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Den nächsten Tag begann Karl Erdmann damit, sich, wie er es nannte, systematisch zu akklimatisieren. Er ging durch das ganze Haus, hörte den bekannten Ton jeder Türklinke, roch den jedem Zimmer eigentümlichen Geruch. In einem Zimmer fand er Heida, die bei Fräulein Undamm Unterricht nahm. Die Gouvernante sah sehr klein und braun aus neben dem großen Mädchen mit dem honigblonden Haar. Fräulein Undamm errötete und sagte: »Ah, der Herr Leutnant gibt uns die Ehre.« Heida lachte über das ganze rosa Gesicht, es war ihr, als sei mit Karl Erdmann eine Flut von Ferienluft in das Zimmer gedrungen. »Ach«, meinte sie, »heute ist er gar nicht mehr imposant, ja, gestern in der Uniform.« »Ich will nicht imponieren«, erwiderte Karl Erdmann, »ich will mich akklimatisieren. Entschuldigen Sie, ich gehe schon weiter.« Im anstoßenden Zimmer fand er Herrn Dorn, der Leo eine lateinische Stunde erteilte. Herr Dorn begrüßte Karl Erdmann sehr formell, lächelte ironisch und strich sich die schwarze Locke aus der Stirn.
»Der Herr Leutnant wollen vielleicht ein wenig prüfen?« Aber Leo zog die Augenbrauen hoch und äußerte: »Prüfen? Bei der Kadettenbildung!«
»Nein, nein«, sagte Karl Erdmann, »ich wollte nur hier dringewesen sein; entschuldigen Sie.«
Er ging in den Hof hinunter, um die Hunde zu sehen, um im Stall den Pferden auf die blanken Hälse zu klopfen, um den Geruch von Heu, Teer, von in der Sonne heißgewordenen Steinen und Holz einzuatmen. Dann ging er wieder ins Haus, um seine Mutter zu begrüßen.
Frau von Wallbaums Zimmer, himmelblau und weiß, sah aus wie das Zimmer eines jungen Mädchens. Sie selbst im hellgeblümten Sommerkleide, blaue Bänder auf der weißen Morgenhaube, saß an ihrem Schreibtisch und schrieb ihr Tagebuch. Sie war die einzige der Familie, die ein Tagebuch schrieb. Als ihr Sohn eintrat, lächelte sie ihm entgegen, den Kopf ein wenig zurückgebogen, damit der Kneifer nicht von der Nase falle. »Ah, da bist du«, sagte sie. »Ich habe eben deine Ankunft ganz ausführlich beschrieben und jetzt wollen wir in den Garten gehen.« Sie hing sich in seinen Arm, und sie stiegen über die sonnenheißen Steinstufen der Gartentreppe in den Garten hinab. Es war ein altmodischer Garten mit langen Rabatten voll altmodischer Blumen, dicke Zentifolien an niedrigen Büschen, gebrochenes Herz und gelbe Immortellen, die in der Sonne wie Zwanzigmarkstücke glänzten. Unter den Fenstern aber stand die Reihe der Lilien weiß und feierlich.
»Ach Kind«, sagte Frau von Wallbaum, »ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen vor Freude, daß du da bist. Es ist, glaube ich, mehr als die Freude darüber, daß ich mein Kind wieder habe; wenn du da bist, ist es mir, als hätte ich einen Verbündeten. Die andern sind ja alle so gut und lieb, aber sie sind doch alle vernünftiger als ich. Noch gestern sagte Heida, als ich etwas tun wollte: ›Ach, Mama, laß mich das machen, du kannst es ja doch nicht.‹ Und sie hat auch recht. Aber mit dir habe ich das Gefühl, daß ich so unvernünftig, wie ich will, sein kann, daß du mich doch verstehst. Ja, mit dir und mit Daniela habe ich dies Gefühl, wie es vielleicht Kinder haben, wenn die Erwachsenen fortgehen und die Kinder ungestört miteinander ihre Sprache sprechen können. Aber was ich nicht für Zeug zusammenspreche.« Sie bog ihren Kopf zurück, um zu Karl Erdmann hinaufzusehen, und lächelte. Als jedoch Karl Erdmann sagte: »Daniela, wie geht es ihr? Gestern schien sie heiter«, da machte Frau von Wallbaum gleich wieder ein besorgtes Gesicht:
»Heiter! Mein Gott, die arme Frau hat auch ihre Kämpfe, sie hat ihre Feinde, die alles falsch deuten, was sie tut. Daniela erträgt es nun einmal nicht, daß es um sie her traurig oder alltäglich ist, sie kann nichts dafür. Lilien können auch nichts dafür, daß es um sie her süß und ein wenig schwül duftet, nicht wahr? Nun, bei uns wird sie immer Schutz finden, und für mich ist sie eine große Freude. Mit Daniela fühle ich mich so jung. Wenn wir abends zusammen bis zur Wiese gehen, um den Sonnenuntergang zu sehen, dann habe ich zuweilen das Gefühl wie an Festtagen in meiner Jugend. Und dann – mit Daniela kann ich so lachen wie sonst nur noch mit dir.« Plötzlich wurde Frau von Wallbaum zerstreut und hielt inne. Sie hatte auf dem Rasenplatz zwei gelbe Löwenzahnblüten entdeckt. Der Löwenzahn war ihr Feind, sie trug stets kleine Werkzeuge bei sich, um ihn auszurotten. »Da sind wieder zwei«, rief sie und ließ den Arm ihres Sohnes los, »geh nur weiter, geh zu Daniela, sie sitzt in der Bohnenlaube, ich muß die beiden dort haben.« Und geschäftig eilte sie zum Rasenplatz.
Karl Erdmann schlenderte langsam den Kiesweg entlang. In der Bohnenlaube fand er Daniela. Sie trug ein erdbeerfarbenes Sommerkleid, ein Buch lag vor ihr aufgeschlagen, aber sie lehnte den kleinen Kopf mit den schwarzen Scheiteln zurück in das Laub und die roten Blüten der Bohnen. Als Karl Erdmann in die Laube trat, nickte sie freundlich, »freundlich, ja«, dachte Karl Erdmann, »aber ihr strahlendes Lächeln, das sie für die andern hat, hat sie für mich nicht«. Er setzte sich zu ihr und fragte: Störe ich?« »O nein«, erwiderte Daniela. »Heute sind Sie schon ganz Hausgenosse. Gestern ja, da waren Sie ein wenig imposant wie – wie die Puppen, die man zu Weihnachten bekam und die noch zu blank waren, um damit zu spielen.«
»Können Sie heute mit mir spielen?« fragte Karl Erdmann schnell. Daniela lachte: »Es ist sehr hübsch, ein Leutnant muß ja wohl Damen hübsche Sachen sagen, aber dieses war ungewöhnlich hübsch.«
Karl Erdmann lachte nicht mit. Er zog die Augenbrauen ein wenig zusammen und meinte: »Ich glaube, für Sie ist ein Leutnant an sich etwas Lächerliches.«
»O nein«, erwiderte Daniela ernst, »und jetzt am wenigsten, da Ihre Mutter um Ihretwillen um den Leutnant etwas wie einen Heiligenschein gelegt hat. Wenn Ihre Mutter jetzt von Leutnants spricht, dann scheint mir ein Leutnant etwas sehr Schönes, und Sie wissen, ich schaue alles am liebsten mit den Augen Ihrer Mutter an, das macht mich glücklich.«
»Hm, recht schön«, brummte Karl Erdmann, »nur würde ich gern wissen, wie ich ausschaue, wenn Sie mich mit Ihren eigenen Augen ansehen.«
Daniela zog die Augenbrauen ein wenig empor: »Warum wollen Sie das, seien Sie zufrieden, daß Sie mit den gütigsten Augen der Welt angesehen werden.« Das klang hübsch und schwesterlich und kränkte Karl Erdmann doch. Beide schwiegen jetzt und schauten auf einen Trauermantel nieder, der vor ihnen auf dem besonnten Kies lag wie ein kleines Stück Samt. Ober Danielas Stirn hingen rote Bohnenblüten wie Blutstropfen, und all das Laub ringsum mischte viel Grün in das Schieferblaue ihrer Augen, daß sie zu schimmern begannen wie die Brust eines Pfaues.
Plötzlich stand Botho vor ihnen in seinem hellen Sommeranzuge, den Strohhut im Nacken, der Schnurrbart sehr blank, die Augen sehr blau. Er lächelte ein zärtliches Lächeln zu Daniela hinüber. Karl Erdmann sah ihn mit Abneigung an. Ihm mißfiel dies Prachtexemplar von Mann. Er hatte stets das Gefühl gehabt, daß Botho ihn verachte, weil er schmalschulterig und braun und nicht groß und blond wie die andern der Familie war. Und jetzt noch dieses süße Lächeln.
»Nun, Daniela«, sagte Botho, »das ist ja Ihre Stunde. Soll ich Sie nicht wieder unter den Weiden hinrudern?«
Daniela schien sich wirklich darüber zu freuen. »Ach ja, das wird schön sein. Mit Karl Erdmann sind wir im Gespräch sowieso bis zu einem Absatz gekommen.«
Sie stand eilig auf und griff nach ihrem Sonnenschirm. Karl Erdmann schaute den beiden nach, wie sie nebeneinander den Kiesweg hinabgingen, bis Danielas roter Sonnenschirm unter den Parkbäumen verschwand. Plötzlich war Karl Erdmanns froherregte Stimmung verflogen. Was sollte er denn jetzt tun? Was tat man denn überhaupt hier in dieser Zeit, wenn – wenn man nicht bei Daniela war? Er erhob sich und ging langsam, leise vor sich hinpfeifend, auch den Kiesweg hinab und auch dem Parke zu. Dort setzte er sich auf eine Bank, die im Schatten der großen Ulmen stand. Er konnte ein Stück des Teiches sehen, der mit einer grellgrünen Pflanzendecke überdeckt war, er sah das Boot und Danielas roten Sonnenschirm, die langsam unter den Weiden dahinfuhren. Gut, das war es also, was man hier tat. Man sitzt auf einer schattigen Bank, sieht einen roten Sonnenschirm durch all das Grün fahren und denkt an nichts. Nur daß, wenn man von da draußen kommt, so was immer wieder gelernt werden will.
»Guten Morgen«, sagte eine hohe, schnurrende Stimme, der Legationsrat war die Allee herabgekommen und stand vor Karl Erdmann, im weißen Pikeeanzug, das Gesicht mit den scharfen, ein wenig gespannten Zügen war bleich und müde, das Monokel war ganz grün von dem Laub, das sich in ihm spiegelte. »Du sitzest hier ja sehr schön«, fuhr er fort. »Erlaube, daß ich mich zu dir setze.« Er setzte sich auf die Bank und betrachtete eine Weile schweigend seine polierten Nägel: »Ich sitze nämlich,« begann er in seiner nachlässigen und schnurrenden Weise, »ich sitze nämlich sehr gern neben dir, denn ich vermute, daß du heute derjenige im Hause bist, der die beste Laune hat. Ich weiß, in deiner Situation fühlt man sich immer sehr glücklich, und neben einem solchen zu sitzen ist recht zuträglich.«
Karl Erdmann lachte. »Du gefällst mir. Ich denke, du bist hier der Glückliche. Wenn man verlobt ist, ist man doch glücklich.«
»O gewiß«, erwiderte der Graf höflich, besonders wenn man mit deiner Schwester verlobt ist. Aber in der Technik des Glücklichseins kann man von euch jungen Leuten immer etwas lernen.« Jetzt schwiegen sie beide und schauten dem roten Sonnenschirm unter den Weiden nach. Endlich sagte Karl Erdmann halblaut: »Und das da drüben? Was geht da vor?«
Der Graf zuckte die Achseln: »O nichts, gar nichts. Frau von Bardow schafft sich ihre Atmosphäre. Eine scharmante Frau. In Petersburg kannte ich einen alten Fürsten. Er besaß ein Gut in Südrußland und verbrachte im Sommer einige Wochen auf diesem Gute. Da wurde nun erzählt, daß er eines Tages spazierenfährt und eine Windmühle sieht, die still steht. Er ruft einen Bauern heran und fragt: ›Warum dreht sich die Windmühle nicht?‹ ›Weil wir keinen Wind haben, Exzellenz‹, sagt der Bauer. Da fährt ihn der Fürst an: ›Sage dem Inspektor, ich befehle, daß, wo hier bei mir Windmühlen stehen, sie sich auch drehen sollen.‹ ›Zu Befehl, Exzellenz‹, sagte der Bauer... Nun ja, Frau von Bardow will eben auch, daß, wenn Windmühlen um sie her sind, sie sich drehen. Ah, da kommt Oda.«
Er stand auf und ging Oda entgegen, die ohne Hut im weißen Kleide unter den Bäumen in dem grünen zitternden Lichte stand. Als er den Arm um ihre Taille legte, bog Oda sich wieder mit der hübschen, leidenschaftlich hingebenden Bewegung zurück. Karl Erdmann wandte sich ab, er wollte das nicht sehen, Oda tat ihm leid. »Dieser Herr«, dachte er, »braucht noch irgendeine Technik des Glückes bei andern zu lernen mit solch einem Mädchen. Und dann die dumme Windmühlengeschichte.« Der Platz war ihm verleidet. Er erhob sich. Es hatte um diese Stunde ja doch niemand Zeit für ihn, so wollte er denn auf den Hofestreppe sitzen, dem Treiben dort zusehen und auf das zweite Frühstück warten. Das gehörte ohnehin zum Urlaubsleben auf dem Lande, daß man immer auf eine Mahlzeit wartete. So saß er denn auf der Hofestreppe und sah, wie der Koch ganz weiß, das blanke Küchenmesser in der Hand, zum Eiskeller ging, Milchmädchen mit ihren Eimern ab und zu liefen. Am Stall longierte der Kutscher den Braunen und im Stallteich wurden Arbeitspferde geschwemmt. Dem zuzuschauen war heimatlich und interessant, aber plötzlich ging Karl Erdmann ein unerwarteter Gedanke durch den Kopf. Das Bewußtsein, daß dieses Treiben hier ruhig fortging, wenn er drüben in der Garnison war, das war beruhigend und angenehm, aber zu denken, daß, wenn er überhaupt nicht mehr wäre – nach dem Duell vielleicht – alles hier so weiterginge, dieser Gedanke war unerträglich, fast demütigend. Ärgerlich fuhr er auf. Was war es denn heute mit ihm? So etwas denkt man doch nicht.