Eduard von Keyserling
Beate und Mareile / I
Eduard von Keyserling

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Zehntes Kapitel

Beate war im Schlosse mit ihrem Kinde allein. Günther war in Berlin. Er hatte es zu Hause nicht ausgehalten. Schuldgefühl, eine ergebene, bleiche Frau, Traurigkeit in allen Winkeln, das war mehr, als er ertragen konnte. Dazu das quälende Verlangen nach Mareile. Jeder Nerv in ihm hungerte nach ihr. Ein Narr wäre er, wollte er so weiter leben! Er rief Peter und ließ die Koffer packen. »Mach' schnell«, befahl er, »morgen um sieben Uhr dreißig geht's nach Berlin!«, und seine Stimme klang wieder hell und lebenslustig.

Seneïde mußte in eine Heilanstalt gebracht werden. Die Aufregung der letzten Zeit war zu stark für ihre kranken Nerven gewesen. Sie fühlte die Krankheit nahe, etwas Dunkles, Unheimliches, das sich eng um ihr Bewußtsein zusammenschob. Hilflose Angst lag in ihrem Blick. Unablässig ging sie in dem großen, leeren Ahnensaal auf und ab. Beate hörte beständig den rastlosen Schritt, begleitet von dem leisen Rauschen der Schleppe des langen Trauerkleides, und die klagende Stimme, die Bibelsprüche hersagte: »Laß mich eine kleine Weile, daß ich ausweine meinen Schmerz, ehe ich in das Land gehe, da es stockdickfinster und Nacht des Todes ist.«

Eines Morgens hielt die große, schwarze Kutsche vor der Tür. Frau Bier stand auf der Treppe und wartete auf Seneïde, um sie fortzubringen. Seneïde ließ sich teilnahmslos zum Wagen führen. Nur als ihr Blick auf Beate fiel, murmelte sie klagend: »Beating – bleibt allein im Sturm. Beating bleibt allein in der Wüste. Armes, armes Beating.«

Das Leben im Schlosse ging seinen gewohnten Gang. Beckmann schmückte den Eßtisch wie einen Altar. Miespeck klopfte seine Steaks und spielte die Flöte. Die Hunde lagen auf der Hoftreppe und schauten die Allee hinunter, ob nicht Besuch käme. Wenn Beate sich im Eßsaal fröstelnd zu ihrem Mahle niedersetzte, von Beckmann bedient, dann hätte sie sich vor sich selber fürchten können, so gespenstisch erschien ihr alles. Am Tage, im nüchternen Lichte, unter den gewohnten Beschäftigungen, da konnte das Weiterleben noch als selbstverständliche Sache erscheinen; aber es kamen die Abende, wenn die Stimmen im Hause verstummten, draußen der Hofhund in die Nacht hinausbellte und die Möbel in den Zimmern leise zu knacken begannen, als flüsterten sie miteinander; dann erwachte in Beate wieder das ermattende, unfruchtbare Herumraten an ihrem Schicksal. Warum mußte das sein? Warum wurde ihr alles genommen? Ihre Jugend bäumte sich gegen ihr Schicksal auf. Sie wollte jung sein, leben – wie die anderen. Die anderen, die mit dem heißen Blut, die, von denen Günther gesprochen hatte, die durften rücksichtslos lieben und genießen und sündigen. Sie begann in ihrer vor Einsamkeit fiebernden Seele gegen die Gesetze sich aufzulehnen, unter die sie sich ihr ganzes Leben hindurch gebeugt. Alles, nur dieses stumme Verkümmern nicht! Und doch, wenn ihr Körper nach Günther verlangte, nach ihm schrie, dann hätte sie ihn schlagen mögen. Wie die Even, die Mareilen sollte ihr Körper nicht fühlen. Und all das kam wunderlich deutlich mit Stimmen, Bildern, Gesichtern; es sprach und rief und stritt in ihr, bis sie todmüde, als käme sie aus einem Kampfe, ihr Zimmer aufsuchte, um schwer und traumlos zu schlafen.

 

Der November brachte starken Frost. Das Land war wie von Glas umspannen. Die Bäume bogen sich unter der Kristallast. Der Gärtner band Seile an die Obstbäume und ließ sie von den Dorfbuben schütteln, dann regnete es klirrend von den Zweigen. Alles atmete auf, als Schnee kam. Die weiche, weiße Decke war doch behaglicher als die blanke Glaswelt.

Eines Tages hielt der Schlitten der Gräfin Blankenhagen vor dem Schloß. Die Gräfin selbst und die Fürstin Elise entstiegen ihm. Die lange, bedeutungsvolle Umarmung der Fürstin verletzte Beate. Sie war heute der Gräfin Blankenhagen für ihre laute, burschikose Lustigkeit dankbar. Man sprach von der Nachbarschaft. Immer noch wurde in Grumbnitz schlecht gewirtschaftet, immer noch war Frau von Hallen auf Ternin eine geborene Lehmann, immer noch fand Frau von Scharf für Agnes keine Partie. Nach dem Diner setzte die Gräfin sich an das Klavier. Sofort griff die Fürstin Elise nach Beates Hand, ihre Augen wurden feucht, und sie flüsterte leidenschaftlich: »Meine Beate! Glaubst du, ich – – wir alle – könnten das ruhig mit ansehen, was hier vorgeht?«

»Ihr?« wiederholte Beate. Alles in ihr schloß sich vor dieser Berührung, alles in ihr rief: »Wache stehen! Niemand einlassen!«

»Du weißt«, fuhr die Fürstin fort, »nächst dir leide ich bei alledem am tiefsten. Aber Leiden! Mein Gott! Die kann keiner uns abnehmen. Nicht wahr, mein Herz? Aber hier... nein, sage nichts! Wir wissen, was hier vorgeht.«

»Was wißt ihr?« fragte Beate feindselig. Sie entzog der Fürstin ihre Hand, rückte von ihr fort. Die Fürstin weinte. Aus ihren hellblauen Augen rannen schnell kleine, blanke Tränen. »Was Schmerz ist, das weiß ich«, meinte sie. »Enttäuscht werden ist ja mein Gewerbe. Aber davon ist jetzt nicht die Rede. Dir helfen, das ist jetzt unsere Aufgabe. Hier, in der ganzen Gesellschaft sehen wir deine Sache als unsere Sache an. Wir stehen alle auf deiner Seite, da kannst du ruhig sein. Auch alle unsere Herren. Blankenhagen sagte gestern: ›Der Tarniff muß zur Ordnung gerufen werden.‹ Glaub' mir, etwas gesellschaftlicher Druck richtet viel aus. Das verstehen die Männer. Ich sag' dir, Beating, Mitleid für dich und Entrüstung gegen die anderen sind jetzt sozusagen die Leidenschaften unserer Gesellschaft. Von nichts anderem wird gesprochen.«

Beate kniff die Lippen fest aufeinander und machte ein böses Gesicht. Sie hörte mehr den eignen grollenden Gedanken als dem zu, was die Fürstin sprach. Was wollten all diese Menschen mit ihrem schamlosen Mitleid? Warum ließen sie sie nicht in Ruhe? Kannten sie denn nicht die Keuschheit der großen Leiden? Wußten sie denn nicht, daß nur die niedrigsten Menschen am Wege sitzen und den Vorübergehenden ihre Wunde zeigen? O Gott, wären sie doch fort, diese mitleidigen Seelen!

»Wenn du willst, mein Herz«, klang wieder der Fürstin bedauernde Stimme an Beates Ohr. »Wenn du willst, so bleib' ich bei dir. Oder du kommst zu mir mit deinem Jungen. Aber fort mußt du von hier. Es wird noch alles gut. Wir werden dich schon verteidigen.«

Beate fuhr auf. Sie wurde ganz heiß vor Zorn. »Nein, Elise, wir verstehen uns nicht. Fort soll ich aus meinem Hause? Warum? Mich wollt ihr verteidigen? Gegen wen? Mich braucht niemand zu verteidigen. Mich kann niemand verteidigen.«

»Beating – Herz – so versteh' doch!« warf die Fürstin ein, aber Beate wollte nicht verstehen. »Was ihr wißt und sprecht, weiß ich nicht. Ihr könnt und sollt nichts wissen. Weil ich vielleicht leide, glaubt jeder die Finger in das Wasser stecken zu dürfen, das ich trinken muß. Ich brauche keinen. Ich habe niemand gerufen. Ich – ich will allein sein.« Schnell und leise die Worte hervorzustoßen tat wohl. Die Fürstin machte ein erstauntes und empfindliches Gesicht; als Beate jedoch schwieg, schmiegte die kleine Frau ihren Kopf verschüchtert an Beates Schulter.

»Ja – ja, Beating«, flüsterte sie, »ich weiß – ich weiß – so bist du – so mußt du sein.«

Als die Damen fort waren, begab Beate sich in den alten Flügel zurück, und ihre Einsamkeit erschien ihr heute wie eine Zuflucht.


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