem deshalb jede erwiesene Wahrheit, sei diese noch so betrüblichen Charakters, einen größeren Lebenswert verkörpert, als die willkommenste Wahrscheinlichkeit, würde seinem innersten Wesen untreu werden, falls er irgend etwas gläubig akzeptierte, was er nicht wüßte. Nun weiß ich sehr wohl, daß nicht wenige unter den unwahrscheinlichen Tatsachen, deren Wirklichkeit die Theosophie behauptet, Tatsachen sind; doch habe ich mich bisher nicht veranlaßt gesehen, die Deutung, welche jene diesen zuteil werden läßt, zu übernehmen. Alle die Phänomene, deren objektive Wirklichkeit schon heute unbestreitbar ist, scheinen mir auch auf andere Weise zu erklären; was aber die betrifft, welche die Annahme der theosophischen Lehre erheischen könnten, insofern als sie anders nicht zu verstehen wären, oder die Wahrheit letzterer unmittelbar erwiesen, so weiß ich nicht mit Gewißheit bisher, inwieweit sie statt-, und ob sie wirklich den Sinn haben, welchen die Theosophie ihnen beilegt. Freilich könnte ich eine Ansicht äußern, und wahrscheinlich erwartet man solches hier von mir. Allein ich habe keine Ansicht über diese Fragen. Man sollte überhaupt nie Ansichten haben, sondern so lange mit allem Urteilen aussetzen, bis daß man weiß; dann wird das Ergebnis, zu dem man gelangt, keiner subjektiven Meinung, sondern objektiver Einsicht Ausdruck verleihen. Ich weiß also nicht, was die Theosophie, als allgemeine Seinslehre verstanden, wert sein mag, deshalb lasse ich dies Problem ganz beiseite. Indessen gestehe ich, daß sie es mir angetan hat. Es liegt so nah, denen Bewunderung zu zollen, die das wagen, was man selbst zu unternehmen nie gewagt hätte, und die Theosophie ist überdies wirklich überaus anziehend. Sie ist so reizend jung und unerfahren, so alt und erfahren sie sich gibt, sie wirkt wunderbar anregend auf mich in ihrer Tollkühnheit, und gleich manchem jungen Rittersmann, welcher auszog, das Unmögliche zu vollbringen, mag sie's schließlich noch –: bis zu einem gewissen Grad wenigstens –: als möglich erweisen. Deshalb möchte ich ihr gern, soweit meine Kompetenz dies erlaubt, in ihrer Weiterentwicklung behilflich sein. Persönlich uninteressierte, aber wohlwollende Zuschauer sind manchmal zu erkennen fähig, was dem Handelnden entgeht. Vielleicht ergeht es mir so im Fall der Theosophie. Diese ist noch nicht arrivée, wie es im Französischen heißt, und dies nicht allein im Verstand des äußeren Erfolges, sondern auch im wichtigeren der inneren Vollendung. Mehr noch: falls ich mich nicht sehr irre, so macht sie eben jetzt eine Krisis durch, möglicherweise die große Krisis ihres Lebens. Falls sie sich heute in der Richtung ihres weiteren Vorgehens irrt, was ihr gar leicht geschehen kann, so mag sie ihre Laufbahn für lange Zeit verfahren. Allein dies braucht ihr nicht zu passieren. Sieht sie nur rechtzeitig einige einfache Wahrheiten ein, die ihr bisher offenbar nicht aufgegangen sind, die ihr aber, falls sie zu sehen willens ist, sobald sie ihr vorgehalten werden, einleuchten müßten, dann wird die Theosophie aller Wahrscheinlichkeit nach ans Ziel gelangen und zu einer wahrhaft wohltätigen Lebenskraft erwachsen. Um hierbei mitzuhelfen, übergebe ich die folgenden Bemerkungen einer weiteren Öffentlichkeit Sie erschienen in englischer Sprache zuerst im Märzheft 1912 des Theosophist (Adyar-Madras)..

 

Ob der Begriff eines Absoluten, im gewöhnlichen Wortsinn verstanden, einer Wirklichkeit entspricht, ist nicht gewiß; sicher tut er dies, sofern er als äußerste spezifische Vollendung definiert wird. Denn alles Lebendige, handele es sich um Körper, Seelen oder Ideen, kann einen so vollkommenen Ausdruck finden, daß eine Weitervervollkommnung seiner nicht nur unmöglich scheint, sondern unmöglich ist. Dies kommt daher, daß alle konkreten Lebenstendenzen innerlich begrenzt sind; wären sie unbegrenzt, kein Ausdruck vermöchte sie zu erschöpfen. Jeder Mensch gehört einem bestimmten Typus, einer gegebenen Zeit und einer besonderen Rasse an; er ist ein Individuum, männlichen oder weiblichen Geschlechtes; und genau im gleichen Verstand ist jeder Gedanke der Ausdruck bestimmter, individualisierter und insofern endlicher geistiger Bewegungsrichtungen, mag ihr Urquell im Übrigen aus der Unendlichkeit des Lebens selbst entspringen. Vom Standpunkt der reinen Vernunft aus geurteilt, sollte dieser Umstand eine verhängnisvolle Einschränkung bedingen. In Wahrheit enthält die in der Tat vorliegende Beschränkung, sintemalen das Leben einen zugleich immerwährenden und immer wieder aufgehaltenen Entwicklungsvorgang darstellt, innerhalb dessen das Höhere als paradoxales Ergebnis des ausgelebten Niederen in die Erscheinung tritt, zugleich das Prinzip alles dessen, was wir groß und bedeutend heißen. An das Unendliche ist kein Maßstab anlegbar; wären wir nicht endlich, unseren Idealen fehlte jede Grundlage. Wir könnten nicht nach dem Schönen, Guten, Wahren streben, denn diese Ideen hätten nie das Licht der Welt erblickt. Wir bewundern das Vollendete, Vollendung aber setzt einen Maßstab voraus, dieser Maßstab seinerseits eine Wirklichkeit, an die er ohne Vorurteil angelegt werden kann: so kann Vollendung unmöglich anderes bedeuten als den vollendeten Ausdruck gegebener Möglichkeit. Auf dieser Erkenntnisgrundlage erweist sich so manche Frage, die kein absoluter Idealismus zu beantworten wußte, von vornherein gelöst. Warum bewundern wir eine schöne Frau? Weil das Formstreben ihrer Rasse und ihres Typus in ihr vollendeten Ausdruck fand, daher erfüllt, was andere Frauen bloß versprechen und desto sehnsüchtiger erwarten lassen. Warum bewundern wir Männer wie Cäsar, Goethe, Augustin? Weil sie das in sich vollkommen realisiert haben, was in ihnen nach Ausdruck rang und Gleiches in uns allen tut. –: Im Fall von Gedanken und Ideen liegen die Dinge ebenso. Jeder Ausspruch, jedes Gedankensystem erscheint uns tief, in welchem das, was es sein wollte, vollendet zum Ausdruck kam; welcher Satz auch in umgekehrter Fassung gilt. Mag diese Deutung der Größe und Tiefe die Wahnidee eines selbstgegründeten Absoluten stürzen –: sie führt doch zu keinem Relativismus im gewöhnlichen Sinn. Wer sich vollendet auszudrücken weiß, ist eben dadurch ein höher geartetes Wesen, denn der Mittelmäßigkeit fehlt diese Kraft; und hat einer sich vollkommen ausgedrückt, so hat er eben damit, unabwendbar, die Wahrheit gesprochen. Mögen seine Ausdrucksmittel als solche noch so unbefriedigend gewesen sein –: gelang es ihm, vermittels ihrer, vollständig auszudrücken, was er sagen wollte, dann hat er notwendig mehr gesagt, als er je meinen konnte. So paradox dies klinge, es ist wahr. Jeder lebendige Körper, ob noch so beschränkt im Rahmen von Raum und Zeit, enthält und verkörpert doch das Ganze der Lebenswelle, die sich vorübergehend in ihm materialisierte. Das heißt, das Vorübergehende bedeutet das Ewige und ist insofern identisch mit ihm. Oder noch anders ausgedrückt: das Endliche reicht tatsächlich über seine Grenzen hinaus, da es das Prinzip aller nur möglichen Grenzen zum Ausdruck bringt. Dieses ist der Sinn dessen, was ich vorhin über das Verhältnis von vollendetem Ausdruck und Wahrheit niederschrieb. Jede ganz und vollkommen verkörperte Idee bedeutet und enthält nicht allein diese eine Inkarnation, sondern das Prinzip dieser sowohl, als jeder nur möglichen folgenden, woraus hervorgeht, daß sie wesentlich wahr ist, was immer gegen ihre Erscheinung zu sagen sei. Deshalb hat der Tod keine Macht über sie, nur ihre Körper vermag er zu töten; diesen allen aber ist andererseits das Kastenabzeichen der absoluten Wahrheit aufgeprägt, allen Wissenden kenntlich. Doch gilt solches allein von vollendeten Verkörperungen, denn nur das Vollendete ist ganz zum Leben geboren. Das Unvollendete stellt nur einen Versuch zu leben dar, und kein erfolgloser Versuch vermag seinem geistigen Beweggrund einen lebendigen Leib zu erschaffen. Auf diese Weise erweist es sich, daß der Begriff der Vollendung als des vollendeten Ausdrucks gegebener Möglichkeit keineswegs zur flachen Ansicht gewisser Philosophien führt, daß alles Vorhandene eben deshalb wahr sei; im Gegenteil: es realisiert auf höherer Ebene den Glauben an eine absolute Wahrheit. Freilich gibt es kein Absolutes im intellektualistischen Verstand, aber das Vollendete bedeutet das Absolute. Als vollendeter Ausdruck gegebener Möglichkeiten ist es alles, was es zu gegebener Zeit in einer dauernd-sich-wandelnden, fortwährend-sich-entwickelnden Welt überhaupt als wirklich geben kann.

Betrachten wir die Frage jetzt von einer anderen Seite her. Wir kamen zum Schluß, daß nur das Vollendete eine volle Verwirklichung dessen bedeutet, was zu verwirklichen war. Hieraus ergibt sich, für den Fall lebendiger Menschen, daß nur große Menschen ganz am Leben sind, und für den Fall von Wahrheiten, daß keine Wahrheit als ganz wahr gelten darf, sofern sie nicht in den angemessenen Begriffen ausgesprochen wird. So übertrieben diese Sätze klingen, die Geschichte beweist durchaus ihre wörtliche Richtigkeit. Nur wahrhaft große Menschen leben fort, nur wahrhaft große Ideen und Gedankensysteme entrinnen dem Untergang. Die Unsterblichkeit, richtig verstanden, bedeutet eben nicht die Fortdauer des Toten dank äußeren Umständen (so wie Felsen dauern, weil die Luft sie nicht zersetzen kann, Mumien, weil die Leichname einbalsamiert wurden, und Menschen ohne inneren Anspruch auf Unsterblichkeit, weil die Lebenden sie nicht vergessen haben oder Bücher ihre Erinnerung aufbewahren), sondern die fortdauernde Wirksamkeit eines Prinzips trotz des sukzessiven Dahinschwindens seiner Verkörperungen. In eben diesem Sinne bleiben große Männer und große Gedanken immerdar am Leben. Doch gilt solches ausschließlich von den Großen, d. h. von denen, die ihre Vollendung irgendwie erreichten. Die Unvollendeten können nicht fortleben aus dem einfachen Grund, daß sie ins Leben überhaupt noch nicht ganz hineingeboren waren. Es ist merkwürdig, wie selten diese Sachlage verstanden wird. Die Meisten wähnen, daß die geschichtlich Großen ein Absolutes, Unbedingtes darstellen, wo sie in Wahrheit nichts anderes bedeuten, als die volle Verwirklichung der Lebenstendenzen, die alle Zeitgenossen gleichen Typus' mit ihnen teilten; während sie in ihrem eigenen Fall immer wieder der Einbildung fröhnen, die Menschheit um unsterbliche Gedanken bereichert zu haben, wo sie in Wahrheit nur trübe Erschautes, kaum Verstandenes ungenau ausdrückten. Tatsächlich –: und Tatsachen müssen anerkannt werden, so unwillkommen sie seien –: hat keiner ein Recht auch nur auf den Traum, irgend etwas von bleibender Bedeutung geleistet zu haben, bevor er die seiner Individualität erreichbare spezifische Vollendung nicht erreicht hat. Keine Idee wird jemals zu einer Lebenskraft von wahrer Macht werden, bevor sie nicht ihre vollständige Verkörperung fand. Hier handelt es sich um keine Behauptung, sondern ein Axiom. Denn Ideen verhalten sich in diesem Zusammenhang genau so wie lebendige Menschen. Alle Reinkarnationsgläubigen im Sinne der Theosophie werden mit mir (dem Reinkarnation ein etwas anderes bedeutet) wohl in Folgendem übereinstimmen: das Unverkörperte hat keine reale Macht; entleibte Seelen können auf diese Welt nicht wirken. Sie müssen sich in Fleisch und Blut materialisieren, um zu Kräften zu werden. Unausgedrückte oder schlecht ausgedrückte Ideen nun sind entleibte Seelen; deshalb ermangeln sie der Wirkungskraft.

Alle großen Gedanken, Gedankensysteme und Religionen sind, ich bemerkte es bereits, vollständige und vollkommene Verkörperungen gewesen. Gewiß nicht immer in Form abstrakter Begriffe, wohl aber immer in durch ihr bloßes Dasein überzeugender Gestalt (lebendiger Persönlichkeit, symbolischer Sprache usw. Wenn Heraklits oder Laotses Aphorismen vom Standpunkt des logischen Denkens dunkel erscheinen, so rührt dies von der Wahl eines falschen Standorts her; man soll Musik nicht nach den Regeln der Malerei beurteilen. In ihrer spezifischen Ausdruckssphäre ist die symbolische Sprache Heraklits genau so klar wie in der seinen die Voltaires). Solches gilt in geradezu wunderbarem Grade von der frühesten indischen Philosophie, sowie von den Lehren mancher mittelalterlicher Mystiker. Allein es gilt nicht bisher von der modernen Theosophie.

Fern sei von mir, darüber zu urteilen, was meine Verständnisfähigkeit übersteigt; nur davon will ich handeln, was ich persönlich beurteilen kann. Nun kann ich dies hinsichtlich der meisten Behauptungen, die das tiefste Selbst in uns betreffen, und dies desto besser, als die Psychologie und Metaphysik der Theosophen mit der altindischen zusammenzufallen vorgibt. Und da zögere ich nicht, das Urteil auszusprechen, daß es an einem befriedigenden Ausdruck, einem Ausdruck, der eine vollständige Verkörperung bedeutete, bisher noch fehlt. Ich bin in der theosophischen Literatur einigermaßen bewandert und weiß in vielen Fällen recht gut, was gesagt werden soll: leider wird es nicht tatsächlich ausgesprochen, und deshalb ist die vorgetragene Lehre nicht wahr. Oft ist darauf hingewiesen worden, daß die Theosophie eins der materialistischsten Gedankensysteme aller Zeiten darstellt: mit vollem Recht. Nicht zwar in dem Verstand, daß Götter, Geister usw. nicht das sein sollten, was Hellseher von ihnen berichten –: gibt es sie überhaupt, dann gehören sie zur Natur genau im gleichen Sinn, wenn auch auf anderer Ebene, wie die aller Welt bekannten Phänomene Vgl. hierzu das erste Kapitel meiner Prolegomena zur Naturphilosophie. –:, sondern in dem, daß die Begriffe, welche sich die meisten Theosophen von geistigen Wesenheiten machen, im selben Sinne unzulänglich sind, wie die eines Ludwig Büchner, Lucretius und Lamettrie. Die unmittelbare Gegebenheit des Materialisten ist keine andere als die des Idealisten; der Unterschied zwischen beiden beruht auf der Art, wie beide Teile jene verstehen. In diesem Verstehen nun sind alle Materialisten, mit Einschluß der Theosophen, ausgesprochen unglücklich gewesen. Ein Beispiel dessen genüge: ich wähle das der verschiedenen sogenannten Körperhüllen des Menschen. Sicher gibt es verschiedene mögliche Bewußtseinsebenen; höchstwahrscheinlich entsprechen diesen verschiedene Schichten der Materialität, obschon die Meisten, unter anderen auch ich, der Organe entbehren, welche dies nachprüfen könnten. Aber die theosophische Theorie selbst ist ohne Zweifel falsch. Mag der Mensch noch so vielfältiger Körperlichkeit teilhaftig sein, er ist kein zusammengesetztes Produkt der Art, wie die Theosophie dies lehrt; er besteht aus keinem geistigen Kern, der in eine Folge materieller Hüllen eingeschlagen wäre, von denen jede höhere spiritueller und weniger materiell erschiene: der lebendige Mensch ist ein spirituelles Prinzip, das sich in materieller Gestalt genau im gleichen Sinne ausdrückt, wie ein Gedanke in Worten Vgl. hierzu den Vortrag »Sinn und Ausdruck in Kunst und Leben« in dem Buche Schule der Weisheit (Darmstadt 1921).. Deshalb dürfen Körper und Geist auf die theosophische Art nicht unterschieden werden; da jede von jenen einen Ausdruck dieses und sonst nichts bedeutet, so sind alle, von einer Seite her betrachtet, gleich spirituell, und, von der anderen Seite her, gleich materiell. Das Spirituelle ist auf der physischen Ebene genau so gegenwärtig, wie auf jeder anderen; für sich selbst hat es keinen Erscheinungsplan. Unverkörpert fehlt ihm die aktuelle Existenz, verkörpert trägt es notwendig ein stoffliches Gewand, und da Stoff Stoff bleibt (ob auch noch so verschieden an Qualität und Wert, je nachdem wozu er dienen soll), so gibt es keine Ebene, die höher als eine andere im Sinn von »spiritueller« oder »weniger materiell« wäre –: noch kann es eine geben. In bezug auf den Atman ist daher ein Wechsel der Bewußtseinsebene bedeutungslos Genaueres hierüber steht im Adyar-Abschnitt meines Reisetagebuchs.. Eine vollkommene Verkörperung in der Physis bedeutet genau so viel in bezug auf ihn, wie eine solche in mentaler oder astraler Sphäre. Nun ist aber der Mensch, als lebendiges, bewußtes, als Subjekt handelndes Wesen überhaupt nur Atman, und stelle er sich im Übrigen noch so oberflächlich dar. Er ist ebensowenig einer seiner Körper, wie der Gedanke mit den Buchstaben, die ihn ausdrücken, zusammenfällt, und ebensowenig wie jener aus diesen, vermag der Geist aus dem Körper herausgeschält zu werden. Die altindische Philosophie hat hierin ziemlich klar gesehen. Die Theosophie hingegen hypostasiert bestimmte Phänomenalitäten zu metaphysischen Wirklichkeiten und kann nicht umhin, wo sie einmal diese Bahn betrat, eine regelrechte Skala von der Materie zum Geist zu konstruieren, was notwendig zu einer materialistischen Auffassung dieses führt. Sehr viele der theosophischen Lehren sind in solchem Verstande falsch. Nun können aber ungenau ausgedrückte, oder was Gleiches bedeutet, nicht vollständig verkörperte Ideen, wie oben ausgeführt, keine positiven und wohltätigen Lebensmächte werden. So bietet die Theosophie in ihrem augenblicklichen Zustand dem unerfahrenen Wahrheitssucher in der Tat keine förderliche Arbeitshypothese. Da die meisten dieser zwischen Ausdruck und Sinn, zwischen Tatsachen und reflektierter Theorie nur schlecht unterscheiden, so gehen sie mit Unvermeidlichkeit von unzutreffenden Grundvoraussetzungen aus. Dann schreiten sie, da der Ausgangsort die Zielsetzung bedingt, in hoffnungsloser Richtung fort, selten scharfsichtig genug, die wahre Lage auf halber Wegstrecke zu erkennen. Und dies ist noch nicht das Schlimmste. Der erfolgreiche Widerstand, dem sie überall begegnen, wo sie mit kritischen Geistern zusammentreffen, ruft nur zu oft fanatischen Dogmenglauben in ihnen wach, welcher Umstand mit Unvermeidlichkeit ihre Erkenntnisfähigkeit schädigt. So ist die Theosophie auf dem besten Wege dahin, noch bevor sie eine Periode vorurteilslosen Forschens durchmaß, zu scholastischem Systeme auszukristallisieren.

Ist hiergegen gar nichts zu tun?

O ja, doch nur in einem Fall: daß die Theosophie es sich zur Grundmaxime mache, von der Systematisierung abzusehen, bis daß die Tatsachen und ihr Sinn einigermaßen feststehen. Ihre größte Gefahr liegt im blinden Glauben an Autoritäten, zumal an die orientalischer Lehrer und Meister. Niemand bewundert Indiens große Denker mehr, als ich dies tue; ich wies schon darauf hin, daß wir ihnen die vollkommensten Ausdrücke für alle das Selbst betreffenden Wahrheiten danken, die wir bisher besitzen. Allein jene wahren Weisen sind nicht die Urheber der Systeme gewesen, die neuerdings von der Theosophie aufgegriffen und weiter ausgearbeitet wurden: diese sind von Kommentatoren zusammengezimmert worden, einer ganz anderen Sorte von Leuten. Diese waren keine Seher, wie ihre Meister –: wären sie solche gewesen, nie hätten sie's gewagt, die Sûtras zu »erklären«; sie waren gute Logiker und Dialektiker, nicht mehr, gleich den meisten systematischen Philosophen. Daher konnten sie für ihre Person nicht einsehen, daß die höchsten Wahrheiten jenseits aller nur möglichen Systeme belegen sind, jenseits der Sphäre des Intellekts überhaupt, dessen Wege zu ihnen nicht hinanführen Vgl. hierzu mein Reisetagebuch (man schlage im Register unter »System« und »Wahrheit« nach).. Keiner der vielen Kommentatoren war sich hierüber klar, und da keine Tatsache im Reich ihrer Gegebenheit ihnen zur Klarheit verhelfen konnte, so fehlte ihren logischen und dialektischen Betätigungen jede Hemmung. Auf diese Weise sind jene verschränkten und verstrickten Systeme der Metaphysik entstanden, die, lawinenartig an Umfang zunehmend, vom Altertum bis in unsere Zeit hinabgerollt sind; sie entsprechen überhaupt keinem realen Zusammenhang, dies sei denn durch Zufall. Die modernen Theosophen nun schauten angesichts der Schwierigkeit, ihre seltsamen Erlebnisse zu verstehen, nach solchen aus, die ihnen helfen könnten, wobei ihnen das Gleiche passierte, was den meisten jugendlichen Geistern widerfährt, die einem Buch begegnen, was eben das anscheinend ausspricht, was sie selber sagen wollen, aber nicht können: sie setzten von vornherein voraus, daß ihre Vorgänger ihr Ziel erreicht hätten. So übernahmen sie die überlieferten Systeme ohne Kritik. Die erste Folge dieses Vorgehens war nicht ohne Komik. Da sie von der Wahrhaftigkeit der Systeme überzeugt waren, so ging ihr persönliches Streben dahin, nicht die Tatbestände vorurteilslos zu erkennen, sondern vielmehr die Theorien Indiens oder des Mittelalters zu bestätigen. Und da es alle Zeit möglich ist, jede Tatsache mit jeder beliebigen Theorie zu vereinbaren, vorausgesetzt, daß man die Haltbarkeit des ausgespannten Gedankennetzes nicht kritisch untersucht, so gelang es ihnen wirklich, wenn auch noch so oft auf Kosten der Wahrheit, jene zu bekräftigen. Heute sind viele Phänomene in ihrem Bewußtsein von Interpretationen, die jenen vielfach in keinem Sinn gerecht werden, überhaupt nicht mehr zu trennen; schlimmer noch, manchmal wähnen sie die Richtigkeit als wahr vorausgesetzter Lehren eben dann zu. bestätigen, wenn sie von Erlebnissen künden, welche jene recht eigentlich widerlegen. Dauert dieser Zustand noch lange an, so wird er der Theosophie nicht minder verderblich werden, wie der gleiche der Philosophie des Mittelalters in Europa und der aller Zeiten in Indien, seitdem die großen Lehrer dort ausstarben, verhängnisvoll geworden ist. Diese Gefahr ist desto größer, weil die empfohlene Methode der Meditation, genügend lange ausgeübt, unentrinnbar zur subjektiven Realisierung des vorgestellten Gegenstandes führt, so daß nicht außerordentlich philosophisch veranlagte Geister nicht umhin können, an die Wahrheit einer lange meditierten Doktrin zu glauben, da sie jene ja erfahren –: mag sie im übrigen noch so irrtümlich sein. Freilich bedeutet Yoga-Praxis eine ausgezeichnete Übung für Seele und Geist, nur muß man wissen, wie man sie betreibt; nie darf sie in Selbsthypnotisierung vermittels unkritisch übernommener Vorstellungen bestehen. Solche nun tritt außerordentlich leicht ein, so oft einem das Ergebnis einer Versenkung vorausgesagt wird Vgl. meine Abhandlung Zur Psychologie der Systeme im Anhang zu Schöpferische Erkenntnis.. Nur wirklich starke Geister sind gegen diese Gefahr gefeit; gerade der Yogaschule selbst ist sie verderblich geworden. Patanjali, allem Anschein nach ein wahrhaft großer Geist, der seine Erkenntnis durch echte Selbstvertiefung, nicht durch Meditation überlieferter Theorien gewonnen hatte (der aber leider, gleich den meisten Lehrern von Genie, eben das für lehrbar hielt, was seinem Wesen nach unübertragbar ist), sagt irgendwo, nach Beschreibung seiner Vision des Sonnensystems: »All dies noch Ungesehene muß der Yogi schauen, indem er über dem Sonnensystem Samyama macht, und hierauf über anderen verwandten Gegenständen. Möge er üben, bis ihm dies alles sichtbar wird.« Nun, seine Jüngerschaft übte, und manchem unter ihnen ist »dieses alles« auch sichtbar geworden –: jedoch in welchem Verstand? –: In dem einer Halluzination. Dies erweist die Tatsache, daß kein Schüler weiter gelangt ist als der Lehrer, es sei denn im Sinn der Systematisierungsarbeit, die augenscheinlich nicht auf reicherer Erfahrung beruht. Innerhalb der modernen Theosophengemeinde treibt man's nicht viel besser. Ein Erkenntnisfortschritt findet aus gleichen Ursachen kaum statt. Und doch sollte die Geschichte der indischen Philosophie zum warnenden Beispiel dienen. Man sollte doch einsehen, daß selbst wenn das heute anerkannte System im Ganzen richtig wäre, Samyama-machen über demselben nicht weiterbringen wird. Systeme sind bestenfalls richtige Interpretationen –: was soll da deren Meditation? –: Aus allen diesen Erwägungen heraus sollte die Theosophie, wenn sie das vorzeitige Systematisieren einmal nicht lassen kann, doch auf ihre Systeme möglichst geringes Gewicht legen. Wahrscheinlich sähen es viele ihrer Jünger gar nicht gern, wenn die Führer meinen Rat beherzigten, wollen sie doch nichts anderes als Erklärungen haben, welche sie blind glauben und bei denen sie sich ein für allemal beruhigen könnten. Überdies scheint es für den Intellekt kein schwereres Opfer zu geben, als das Sacrificium explicationis. Indessen, dieses muß manchmal gebracht werden. Hier, wenn irgendwo, ist Selbstbeherrschung durch Yoga am Platz. Nichts beweist eindeutiger die Unkultur eines Geistes, als die Unfähigkeit, solches Opfer zu bringen. Der Ungebildete erklärt immer und alles, er deutet, urteilt, verallgemeinert coûte que coûte, ohne auch nur ein klein wenig abwarten zu können. Aus diesem Grund erscheint Aberglaube unausrottbar, sind Frauen so viel systemsüchtiger als Männer. Der Gebildete vermag zu warten, bis daß er den Tatbestand erfaßt hat und enthält sich jedes Urteils überhaupt, falls er erkennt, daß die Zeiten für ein abschließendes nicht reif sind, oder daß sein eigenes Erkenntnisvermögen dazu nicht taugt. Denn wenn vollkommen ausgedrückte Wahrheit auch jedermann einleuchtet, so vermögen nur sehr wenige den Ausdruck selbständig zu finden. Zweifelsohne wird unter den Theosophen irgendeinmal, falls ihre Lehre grundsätzlich zutreffen sollte, ein genügend starker Geist erstehen, um ihrer Wahrheit die entsprechende Fassung zu geben. Allein es lohnt sich nicht, diesem Ereignis vorzugreifen. Was einem von Natur nicht liegt, gelingt einem doch nicht, man mühe sich ab so viel man mag; dabei leidet die Arbeit, der man gewachsen ist, unter der unfruchtbaren Kräfteverausgabung. Und dann kann die Theosophie, nach unerbittlichem Weltgesetz, vor der Stunde zu keiner wohltätigen Lebensmacht werden, bevor sie nicht ihren vollkommenen Körper fand. Daß dieser bisher noch aussteht, tut ihr keinen Abbruch, was immer ihre schüchternen Anhänger oder böswilligen Kritiker glauben mögen: jene hypersensitiven Naturen, welche erfahren können, was gröbere überhaupt nicht affiziert, sind selten im intellektuellen Sinne stark. Sie haben meistens etwas Weibliches, ihr sympathisches Nervensystem überwiegt das Gehirn, wie denn hellseherische Frauen zu aller Zeit häufiger waren als gleich begabte Männer. Was aber der Theosophie freilich Abbruch tut, das ist die Tatsache, daß ihre Jünger als offenbarte Lehren verkünden, was allergünstigstenfalls eine vorläufige Deutung bezeichnet. Die Tatsachen an sich selbst sind doch so wunderbar, daß sie auch ohne Deutung einem tröstlichen und förderlichen Glauben zum Gegenstand dienen können. Und da die meisten Theosophen im Grunde nichts anderes erstreben, als solchen Glauben, so sehe ich nicht ein, weshalb die Theosophie sich tödlichen Gefahren aussetzen will, indem sie, mehr lehrend als sie bis heute lehren kann, einen vermeidbaren Fehler nach dem anderen begeht.

II.

Heute will ich das kurz zusammenfassen, was ich über die Theosophie außer dem noch zu sagen hätte, was der Adyar-Abschnitt meines Reisetagebuchs und der vorhergehende, in etwas breiterer Fassung ursprünglich im Märzheft 1912 des Theosophist (Adyar-Madras) veröffentlichte Aufsatz über dieses Thema bringen. Beide Auseinandersetzungen orientierten sich hauptsächlich an der angelsächsischen, vornehmlich von Mrs. Annie Besant inspirierten Theosophenbewegung. Die folgende wird vorzugsweise auf deren deutsche, Steinersche Abart Bezug nehmen. Im Übrigen bemerke ich ausdrücklich voraus, daß ich mit diesen drei Abhandlungen den Gegenstand auch für mich nicht als erschöpft betrachte. Schon durch sie hindurch wird der aufmerksame Leser eine innere Entwicklung feststellen können. Es sollte mich wundern, wenn diese nicht bis zu meinem Lebensende anhielte, so daß ich nicht noch öfters Anlaß fände, mich von neuer Grundlage aus dem Problem der »Geisteswissenschaft« zu widmen.

Seit dem Jahr 1911, in dem ich zum erstenmal mit der Theosophie (in Indien) in persönliche Fühlung kam, hat diese in ungeheurem Maß an Bedeutung und Macht gewonnen. Dies hängt damit zusammen, daß sie durchaus ein Kind ihrer Zeit, mit ein Ausdruck dessen ist, was allem Werden Sinn und Richtung gibt, und diese Richtung sich immer mehr präzisiert. Die Welt von gestern stirbt, eine neue drängt gleichzeitig ins Dasein; der Gesamtzustand der Menschheit muß demzufolge ein krankhafter sein. So versteht sich das Vorherrschen von Zersetzungserscheinungen in dieser Zeit recht eigentlich von selbst, und daß solche innerhalb der theosophischen Bewegung besonders zahlreich vorkommen, bietet desto weniger Anlaß zur Verwunderung, als deren ganzer Charakter sie zum Sammelbecken alles irgendwie Pathologischen –: vom Aberglauben bis zum Neuro- und Psychopathischen –: vorherbestimmt erscheinen läßt. Deshalb setzt sich die Theosophengemeinde zu einem beträchtlichen Teil aus solchen zusammen, welche nicht dem Neuwerdenden, sondern dem Sterbenden und Schlackenhaften angehören. Nichtsdestoweniger ist die theosophische Bewegung doch wesentlich jenem zuzurechnen. Sie ist ein Ausdruck unter anderem des Bestrebens, zu geistiger Wirklichkeit ein unmittelbares Verhältnis zu gewinnen, aus ihr heraus zu leben. In dieser Hinsicht stimmen buchstäblich alle als positiv zu beurteilenden Bewegungen dieser Zeit überein. Auf allen geistigen Fronten erscheint der Materialismus heute besiegt. Ob es sich, in der Philosophie, um Simmels drittes Reich, Husserls Wesenserkenntnis, die Welt der Werte oder des Sollens von Höffding und Rickert handelt, oder um die wachsende Hochschätzung der indischen Methaphysik; ob um die religiösen Bestrebungen Johannes Müllers und des New Thought, die neuen medizinischen Theorien von Freud bis Schleich: überall bricht sich die Anerkennung einer Realität jenseits des Sinnlich-Sichtbaren Bahn; immer mehr wird geistige Wirklichkeit eben als wirklich anerkannt, nicht bloß als Spiegelung oder Menschengeschöpf. Was der Theosophie nun innerhalb dieser Gesamtbewegung ihren Sondercharakter verleiht, ist, daß sie geistige Wirklichkeit von außen anzuschauen trachtet, wo diese sonst nur als subjektiv-innerlich erlebbar gilt. Sie ist insofern der letzte und äußerste Ausdruck des materialistisch-naturwissenschaftlichen Zeitalters. Aber gleich wie die noch so äußerliche Naturwissenschaft in ihrer eigensten Sphäre durchaus und einzig berechtigt ist, ebenso bedeutet jene »Naturwissenschaft des Geistes«, als welche Rudolf Steiners sogenannte »Geisteswissenschaft« am Treffendsten zu kennzeichnen wäre –: denn sie behandelt das Geistige genau so von außen her, wie die Naturforschung die physische Welt–:, sofern sie einen realen Gegenstand hat, nicht allein etwas überaus Interessantes, sondern etwas unbedingt Berechtigtes. Daß sie nun einen realen Gegenstand hat, bezweifle ich nicht, nicht zwar aus persönlicher Hellseher-Erfahrung, die mir fehlt, sondern aus Erwägungen der Wahrscheinlichkeit, die man in meinem Reisetagebuche nachlesen möge. Auf alle Fälle erscheint mir gewiß, obschon ich den Beweis dessen nicht erbringen kann, daß Gedanken, Gefühlen usw. innerhalb ihrer Sonderwelten spezifische Formen körperhafter Art entsprechen, welche ihr objektives Dasein kennzeichnen, was nichts anderes besagt, als daß das Geistige, das sich, von normaler Bewußtseinslage her betrachtet, als ein rein Innerliches, Subjektives, Unobjektivierbares darstellt, zugleich eine Außenansicht hat. Damit ist das Problem der Realität des Gegenstandes einer möglichen »Geisteswissenschaft« im Steinerschen Verstände prinzipiell positiv entschieden. Und darauf kommt es an. Fortan kann kein Versagen im Einzelnen mehr in meinen Augen den Wert der Sache selbst in Frage stellen. Den Einzelbehauptungen der Okkultisten stehe ich abwartend gegenüber –: die Zeit ist gewiß nicht mehr fern, wo wir Genaueres wissen werden. Im Bereich dessen, was man die Physiologie des Übersinnlichen nennen könnte, dürfte schon manches heute richtig erkannt sein. Daß die Dinge hinsichtlich der allgemeinen Zusammenhänge, zumal historischen Charakters, ebenso liegen sollten, mag ich nicht glauben: das Meiste dessen, was über die Innenseite des Geschichtsprozesses, zumal des Christus-Ereignisses »offenbart« wird, klingt mir nach Wahn. Sicher ist ferner eins: sobald die »Geisteswissenschaft« vom Geist im Sinn der Philosophie und Religion zu künden vorgibt, redet sie Unsinn. Das »Geistige an sich« ist von außen überhaupt nicht anzuschauen, es ist nur innerlich, als Bedeutung, als Sinn zu fassen; und zu diesem wahren, inneren Sinn weist keine Deutungskunst im Steinerschen Verstande, die überall von außen nach innen vordringt, einen Weg. Sobald die »Geisteswissenschaft« vom Geistigen selbst, und nicht bloß dessen Außenansicht, Erkenntnis zu vermitteln vorgibt, und dergestalt Religion und Philosophie ersetzen will, führt sie zur Aufstellung eines noch absurderen materialistischen Systems, als es dasjenige Haeckels oder Ludwig Büchners war. Allein Rudolf Steiner selbst begeht diesen Fehler nur gelegentlich, aus mangelndem Wortgewissen mehr als aus Einsichtsmangel, häufig verfällt ihm bloß seine Gemeinde und beinahe immer –: leider –: die der Adyar-Theosophen. Steiner selbst ist, seinen besten Seiten nach gewürdigt, ein echter Naturwissenschaftler, und kulturgeschichtlich beurteilt wohl der äußerste Ausdruck des verflossenen naturwissenschaftlichen Zeitalters, das in ihm in ein geistigeres einmündet. Weshalb es nicht gegen, sondern für ihn spricht, und jedenfalls für sein Wesen symbolisch ist, daß seine geistige Laufbahn in gewissen Hinsichten von Haeckel ausging.

Die Theosophie bezeichnet den letzten und äußersten Ausdruck des naturwissenschaftlichen Zeitalters: aus dieser Erwägung allein gelingt es ganz, ihre historische Notwendigkeit sowohl, als den Sinn ihres ungeheuren Erfolges einzusehen. Die Masse bleibt hinter ihren Führern typischerweise um mindestens dreißig Jahre zurück; also steht sie, was immer die Oberfläche ihres Geists bewegen möge, innerlich heute da, wo etwa Ostwald stand; die Rückwendung zum Geistigen hat sie noch nicht wirklich, physiologisch mitgemacht. (Hieraus vornehmlich erklärt sich der ungeheuerliche, in der Geschichte einzig dastehende Materialismus, der in den revolutionären Erhebungen der letzten Jahre, trotz aller idealen Programme, die als solche allerdings in eine edlere Zukunft hinausweisen, zum siegreichen Ausdruck gekommen ist.) Folglich kann ihr geistige Wirklichkeit genau nur insoweit einleuchten, als sie dieselbe von außen her sieht. Manche wundern sich darüber, wie es nur möglich sei, daß die Inhalte der »Geheimlehren«, die noch bestenfalls als wissenschaftliche Wahrheiten bezeichnet werden können, den Gegenstand religiösen Glaubens bilden: dies ist eben ein Ausdruck unter anderem jenes wissenschaftlichen Zeitalters, das Religion nur als Wissenschaft zu verstehen fähig war. So glaubte Wilhelm Ostwald an die Energie. Und die theoretische Unzulänglichkeit dieser inneren Einstellung ändert nichts an ihrer historischen Notwendigkeit. Für die Mehrzahl gibt es heute tatsächlich keinen anderen Weg zur Religion zurück, als über die Wissenschaft, keinen anderen Weg zur Innerlichkeit des Geistes, als über dessen äußere Anschauung. Deshalb hat es in diesem Zusammenhang wenig Zweck, das Negative der Theosophie zu betonen: diese hat vielmehr gerade insofern ein geistiges Verdienst, als sie, den Materialismus auf die Spitze treibend, Materialisten über Materialisationen hinweg der Anerkennung geistiger Wirklichkeit zuführt. Diese Anerkennung bedeutet, kulturhistorisch, die Hauptsache.

Aus dem bisher Gesagten ergibt sich schon, daß die Rolle der Theosophie als bewußtseinsbetonter Bewegung die einer Vermittlerin, einer Übergangsstufe ist; und daß der ihr entsprechende Geisteszustand kein End-, sondern ein Anfangsstadium darstellt. Die »Geisteswissenschaft« weist den Massen dieser Zeit am Einleuchtendsten den Weg vom Materialismus zur Geistigkeit zurück. Im Übrigen aber trägt sie ein neues Moment, das als Impuls wirkt, in das Geschehen hinein. Dies besteht eben in der erkannten Möglichkeit, die Geisteswelt von außen anzuschauen und sich so ihrer selbständigen Wirklichkeit zu vergewissern. Diese Möglichkeit lag im Großen noch niemals vor; kein Wunder daher, daß sie das geistig-seelische Gleichgewicht bei überaus vielen erschüttert oder aufgehoben hat. Hier liegt die tiefste Ursache jenes vielfach Ungünstigen, das sich an der Wirkung der Theosophie bemerken läßt. Jedes Eintreten eines neuen Impulses in das Geistesgeschehen bewirkt zunächst eine Verjüngung in dem Sinn, daß Entscheidungen und Klärungen, die innerhalb eines früheren Zustandes stattgefunden hatten, auf einmal wieder in Frage gestellt erscheinen. Wenn man mit Recht sagt, daß der Weg der Geschichte der der Spirale ist, insofern als ein erreichter höherer Zustand im Allgemeinen einem früheren mehr ähnele, als dem nächstvorhergehenden, so läßt sich diese Folge geradezu gemäß dem Schema von Haeckels biogenetischem Grundgesetz begreifen: die Ontogenie wiederholt die Phylogenie; es tritt zunächst eine Primitivierung ein. Der neue Impuls versetzt den psychischen Zusammenhang in Gärung, so daß Unterstes zu oberst kommt und umgekehrt; was einerseits weiterbringt, entwickelt andererseits zeitweilig um Jahrhunderte, ja um Jahrtausende zurück. (Analoges haben alle heute Lebenden am Kriegszustand erfahren, welcher die Kämpfer einerseits hoch über sich hinaushebt, andererseits zu Tieren zurückbildet.) So hat der theosophische Impuls die, welche er traf, in vielen Hinsichten primitiv gemacht. Bei den Führern äußert sich dies darin, daß diese in bemerkenswerter Weise den frühesten Führern aus mythischen Zeiten gleichen. Gleich diesen sind sie im äußersten Maße vielseitig, schweifen sie aus in Synthesen gewagtester Art, verquicken sie Dichtung, Religion, Politik und Philosophie, scheiden sie schlecht zwischen objektiver und subjektiver Wahrheit; und in beiden Fällen hat dies den gleichen Sinn: von den wenigen Führern wird dermaßen viel verlangt, daß größere Kräfte von ihnen ausgehen, als ihnen ursprünglich innewohnen, und daß sie auch mehr geben, als sie letztlich verantworten können; sie müßten Übermenschen sein, wenn sie sich dessen enthielten. So wird jeder derartige Führer malgré lui unter anderem zum Mystagogen, Demagogen und im Grenzfall zum Charlatan. –: Wenn nun die Primitivierung im Fall der wenigen Führer unter anderem Steigerung bedeutet, so äußert sie sich bei den Geführten fast rein negativ. Kaum fällt für die Masse die Disziplin exakten Forschenmüssens fort, oder der innere Halt einer grenzenschaffenden Tradition, so schweift sie aus in völlig hemmungsloser Leichtgläubigkeit; kaum werden gewisse Schleier ihr gelüftet, so wird sie neugierig im allerunsaubersten Sinn. Ihre niedersten Instinkte erscheinen aufgewühlt, eine Lehre, welche Selbstlosigkeit als einzig zweckmäßig erweist, wird Vorwand und Deckmantel schrankenloser Selbstsucht. Es ist kaum übertrieben, zu behaupten, daß die Masse der Theosophiegläubigen auf einer menschlich tieferen Stufe steht, als die Masse der Kirchengläubigen, der Ungläubigen und der wissenschaftlichen Agnostiker, besonders letzterer, da deren Wissensverzicht nicht wenig moralische Kraft verlangt. –: Aber dieses Urteil sagt doch nichts aus gegen die Theosophie an sich; die Verjüngung, welche diese hervorruft, bedeutet ein eminent Gutes. Sobald jene als Urzustand, ja als Urchaos richtig erkannt ist, kann das Interesse für sie keinem dauernd schaden. Auf diese Erkenntnis vor allem kommt es an: denn sie ist die Trägerin des Impulses zur Differenziation, zu der inneren Klärung, dank der aus dem Chaos ein neuer, schönerer Kosmos werden kann. Sehen wir zu, wie dieser Prozeß zu beschleunigen sei.

 

Es muß auf breiterer Wissensbasis, auf höherer historischer Stufe die reinliche Scheidung wieder entstehen, die schon erzielt war, doch dank dem Eingreifen des neuen Impulses aufgehoben erscheint. Dissoziieren muß sich vor allem das, was Wissenschaft sein kann, was Religion und was auf immer der persönlich-ethischen Zielsetzung vorbehalten bleibt. Die Theosophie ist den meisten ihrer Jünger alles auf einmal –: genau im gleichen Sinn, wie den Jüngern der griechischen Naturphilosophien deren Lehre. Nun kann aber die Theosophie, ihrem innersten Gesetz nach, nur Wissenschaft sein, als Wissenschaft aber muß sie alles aus sich ausscheiden, was das Wissen trübt.

Die Ureinstellung der Theosophie ist eine theoretische, auch wo von Praxis allein die Rede ist; nicht Sein, sondern Sehen ist ihr Ziel. Soweit sie das Reich möglicher Erkenntnis zu erweitern sucht, ist sie unbedingt zu ermutigen, weshalb man aufhören sollte, den Okkultismus mit einem geringschätzigen Lächeln abgetan zu wähnen. Gerade dadurch bleibt dieses wichtige Forschungsgebiet, über dessen Vorhandensein sich gar nicht mehr streiten läßt, das Monopol unberufener Elemente. Daß diese zunächst vorherrschen, liegt in der Natur der Dinge: die Chemie war ursprünglich Alchemie, Quacksalber und Charlatane waren die ersten Naturforscher und Ärzte; die Frühperioden aller Wissenschaft tragen unsauberen Charakter. Für die »Geisteswissenschaft« nun muß dieses in besonders hohem Maße gelten, weil die zu ihr Befähigten besonders selten sind und es auf ihrem Gebiet besonders schwer hält, zwischen Erfahrenem und Eingebildetem zu unterscheiden. Überdies steht die neue Disziplin von der Außenansicht des Geistigen zur Zeit auf einer verhältnismäßig noch früheren Stufe, als dies die Naturforschung zu Empedokles Zeiten tat: also ist es kein Wunder, daß ihre Behauptungen bisher nicht allzugut begründet erscheinen. Desto mehr müssen sich die Theosophiebeflissenen darüber klar werden, daß ihr Heil einzig in strengster Wissenschaftlichkeit liegt. Gewiß hat diese Wissenschaft ihre besonderen Normen: Experimentieren, wie im Fall der Physik, ist im ihren unmöglich, manche Vorgänge mögen zu ihrem Ablauf Dunkel und Verschwiegenheit fordern. Auch ein Kind ist weder zu beliebiger Zeit gleichmäßig zu erzeugen und zu gebären, noch so schnell man mag, noch auch auf der Handfläche auszutragen. Aber der innerhalb der sachgemäßen Normen angewandte Gesichtspunkt muß zu einem rein wissenschaftlichen werden, und dies ist er bei der Mehrzahl noch nicht. Die Allermeisten sehen im »Geistesforscher«, wie ehemals im Naturforscher und Arzt, einen Zauberer und Magier; mit religiöser Weihe wird umgeben, was schlicht-sachliche Behandlung verlangt. Dieses gilt auch von den verschiedenen Yoga-Methoden. Vielleicht ist dieser Anforderung zunächst schwer nachzukommen. Wen es heute am Häufigsten zum Okkultismus zieht, sind nicht starke und klare Geister, sondern neugierige, trostbedürftige und abergläubische; vermutlich war Empedokles' und Paracelsus' Gefolgschaft gleichen Charakters. Diese Menschenklasse hat ihre historische Aufgabe: dank ihr wird das Interesse für Theosophie in so weiten Kreisen verbreitet, wie anders nie gelänge. Starke Geister hegen gegen unwahrscheinliche Behauptungen, zumal wenn solche von unmaßgeblicher Seite ausgehen, leicht ein Vorurteil. Deshalb bedarf es sehr ausgiebiger Vorarbeit seitens der Schwachen, damit die Starken deren mögliche Richtigkeit überhaupt in Frage stellen. Dann aber gelangt die Reihe ausschließlich an sie. Dann wird auch die Mehrheit innerhalb der heutigen Theosophengemeinde der Theosophie ebenso enttäuscht den Rücken kehren, wie äquivalente Kreise seinerzeit der zur Chemie sich wandelnden Alchemie, oder der wissenschaftlich werdenden Medizin, und sich neuen Dämmergebieten zuwenden. Dann wird auch die Manie ein Ende nehmen, die heute beinahe jeden, der sich für Fragen des Übersinnlichen interessiert, dazu antreibt, sich persönlich zum Hellseher auszubilden. Freilich wäre es schön, wenn alle möglichst alles selbst erfahren könnten; leider gelingt es nicht. Es ist ebensowenig wahr, daß jeder zum Hellsehertum befähigt sei, wie zur erfolgreichen Behandlung der höheren Physik: zu beidem bedarf es sehr besonderer Veranlagung. Persönliches Studium dessen jedoch, was einer Natur nicht liegt, führt unabwendbar von der wahren Lebensaufgabe ab. Denn mehr sehen bedingt durchaus nicht mehr und besser werden Vergl. hierzu den Adyar-Abschnitt meines Reisetagebuchs.. Freilich erkennt der, welcher mehr weiß, eben dadurch besser, was er soll; aber äußerliches Wissen und Leben bleiben grundsätzlich zweierlei. Aus theoretischer Einstellung heraus ist kein praktischer Fortschritt zu erzielen, selbst wenn der Besitz tiefsten Wissens höchste Tugend voraussetzen sollte. Dies ist die eigentliche Ursache dessen, weshalb seitens gläubiger Theosophen gar so selten große Fortschritte erzielt werden. Wer nun einsah, daß okkulte Ausbildung den Menschen im Übrigen nicht weiterbringt, der muß über die vielen Tausende, die es Steiner oder Leadbeater als Okkultisten gleich machen wollen, im selben Sinn den Kopf schütteln, als wenn sie alle zu Albert Einsteins praktischen Schülern würden.

Okkulte Ausbildung bewirkt keine Lebensvertiefung, weil sie letztlich auf Sehen, nicht auf Sein abzielt, und Schulung zum Wissen den innersten Menschen nicht ergreift. Hier waltet das gleiche Naturgesetz, welches dem Nur-Gelehrten den Weg zum großen Menschen versperrt. Mit ihm hängt ferner die bemerkenswerte Tatsache zusammen, daß alle größten Geister, von denen wir wissen, nicht Okkultisten waren. Solches gilt durchaus von den Philosophen, Dichtern und Weisen. Und wenn religiöse Genien, wie Buddha und Jesus Christus, abnormen Könnens schwerlich unfähig waren, so legten sie doch keinerlei Wert darauf, im Gegenteil. Ihnen war es allein um Seinsgestaltung zu tun, dazu aber bedarf es keiner außergewöhnlichen Gaben. Hier nun fassen wir die tiefste Ursache dessen, weshalb »Geistesschulung« religiös und ethisch nicht weiter bringt: alles schöpferische Gestalten, alles tiefere Leben geht auf ein Integrieren des Gesamtmenschen zu tieferer Einheit zurück, während der Weg zur Erkenntnis »höherer« Welten die Wirkungseinheit, zunächst wenigstens, beeinträchtigt. Dieser hat eben nicht die Integration, sondern die Differenziation des Organismus zum unmittelbaren Ziel und kann daher keine vertiefende Zusammenfassung herbeiführen. Nach Rudolf Steiner besteht der Mensch aus sieben Teilen in einem ähnlichen Sinn, wie das weiße Licht aus sieben Farben besteht. Nun leben wir tatsächlich (um im Bilde zu bleiben) als weißes Licht, und je weißer wir werden, d. h. je besser die Teilfarben zusammenwirken, desto vollkommener werden wir. Durch die Analyse oder Bewußtseinsbetonung des Unterschiedlichen nun wird die Einheit zerlegt. Dies beweist nichts gegen die Theosophie als Wissenschaft; als solche ist sie genau so nützlich und berechtigt, wie die Vivisektion, und vielleicht gelingt Höherentwicklung der Teile nur auf diesem Weg. Andererseits aber arbeitet solche Schulung zweifelsohne der Wirkungseinheit des Menschen entgegen. Wer sich auf Sehertum einstellt, wird schwer ein Vollmensch. Auf daß das Menschenwesen sich voll entfalte, müssen seine Bestandteile vom tiefsten Kern bis zur äußersten Oberfläche zusammenwirken, nicht sich auseinanderschälen, und zwar muß alles Tiefe an diese hinaus, um sich ganz zu verwirklichen. Dies erkennt auch die Theosophie insofern an, als sie lehrt, das Tiefste im Menschen, der Atman oder Geistesmensch, stehe in unmittelbarster Beziehung zum physischen Leib. Hierher rührt die ausgesprochene Diesseitigkeit aller tiefreligiösen Naturen, vor allem Christi; hierher deren ausgesprochene Feindseligkeit gegenüber aller Magie: ihnen kam es allein darauf an, den Menschen vollkommen zu machen. Nun ist, ich wiederhole es, eine höhere Organisierung seiner Erscheinungsform vielleicht wirklich nur auf dem Weg der Zersetzung erzielbar; jeder Aufstieg muß bezahlt werden. Aber jenes »Eine was not tut«, von dem Christus kündete, ist andererseits allein durch unmittelbares In-Beziehung-Setzen des Tiefsten in uns, des Atman, zu dieser Welt erreichbar und wird uns durch vorläufige Bestrebungen nicht näher gebracht. Wer, theosophisch gesprochen, vor allem an seinen Astralleib denkt, handelt dem Geistesmenschen in sich zuwider. Der Mensch ist darin wunderlich organisiert, daß er unmittelbar nach dem Höchsten streben soll; das Streben nach Höherem liegt nicht auf dem Weg zu diesem. Daher führt der beste Fortschrittsweg in der Sphäre des Lebens in entgegengesetzter Richtung gegenüber dem, welcher die klarste Erkenntnis zum Erfolg hat: liegt das Ideal hier in höchstdenkbarer Explikation, so liegt es dort in größtmöglicher Implikation. Das Wort muß Fleisch werden. Wohl ist Höherentwicklung in jedem Fall erwünscht. Aber die erworbene größere Differenziation oder Explikation bedeutet dann doch wieder nur die Vorstufe einer neuen Implikation, eines neuen Fleischwerdens des Wortes, auf das allein es letztlich hinzuzielen gilt. So soll auch die Erkenntnis höherer Welten implizit in uns werden; hier liegt das Ideal. Wir sollen das Leben aus dem tiefsten Grund zu meistern lernen. Dies nun haben alle wahrhaft Großen getan, und dies ist die wahre Ursache dessen, daß diese einerseits nie Okkultisten waren, andererseits doch immer wieder dafür gehalten werden: sie lebten unmittelbar aus den höchsten Welten heraus, hatten es daher für ihre Zwecke nicht nötig, diese überdies von außen anzuschauen. Überhaupt bedarf es grundsätzlich keiner »Geistesschulung«, um »okkulter« Wahrheiten bewußt zu werden. Wenn Steiner lehrt, Hellsehen könnten nur wenige, aber die Wahrheit des von Hellsehern Mitgeteilten einsehen beinahe alle, so ist nicht allein dieses grundsätzlich richtig: man kann auf die gleichen Wahrheiten, sofern sie Geistiges betreffen, kommen, ohne Seher zu sein. Tut man dies aber, so erfaßt man sie tiefer, da man sie innerlich ergreift, nicht bloß aus äußerlich Geschautem ableitet. Hierher rührt die Tatsache, daß die Worte von Sehern sich kaum je als unmittelbare Kraftträger erwiesen haben; die indischen Weisen haben sich in der Regel sehr gleichgültig ausgedrückt, und die überzeugtesten Verehrer Annie Besants und Rudolf Steiners können schwer behaupten, daß deren Schriften Styl hätten: sie haben eben nur beschrieben, nicht geboren, indem sie ihre Erkenntnisse zum Ausdruck brachten, und deshalb wohnt ihnen nicht dieselbe Lebenskraft inne, wie den gleichen Erkenntnissen, sofern sie von Nichtsehern aus persönlichem Wissen heraus ausgesprochen werden. Aus diesen Erwägungen heraus bin ich persönlich geneigt, Jesus Christus jede okkulte Ausbildung abzusprechen; in ihm war alles Wort wirklich Fleisch geworden; es bedurfte keines Heraustretens aus seinem normalen Bewußtsein, um Übermenschliches zu erleben. Von innen her betrachtet, erscheint die Grenze zwischen normaler und höherer Bewußtseinslage überhaupt illusorisch. Als Subjekt ist jeder letztlich nur Atman. Je tiefer sich einer verinnerlicht, desto tiefere Wahrheiten tun sich seinem normalen Bewußtsein auf. Der Weg zur Verinnerlichung aber führt in entgegengesetzter Richtung, als der zur okkulten Ausbildung. Um ganz zu verstehen, was ich hier meine, erwäge man noch Folgendes: überraschend vieles von dem, was nach Vivekânânda, Besant, Steiner oder gar Brandler-Pracht den erfolgreichen Geistesschüler auszeichnen soll, eignet normalerweise jedem überlegenen Menschen, jedem echten und durchgeistigten Gentleman, ja in einigen Fällen jedem, der überhaupt eine gute Kinderstube hinter sich hat. Also handelt es sich bei dem, was Geistesschulung bewirken soll, und bei den Wahrheiten, von denen der Okkultismus kündet, grundsätzlich um durchaus nichts sonst Unbekanntes: spezifisch für jenen ist allein, daß er von außen nach innen dringt. Dieser Punkt ist wesentlich. Wird man ernstlich aufmerksam auf ihn, so fällt einem auf, wie viele der sogenannten okkulten Wahrheiten jedem tieferen Menschen auf andere Weise bewußt sind, und daß eigentlich alle tieferen Werke von Bewußtseinsebenen aus geschrieben sind, die den geheimsten der Theosophie entsprechen. Diese Erwägungen zeugen unter anderem für die Wahrhaftigkeit der Lehren dieser. Sie erweisen aber zugleich die Berechtigtheit der Einschränkung, die im Vorhergehenden ihrer möglichen Bedeutung zuteil wurde. Zur Selbstvertiefung, zur Schöpfung tiefsinniger Werke bedarf es keiner Geheimschulung. Im Gegenteil, diese hindert gewöhnlich dabei, indem sie eine äußerliche Stellung zu dem ermöglicht, was sonst als Urquell aus dem tiefsten Innern bricht. Noch einmal: die Explikation, die sie bewirkt, kann, von der menschlichen Vollendung her beurteilt, nie mehr als die Vorstufe einer neuen Implikation bedeuten, eines neuen Fleischwerdens des Wortes, auf das allein es letztlich hinzuzielen gilt. So wird der wahre Fortschritt keinesfalls in einem Weitergreifen des Sehertums bestehen; zu diesem werden voraussichtlich immer nur wenige befähigt sein, und zur Förderung des Wissens dürften wenige Spezialisten auch immer genügen. Gipfeln aber wird er in einer Überwindung des heutigen theosophischen Bewußtseinszustandes, zum Besten einer tiefsten Innerlichkeit, die nach vorläufigen Tiefen nicht fragt. Sofern okkulte Schulung Gott zuführen soll, was sie nicht kann, muß sie schädlich wirken. Deshalb hat es seinen guten und triftigen Grund, wenn reinreligiöse Geister, wie Johannes Müller in Deutschland und in angelsächsischen Landen die Führer des New Thought, von den traditionellen Kirchen abgesehen, die Theosophie bekämpfen. Sie werden damit im Recht bleiben, bis daß das Urchaos, daß diese darstellt, sich soweit differenziert hat, daß Wissenschaft zu reiner Wissenschaft wird und Religion zu reiner Religion. Wozu die theosophische Einstellung aber im Guten führen kann, liegt ausschließlich auf jenem Gebiet.

 

Nachdem ich hiermit ausführlich dargelegt habe, wozu die Theosophie nicht taugt, kann ich mich nun zum Schluß ihren positiven Zukunftsaussichten zuwenden. Hat die »Geisteswissenschaft« einen realen Gegenstand –: und mir persönlich scheint dies gewiß –:, dann wird sie das Gebiet möglichen Wissens auf die Dauer in außerordentlichem Maße erweitern und dabei einen prinzipiellen Fortschritt herbeiführen von unüberschätzbarer Bedeutsamkeit. Alle positive Religion war bis heute insofern primitiv, als sie ein unreines Gemisch von Glauben und Wissenschaft darstellt. Religion bedeutet persönlich-wirksame Verbundenheit mit Gott, und den Weg zu dieser, nichts anderes Vergl. hierzu mein Reisetagebuch (s. dessen Register unter »Religion«).; theoretische Erkenntnis kommt hierbei nicht in Frage. Deshalb gehören die Heilspläne und -wahrheiten, welche die Kirchen lehren, soweit sie zutreffen, nicht der Sphäre des Glaubens, sondern des Wissens an. Die fortschreitende Einsicht in diesen Sachverhalt hat zum Erfolg, daß dogmatische Fragen, wie die nach dem Wesen Gottes und der Unsterblichkeit, in religiösem Zusammenhang immer weniger gestellt werden; alle tiefen Menschen fühlen's schon: in religiöser Beziehung kommt theoretisches Wissen nicht in Betracht. So ist es. Aber gehen uns jene letzten Fragen darum gar nichts an? Ist es ein Vorzug, daß wir vom Jenseits gar nichts wissen? Wer den Zersetztheitszustand der modernen Menschheit mit dem seelischen Kosmos des Mittelalters etwa vergleicht, oder, im Besonderem, die Unsicherheit des entchristlichten Proletariers von heute, der allenfalls an der nihilistischen, aber desto fanatischer geglaubten Dogmatik des Bolschewismus einen Halt findet, mit der inneren Sicherheit des überzeugten Christen früherer Zeiten, der möchte diese Fragen kaum bejahen. Um als Agnostiker vollkommen zu sein, dazu bedarf es der höchsten Kultur. Aber auch kein Agnostiker wendete ernstlich etwas dagegen ein, wenn ihm der Schleier vor dem Jenseits gelüftet würde. Freilich wäre es ein Großes, und dies für jeden, wofern man wüßte, daß der Tod kein Ende bedeutet, daß irdischem Erfolg entgegenwirkendes Streben nach dem Guten dennoch Sinn hat ... Alle früheren Zeiten sind im Besitz solchen Wissens gewesen; daß es sich dabei bloß um subjektives Für-wahr-halten unkritisch übernommener Dogmen, nicht um objektives Wissen handelte, ändert nichts am psychologischem Tatbestand. Und da möchte wohl niemand behaupten, daß dieses Wissen denen, die es zu haben glaubten, geschadet hätte. Gewißheit allein macht den Menschen innerlich fest; Ungewißheit demoralisiert. Heute nun ist blinder Glaube an etwas, was Wissensinhalt sein müßte, für alle vom Zeitgeist Ergriffenen unmöglich geworden; dies bedeutet, daß heute das Positive der Religion, um wirksam zu werden, vorher seine objektive Wahrheit zu erweisen hätte. Eben dies geschieht vorgeblich durch die Theosophie. Spricht diese nun grundsätzlich wahr –: und dieses wird schließlich festgestellt werden –:, dann wäre ein sehr großer Fortschritt erzielt. Die Organisierung der Menschheitsseele erreichte mit einemmal einen wesentlich höheren Vollkommenheitsgrad. Die Ursynthese erschiene endlich differenziert, alles Wißbare fiele fortan der Wissenschaft und Philosophie anheim, und die Religion könnte sich, ohne Verzicht, allein und ganz ihrer eigensten Aufgabe widmen.

Die Religion erkennte dann rückhaltslos alle Ergebnisse der Forschung an, machte sich selbst aber von allem, was nicht notwendig zu ihr gehört, endgültig frei. Sie würde zu reinem Leben, das Wissen um das Leben der Wissenschaft und Philosophie überlassend. Hierzu könnte es schon bald kommen. Zu diesem Ende aber muß die Theosophie rein exaktes Wissen werden wollen, sie muß bewußt hinausstreben über das heutige mystisch-unklare Stadium, sie muß auch bescheidener werden in ihrem Zukunftsehrgeiz. Als Urchaos birgt sie nicht eine endgültige Lösung; als Vorstadium einer Wissenschaft, aber keiner positiven Lebensmacht, birgt sie an sich kein Heilmittel gegen die Übel dieser Zeit. Als solches kommt einzig, soweit ich sehe, jene Neuverknüpfung von Seele und Geist in Frage, von welcher der folgende Aufsatz handelt. Rudolf Steiners Instinkt ist richtig, wenn er immer mehr, je älter er wird, den Nachdruck auf den Wissenschaftscharakter seiner Bestrebungen legt. Daß diese zum großen Teil tatsächlich andere Richtungen einhalten und eben dem ihren Massenerfolg verdanken, ist freilich nicht zu leugnen. Steiners Persönlichkeit ist vielfältig; nicht weniges in ihr neigt zum Schwülen, Dunklen, zur Magie und Demagogie. Aber hierbei lohnt es nicht zu verweilen: jeder bedeutende Mensch zum Mindesten sollte ausschließlich nach seinen besten Seiten beurteilt werden; die schlechten hat er mit Hunderttausenden gemein, und auf die Dauer amortisieren sich diese von selbst. Man sollte Steiner dankbar sein für die fruchtbaren Anregungen, die er gibt, sein Bedenkenerregendes möglichst unbeachtet lassen. Wahrscheinlich konnte das Positive in seinem Fall ohne viel negative Begleiterscheinungen nicht hervortreten; wahrscheinlich leidet er selbst darunter, daß er sich dieser nicht entäußern kann. Gleich den meisten Pionieren überschätzt er auch wohl das Bedeutungsbereich dessen, was er will. Auch die Theosophie kann eben nicht alles in allem sein. Sobald sie anderes bewirken will, als Wissenserweiterung, erweist sie sich als Schädling. Soll sie die Religion ersetzen, so führt sie zum Zerrbild der Wissenschaft als Religion. Soll sie Philosophie sein, so verwechselt sie den geistigen Sinn, der ein rein Innerliches, Unobjektivierbares ist, mit seiner äußeren Schale, damit zum schlimmsten Materialismus führend, den es je gab. Auf die bildende Kunst wirkt ihr Einfluß katastrophal, insofern sie die Sünde wider den Heiligen Geist dieser –: das Gebot unbedingter Eigentlichkeit des Ausdrucks –: leicht als Tugend hinstellt. Und wird sie als mögliche Lebensform mißdeutet, so zeugt sie alle die Übel, die theoretische Grundeinstellung in praktischen Fragen notwendig mit sich bringt. Daher das merkwürdige Versagen in menschlicher Hinsicht der meisten Theosophen, die ihre Weltanschauung irgendwie in Leben umsetzen wollen. Noch einmal: die Theosophie als Erkenntnisvermittlerin ist zu begrüßen, und mag sie zunächst noch so viele Phantasmen und Mißverständnisse als Wahrheiten hinstellen. Dies wird sich ändern, sobald mehr ernste Geister sich ernstlich mit ihr befassen. Im Übrigen, zumal als religiöse Gestaltung, wird sie sich bald, hoffentlich, überlebt haben.

[Fußnote aus technischen Gründen als Anmerkung wiedergegeben. Re.]
Ich hatte nicht erwartet, daß dieser Aufsatz mir den unversöhnlichen Haß der Anthroposophen eintragen würde. Annie Besant hat die kritischsten, Adyar betreffenden Stellen meines Reisetagebuchs in ihrem Theosophist (in dem ja auch der erste Teil dieser Abhandlung zuerst erschienen war) kommentarlos abgedruckt; mehrere sonstige Häupter der theosophischen Bewegung sind der Gesellschaft für Freie Philosophie beigetreten, alle erkennend, daß ich keiner Bewegung feind bin, jede vielmehr zu fördern bereit auf ihrer eigenen Bahn –: Rudolf Steiner und seine Anhänger hingegen verfolgen mich in so bitterböser Feindschaft, daß man den Eindruck nicht allein der Angst vor mir, sondern geradezu des Verfolgungswahns gewinnt. Diese Angriffe habe ich einmal berücksichtigt, werde es nie wieder tun, weil sie für mich endgültig erledigt sind. Da meine Erledigung jedoch vielen nicht bekannt sein dürfte, so setze ich sie aus dem ersten Heft des »Weges zur Vollendung« hierher, sowie sie im Zusammenhang der »Bücherschau« erschien. Nicht allein ihr allgemeiner Anlaß ist von ungewöhnlichem psychologischen Interesse, sondern auch so manche Einzelheit: »... Es ist neben der Eitelkeit wohl das bedeutsamste Symptom von Unweisheit, wenn einer aus sachlichen Differenzen allseitige Ablehnung oder gar persönliche Feindschaft ableiten zu müssen glaubt. Kämen die anderen mir entgegen, ich verkehrte viel lieber mit meinen Feinden als mit meinen Freunden, weil ich von jenen viel mehr lernen kann. Unter wirklich gebildeten Menschen geht dies allemal, weil sich der Gegensatz immer nur auf Teile des Wesens bezieht, und es bei einiger Lebenskunst auch stets gelingt, die Reibungsflächen unberührt zu lassen. Leider ist diese Kunst in Deutschland besonders selten zu finden. Dieses erfahre ich jüngst wieder seitens der Anthroposophen. Sicher hat meine Kritik (in »Philosophie als Kunst«) der Sache einer möglichen »Geisteswissenschaft« mehr genützt, als aller blinde Dogmenglaube der Steinerianer zusammengenommen. Jeder, dem es um sie, nicht um die Person und die Partei zu tun ist, muß spüren, daß ich auch die anthroposophische Bewegung als Trägerin eines positiven Impulses anerkenne, obgleich dieser von Indien stammende Impuls in keiner Weise an die anthroposophische, überhaupt die theosophische Bewegung gebunden ist und an innerlicher gerichteten unstreitig ein entsprechenderes Medium hat. Ich bekämpfe sie nur zu dem Ende, damit sie tatsächlich zu dem wird, was sie zu sein behauptet, einem Erkenntnisfortschrittsmoment. Als auf die Person Steiners eingestellte Glaubensgemeinschaft geriert sie sich leider immer mehr als alleinseligmachende Kirche im antiquierten Geist der Gegenreformation –: ein Umstand, an welchem Steiner zweifelsohne nicht unschuldig ist. Geht es noch lange so weiter, so wird der wertvolle Impuls die Anthroposophengemeinde endgültig verlassen haben und nur mehr durch deren Gegner fortwirken, von denen heute die meisten, noch so indirekt, vom Geiste Indiens berührt worden sind. Leider fehlt allzuvielen die nötige Unbefangenheit geistig, und die nötige Bildung menschlich, um solche Scheidung zwischen Geist und Buchstaben, zwischen sterblichem Leib und unsterblicher Seele zu verstehen. –: Vorstehende Zeilen waren schon gesetzt, als ich in Nr. 21 und 22 (1920) der Steinerschen Zeitschrift »Dreigliederung des sozialen Organismus« (Stuttgart, ChampignyStraße 17) die Wiedergabe seiner mir dem Hörensagen nach bereits bekannten Schmährede gegen mich zu lesen bekam. Ich möchte allen, die sich für Steiner interessieren, empfehlen, diese nur 40 Pfennige kostenden Heftchen zu erstehen, denn sie wirken im Zusammenhang mit dem, was ich über Steiner gesagt habe, ergänzend. Daß er meine Weisheit blutlos, abstrakt und leer findet und behauptet, er wisse immer schon im Voraus zu sagen, was Leute meines Schlages vorbringen könnten, das Wesentliche meiner Philosophie sei »seelische Atemnot, ein innerliches nach Luft schnappen«, und von Anthroposophie hätte ich »keinen Dunst, nicht einmal einen blauen«, lasse ich gern hingehen; genau gelesen hat er mich offenbar nicht, und mit seiner Verurteilung des Denkers, der von allen, welche zählen, am positivsten zur »Geisteswissenschaft« steht, auf dessen Empfehlung hin ihn viele zum ersten Male ernst nehmen, schneidet er sich ins eigene Fleisch. Aber daß er mich schlankweg einen Lügner schimpft, von gelinderen moralischen Vorwürfen zu schweigen, und dies in einem so unqualifizierbaren Ton, daß die Stuttgarter Hauptzeitung sich veranlaßt sah, dagegen »als eine Herabwürdigung des Rednerpults, eine Beleidigung der Zuhörerschaft, ja eine Vergiftung der öffentlichen Moral« Verwahrung einzulegen, beweist, daß nur zuviel vom Demagogen in diesem Manne steckt; seine Kampfesweise ist häßlich und schlechthin illoyal. Er hakt bei einem ganz unwesentlichen Passus meiner Studie, der keineswegs tadelnd gemeint war, ein (er lautet wörtlich und im Zusammenhang zitiert: »Steiner selbst ist, seinen besten Seiten nach gewürdigt, ein echter Naturwissenschaftler, und kulturgeschichtlich beurteilt, wohl der äußerste Ausdruck des verflossenen naturwissenschaftlichen Zeitalters, das in ihm in ein geistigeres einmündet. Weshalb es nicht gegen, sondern für ihn spricht, und für sein Wesen jedenfalls symbolisch ist, daß seine geistige Laufbahn in gewissen Hinsichten von Haeckel ausging«) und anstatt einen etwaigen Irrtum meinerseits zu korrigieren, was ich mir gern gefallen ließe, denn zu spezieller Steinerquellenforschung habe ich keine Zeit gehabt, was ihm aber in diesem Fall wohl schwer fiele, da seine Studie »Haeckel und seine Gegner«, soweit ich urteilen kann, beweist, daß er tatsächlich »in gewissen Hinsichten« von jenem ausgegangen ist, so wenig hier sein Hauptausgangspunkt liege Martin Mörike hat seither (in der Frankfurter Zeitung vom 16. Oktober 1921) den dokumentarischen Nachweis erbracht, daß Steiner sich einstmals mit Haeckel viel mehr noch identifizierte, als ich in meiner Studie angenommen hatte. Der Aufsatz trägt den vielsagenden Titel »Rudolf Steiner und die Wahrheit«.zeiht Steiner mich schlankweg der Lüge, worin ihn seine Handlanger seither im Ton noch überbieten. Steiner deshalb gerichtlich zu belangen, was ich wohl könnte, lehne ich ab, denn seit dieser Erfahrung kommt er für mich nur mehr als Untersuchungsobjekt in Frage. Ich berühre den Fall überhaupt nicht, um mich zu verteidigen oder anzugreifen, denn wie immer Steiner zu mir stehe, ich empfinde keine Feindschaft gegen ihn; wie ich 1919 einem seiner Verehrer erlaubte, ein freundliches Urteil über seine Dreigliederungsideen, das ein Privatbrief von mir enthielt, in die Zeitung zu setzen, so habe ich auch keinen Einspruch dagegen erhoben, daß die Darmstädter Anthroposophen ungefähr gleichzeitig mit Steiners Angriffen gegen mich meine wohlwollende Stellung zur Anthroposophie in der Presse als Reklame ausnutzten, und lasse mich seither durch die gegen mich in Szene gesetzte Kampagne (in Heidelberg wurden, einige Tage nach meinem dortigen Vortrag, große Mengen der ominösen Dreigliederungs-Nummer unter den Studenten verteilt) nicht abhalten, für die Sache einzutreten, soweit sie vertretbar ist. Ich berühre den Fall nur deshalb, um an seinem Beispiel recht deutlich zu machen, wie reinlich man zwischen »Sein« und »Können« unterscheiden muß. Von Steiners Sein kann ich unmöglich einen günstigen Eindruck haben; noblesse oblige; wer auf höhere Einsicht Anspruch erhebt, sollte verantwortungsbewußter sein. Aber als Könner finde ich ihn nach wie vor sehr beachtenswert und rate jedem kritikfähigen Geist von psychistischer Beanlagung, die seltene Gelegenheit des Daseins eines solchen Spezialisten auszunutzen, um von und an ihm zu lernen. Ich kenne nicht bloß die wichtigsten seiner allen zugänglichen Schriften, sondern auch seiner Zyklen, und habe aus ihnen den Eindruck gewonnen, daß Steiner nicht allein außerordentlich begabt ist, sondern tatsächlich über ungewöhnliche Erkenntnisquellen verfügt. Für den »Sinn« fehlt ihm jedes feinere Organ, deshalb muß er alle Weisheit abstrakt und leer finden, die sich nicht auf Phänomene bezieht; aber was er über solche vorbringt, verdient ernste Nachprüfung, so absurd manches zunächst klinge und so wenig vertrauenerweckend sein Stil als Offenbarer seines Wesens wirkt, weshalb ich es lebhaft bedauere, daß sein mir völlig unerwartet gekommenes Vorgehen gegen mich mir die Möglichkeit raubt, mit ihm selber persönliche Fühlung zu nehmen. Denn es bleibt wahr, was ich im gleichen Aufsatz, der Steiners Wut gereizt hat, zu dessen Schutz gegen seine Gegner schrieb, daß ein bedeutender Mensch ausschließlich nach seinen besten Seiten beurteilt werden sollte; das Interesse an seinem Wissen und Können darf durch seine Gebrechen und Fehler nicht beeinträchtigt werden. Am gleichen Tage, an dem ich Steiners Schmährede zugeschickt erhielt, empfahl ich einem Schüler von mir das ernste Studium seiner Schriften und sogar den Eintritt in seine Gesellschaft, da dies mir sein Weg zu sein schien und ich in seinem Fall den Kontakt mit dem Bedenklichen, das mit Steiner zusammenhängt, nicht für gefährlich anzusehen brauchte. Man soll nie vergessen, daß schlechthin jedes Wesen vielfältig ist, daß keine schlechte Eigenschaft die guten entwertet; und daß der Charakter einer Gesellschaft ganz und gar vom Geist ihrer vorherrschenden Mitglieder abhängt. Auch die anthroposophische kann noch eine Zukunft haben, wenn der Dogmenglaube und Sektengeist sie verläßt, wenn sie das unsaubere Agitieren aufgibt und wirklich zu dem wird, was sie statutenmäßig sein soll.«.


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