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Schweres, rotgoldenes Nachmittagslicht floß durch die Parkbäume. Ich saß hoch oben auf einer alten Linde, die ihre Äste zu einem sehr bequemen Sitz zusammenbog. Der Baum war voll von dem Summen der Insekten wie von einem feinen, surrenden Geläute. Das macht schläfrig. Ich schloß die Augen. Unten auf dem Kiesweg wurden Schritte laut. Faul öffnete ich halb die Lider. Ellita und mein Vater kamen den Weg entlang. Ellita trug ihr blaues Reitkleid und den kleinen, blanken Reithut. Mit der Rechten hielt sie ihre Schleppe, in der Linken die Reitpeitsche, mit der sie nach Kümmelstauden am Wege schlug. An der Ulme mir gegenüber blieben sie stehen. Ellita lehnte sich an den Baum. Ihre Wangen waren gerötet. Ich sah es gleich, daß sie böse war. Die kurze Oberlippe zuckte hochmütiger denn je.
»Gut, ja. Ich gehorche dir, du siehst es«, begann sie.
Mein Vater stützte sich mit der Schulter leicht gegen ein Birkenstämmchen, kreuzte die Füße und klopfte nachdenklich mit seinem Stöckchen auf die Spitzen seiner Stiefel, jetzt neigte er den Kopf und sagte höflich: »Du weißt, wie sehr ich dir dafür danke.«
»O! Du hast mich wunderbar erzogen«, fuhr Ellita fort, »das hast du wunderbar gemacht! Als du wolltest, daß ich das einsame, kleine Mädchen vom Lande sein soll, das nur an dich denkt und auf dich wartet, da war ich es. Und jetzt soll ich wieder – wie sagtest du doch – ›die Blüte der adeligen Kultur‹ – so war es – also – die Blüte der adeligen Kultur sein, gut – ich bin es.«
Mein Vater nahm seinen Strohhut vom Kopfe und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Er fing an zu sprechen mit leiser, diskreter Stimme, als führe er eine Unterhaltung an einem Krankenbette.
»Ich komme jetzt nicht in Betracht. Nur du. Ist es dir ein Bedürfnis, mir all das zu sagen, mir Vorwürfe zu machen, bitte, tue es. Nur geh den vorgeschriebenen Weg weiter... nur das.«
»Ich will keine Vorwürfe machen«, sagte Ellita heftig. »Warum ließest du mich nicht weiter hier einsam sitzen? Ich hätte weiter auf dich gewartet und wäre schlecht gegen Mama und Gerda gewesen und hätte mich um das dumme Geld gesorgt, das nie da ist, wenn man es braucht... und, wenn du dann kamst, hätte ich geglaubt, ›das ist das höchste Glück‹ – schlecht sein – mit dir schlecht sein, glaubte ich, sei groß...«
»Sag es nur heraus«, warf mein Vater ein und schaute wieder auf seine Stiefelspitzen.
»Gewiß«, fuhr Ellita fort, »darum hätte ich dir keine Vorwürfe gemacht. Aber jetzt, wo all das nur eine häßliche Inkorrektheit sein soll, die vertuscht wird, jetzt schäme ich mich. Wie deine Nippfigur komme ich mir vor, die du wieder in den Salon auf die Etagere zurückstellst –, sie soll wieder ihrer Pflicht tun, repräsentieren.«
»Sehr hübsch«, bemerkte mein Vater und lächelte matt. Das brachte Ellita noch mehr auf: »Du siehst, ich habe von dir und deinem alten Türken gelernt, Vergleiche zu machen. Ach, wie das alles häßlich ist! Was ging es dich an, was aus mir wurde. Wenn ich in den Parkteich gegangen wäre wie Mamas kleine Kammerjungfer um den neuen Gärtner, das wäre schöner gewesen als all dies jetzt.«
Mein Vater zuckte die Achseln. »Ich glaube«, sagte er, »du und ich sind zu gut erzogen, um in ein Drama hineinzupassen.« Da hob Ellita ihre beiden Arme empor, die Augen flammten, zwei große Tränen rannen ihre Wangen herab: »Gott, wie ich sie hasse, alle diese Worte – – nicht wahr, ich muß auf ein Postament – und bin ein Kunstwerk – und eine Kulturblüte, ich kenne deinen Katechismus gut. Wie ich das hasse!«
Gott! wie schön sie war! Mein Vater schien das auch zu sehn. Er blickte sie einen Augenblick mit gierigen, flackernden Augen an, wie an jenem Abend in Warnow. Dann sagte er leise und sanft: »Es schmerzt mich, dich leiden zu sehen. Das geht vorüber. Du bist von denen, die sicher ihren Weg gehn, wie – wie Nachtwandlerinnen –, die dabei vielleicht auch ein wenig wild träumen.«
»Und ich könnte mich peitschen, dafür, daß ich von denen bin«, antwortete Ellita und schlug mit der Reitgerte gegen ihr Knie. »Und dann – er – der arme Junge – er liebt mich doch?«
»Ehre genug für ihn«, meinte mein Vater.
»Du bist sehr genügsam für andere!« höhnte Ellita.
Er lächelte wieder sein müdes Lächeln: »Gott! ja – jetzt kommst nur du in Betracht.«
»Das klingt ja fast, als ob du mich noch liebtest?«
Mein Vater zuckte schweigend die Achseln. Sie schwiegen beide, Ellita ließ ihre Arme schlaff niedersinken, wie ermüdet, und müde klang auch ihre Stimme, als sie kummervoll sagte: »Wozu? Jetzt ist ja alles gleich. Ich tu ja, was du willst. Das ist nun alles vorüber.«
»Ich danke dir, Kind«, die Stimme meines Vaters klang wieder metallig und warm. »Wenn du nur in Sicherheit bist – wenn sie dir nichts tun dürfen, nur das.« Er trat jetzt ein wenig vor, eine flüchtige Röte auf Schläfen und Wangen: »Ich danke dir dafür, Kind – und – auch für – für das, was hinter uns liegt... für das letzte Glück – das du einem alternden Manne gabst – –« Jetzt zitterte seine Stimme vor Erregung – er breitete die Arme aus. Ellita drängte sich fester an den Baum, sie reckte sich an ihm hinauf – bleich bis in die Lippen: »Rühr mich nicht an, Gert!« stieß sie leise hervor, und die rechte Hand mit der Reitgerte hob sich ein wenig. Mein Vater trat zurück, bückte sich, hob den Handschuh, der ihr entfallen war, von der Erde auf und überreichte ihn ihr. Dann schaute er nach seiner Uhr und sagte ruhig: »Es wird spät. Du muß sehn, daß du vor dem Gewitter nach Hause kommst, denn wir kriegen es heute doch endlich.«
»Ja – gehn wir –« meinte Ellita.
Sie gingen wieder den Weg zurück. Wie friedlich und höflich diese beiden Gestalten nebeneinander herschritten; Ellita mit ihrem sachte wiegenden Gang, schmal und dunkel in dem Reitkleide, mein Vater ein wenig seitwärts gewandt, um sie beim Sprechen ansehn zu können; dabei machte er Handbewegungen, die seine hübschen Hände zur Geltung brachten.
Still auf meinem Aste zusammengekauert blieb ich auf der Linde sitzen. Zuerst hatte ich das Gefühl eines Kindes, das sich fürchtet, bei einem Unrecht ertappt zu werden. Gedanken hatte ich nicht – Bilder kamen, begleitet von einer schmerzhaften Musik des Fühlens: das schöne, aufrechte Mädchen am Baum, das tränenfeuchte, böse Gesicht, die erhobene Hand mit der Reitgerte... und der Mann mit dem kummervoll gebeugten Kopfe... ich hörte die leise, heiße Stimme... davon kam ich nicht los. Mit dem Herren, der zu Hause sagt: Mais c'est impossible, comme il mange ce garçon, mit Ellita, die wohlerzogen mit meinem Vater über die Landwirtschaft spricht, hatten diese beiden nichts gemein. Ich wollte gar nicht mehr von der Linde herunter. Die Welt da unten erschien mir jetzt unheimlich verändert und unsicher. Die Sonne sank tiefer. Die Linde stand voll roten Lichtes. Dann zog das Gewitter auf. Einzelne Tropfen klatschten auf die Blätter, die für Augenblicke schwarz und zitternd im blauen Lichte der Blitze standen. Im Garten hörte ich Konrads Stimme: »Jungherr – hu – hu!« Er rief zum Abendessen. Das gab es also noch wie immer. Widerwillig kletterte ich hinunter. Der Regen war stärker geworden und eine Fröhlichkeit kam mit ihm über das müde Land. Alles duftete und bewegte sich sachte. Im Hof standen die Leute vor den Ställen und blickten lächelnd in das Niederrinnen. Die Mägde stapften mit nackten Füßen in den Pfützen umher und kreischten.
Im Eßzimmer, unter der großen Hängelampe war der Tisch wie gewöhnlich gedeckt. Mein Vater ging im Zimmer auf und ab und sagte freundlich, als ich eintrat: »Nun, dich hat der Regen noch erwischt.«
Wir aßen die wohlbekannten kleinen Koteletts mit grünen Erbsen. Alles war wie sonst, als sei nichts geschehn. Ich dachte an ferne Kinderjahre, in denen das Kind deutlich in den dunklen Ecken unheimliche Gestalten sah, während die Erwachsenen unbekümmert sprachen und an den unheimlichen Ecken vorübergingen, als ob nichts dort stünde.
Mein Vater sprach vom Regen, von der Wintersaat, von der Abreise der Warnower. Er sprach ungewöhnlich viel und mit lauter, heiterer Stimme. Sein Gesicht war bleich und die Augen glitzerten blank und intensiv graublau. Er goß sich reichlich Portwein ein und seine Hand zitterte ein wenig, wenn er das Glas nahm. Als der Inspektor kam, wollte ich mich fortschleichen. Das Sitzen hier war mir eine Qual. Ich wollte zu Bette gehen. Vielleicht, wenn ich still im Dunkeln lag, konnte ich mich selbst als tragisch und wunderbar empfinden. Mein Vater jedoch sagte: »Bleib noch ein wenig, Bill, wenn du nicht zu müde bist.« Gehorsam setzte ich mich wieder. Der Inspektor ging. »Trink einen Tropfen«, sagte mein Vater und schob mir ein Glas hin. Dann schwiegen wir.
Es schien nicht, als hätte er mir etwas Besonderes mitzuteilen. Er dachte wohl über ein Thema nach. Als er endlich zu sprechen begann, war von Pferden, von dem neuen Schmied, dann von meinen Studien die Rede. Das hatte ich erwartet! Das schien ihn auch zu interessieren, er biß sich daran fest, pflegte seinen Stil. »Na, und wenn du dann das Examen hinter dir hast«, hieß es, »dann tritt also die Wahl eines Studiums an dich heran. Es ist wohl diese oder jene Wissenschaft, die dich besonders anzieht: Ja! aber meiner Ansicht nach darf das nicht bestimmend sein. Gott! unseren Neigungen entlaufen wir ohnehin nicht. Von anbeginn muß ein Studium gewählt werden, das sozusagen als neutraler Ausgangspunkt dienen kann, von da aus kann dann zu dem, was wir sonst wissen und erleben wollen, übergegangen werden. in unserer Familie ist die Jurisprudenz traditionell. Ein ruhiger, kühler Ausgangspunkt, der sowohl zu anderen Wissenschaften wie zum praktischen Leben die Wege offen läßt.« Er sprach so fließend und betonte so wirksam, als hielte er eine Rede in einer Versammlung. Dabei sah er über mich hinweg, als stünde die Versammlung hinter mir. Es war recht unheimlich!
»Vor allem«, fuhr er fort und erhob die Stimme, »müssen wir von vornherein wissen, welch eine Art Leben wir leben wollen. Bei einem Hause, das wir bauen, entscheiden wir uns doch für einen Stil, machen einen Plan, nicht wahr? Na also! Wir bauen ein Haus, das einen besonderen Stil hat. Gut!« Er schnitt mit der flachen Hand durch die Luft, um vier unsichtbare Wände auf den Tisch zu stellen, dann wölbte er eine unsichtbare Kuppel über die unsichtbaren Wände: »Bin ich mir einmal des Stiles bewußt, dann kann ich an Ornamenten, Grillen, Liebhabereien manches wagen, denn ich werde all das mit dem Ganzen in Einklang zu bringen wissen. Weil ich mir des Stilgesetzes bewußt bin, kann ich jede Kühnheit wagen, ohne den Bau zu verderben.« Nun begann er mit der Hand an das Haus auf dem Tische die wunderlichsten Balkons zu kleben, zog Galerien die Wände entlang. »Irrtum ist Stillosigkeit«, rief er und funkelte mit den Augen die Versammlung hinter mir an. »Das ist es! Jede architektonische Waghalsigkeit ist erlaubt, wenn wir sie schließlich mit den großen, edlen Linien des Ganzen in Einklang zu bringen verstehn.« Er sann ein wenig vor sich hin, schien das Haus auf dem Tische zu betrachten, versuchte hie und da noch einen Balkon anzubringen. Das gefiel ihm jedoch nicht recht. »Und dann«, versetzte er langsam, »können wir auch genau den Zeitpunkt bestimmen, wenn es fertig ist, wenn es geschmacklos wäre, noch etwas hinzuzutun. Nur an stillosen Baracken kann man immer wieder anbauen. Unser Haus weiß, wann es fertig ist.« Er schlug mit der Hand auf den Tisch, mitten in das unsichtbare Haus hinein, als wollte er es zerdrücken, er lächelte dabei, nahm sein Glas, und während des Trinkens schaute er über sein Glas hin die Versammlung hinter mir an, trank ihr zu. Als er das Glas wieder niedersetzte, kam eine Veränderung über ihn. Er sank ein wenig in sich zusammen, das Gesicht wurde schlaff und alt und die Hand klopfte müde und sanft die Stelle, auf der sie das Haus eingedrückt hatte. Als er mich ansah, war das flackernde Licht in seinen Augen erloschen. Er lächelte ein befangenes, fast hilfloses Lächeln. »Ja, mein Junge«, sagte er und es schien mir, daß seine Zunge ein wenig schwer war, »du sagst nichts. Was meinst du zu all dem?«
O! ich meinte nichts! Ich hatte die ganze Zeit über dem Redner mit unsäglichem Grauen gegenüber gesessen. Jetzt mußte ich etwas sagen und ich sagte etwas Sinnloses, über das ich mich wunderte, wie wir uns im Traume über das wundern was wir sagen.
»Ja – aber – der Turm von Pisa«, bemerkte ich.
Mein Vater schien nicht weiter erstaunt. »Der!« meinte er nachdenklich, »der ist soweit ganz hübsch. Weil er schief ist, meinst du? Ja, da hat er Unrecht. Wenn man schief steht, soll man umfallen, das wäre logischer. Aber – Gott! Das ist seine Sache!« Über diesen Gedanken lachte er leise in sich hinein und sah mich von der Seite an, als seien wir im Einverständnis. Ich lachte auch, aber ich war mir selber so unheimlich wie mein Vater. Am liebsten hätte ich mich von beiden leise fortgeschlichen. »Ich bin müde«, brachte ich tonlos heraus.
»Müde?- wiederholte mein Vater ohne aufzusehn, »das kann schon sein. Gute Nacht...« Dann bekam die Stimme wieder etwas von ihrem gewohnten Klange, als er hinzufügte: »Morgen dürfen die Studien nicht vernachlässigt werden.«
Wenige Tage später fuhren wir am Nachmittage zur Eisenbahnstation, um von den Warnowern Abschied zu nehmen. Mich regte das an. Daß die Mädchen fortreisten, war traurig, aber man wußte doch, warum man traurig war. Es würde geweint werden, man würde sich umarmen, hübsche, rührende Dinge sagen. Wie würde Ellita sich benehmen? Was würde er tun? Ich würde doch wieder ein wenig bewegte Dramenluft atmen dürfen. Später konnte ich dann ehrlich unglücklich sein, vielleicht konnte ich dichten.
Im Wartesaal war die ganze Familie versammelt. Die Tante weinte. »Ach, Gert!« rief sie, »und du, mein kleiner Bill, jetzt geht es an das Scheiden.« Cheri kläffte unausgesetzt. Die Mädchen, in ihren grauen Sommermänteln, graue Knabenmützen auf dem Kopf, saßen auf den Bänken, die Hände voll Warnower Blumen. Ich setzte mich zu ihnen, wußte aber nichts zu sagen. Went rannte hin und her, um das Gepäck zu besorgen. Mein Vater sprach mit der Tante vom Umsteigen. Die Zeit verging, ohne daß etwas Besonderes getan und gesagt wurde. Ja, alle schienen heute verstimmter und alltäglicher denn je zu sein.
Endlich ging es an das Abschiednehmen. Da kam ein wenig Schwung in die Sache. Gerda küßte mich. »Wenn wir uns wiedersehn«, sagte sie, »wollen wir wieder lustig sein, armer Bill.« Das trieb mir die Tränen in die Augen. Ich hörte meinen Vater etwas sagen. Ellita lachte. Er hatte wohl einen Witz gemacht. Dann saßen sie alle im Wagen. Wir standen auf dem Bahnsteig und nickten ihnen zu. Zu sagen hatte man sich nichts mehr.
Mit einem widerlichen Gefühle der Leere und Enttäuschung blickte ich dem abfahrenden Zuge nach. Das war wieder nichts gewesen! Melancholisch pfiff ich vor mich hin. Der Stationsvorsteher stand mitten auf den Schienen und gähnte in den gelben Nachmittagssonnenschein hinein. Als seine dicken Enten langsam an mir vorüberzogen, nahm ich kleine Steine und warf nach ihnen. Das tat mir wohl.
»Wer wird nach Enten mit Steinen werfen?« sagte der Stationsvorsteher ärgerlich. Am liebsten hätte ich ihn selbst mit Steinen beworfen!
»Fahren wir?« fragte Konrad.
Ich ging in den Wartesaal, nach meinem Vater zu sehn. Da stand er und spritzte sich mit einer kleinen, goldenen Spritze etwas in das Handgelenk. Als ich kam, steckte er hastig die Spritze in die Westentasche und ließ sein goldenes Armband klirrend über das Handgelenk fallen. »Wieder die Migräne«, meinte er.