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I.
Das Recht des Kindes, seine Eltern zu wählen.

Alle, die, von wehmütigen Erinnerungen oder bebenden Hoffnungen erfüllt, der Jahrhundertwende harrten und bei dem Glockenklang des Zwölfschlages unzählige unbestimmte Ahnungen in die Welt hinaussandten, sie fühlten, dass das neue Jahrhundert ihnen selbst mit Gewissheit nur eines geben würde, Ruhe; dass die jetzt Wirkenden nicht mehr Zeuge der Entwickelung sein würden, deren Bahn die Richtung zu geben sie bewusst oder unbewusst das ihre beigetragen. Dieses Buch erschien in Schweden – wo der Anbruch des neuen Jahrhunderts am Sylvesterabend 1899 gefeiert wurde – im Dezember 1900, wird aber erst jetzt und in etwas gekürzter Form meinem deutschen Leserkreis übergeben. Stockholm, Februar 1902. Ellen Key.

Die Ereignisse um die Jahrhundertwende veranlassten eine Zeichnung des neuen Jahrhunderts als eines nackten Kindleins, das sich zur Erde hinabsenkt – aber sich erschrocken zurückzieht bei dem Anblick des mit Waffen gespickten Balles, auf dem für die neue Zeit nicht ein Zoll breit Boden frei ist, den Fuss darauf zu setzen! Die vielen, die über den Sachverhalt nachdachten, den das Bild veranschaulichte: wie auf den ökonomischen und den kriegerischen Schlachtfeldern alle niedrigen Leidenschaften des Menschen noch entfesselt werden; wie es der ganzen ungeheuren Kulturentwickelung des verflossenen Jahrhunderts noch nicht gelungen ist, dem Kampfe ums Dasein edlere Formen zu verleihen – sie haben ganz gewiss auf ihre Frage, warum dem noch so ist, sehr verschiedene Antworten gefunden. Einige begnügen sich damit, überlegen zu erklären, dass es, so wie es ist, bleiben müsse, da die menschliche Natur dieselbe bleibe; da der Hunger, die Fortpflanzung und das Verlangen nach Geld und Macht immer den Weltverlauf beherrschen würden. Andere wieder sind überzeugt, dass, wenn die Lehre, die durch 1900 Jahre vergeblich versucht hat, diesen Verlauf umzuwandeln, einmal eine lebendige Wirklichkeit in den Seelen der Menschen würde, die Schwerter zu Pflugscharen umgeschmiedet werden würden.

Ich hingegen bin überzeugt, dass alles nur in dem Masse anders wird, in dem die Menschennatur sich umwandelt, und dass diese Umwandlung sich vollziehen wird, nicht wenn die ganze Menschheit christlich wird, sondern wenn die ganze Menschheit zu dem Bewusstsein von der »Heiligkeit der Generation« erwacht. Dieses Bewusstsein wird das neue Geschlecht, seine Entstehung, seine Pflege, seine Erziehung zu der centralen Gesellschaftsaufgabe machen, um die alle Sitten und Gesetze, alle gesellschaftlichen Einrichtungen sich gruppieren werden; zu dem Gesichtspunkt, aus dem man alle anderen Fragen beurteilen, alle anderen Entschlüsse fassen wird. Bis jetzt erfährt man bloss in Schulreden und pädagogischen Abhandlungen, dass die Erziehung der Jugend die höchste Angelegenheit des Volkes ist; in Wirklichkeit werden sowohl in der Familie wie in den Schulen und im Staate ganz andere Werte in den Vordergrund gestellt.

Denn die neue Anschauung von der »Heiligkeit der Generation« erhält die Menschheit nicht eher, als bis sie in vollem Ernst die christliche Lebensanschauung verlassen und die angenommen hat, die auch vor Jahrtausenden geboren ward, aber deren Siege erst das soeben vollendete Jahrhundert geschaut hat.

Der Entwickelungsgedanke wirft nicht nur Licht auf einen hinter uns liegenden, durch Millionen von Jahren fortgesetzten Verlauf, dessen schliesslicher Höhepunkt der Mensch ist. Er erhellt auch den Weg, den wir zu wandern haben: er zeigt uns, dass wir physisch und psychisch noch immer im Werden begriffen sind. Während der Mensch früher als eine physisch und psychisch unverrückbare Erscheinung betrachtet wurde, die zwar in ihrer Art vervollkommnet, aber nicht umgestaltet werden könne, weiss man nun, dass er im stande ist, sich zu erneuen; anstatt eines gefallenen Menschen sieht man einen unvollendeten, aus dem durch unzählige Modifikationen in einem unendlichen Zeitraum ein neues Wesen werden kann. Beinahe jeder Tag bringt neue Kunde von bisher ungeahnten Möglichkeiten erweiterter physischer oder psychischer Macht, engerer Wechselwirkung zwischen der Innen- und der Aussenwelt, der Ueberwindung von Krankheiten, der Verlängerung des Lebens und der Jugend, des Eindringens in die Gesetze der physischen und psychischen Entstehung. Man spricht sogar davon, unheilbar Blinden eine neue Art Sehvermögen zu geben, Tote ins Leben zurückrufen zu können – all das und vieles andere freilich noch bloss dem Gebiet der Hypothese angehörig, den Möglichkeitsberechnungen der psychischen und physischen Forschung. Aber man sieht doch schon genügend grosse Ansätze, um zu zeigen, dass die Umwandlungen, die der Mensch durchgemacht hat, bevor er zum Menschen wurde, weit davon entfernt sind, das letzte Wort seiner Genesis zu sein. Wer heute erklärt, dass »die Menschennatur sich immer gleich bleibt« – d. h. so, wie sie sich in den ärmlichen Jahrtausenden gezeigt, in denen unser Geschlecht sich seiner selbst bewusst war – verrät dadurch, dass er auf derselben Höhe der Reflexion steht, wie z. B. ein Ichthyosaurus der Juraperiode, der vermutlich auch nicht den Menschen als eine Zukunftsmöglichkeit ahnte!

Wer hingegen weiss, dass der Mensch unter unablässigen Umgestaltungen das geworden, was er nun ist, sieht auch die Möglichkeit ein, seine zukünftige Entwickelung in solcher Weise zu beeinflussen, dass sie einen höheren Typus Mensch hervorbringt. Man findet schon den menschlichen Willen entscheidend bei der Züchtung neuer und höherer Arten in der Tier- und Pflanzenwelt. In Bezug auf unser eigenes Geschlecht, auf die Erhöhung des Menschentypus, die Veredelung der menschlichen Rassen herrscht hingegen noch der Zufall in schöner oder hässlicher Gestalt. Aber die Kultur soll den Menschen zielbewusst und verantwortlich auf allen Gebieten machen, auf denen er bisher nur impulsiv und unverantwortlich gehandelt hat. In keiner Hinsicht ist jedoch die Kultur zurückgebliebener als in all den Verhältnissen, die über die Bildung eines neuen und höheren Menschengeschlechts entscheiden.

Erst wenn die naturwissenschaftliche Anschauung die Menschheit durchdrungen hat, kann diese die volle, naive Ueberzeugung der Antike von der Bedeutung des Körperlichen wiedererlangen. Schon in der Spätantike – bei Sokrates, bei Plato – sah die Seele auf den Körper herab; die Renaissance suchte beide zu versöhnen, aber sie war leider nicht fromm genug – frech war sie hinreichend – als dass ihr eine Aufgabe gelungen wäre, zu der man, wie Goethe von sich selbst sagt, frech und fromm zugleich sein muss. Erst jetzt, seit man weiss, wie Seele und Körper sich gegenseitig aufbauen oder untergraben, beginnt man eine zweite, höhere Unschuld in Bezug auf die Heiligkeit und das Recht des Körperlichen wiederzuerlangen.

Ein dänischer Schriftsteller hat dargelegt, wie das mosaische sechste Gebot ins Nichts zurücksinkt, sobald man einsieht, dass die Ehe nur eine zufällige soziale Form für das Zusammenleben zweier Menschen, das ethisch Entscheidende aber die Art des Zusammenlebens ist. In der Moral vollzieht sich eine allgemeine Verschiebung von den objektiven Gesetzen, die befehlen und zwingen, zu der subjektiven Grundlage, von der die Handlungen ausgehen. Die Ethik wird so eine Ethik des Charakters, der Gemütsbeschaffenheit. Man fordert, absolviert oder verurteilt nach der inneren Beschaffenheit des Individuums, und man nennt nicht gerne eine Handlung unmoralisch, die nur in äusserer Hinsicht mit einem Gesetze nicht übereinstimmt oder demselben widerstreitet. In jedem besonderen Fall entscheidet man nach dem inneren Zustande des Individuums. Und wendet man das auf die Ehe an, so findet man fürs erste, dass diese Form keine Garantie dafür bietet, dass die richtige geschlechtliche Gesinnung vorhanden ist. Diese kann ebenso gut ausserhalb wie innerhalb der Ehe da sein, und viele feine und ernste Menschen ziehen nun für ihr Zusammenleben die freiere Form als die sittlichere vor. Aber infolgedessen ändert sich der Inhalt des sechsten Gebotes, der darin bestand, dass jedes Geschlechtsverhältnis, das ausserhalb der Ehe entsteht, unsittlich sei. Man macht schon seine Erfahrungen mit Verbindungen ausserhalb der Ehe; man sucht neue Formen für das Zusammenleben zwischen Mann und Weib; man stellt das ganze Problem unter Debatte! Die Menschheit befindet sich in dieser Beziehung auf dem Gebiet der Entdeckungen. Man sieht immer mehr ein, wie zusammengesetzt, wie voll von Gefahren für das Glück des Menschen das ganze Geschlechtsverhältnis ist. Man macht beständig neue Beobachtungen, sowohl in Bezug auf die Bedeutung dieses Verhältnisses für die Individuen selbst als für die Nachkommenschaft. Allmählich Licht in dieses Chaos zu bringen, ist das für die Menschheit vor allem Wichtige, und die Litteratur sollte deshalb in diesem Falle die grösstmögliche Freiheit haben – im geraden Gegensatz zu den Tendenzen der Gegenwart, die diese Freiheit einschränken wollen. Während ich dem oben Gesagten voll beistimme, möchte ich darauf hinweisen, dass das grösste Hindernis einer freien Diskussion über dieses Thema jedoch noch immer die christliche Betrachtungsweise der Entstehung und der Natur des Menschen ist, nach welcher seine einzig mögliche Erhebung aus den Folgen des Sündenfalls durch den Glauben an Christus geschieht. Denn mit dieser Betrachtungsweise kam auch die durch das Christentum in das Abendland eingeführte Anschauung, dass alles mit der Fortpflanzung Zusammenhängende das Unreine sei, das man womöglich unterdrücken, und wenn schon nicht das, so wenigstens in Schweigen und Dunkelheit hüllen müsse. Für das Christentum ist immer noch das Ewigkeitsleben, nicht das Erdenleben das Bedeutungsvolle, und den Dualismus des Daseins sucht es in erster Linie durch die Askese aufzuheben, nicht durch die Veredelung des Trieblebens. Diese Auffassung feiert noch in unseren Tagen ihre Siege, z. B. in der Gesetzgebung gegen »das Nackte« in Kunst und Litteratur!

Die christliche Betrachtungsweise des Geschlechtsverhältnisses als eines Niedrigen und seiner einzig möglichen Heiligung durch die unauflösliche Ehe hat in einem gewissen Zeitabschnitt eine grosse mittelbare Bedeutung für die Entwickelung gehabt. Sie hat die Selbstbeherrschung gefördert, die das Seelenleben erhoben hat, und die Schamhaftigkeit, die Heimlichkeit, die Treue, die – neben unzähligen anderen Einflüssen – den Trieb zu Liebe entwickelt haben. Wenn diese Gefühle aus der Liebe verschwänden, so wäre sie nicht mehr menschlich, sondern nur tierisch.

Aber wenn auch die individuelle Liebe zwischen jedem neuen Menschenpaar immer Einsamkeit und Verschwiegenheit fordern wird; wenn auch die persönliche Schamhaftigkeit stets eine der Errungenschaften des Menschen vor dem Tiere bleibt, so ist es doch gewiss, dass diese Art von Geistigkeit, die mit Schweigen und Scham an allen mit diesem Gegenstand zusammenhängenden ernsten Fragen vorbeigeht – oder sie nur als Zweideutigkeiten, als Anlass zu Scherz und Erröten behandelt – dass diese Art von Geistigkeit ausgerottet werden muss!

Nur dadurch, dass jeder von frühester Kindheit an auf jede seiner Fragen über diesen Gegenstand ehrliche, dem betreffenden Stadium seiner Entwickelung angepasste Antworten erhält und so volle Klarheit über seine eigene Art als Geschlechtswesen empfängt, sowie ein tiefes Verantwortlichkeitsgefühl in Beziehung auf seine zukünftige Aufgabe als solches, eine Gewöhnung an ernstes Denken und ernstes Sprechen über diesen Gegenstand, nur dadurch kann ein vornehmeres Geschlecht mit höherer Sittlichkeit hervortreten.

Aber schon als Björnson in Thomas Rendalen die Frage der Erziehung der Jugend zur Reinheit durch Einsicht stellte, führte ich als Einwand gegen sein Buch an, dass es so wie die Reinheitspredigten des Christentums sein Streben mehr auf die Beherrschung der Naturtriebe als auf deren Veredelung richte. Ich legte dar, dass Björnson allerdings zwei neue Gesichtspunkte brachte, den der körperlichen Gesundheit und den der Veredelung des Geschlechts, anstatt wie das Christentum einseitig die geistige und die persönliche Seite der Frage zu betonen, und dass diese neuen Gesichtspunkte bedeutungsvoll waren, weil sie den berechtigten Egoismus des Individuums zugleich mit dem verbindenden Altruismus des Solidaritätsgefühls einschlossen. Die Umgestaltung der ererbten Anlagen in Bezug auf das Verhalten der Menschen zur Sittlichkeit und dadurch die Schaffung einer gesunden und glücklichen neuen Generation, bei der die Leiden der jetzigen geschlechtlichen Disharmonie aufgehört haben werden – das war das grosse Ziel des Björnsonschen Buches. Und für dieses wollte er, dass auch die Schule wirke, durch die Mitteilung der Kenntnis des Menschen als Geschlechtswesens, und wie er als solches sich selbst und dann seine Nachkommenschaft behüten sollte.

Ich wendete schon damals gegen diesen Plan ein, dass die Schule nicht der Ort sei, wo der Grund zu dieser Kenntnis gelegt werden sollte; diese müsste langsam und behutsam von der Mutter selbst mitgeteilt werden und in der Schule nur ihren theoretischen Ueberbau erhalten. Noch mangelhafter fand ich die eigentliche Auffassung der Keuschheitsfrage als einer körperlichen Reinheitsfrage allein, als eines negativen, nicht eines positiven Ideals, und ich behauptete, dass nur der erotische Idealismus Begeisterung für die Keuschheit wecken könne. Schon durch das Märchen, dann durch die Geschichte und durch die schöne Litteratur muss der Grund zum erotischen Idealismus gelegt werden; die physiologische Einsicht ist in dieser Hinsicht sehr unzulänglich, wenn nicht Phantasie und Gefühl sich in derselben Richtung bewegen. Und weder Phantasie noch Gefühl werden durch Naturkunde und körperliche Uebungen allein rein erhalten, ebensowenig wie durch christlichen Religionsunterricht!

Nein, man muss, auf naturwissenschaftlicher Basis, in neuer und edlerer Form die ganze antike Liebe zu der Stärke und Schönheit des eigenen Körpers wiedererlangen, die ganze antike Ehrfurcht vor der Göttlichkeit der Fortpflanzung, vereint mit dem ganzen modernen Bewusstsein von dem seelenvollen Glück der idealen Liebe! Nur so kann der Fanatismus der echten Keuschheit die Menschheit aus all den Qualen erlösen, die die sexuelle Zersplitterung und Erniedrigung jetzt mit sich bringen. Es ist tief bedeutungsvoll, dass in der Welt der Vergangenheit dem Weibe auf Grund von Beobachtungen über die Fortpflanzung Göttlichkeit zugesprochen wurde, während im Christentum die Frau als die Jungfrau-Mutter göttlich ward! Der heidnische und christliche Gedanke zusammen werden vereint und veredelt dem Weibe eine neue Andacht vor sich selbst als Geschlechtswesen schenken. Die antike und die moderne Liebe, die Liebe der Sinne und die der Seele werden vereint und veredelt die Menschen, Mann wie Weib, dahin bringen, wieder Eros, den Allherrscher, anzubeten.

Die Bedeutung der Liebe verringern, sie als einen erniedrigenden Sensualismus bekämpfen, heisst nicht, für die Erhebung des Menschen wirken, das heisst im Gegenteil, seine Erniedrigung fördern. Denn ebenso erniedrigend, wie das Geschlechtsleben wäre, wenn er in ihm schamerfüllt eine tierische Forderung befriedigt, wäre es, wenn er zur Erhaltung der Art mit Widerwillen eine als niedrig angesehene Pflicht erfüllte!

* * *

Schon die Antike – z. B. wenn Lykurg Gesetze gab in der Gewissheit, dass »in blühender Frauen Schoss eines Volkes Stärke liegt«, und man demgemäss in Sparta die physische Ausbildung des Weibes überwachte wie des Mannes und das Heiratsalter mit Rücksicht auf eine kräftige Nachkommenschaft bestimmte – stand höher als die Gegenwart. Noch höher stand das Judentum in Bezug auf die Auffassung von dem Ernst der Zeugung, eine Auffassung, die sich in der strengsten Gesundheitsgesetzgebung ausdrückt, die die Geschichte kennt. Die jüdische, sowie andere morgenländische Gesetzgebungen ruhten in Bezug auf die Geschlechtsmoral sowie in Bezug auf die Diät auf scharfsinnigen Beobachtungen der Naturgesetze und der Krankheiten. Und ehe nicht die Menschen anfangen, mit alttestamentarischer Schlichtheit und alttestamentarischem Ernst die Lebensfragen zu behandeln, die der Idealismus des Christentums zwar vergeistigt, aber gleichzeitig erniedrigt hat, kann nicht der Grund zu einer neuen Ethik in diesen Fragen gelegt werden.

Diese neue Ethik wird kein anderes Zusammenleben zwischen Mann und Weib unsittlich nennen, als das, welches Anlass zu einer schlechten Nachkommenschaft giebt und schlechte Bedingungen für die Entwickelung dieser Nachkommenschaft hervorruft. Und die zehn Gebote über diesen Gegenstand werden nicht vom Religionsstifter, sondern vom Naturforscher geschrieben werden.

Aber noch – teilweise infolge der verkehrten Schamhaftigkeit in diesen Dingen – hat die Wissenschaft nur sehr unvollständige Beobachtungen über die physischen und psychischen Bedingungen für die Erhöhung des Menschentypus schon in und mit der Zeugung anstellen können.

Die Ontogenie ist eine für unser Jahrhundert neue Wissenschaft. Von Leeuwenhock, de Graaf und anderen vorbereitet, wurde sie von v. Baer 1827 begründet. Die Meinungsverschiedenheiten und die Entdeckungen der verschiedenen Theorieen sind noch lange nicht zu Ende geführt, und neben den rein wissenschaftlichen treten die sozialen oder physiologischen oder ethischen Gesichtspunkte hervor. Man hat behauptet, dass durch Veränderungen in der Ernährungsweise der Mutter das Geschlecht des Kindes bestimmt werden könne; man hat beweisen wollen, dass ungefähr ? aller genialen Menschen Erstgeborene seien. Professor Schenk in Wien und Professor Axenfeld in Perugia. Beider Sätze gehören noch in das Gebiet der sehr fraglichen Hypothesen. Aber in diesen wie in so vielen anderen Fällen wird es sich vielleicht zeigen, dass die kühnen Hypothesen neue Entdeckungen veranlassen. Viele männliche und weibliche Aerzte heben die Wichtigkeit, nicht durch künstliche Mittel die Mutterschaft zu verhindern, sowie die Bedeutung der Enthaltsamkeit während der Schwangerschaft als Grundbedingungen für die physische und psychische Gesundheit der Mutter wie des Kindes hervor; andere wieder sehen jenes für ungefährlich, dieses für unnötig an. Die Absolutisten betonen, dass die Mutter vor der Geburt des Kindes keine Spirituosen über die Lippen bringen dürfe, sowie dass alkoholartige Getränke nicht in die Diät der nährenden Mutter oder später in die des Kindes fallen sollen. Der Vegetarismus hebt die Bedeutung seiner Prinzipien für die Gesundheit und Gemütsart von Mutter und Kind hervor, u. s. w. Man studiert, von welchem Einfluss das Alter der Eltern auf das Kind ist. Grosse Jugend der Eltern scheint ungünstig für die Nachkommenschaft zu sein, ebenso wie hohes Alter. Das erste Kind einer zu jungen Mutter ist oft schwach; und ausserdem ist von ihr gewöhnlich die Mutterfreude nicht ersehnt, weil sie fühlt, dass sowohl physisch wie psychisch das Kind eine zu grosse Bürde für sie ist, die selbst eben noch Kind gewesen. Der Wunsch nach einem kräftigen, gut aufgezogenen Nachwuchs erfordert so die Hinausschiebung des Heiratsalters für die Frau, das im Norden – wenn nicht vom Gesetz, so von der Sitte – auf ungefähr zwanzig Jahre festgesetzt werden sollte. Und das ebenso sehr, damit das junge Weib einige Jahre sorgloser Jugendfreude und ungestörter Selbstentwickelung hinter sich, wie damit sie die für die Mutterschaft notwendige physische Entwicklung erreicht habe. Wenn zwanzig Jahre als das früheste Heiratsalter betrachtet würde, so würde das faktische oft noch um einige Jahre hinausgerückt werden, zum Wohle der Frau, des Mannes, der Kinder und der ganzen Ehe, in der die meisten Konflikte dadurch verursacht werden, dass die Frauen über ihr Schicksal entschieden haben, bevor ihre Persönlichkeit noch bestimmte Formen annehmen, bevor ihr Herz noch seine Wahl treffen konnte. Die Liebe des Mannes wählt, und das junge Mädchen verwechselt oft das Glück, geliebt zu werden, mit dem Glück, zu lieben, das sie später vielleicht in tragischer Weise erlebt. Zu den vielen Fragen, die im Zusammenhang mit der Erblichkeit und der Auslese stehen, gehört auch die von der Bedeutung der Absicht der Natur, oft starke Gegensätze die stärkste Anziehung ausüben zu lassen, eine Anziehung, die sich dann während des ehelichen Zusammenlebens oft in Widerwillen verwandelt, und beinahe immer in Unduldsamkeit gerade gegen die Eigenart, die ursprünglich einen so tiefen Zauber besass. Die Natur scheint in diesem Falle ihr Ziel mit grosser Rücksichtslosigkeit gegen das Glück des Individuums erreichen zu wollen. Manchmal zeigen sich nämlich wirklich die Gegensätze der Eltern in dem Kinde zu voller Harmonie verschmolzen; zuweilen hingegen äussern sie sich als tiefe Disharmonie, aber in beiden Fällen entsteht oft das Ausnahmewesen. Zu richtigen Schlussfolgerungen in diesem Falle zu gelangen, gehört zu den zahlreichen noch offenen Möglichkeiten.

Am allerstärksten bekriegen sich die Meinungen in der Vererbungstheorie, wo der Kampf zwischen Darwins Ansicht, dass auch erworbene Eigenschaften sich vererben, und Galtons und Weismanns Ueberzeugung, dass das nicht der Fall sei, geführt wird. In Zusammenhang damit steht auch die Frage der konsanguinen Ehen, die einige als an und für sich gefährlich für die Nachkommenschaft betrachten, andere als nur aus dem Gesichtspunkte gefährlich, dass derselbe Familienzug sich oft bei beiden Eltern vorfindet und dann so bei den Kindern verstärkt auftritt; z. B. dass die angeborene Kurzsichtigkeit beider Gatten Blindheit wird, ihre Dummheit Idiotismus, ihre Schwermut Schwachsinn u. s. w.

Das Abendland hat allmählich die morgenländische Ehegesetzgebung aufgehoben, die Moses geltend gemacht hat – während die anderer morgenländischer Gesetzgeber, zum Beispiel Manus und Mohammeds, noch zum grossen Teil befolgt werden, sowie auch in China entsprechende Gebote verpflichtende Macht haben. Hie und da hat das Gefühl von der Bedeutung der Erblichkeit bei einigen abendländischen Schriftstellern durchgeschimmert, z. B. bei Thomas Morus, der ebenso wie Plato eine körperliche Untersuchung vor dem Eingehen der Ehe fordert. Aber erst im 19. Jahrhundert hat die Frage nach dem Rechte des Kindes in jeder Hinsicht begonnen, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Und so wie Robert Owen es war, der in einem Fall das allgemeine Rechtsbewusstsein zu Gunsten der Kinder wachrief, durch seine 1815 begonnenen Untersuchungen – die zeigten, dass Kinder unter acht Jahren, von den Hieben der Lederpeitsche angestachelt, 15 bis 16 Stunden arbeiteten, mit der Folge, dass ein Viertel oder Fünftel von ihnen als Krüppel endete – war es ein anderer Engländer, Malthus, der durch seinen schon 1798 herausgegebenen Essay on the Principle of Population die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf die Verhältnisse lenkte, die ihn veranlasst hatten, seine Arbeit zu schreiben, nämlich den durch Uebervölkerung hervorgerufenen Mangel an Lebensmitteln und die hierdurch verursachte Schwierigkeit, Ehen zu schliessen, was wieder seinerseits teils grosse Kindersterblichkeit, teils Kindermord zur Folge hatte. Schon Malthus sah die Bedeutung der Auslese und die Gefahr der Degeneration der Art ein. Und mit vollkommener Gewissensruhe trotzte er dem Sturm, den er hervorrief. Persönlich ein ebenso untadeliger, wie zartfühlender Mensch, musste Malthus, wie alle anderen Reformatoren der Sittlichkeitsbegriffe, unverschämte Beschuldigungen der Verderbtheit und Unsittlichkeit über sich ergehen lassen. Dasselbe widerfuhr Harriet Martineau, die für Malthus' Ansichten eintrat. Als sie ihre Novelle über diesen Gegenstand schrieb, wusste sie sehr wohl, welchen Dingen sie sich aussetzte. Aber diese seltene Frau, die selbst unvermählt und kinderlos starb, war so früh von dem Gefühl der Heiligkeit des Kindes durchdrungen, dass sie, erst neunjährig, bei der Geburt eines kleinen Schwesterchens auf die Kniee fiel und inbrünstig Gott dankte, der ihr die Gnade zu Teil werden liess, Zeuge des grossen Wunders der Entwickelung eines Menschenwesens vom Anfang an sein zu dürfen! Und dasselbe Gefühl veranlasste sie, in der obenerwähnten Novelle die Pflicht einer freiwilligen Beschränkung der Volksvermehrung darzulegen, weil sie bei dem Gedanken an das Schicksal litt, das die Kinder trifft, deren Anzahl nicht in richtigem Verhältnis zu der Möglichkeit der Eltern steht, sie zu erhalten und zu erziehen. Dieser Teil der Frage von dem Rechte des Kindes hat in allen Ländern Schriften und Gegenschriften hervorgerufen; und da diese Frage in Deutschland wie überall sich noch im Stadium der Diskussion befindet, gehe ich dazu über, in grösster Kürze die Meinungsverschiedenheiten über andere Seiten des Rechts des Kindes zu berühren.

In Francis Galtons berühmter Arbeit Hereditary Genius Nicht nur in diesem grundlegenden Werke, sondern auch in »Inquiries into human faculty and its development«, in »Life history album«, »Record of family faculties« und »Natural inheritance« hat Galton seine Gesichtspunkte dargelegt. ist beinahe schon alles, was aus dem Gesichtspunkte der Rassenveredelung heute gefordert wird, ausgesprochen. Galton, der schon in den siebziger Jahren anfing, Darwins Ansicht, dass auch erworbene Eigenschaften sich vererben, entgegenzutreten, hat seither in dieser Beziehung einen Mitstreiter in dem Deutschen Weismann erhalten, der seinerseits wieder bekämpft wurde, u. a. von dem englischen Darwinisten Romanes. Romanes ist der Verfasser von »Mental evolution in animals«, »Mental evolution in man« usw.

Galton, der aus einem griechischen Worte einen Namen für die Wissenschaft von der Veredelung der Rasse geschaffen hat, »eugenics«, beweist, dass der zivilisierte Mensch, was die Fürsorge für die Veredelung der Rasse betrifft, jetzt viel tiefer steht als die Wilden, um nicht von Sparta zu sprechen, wo es den Schwachen, den zu Jungen, den zu Alten nicht gestattet war, zu heiraten, und wo der nationale Stolz auf eine reine Rasse, eine kräftige Blüte so gross war, dass die Einzelnen sich in die Opfer fanden, die dieses Ziel erheischte. Galton – sowie Darwin, Spencer, A. R. Wallace u. a. – hebt hervor, dass das Gesetz der natürlichen Auslese, das in der übrigen Natur »the survival of the fittest« gesichert hat, in der menschlichen Gesellschaft nicht mehr gilt, wo ökonomische Beweggründe zu unrichtigen Heiraten führen, die der Reichtum ermöglicht, während die Armut die richtigen Heiraten hindert, und wo ausserdem die Entwickelung der Sympathie als ein die natürliche Auswahl störendes Moment aufgetreten ist. Die erotische Sympathie wählt nämlich nach Motiven, die allerdings auf das Glück des Einzelnen abzielen, aber darum nicht die Veredelung der Rasse verbürgen. Und während andere Schriftsteller z. B. W. R. Grey, der die Frage in »Enigmas of Life« behandelt hat. einen freiwilligen Verzicht auf die Ehe in jenen Fällen erhoffen, wo dieselbe eine schlechte Nachkommenschaft erwarten lässt, befürwortet Galton hingegen sehr strenge Massregeln, um die schlechten Menschenexemplare zu hindern, ihre Laster oder Krankheiten, ihre geistige oder physische Schwäche fortzupflanzen. Gerade weil Galton nicht an die Erblichkeit erworbener Eigenschaften glaubt, ist für ihn die Auslese von allergrösster Bedeutung.

Andererseits tritt er dafür ein, mit allen Mitteln jene Heiraten zu fördern, bei denen der Stammbaum auf beiden Seiten eine ausgezeichnete Nachkommenschaft verspricht. Denn für ihn, wie später für Nietzsche, ist das Ziel der Generation die Hervorbringung starker, genialer Persönlichkeiten.

Galton betont, dass der zivilisierte Mensch durch sein Mitgefühl mit schwachen, lebensuntauglichen Individuen dazu beigetragen habe, deren Fortdauer zu unterstützen, während dies seinerseits die Möglichkeiten der Lebenstauglichen, die Gattung fortzupflanzen, verringere. Auch Wallace und mehrere andere heben bei verschiedenen Anlässen hervor, dass die Menschen in Bezug auf diese Fragen härter werden müssen, wenn die Art sich nicht verschlechtern soll; dass die moralischen, sozialen und sympathischen Faktoren, die in der Menschheit dem Gesetz von »the survival of the fittest« entgegengewirkt und es den Niedrigstehenden möglich gemacht haben, sich am meisten zu vermehren, neuen Gesichtspunkten in der Betrachtung gewisser moralischer und sozialer Fragen weichen müssen, wodurch dann das natürliche Gesetz durch den Altruismus unterstützt werden wird, anstatt dass ihm wie bis jetzt dieses Gefühl entgegenwirkt.

Es liegt eine grosse Wahrheit in Spencers Gedanken, den jemand gerade in diesem Zusammenhang angeführt hat: »Wir sehen den Keim zu vielen Dingen, die sich späterhin in einer Weise entwickeln, die keiner nun ahnt, und tiefe Umwandlungen der Gesellschaft und ihrer Mitglieder bewirken, Umwandlungen, die wir nicht als unmittelbare Resultate zu hoffen haben, aber die wir als schliessliche Folgen getrost erwarten können.« Das Streben, die natürlichen Gesetze zu finden, von denen die Hebung oder das Sinken der Rasse abhängt, ist einer dieser Keime. Aber von der wissenschaftlichen Forschung auf diesem Gebiete gilt auch ein anderes, von der Wissenschaft oft übersehenes Wort desselben Denkers: »Zu dem Eifer, die Wahrheit zu entdecken, muss der Eifer kommen, sie für das Glück der Menschheit zu gebrauchen!« Doch erst wenn die Wissenschaft wirklich in gewissen Schlussfolgerungen zur Einigkeit gekommen ist, kann man erwarten, dass die Menschheit ernstlich ihre Selbstpurifizierung beginnt. Aber dann wird es auch gewiss dazu kommen. Wenn man in ethnographischen und soziologischen Werken z. B. in Mc. Lennans »Primitive Marriage« oder Westermarcks »The human marriage«. liest, welchen ehelichen Restriktionen die wilden Völker sich oft nur auf Grund abergläubischer Vorurteile mit religiösem Gehorsam unterworfen haben, da dürfte die Hoffnung, dass die Kulturmenschen sich einmal vor wissenschaftlich bewiesenen Sätzen beugen werden, wohl nicht zu optimistisch sein!

Wallace befürwortet nicht so absolute Massregeln wie Galton, um die Ehen der Minderwertigen zu hindern und die der Uebermenschen zu fördern. Er sieht ein, dass das Problem ungeheuer verwickelt ist. Unter anderm, weil die persönliche Erotik gerade aus dem Gesichtspunkt der Rassenveredelung ausserordentlich wesentlich ist. Wenn die Menschen gleich Zuchtvieh gezüchtet werden könnten, so dürfte das wohl kaum den Uebermenschen hervorrufen! Die Menschenrasse des Mittelalters sank, sagte Galton, weil die Besten in die Klöster flohen und die Schlechteren sich fortpflanzten. Aber wenn Galtons strenge Forderungen an jeden Stammbaum erfüllt werden müssten, bevor eine Ehe gestattet würde, so würde nicht nur die Ehe ihren tiefsten Inhalt verlieren, sondern auch die Rasse ihr edelstes Erbe.

Aber auch mit einer starken Begrenzung von Galtons Sätzen und einer weisen Einschränkung seiner Forderungen hat die Wissenschaft schon so viele der ersteren bestätigt, dass man im ganzen genommen die Bedeutung der letzteren zugeben muss. So weiss man, dass die ererbte Anlage bei den Kindern oft ein andere Gestalt annimmt als bei den Eltern; dass z. B. von 300 Idioten 145 zu Eltern Trinker hatten, und dass die Epilepsie oft durch dieselbe Ursache hervorgerufen wird. Man weiss, dass scheinbar gesunde Individuen oft in demselben Alter von einer Krankheit ergriffen werden, in welchem die Eltern von ihr heimgesucht wurden. Andererseits giebt es auch erfreuliche Erfahrungen dafür, dass Individuen mit Willenskraft gewissen gefährlichen, erblichen Belastungen entgegenarbeiten können. Und was auch und mit vollem Recht in der Diskussion über den Gegenstand hervorgehoben wird, ist die Möglichkeit, dass die krankhafte Anlage des einen Teils durch die Gesundheit des anderen bei den Kindern neutralisiert werden kann. Aber sowohl dieses wie viele andere Momente, ist, wie ich auch oben hervorhob, noch lange nicht ergründet.

Maudsley Besonders in »The Physiology and Pathology of Mind«. Eine der bekanntesten älteren Arbeiten über diesen Gegenstand ist Prosper Lucas': »Traité philos. et physiol. de l'hérédité naturelle« (Paris 1850). hat besonders die Frage von der Erblichkeit der Geisteskrankheiten beleuchtet, obgleich auch in diesem Fall die nervösen und psychischen Krankheiten der Eltern bei den Kindern oft ihren Charakter verändern. Auch er fordert ein ärztliches Zeugnis vor der Eheschliessung und verlangt, dass das Auftreten einer Geisteskrankheit in der Ehe einen gesetzlichen Grund zur Scheidung bilde. Und er hofft, dass ein »reiner« Stammbaum, in einem neuen Sinne des Wortes, ebenso wichtig für die Ehen der Zukunft werden wird, wie für die des Adels in früheren Tagen. Einer von Maudsleys Sätzen ist so interessant, dass er hier angeführt werden soll, nämlich dass Väter, die ihre ganze Energie für die Erwerbung von Reichtum angespannt haben, entartete Kinder erhalten; denn die erwähnte Nervenspannung untergräbt das System ebenso unfehlbar wie Alkohol oder Opium! Sollte dieser Satz sich bestätigen, so würde man noch einen Gesichtspunkt zu den vielen besitzen, die zeigen, wie lebensfeindlich das jetzige, nur auf Macht und Gewinn abzielende Gesellschaftsleben ist und wie notwendig jene Umgestaltung des Daseins, die die Arbeit und die Produktion einem neuen Zwecke dienstbar machen wird: der Forderung jedes Menschen, ganz, allseitig und menschenwürdig zu leben und eine mit allen Möglichkeiten für ein ähnliches Leben ausgerüstete Nachkommenschaft hinterlassen zu können. Bricht dieser Tag an, dann wird man wie einen erschreckenden Atavismus auf dem Antlitz eines Kindes den Ausdruck entdecken, den ein Künstler der Gegenwart in dem Bilde des Knaben, der »mit der Zeit Millionär wird«, bewahrt hat!

* * *

Schliesslich will ich aus der Litteratur über diesen Gegenstand Nietzsches Werke hervorheben. Obgleich Nietzsche seine Gedanken vom Uebermenschen nicht unmittelbar auf Darwins Theorieen stützt, sind doch die ersteren, wie Georg Brandes kürzlich dargelegt hat, die grosse Konsequenz des Darwinismus, die Darwin selbst nicht einsah. In keinem Zeitgenossen ist die Gewissheit stärker gewesen als in Nietzsche, dass der Mensch so, wie er nun ist, nur »eine Brücke« ist, nur ein Uebergang zwischen dem Tier und dem Uebermenschen; und im Zusammenhang damit sieht Nietzsche die Pflichten der Menschen für die Veredelung der Art ebenso ernst wie Galton, obgleich er seine Sätze mit der Stärke der Seher- und Dichterworte, nicht mit der der naturwissenschaftlichen Beweisführung ausspricht.

Die Litteratur über diese Themen wächst mit jedem Tage, und die verschiedenen Meinungen prallen noch hart aufeinander. Solange dies der Fall ist, hat man allen Grund, die Warnung des deutschen Soziologen Kurella zu beachten, der, als er sich über diesen Gegenstand äusserte, Mitte der 90er Jahre in »Die Zukunft«. Ammons umstrittenes Buch Die natürliche Auslese beim Menschen angriff und darlegte, dass man immer mit sozialen sowohl wie mit anthropologischen Momenten rechnen müsse, wenn man der Entartung der menschlichen Gattung entgegenwirken wolle. Er betonte auch, dass, ob nun die Darwinsche Theorie, von der Erblichkeit erworbener Eigenschaften, oder die seiner Widersacher die siegreiche bleibe, d. h. die Theorie von einer unveränderlichen »Erbmasse«, die von den Eltern auf die Kinder übergeht, sodass bessere Typen nur durch die neue Mischung der Eigenart des Vaters und der Mutter, sowie durch die natürliche Auslese im Kampfe ums Dasein entstehen könnten – man doch behutsam sein müsse, bevor man anfange, auf Grund von anthropologischen Motiven sozial-politisch zu handeln. Er setzte schliesslich mit vollem Rechte auseinander, dass das Material, das man in den Arbeiten von Spencer. Galton, Lombroso, Ferri, Ribot, Letourneau, Havelock Ellis, J. B. Haycraft, Colajanni, Sergi, Ritchie u. a. besitzt, erst systematisch bearbeitet werden und der Soziologe auch Zoologe, Anthropologe und Psychologe werden müsse, bevor man neue Kulturpläne für die Erhebung des Menschengeschlechts durchführen solle und könne.

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In Bezug auf die seelischen Anlagen meinen einige – und das hat ja in unserer Zeit das Interesse für die Mütter berühmter Männer so sehr gesteigert –, dass die Ausnahmsbegabung meistens ihre Eigenart von der Mutter ererbt hat, wenn es ein Sohn, aber vom Vater, wenn es eine Tochter ist. Eine andere, schon besser ergründete Erscheinung scheint die zu sein, dass, wenn in einer Familie die Anlagen in einem Säkulargenie ihren Kulminationspunkt erreicht haben, dieses Genie dann entweder kinderlos bleibt, oder seine Kinder nicht nur gewöhnlich, sondern oft unbedeutend werden – sei es, dass die Natur ihre Produktionskraft in der grossen Persönlichkeit erschöpft hat, oder dass, wie man oft annimmt, die schaffende Kraft derselben in geistiger Richtung die Schaffenskraft in geschlechtlicher Beziehung verringert.

Im Zusammenhang mit der Erblichkeitsfrage steht die von der Entwickelung der Rassen. Schon im Anfange von Origin of Species hat Darwin gezeigt, wie wesentlich die reine Abstammung für die Heranziehung einer »edlen« Rasse ist, und auf diese Erfahrung stützt sich ein moderner antisemitischer Schriftsteller, H. S. Chamberlain: »Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts.« der die Juden als das typische Beispiel für die Stärke der reinen Rasse hingestellt hat, ein Gedankengang, den einer der hervorragendsten Repräsentanten des Judentums, Disraeli, auch in den Worten ausgedrückt hat: »Rasse ist alles; es giebt keine andere Wahrheit, und jede Rasse, die sorglos Blutvermischung zulässt, geht unter.« Andere Gelehrte hingegen halten gewisse Rassemischungen für höchst erspriesslich für die Nachkommenschaft.

Ein finnischer Soziologe Westermarck: »The human marriage.« hat die Bedeutung, die die Schönheit für die Liebe und so für die Rasse erlangt hat, gut motiviert, indem er darlegte, wie der Mensch als körperliche Schönheit die volle Entwickelung all jener Züge aufgefasst hat, die dem menschlichen Organismus im allgemeinen, den beiden Geschlechtern im besonderen und der Rasse in erster Linie ihr Gepräge geben. Er meint, dass dies darauf beruht, dass Individuen mit diesen Zügen gerade die ihren Lebensaufgaben am besten Angepassten sind. Es wird so eine Folge der natürlichen Auslese, dass gerade jene Individuen am schönsten gefunden und am meisten begehrt werden, die zuerst als Menschen am besten die allgemeinen Aufgaben des menschlichen Organismus, als Geschlechtswesen die ihres Geschlechts erfüllen, und die als Rassewesen am besten den sie umgebenden Bedingungen angepasst sind. Im Kampfe ums Dasein sind diejenigen besiegt worden, welche von Menschen abstammen, deren Liebesinstinkte sie zu Individuen zogen, welche jenem Kampfe schlecht angepasst waren, während die Siegenden hingegen Kinder glücklich angepasster Individuen sind. So hat sich der Geschmack ausgebildet, nach dem die beste Anpassung als die höchste Schönheit erscheint. Diese ist gleichbedeutend mit Gesundheit, mit der Kraft, den Angriffen der Aussenwelt zu widerstehen; während jede grössere Abweichung vom reinen Typus des Geschlechts und der Rasse einen geringeren Grad von Anpassungsvermögen in sich schliesst, d. h. von Gesundheit und so auch von Schönheit.

Ein anderer Schriftsteller hat den Fuss als Beweis für diese Sätze angeführt. Der schmale, hochgewölbte Fuss mit feinem Knöchel wird ja – sagt er – als der schönste betrachtet. Aber dieser findet sich nur zugleich mit einem feinen, starken und elastischen Knochenbau vor. Ein solcher Fuss bekommt ausserdem durch seine starke Elastizität eine grössere Tragkraft als der platte Fuss. So erleichtert der hochgewölbte Fuss beim Gehen und Springen die Thätigkeit der Lungen und des Herzens. Diese macht wieder den Gang elastisch, fest und leicht, behend und stolz, was, aus demselben Grunde wie die Schönheit des Fusses selbst, als ein Rassezeichen angesehen wird. Diese physische Kraft und Leichtigkeit wirkt auf den Mut, auf das Selbstvertrauen zurück und steigert so das Herrschergefühl und die Lebensfreude, die eines der Merkmale des Adelsmenschen sind.

In welchem Masse diese Beweisführung in diesem einzelnen Falle Stand hält oder nicht, beweist nichts gegen die Wahrheit der Grundanschauung, auf der sie ruht und die sich allmählich durchringt, der Anschauung, nach welcher Seele und Körper sich unter Anpassung an die Umgebung gegenseitig aufbauen.

Es gilt demnach, nicht nur herauszufinden, welche Bedingungen die beste Auslese geben, sondern auch, welche äusseren Bedingungen die schon durch die natürliche Auslese begründeten Eigenschaften stärken oder schwächen. Man hat wieder die Bedeutung der körperlichen Uebungen eingesehen, und nachdem man die schmerzlichen Erfahrungen gemacht hat, die notwendig sind, um die Folgen der Uebertreibung und Ueberanstrengung, der Wettraserei und der Sportthorheit zu hindern – die sich besonders für die Frauen mit Hinblick auf die Mutterschaft oft verhängnisvoll gezeigt haben – wird Sport und Spiel, Gymnastik und Fusswanderung, Natur- und Freiluftsleben und eine nach dem Muster der schwedischen Volkstänze regenerierte Tanzkunst eine der herrlichsten Quellen der psychischen und physischen Erneuerung der Generation werden.

In dem Gedanken an diese Erneuerung hat man auch auf den Einfluss der Kunst hingewiesen. So hat man z. B. gezeigt, wie ein Burne-Jones den neuen englischen Frauentypus geschaffen hat, der sich unter einer allmählich sich vollziehenden Anpassung an den vornehmen und stillen Stil bildete, der durch ihn als der mustergiltige angesehen wurde! Es wird behauptet, dass man nur eine Schar junger Engländerinnen vor seinen Bildern zu sehen brauche, um zu merken, wie nicht nur der Ausdruck, sondern auch die Gesichter eine auffallende Uebereinstimmung zeigen! Der Künstler hat der Jugend dieses Gepräge aufgedrückt, bevor sie noch bewusst war; sie sind vor diesen Formen aufgewachsen, haben sie in ihren Bilderbüchern gesehen, sie wurden in Kleider von einem Schnitte gekleidet, der auf die Bilder des Meisters zurückzuführen ist. Ja, noch mehr: aus denselben Gründen, aus denen der griechische Reiz von der statuesken Schönheit beeinflusst wurde, mit der sich die Mütter umgaben, sollen die jetzigen Mütter ihren Kindern den Burne-Jonestypus vererbt haben! In der Antike glaubte man ja auch in anderen Fällen – z. B. bei der Erreichung des erstrebten blonden Haares – dass man dieses, sein Ziel, vorsätzlich erreichen könne.

Was die Bedeutung derartiger äusserer Einflüsse auf die Mütter betrifft, so hat man doch noch zu wenig Material, um darauf Folgerungen aufzubauen; und auch in diesem Falle sind die Gelehrten unter einander uneinig. Ich habe darum nur im Vorbeistreifen auch dieses Moment unter den unzähligen erwähnen wollen, die ergründet werden müssen, bevor die Menschen schliesslich sicheren Einblick in die Bedingungen der Menschenwerdung erhalten. In Ermangelung wissenschaftlicher Kenntnisse konnte ich nur die Litteratur und die umfassenden Untersuchungen andeuten, durch die man im vorigen Jahrhundert angefangen hat, Licht über die Rätsel des Werdens zu verbreiten. Noch ruht Dunkelheit über vielen derselben. Aber des Menschen Geist schwebt nun über den Tiefen und wird allmählich eine neue Schöpfung aus ihnen hervorrufen!

Im Zusammenhang hiermit steht die Entwickelung neuer Rechtsbegriffe auf diesen Gebieten. Während die heidnische Gesellschaft in ihrer Härte die schwachen oder verkrüppelten Kinder aussetzte, ist die christliche Gesellschaft in der »Milde« so weit gegangen, dass sie das Leben des psychisch und physisch unheilbar kranken und missgestalteten Kindes zur stündlichen Qual für das Kind selbst und seine Umgebung verlängert. Noch ist doch in der Gesellschaft – die unter anderem die Todesstrafe und den Krieg aufrecht erhält – die Ehrfurcht vor dem Leben nicht gross genug, als dass man ohne Gefahr das Verlöschen eines solchen Lebens gestatten könnte. Erst wenn ausschliesslich die Barmherzigkeit den Tod giebt, wird die Humanität der Zukunft sich darin zeigen können, dass der Arzt unter Kontrolle und Verantwortung schmerzlos ein solches Leiden auslöscht. Dagegen aber behält diese christliche Gesellschaft noch immer den Unterschied, zwischen »ehelichen« Kindern und »Kindern der Sünde« bei, einen Unterschied, der mehr als irgend ein anderer dazu beiträgt, eine wirklich ethische Auffassung der Elternpflichten zu erschweren. Solange nicht jedes Kind sowohl dem Vater wie der Mutter gegenüber ganz dasselbe Recht hat, und beide Eltern jedem Kinde gegenüber ganz dieselbe Pflicht, ist noch nicht einmal der Grundstein zu der zukünftigen Sittlichkeit im Zusammenleben zwischen Mann und Weib gelegt.

Die Gesellschaft wird einmal die Gestaltung der erotischen Verhältnisse als die Privatsache der mündigen Individuen ansehen. Die Liebenden, die Verheirateten werden sich als vollkommen frei betrachten und auch so betrachtet werden; bindende Versprechung in Bezug auf Gefühle, eigentumsrechtliche Forderungen in Bezug auf die Persönlichkeit werden ja schon jetzt von feinfühligen und entwickelten Menschen als ein Ueberbleibsel niedrigerer erotischer Gefühle angesehen, Gefühle, verunstaltet durch Machtgier und Eitelkeit, Grausamkeit und blinde Leidenschaft. Man fängt an einzusehen, dass die vollkommene Treue nur durch die vollkommene Freiheit zu erringen ist; der vollkommene Wesensaustausch nur in vollkommener Freiheit statthaben kann; die vollkommene Güte nur bei vollkommener Freiheit zu erwachsen vermag. Wenn jeder aufhört, die Gefühle und Stimmungen, die Gewohnheiten und Neigungen des anderen nach seinen eigenen zwingen und beugen zu wollen; wenn jeder die Fortdauer des Gefühls des anderen als ein Glück betrachtet, nicht als ein Recht; wenn jeder das mögliche Aufhören dieses Gefühls als einen Schmerz erlebt, nicht als ein Unrecht – dann erst ist zwischen den Seelen der reine, kühle, freie Raum, in dem sich jede mit voller Selbstbestimmung bewegen und beide in voller Einheit verschmelzen können.

Für die Treue wird die Freiheit keine Gefahr. Die Art von Treue, die Kirche und Gesetz gefordert haben, ist gewiss ein bedeutungsvolles Erziehungsmittel gewesen. Aber das Mittel ist ein solches, das nunmehr dem Ziel entgegenwirkt. Denn es hat die Besitzrechtgefühle hervorgerufen, die zur Achtlosigkeit in dem Kultus der Liebe führten; die Zwangsforderungen, die Feindlichkeit in Seele und Sinn weckten; die Menschenfurcht, die alle Art von Unredlichkeit, alle mögliche Heuchelei zwischen den Gatten, sowie gegenüber der »Welt« gezeitigt hat. Wenn die Bande des Zwanges wegfallen, wird das Gefühl erstarken. Denn wenn die äusseren Stützen der Treue fehlen, wird die Kraft dazu von innen geschöpft werden. Obgleich die Menschen immer der Möglichkeit tiefer Irrtümer über sich selbst und den Gegenstand ihrer Liebe ausgesetzt bleiben; obgleich die Zeit stets Menschen und Gefühle verändern kann; obgleich also selbst in einer aus gegenseitiger Liebe eingegangenen Ehe Verhältnisse entstehen können, die Nietzsches Gedanken, dass es besser sei, die Ehe zu brechen, als sich von ihr brechen zu lassen, Recht geben – so wird doch die Freiheit im grossen Ganzen die Treue fördern, die stets eine Stütze an der Erfahrung ihres psychologischen und ethischen Werts haben wird.

Nicht durch eine Folge von leicht geknüpften und leicht gelösten Verbindungen bereitet man sich für das Glück der grossen Liebe vor. Die freiwillige Treue ist ein Adelszeichen, weil sie den Willen voraussetzt, sich um den Kern seines Lebensinhalts zu konzentrieren, weil sie die Einheit mit unserem eigenen innersten Ich einschliesst! Das gilt von der erotischen Treue wie von aller anderen Treue. Erst wenn die Liebe die Frömmigkeit des Werktages und die Andacht der Feierstunden ist; wenn sie unter steter Aufmerksamkeit der Seele gehegt wird; wenn sie eine unablässige Steigerung – oder warum nicht das alte, schöne Wort »Heiligung« gebrauchen – der Persönlichkeit mit sich bringt, erst dann ist die Liebe gross. Dann besitzt sie auch ein höheres Recht als eine frühere Verbindung, weil sie dann gerade die Treue gegen unser eigenes höchstes Ich bedeutet. Aber überall, wo sie nicht diesen Charakter hat, hat sie auch nicht dieses Recht. Sie ist dann ein kleines Gefühl, selbst wenn sie durch eine grosse Leidenschaft verschönt wird. Und die Kinder, die aus flüchtigen Verbindungen hervorgehen, werden oft ebenso halb, als ihr Ursprung es war. »Die grosse Liebe ist,« wie mir ein junger Arzt kürzlich schrieb, »nur die, welche so tief ergreift, dass man nach ihrem Verluste nicht mehr ein Ganzes, sondern die Hälfte eines Ganzen ist, obgleich die Natur die Generation gegen Vernichtung geschützt hat, indem sie die Möglichkeit gab, mehr als einmal zu lieben. Aber was das Ideal der Natur ist, darüber können wir nicht im Zweifel sein! Die Rasse, die entstehen würde, falls jungen Männern und Frauen die Möglichkeit gegeben wäre, sich zu vereinigen, wenn die erste Liebe von ihnen Besitz ergreift – jene Liebe, die die tiefste ist – diese Rasse würde gesund und stark und eine andere werden, als die unsere ist. Aber wenn jetzt die Jugend liebt, hat sie selten die Mittel zur Vereinigung; und wenn sie die Mittel hat, dann ist oft das, was sie zu einer ehelichen Vereinigung führt, nicht das tiefste, was sie gefühlt hat, sondern etwas, das, wenn es nicht verfälscht ist, doch ein Surrogat bleibt.«

Eine solche Umgestaltung der Gesellschaftsbedingungen und der individuellen Betrachtung der echten Werte des Lebens, die zur Folge hätte, dass die jungen Männer und Mädchen zwischen zwanzig und dreissig Jahren die Möglichkeit erhielten, ein eigenes Heim zu gründen, und die Fähigkeit, in einfachen Verhältnissen Glück zu empfinden, wäre eine der wesentlichsten Grundbedingungen für die Entstehung eines neuen Geschlechtes, das zugleich das antike Gefühl für den Herd als einen Altar, für das Liebesleben als einen Gottesdienst hätte. Erst durch eine solche Umgestaltung lässt sich erwarten, dass das tiefste Elend der Gesellschaft, die Prostitution, gehemmt werden kann; erst nach dieser Umgestaltung kann man mit vollem Recht von der Jugend die Selbstbeherrschung verlangen, die für die neue Generation die besten Voraussetzungen ihrer gesunden Entstehung schafft.

So wie die Verhältnisse jetzt sind, steht es fest, dass ebenso, wie es tief unsittliche unverheiratete Mütter giebt, man auch solche von tiefer Sittlichkeit findet, die Mütter wurden in einer grossen, reinen Liebe zu dem Vater ihres Kindes, aber die aus mannigfachen Gründen mit diesem nicht in »gesetzlicher« Ehe vereint sind. Und auch wenn die Schliessung der Ehe erleichtert wird, dürfte doch immer eine solche Mutterschaft der einsamen Frauen fortbestehen.

Björnstjerne Björnson eiferte – zu derselben Zeit, zu der er im Norden über die geschlechtliche Sittlichkeit Vorträge hielt – dafür, dass die Frau, die die Mutterschaft wünsche, aber ihrer Ansicht nach nicht für die Ehe tauge, als voll berechtigt zu der ersteren ohne die letztere betrachtet werden solle, falls sie nämlich gegen das Kind ihre mütterlichen Pflichten erfülle. Dieser Gedanke hat ganz gewiss die Zukunft für sich. In Deutschland ist ein Fall wohl bekannt, in dem ein voll entwickeltes, nicht mehr junges Weib kurz vor ihrer Trauung einsah, dass die Temperamente und Verhältnisse jedes der Teile die Ehe zu einem Unglück für beide machen würde. Sie stand darum von der Trauung ab, brachte unverheiratet ihr Kind zur Welt und erzieht es nun, offen und hingebungsvoll. Sie besitzt jetzt neben dem Arbeitsfrieden und dem Mutterglück die Möglichkeit, auch ihre Pflichten als Tochter zu erfüllen – während das eheliche Zusammenleben all dies für alle Teile zerstört hätte! Hier ist einer der vielen Fälle aus der grossen Beispielsammlung des Lebens, welche zeigt, wie thöricht die Gesellschaftsforderung ist, die vielfältige Menschennatur in für alle gleiche Formen zu pressen, mit einer für alle in gleicher Weise abgesteckten Pflichtensphäre!

Aber die Pflichtensphäre, die sich immer erweitern wird, ist die, die das Recht des Kindes umschliesst. Doch dürften auch deren Grenzen in Zukunft in ganz anderer Weise gezogen sein als jetzt. Als das oberste Recht des Kindes wird es dann betrachtet werden, dass es nicht in einer disharmonischen Ehe geboren wird. Vor allem deshalb muss die Ehe frei werden, das will sagen, dass die Gatten sich nach gegenseitigem Uebereinkommen frei trennen können und nur bei der Schliessung der Ehe, wie bei ihrer Auflösung gewisse Pflichten gegen die Kinder auf sich nehmen müssen. Solche gesetzlichen Verfügungen wären wohl oft auch in diesem Falle überflüssig, in anderen können sie von Bedeutung sein; aber in keinem werden sie ein Hindernis für die Entwickelung des Verhältnisses zu den Kindern; während hingegen die jetzigen ehelichen Zwangsgesetze – sowohl in Bezug auf die Scheidung wie auf die Vormundschaft des Mannes u. s. w. – Hindernisse für eine höhere Entwickelung des Zusammenlebens zwischen Mann und Weib geworden sind.

Nicht das strammere Anziehen der ehelichen Bande wird die Kinder davor behüten, in einem zerstörten Heim heranzuwachsen: sondern ein vertiefter Ernst bei dem Eingehen der Ehe, aber vor allem ein vertieftes Verantwortlichkeitsgefühl gegenüber den Kindern selbst. Dieses wird es ermöglichen, dass die Gatten, die sich in ihrem ehelichen Glück enttäuscht sehen, doch eine friedevolle Resignation, eine hohe Würde bei einem fortgesetzten Zusammensein bewahren können, wenn sie fühlen, dass dies für die Kinder, die schon vorhanden sind, die beste Lösung des Konfliktes ist. Aber diese Würde setzt voraus, dass kein fortgesetztes eheliches Zusammenleben, sondern nur die Elternschaft sie vereint. Nur so kann es den Kindern wirklich Nutzen bringen, dass die Ehe nicht gelöst wird, während die im Innersten getrennten Gatten keinem neuen Wesen das Leben schenken.

Der leichtsinnig eingegangenen Ehen sind viele, der leichtsinnigen Scheidungen wenige, zum mindesten in den Fällen, wo Kinder vorhanden sind. Nicht die Gebote des Gesetzes, sondern die des Blutes wirken schon jetzt in diesem Falle zurückhaltend; nicht der Urteilsspruch der Gesellschaft, sondern der der Kinder erscheint als der vernichtende. Aber diese tiefen Motive sind ebenso entscheidend bei der freien Verbindung wie bei der gesetzlichen, und an dem Vater oder der Mutter, die nur durch Zwang bei ihren Kindern zurückgehalten werden, haben die Kinder nicht viel zu verlieren! Es gilt, für die ungeschriebenen Verpflichtungen, die vom Gesetz zum grossen Teile unbestimmbaren, das Gewissen der Väter und Mütter zu wecken, um bessere Sitten zu bilden. Dazu bedarf es vielleicht bis auf weiteres neuer Gesetze; ganz gewiss bedarf es des Aufräumens mit den veralteten Rechtsbegriffen, die wohl einmal ihre Aufgabe als Erzieher zur Sittlichkeit erfüllt haben, jetzt aber der höheren Sittlichkeit im Wege stehen. Der Mann als Verführer oder die Frau als Verführerin – das Leben des jungen Weibes oder des jungen Mannes verwüstend oder den Frieden einer glücklichen Ehe störend – dieser Typus wird von einer immer steigenden Verachtung getroffen werden, je mehr man es lernt, das herzlose Spiel männlicher oder weiblicher Eroberungslust, die genusssüchtigen, seelenlosen Forderungen der Sinne von denen der Liebe zu unterscheiden, je mehr man den Begriff der geschlechtlichen Sittlichkeit gleichbedeutend macht mit dem Verantwortlichkeitsgefühl gegen die neue Generation.

Die der eigenen tiefen Absicht der Natur entgegenwirkende Befriedigung des natürlichen Triebes ist es, die Individuen und Völker zerstört. Aber wie gesagt, nicht durch Ausrottung der Sinnlichkeit wird es gelingen, diesen Verheerungen Einhalt zu thun.

Es ist freudig zu begrüssen, wenn der Dichter die vom Verantwortlichkeitsgefühl losgelöste Herrschaft der Sinnlichkeit bekämpft. Aber es ist unheilvoll, wenn diese Sinnlichkeit von ihm, wie z. B. von Tolstoi, gleichbedeutend mit dem Begriffe Liebe gemacht wird. Nicht dadurch, dass man die Liebe zu blosser Sinnlichkeit erniedrigt, auch nicht dadurch, dass man sie zu blosser Geistigkeit ätherisiert, wird das Menschengeschlecht aus der erniedrigenden Herrschaft des Triebes erlöst werden. Dies geschieht, wie ich oft und zuletzt hier oben dargelegt habe, nur dadurch, dass die Sinnlichkeit zur Liebe erhöht wird – das will mit anderen Worten sagen, dass die geistige Wesenseinheit, die Hingebung der Zärtlichkeit, die Sympathie der Seelen, die Arbeitsgemeinschaft und die kameradschaftliche Freude ebenso tief entscheidende Momente in dem erotischen Glücksgefühl und dem erotischen Zauber werden wie die Anziehung der Sinne. Dieser Reichtum an Zusammengehörigkeitselementen ist es, der die Treue der Liebe in innerem, nicht nur in äusserem Sinne erhält; diese Frühlingsluft des Seelenvollen erhält den sinnlichen Zauber frisch, während jedes Verhältnis – die gesetzliche Ehe wie die freie Verbindung – sehr bald das Glück verbraucht und den Ueberdruss zurückgelassen hat, wenn nur eine sinnliche Verliebtheit, nicht das seelenvoll-sinnliche, geistigsympathische Zusammengehörigkeitsgefühl der Inhalt der Liebe gewesen ist.

Die verantwortungsvolle Verpflichtung gegen die Kinder wird um so strenger werden, je mehr die Gesellschaft es lernt, als eine ihrer vornehmsten Aufgaben die Verhinderung alles unverschuldeten, sinnlosen Leidens zu betrachten.

Die Sittlichkeit der Zukunft wird nicht darin bestehen, dass man der Heiligkeit der Familie die sogenannten Bastarde opfert, die von der Natur oft reich ausgerüstet sind, aber durch die jetzt herrschende Rechtsauffassung eine solche Behandlung erhalten, dass sie oft dadurch »Bastarde« werden, erfüllt von Rachsucht gegen die Gesellschaft und die verkehrten Rechtsbegriffe, deren Opfer sie sind. Die Kindermorde, die Phosphorvergiftungen, die »Engelmacherei« – alles hängt mit diesen verkehrten Rechtsbegriffen zusammen. Aber alle diese Folgen sind doch weniger unheilvoll, als die, welche die Gesellschaft sich durch jene »unehrlichen« Kinder zuzieht, die wohl nicht physisch, aber psychisch untergehen. In ihnen sind häufig nicht nur gute Kräfte verloren gegangen, sondern gesellschaftszerstörende Kräfte entwickelt worden. Als ganz Europa über den Mord der Kaiserin Elisabeth schauderte, da erschien mir vor allem eine Thatsache schaudervoll, nämlich das Bekenntnis des Mörders: Ich weiss nichts von meinen Eltern!

Die Zeit wird kommen, in der das Kind als heilig angesehen werden wird, selbst wenn die Eltern mit profanen Gefühlen dem Mysterium des Lebens genaht sind; die Zeit, in der jede Mutterschaft als heilig betrachtet werden wird, wenn sie durch ein tiefes Liebesgefühl veranlasst war und tiefe Pflichtgefühle hervorgerufen hat. Man sehe den Roman »Mutterrecht« von Helene Böhlau

Dann wird man das Kind, das sein Leben von gesunden, liebenden Menschen empfangen hat und das dann in Weisheit und Liebe erzogen wird, ein »ehrliches« nennen, auch wenn seine Eltern sich in voller Freiheit vereinigt haben.

Dann wird man das Kind, das in einer liebelosen Ehe geboren oder durch die Schuld der Eltern mit körperlicher oder geistiger Krankheit belastet ist, als Bastard betrachten, und wären dessen Eltern auch vom Papste in der Peterskirche getraut! Und nicht auf die unvermählte, zärtliche Mutter eines strahlend gesunden Kindes wird der Schatten der Missachtung fallen, sondern auf die legitime oder illegitime Mutter eines durch die Missethaten seiner Vorväter entarteten Wesens.

* * *

In einem vielumstrittenen Drama Das Junge des Löwen Unter dem männlichen Pseudonym Harald Gote erschienen, worunter sich jedoch eine Frau verbirgt fallen folgende Repliken zwischen einem älteren und einem jüngeren Mann:

Der Aeltere: Das nächste Jahrhundert wird das Jahrhundert des Kindes – sowie dieses das der Frau war. Und wenn das Kind zu seinem Rechte gekommen ist, dann ist die Sittlichkeit vervollkommnet. Dann weiss jeder Mensch, dass er an das Leben, das er hervorruft, mit anderen Banden geknüpft ist, als mit jenen, die die Gesellschaft und die Gesetze auferlegen ... Du begreifst, dass ein Mann von seiner Vaterpflicht nicht loskommen kann – und wenn er auch rings um die Erde führe. – Ein Königreich kann gegeben und genommen werden – aber nicht eine Vaterschaft.

Der Jüngere: Ich weiss es.

Der Aeltere: Aber damit ist noch nicht alle Gerechtigkeit erfüllt – dass man sorgsam das Leben erhält, das man geweckt hat. Kein Mann kann früh genug die Frage bedenken, ob und wann er das Recht, Leben hervorzurufen ...

Diese Aeusserung hat mir den Titel zu dieser Schrift und den Ausgangspunkt zu meiner Behauptung gegeben, dass das erste Recht des Kindes das ist, seine Eltern zu wählen.

Was dabei in erster Linie in Betracht kommen muss, ist der Gedanke, den darwinistische Schriftsteller immer mehr hervorheben: dass die Naturwissenschaften – zu denen man ja nunmehr auch die Psychologie rechnet – die Grundlagen der Rechtswissenschaft sowie der Pädagogik werden sollen. Der Mensch muss die Gesetze der natürlichen Auslese kennen lernen und in dem Geiste dieser Gesetze handeln. Man muss die Gesellschaftsstrafen in den Dienst der Entwickelung stellen, sie müssen eine Schutzmassregel der natürlichen Auslese werden. In erster Linie muss dies dadurch geschehen, dass der Verbrechertypus – dessen Eigenart als eines solchen jedoch nur der Gelehrte bestimmen kann – verhindert wird, sich fortzupflanzen, damit seine Eigenschaften sich nicht auf seine Nachkommenschaft vererben.

Das Menschengeschlecht wird so allmählich von den Atavismen befreit werden, die vorhergehende niedrigere Entwickelungsstufen reproduzieren. Dies ist die erste Voraussetzung der Evolution, durch die die Menschheit es vermögen wird, in sich selbst

– – – let the ape and tiger die.

In zweiter Linie kommt dann die Forderung, dass die mit erblichen physischen oder psychischen Krankheiten Belasteten diese nicht einer Nachkommenschaft vererben.

Was nun diese Erblichkeit betrifft, so sind die Meinungen darüber noch in hohem Grade geteilt. So stehen sich grosse Autoritäten in der Frage der Tuberkulose gegenüber, die der eine für erblich, der andere für nur durch Ansteckung übertragbar hält, sodass, wenn das Kind z. B. von der tuberkulösen Mutter fortgenommen würde, keine Gefahr für dasselbe bestände. Auch über die Erblichkeit des Krebses sind die Ansichten in gleicher Weise geteilt. Ueber andere Krankheiten hingegen hat man volle Gewissheit. Was die Fallsucht betrifft, so hat ja die Gesetzgebung schon eingegriffen, obgleich das Gesetz in der Praxis nicht immer befolgt wird. Aber in Beziehung auf Syphilis, Alkoholismus und mehrere Fälle nervöser Belastung – die in verschiedenen Formen die Kinder am sichersten heimsuchenden Krankheiten – hat die Gesetzgebung noch nichts gethan!

Es giebt eine alte Redeweise, dass man seinen Eltern für das Leben Dank schuldig sei. So können unsere Eltern, das weiss ich selbst aus Erfahrung, selbst die Erben der körperlichen und seelischen Gesundheit gewesen sein, die die Folge davon ist, dass Muttereltern, Vatereltern und Voreltern alle frühe, richtige und glückliche Ehen geschlossen haben! Aber in den meisten Fällen müssten die Eltern umgekehrt die Kinder für deren Dasein um Verzeihung bitten.

Sei es, dass man mit Menschen spricht, die in Not oder Verbrechen versunken sind; oder mit Menschen, die an Nervosität und anderen Krankheiten leiden; oder schliesslich mit Menschen, die seelisch zerrissen sind, so kann man in den meisten Fällen überzeugt sein, dass sie als die tiefste Ursache irgend einen Umstand bei ihrer Geburt oder in ihrem Kindheitsbewusstsein bezeichnen. Bald sind sie von zu jungen oder zu alten, bald von kränklichen Vätern und Müttern geboren, bald im Rausche erzeugt, bald von einer durch Arbeitsplage oder eine grosse Kinderschar bedrückten Mutter. Oder sie haben das Leben aus Ehen empfangen, die ohne Liebe geschlossen oder nach dem Aufhören der Liebe fortgeführt wurden; sie sind in Widerwillen empfangen, unter Aufruhrsgefühlen getragen, schon in ihrem Blute den Keim der Disharmonie oder des Lebensüberdrusses tragend. Unzählige Abnormitäten – darunter der Männerhass bei Frauen – können auf diese Ursachen zurückgeführt werden. Oder sie sind schliesslich in einem Heim erzogen, in dem sie unter Unterdrückung oder unter schlechten Vorbildern oder unter sich bekämpfenden Einflüssen gelitten haben.

So stark ist schon das Bewusstsein von der Bedeutung der Erblichkeit geworden, dass junge Menschen – die selbst eine durch Generationen angesammelte »Belastung« in der einen oder anderen Hinsicht getragen haben – anfangen einzusehen, dass es ihre Pflicht ist, lieber auf die Elternfreude zu verzichten, als ihr unglückseliges Erbe auf eine neue Generation überzuwälzen. Ich kenne eine Frau, in deren Familie väterlicherseits und mütterlicherseits Geisteskrankheit erblich war, und die darum, obgleich gesund, darauf verzichtete, sich mit dem Manne, den sie liebte, zu verheiraten. Ich weiss von einer anderen, die ihre Verlobung löste, weil sie sich überzeugt hatte, dass der Mann, den sie liebte, ein Trinker war, und sie ihren Kindern nicht einen solchen Vater geben wollte. Besonders in diesem Punkte sündigen die Frauen in der Ehe, sündigen aus Unwissenheit darüber, dass Epilepsie und andere Krankheiten – vor allem Alkoholismus – oft die Folge davon sind, dass ein Kind von einem berauschten Vater gezeugt wurde. Eine junge Frau könnte keinen sichereren Prüfstein für den Gehalt ihres Gefühles für einen Mann haben, als ob sie bei dem Gedanken, seine Eigenschaften auf ihr Kind vererbt zu sehen, jubelnde Freude oder quälende Unruhe empfindet!

Die Männer sündigen nicht nur im Rausche gegen das kommende Geschlecht, sondern auch in anderen Beziehungen, wo die Folgen noch vernichtendere sind.

Doch auch das Gewissen der Männer hat zu erwachen begonnen, und das äussert sich teils in dem Vorsatz, von der Ehe abzustehen, wenn sie wissen, dass sie ein schlechtes Erbe zu überliefern haben, teils in anderen Handlungen der Sittlichkeit, wie zum Beispiel den folgenden.

Ein junger Mann – selbst Arzt – hatte sich für gesund gehalten, als er sich verheiratete. Er entdeckte seinen Irrtum und war nun vor die Wahl gestellt, seiner Frau zu schaden oder von ihr zu lassen. Da sie einander tief liebten, war der einzige Ausweg, sich zu trennen. Denn die Ehe nur als Freunde fortzusetzen, fand er unmöglich und unrecht, weil dies der Frau das Mutterglück geraubt hätte. Er wählte den Tod, den er sich so gab, dass die Frau ihn durch einen Unglücksfall verursacht glaubte.

Ebenso handelte ein anderer Mann, der – nachdem er mehrere Jahre verheiratet gewesen war und drei Kinder gehabt hatte – erfuhr, dass er der Halbbruder seiner Frau war.

Aber sowohl die Handlungen dieser Männer wie die der vorhin erwähnten Frauen sind vorderhand noch zerstreute Einzelfälle. Es bedarf der Entwickelung vieler Generationen, bis es der Frau zum Instinkte wird – zum unwiderstehlich gebieterischen Instinkt – keinen physisch oder psychisch verkommenen oder entarteten Mann zum Vater ihrer Kinder zu machen. Der Instinkt des Mannes ist in dieser Richtung schon stärker. Aber er ist dagegen wieder abgestumpft durch einen veralteten Rechtsbegriff, nach dem die Frau sich noch immer als einer Pflicht Forderungen unterwerfen muss, gegen die ihr ganzes Wesen sich sträubt. Die Frau hat in dieser Hinsicht nur eine Pflicht, eine unumstössliche, eine, gegen die jede Uebertretung eine Sünde ist, die, dass das neue Wesen, dem sie das Leben giebt, in Liebe und Reinheit gezeugt und empfangen sei, in Gesundheit und Schönheit, in voller wechselseitiger Harmonie, vollem gemeinsamen Willen, vollem gemeinsamen Glück – niemals im Rausche, in stumpfer Gewohnheit, in Ueberdruss, mit geteiltem, mit aufrührerischem Sinn. Bis die Frauen diese ihre Pflicht nicht einsehen, wird die Erde noch immer von Wesen bevölkert sein, die im Augenblicke des Entstehens schon um die besten Voraussetzungen der Lebensfreude und Lebenstauglichkeit betrogen worden sind. Zuweilen zeigen sie früh und offenkundig die Zeichen der Degeneration oder der Disharmonie. Zuweilen scheinen sie lange blühende und kräftige Menschenexemplare zu sein – bis sie in irgend einem entscheidenden Augenblicke zusammenbrechen, durch jenes unzureichende Mass physischer und psychischer Widerstandskraft, das durch ihren Ursprung selbst verursacht ist.

Was die Ehen zwischen gesunden und fertigen Individuen betrifft, so kann hier niemals das Gesetz, sondern nur die Sitte ihren Einfluss zum Besseren üben. Erst wenn die Kinder schon vom zarten Alter an ihr Wesen und ihre zukünftige Aufgabe als Geschlechtswesen kennen lernen, können Mutter und Vater zugleich in ihr Bewusstsein nicht den abstrakten »Reinheits«begriff, sondern das konkrete Keuschheitsgebot mit Feuerschrift einprägen: ihre Gesundheit, ihren Reiz, ihre Unschuld für das Wesen zu bewahren, das sie einstmals lieben werden, für die Kinder, die aus dieser Liebe das Leben empfangen können.

Der Arterhaltungstrieb macht wirklich den Menschen niedrig oder klein oder lächerlich – ganz wie bei uns Heidenstam und Strindberg, ebensogut wie Maupassant, Tolstoi und andere aus ganz verschiedenen Ausgangspunkten es geschildert haben – aber nur, wenn der Trieb ohne Zusammenhang mit seinem in der Natur gegebenen Ziel auftritt oder wenn dieses Ziel ohne Rücksicht auf die Hervorbringung einer lebenstauglichen Nachkommenschaft erreicht wird. Die Erotik, die lebenzerstörend ist, die den Wert des Individuums als Lebenschöpfer verringert, diese Erotik setzt wirklich den Menschen herab, ist unsittlich vom Gesichtspunkte der modernen Anschauung, die das Leben will, aber vor allem die Steigerung des Lebens zu immer höheren Formen.

Die Jugend muss daher Ehrfurcht vor ihrer zukünftigen Aufgabe lernen, die sie verfehlt, wenn sie ihre seelische und körperliche Schönheit an leichtsinnig geschlossene und gelöste Verbindungen ohne die Absicht der Treue, ohne die Würde der Verantwortlichkeit vergeudet. Aber die Jugend muss auch wissen, dass man diese Aufgabe in noch viel tieferer Weise verfehlt, wenn man mit kaltem Herzen und kalten Sinnen das Leben eines Kindes hervorruft, sei es in einer aus weltlichen Motiven geschlossenen Ehe, oder in einer aus »sittlichen« Gründen zusammengehaltenen, in der die eingetretene Disharmonie auf neue Wesen fortgepflanzt wird.

Die Mütter – stumpf und stumm gemacht durch das Bewusstsein unzähliger Treubrüche gegen ihre Jugendträume, ihr ideales Bewusstsein – sind oft diejenigen, die bei den Kindern die reinen erotischen Instinkte, die keuschen und feurigen Gefühle, die hohen Ziele bekämpfen. Sie lehren sie z. B., dass, da die Liebe oft nach der Heirat ein Ende nimmt, man diese ebensogut ohne Liebe schliessen könne – ein Gedankengang, vergleichbar z. B. mit der Folgerung, dass ein Fahrzeug ganz wohl mit einem Schaden in See stechen dürfe, da es ja doch auf jeden Fall möglich ist, dass es einen solchen erhält! Sie sprechen von dem Unreinen der Sinnlichkeit, von den Vorzügen der freundschaftlichen Vernunftehe, von der beruhigenden Kraft der Pflicht: lauter eiskalte Vernünftigkeiten, mit denen lebenswarme Seelen gemordet werden!

Erst wenn eine Tochter von ihrer Mutter eine weise und feinfühlige Hilfe empfängt, um vor Uebereilungen behütet zu werden, um offenen Auges zu unterscheiden, wo sie selbst in ihrem Gefühl unsicher ist; erst wenn in ihre Seele und ihre Nerven mit feurigem Griffel eingezeichnet wird, dass sie ein gefallenes Wesen wäre, wenn sie sich aus anderen Gründen als aus erwiderter Liebe hingäbe, erst dann wird die grosse Umwandlung der jetzigen sittlichen Werte vollzogen sein. Solange die Menschen meinen, dass sie mit der Ehe machen können, was sie wollen, und sie aus welchen Motiven immer schliessen: dass sie z. B. aus Pflichtgefühl heiraten müssen, um gegebene Versprechungen einzulösen oder begangene Fehler zu sühnen; dass sie z. B. aus Sehnsucht nach einem Heim das Recht haben, eine Ehe ohne Liebe einzugehen – solange stehen sie auf demselben ethischen Standpunkte wie der, welcher mordet, weil er früher gestohlen, oder der gestohlen hat, weil er hungrig war! Zu glauben, dass man das verletzlichste Gebiet des Lebens, das Gebiet, wo zahllose geheimnisvolle Einflüsse die Wesensbestimmungen eines neuen Geschlechts gestalten, nach seinem Gutdünken behandeln dürfe, das ist das grosse Verbrechen gegen die »Heiligkeit der Generation«.

Solange Kinder noch immer in der kalten Atmosphäre der Pflicht oder in der stürmischen der Disharmonie geboren werden und man solche Ehen noch immer als sittlich betrachtet; solange man alle Art von seelischer Zerrissenheit und körperlicher Ungesundheit auf die Kinder fortpflanzen kann und die Eltern doch noch immer »ehrenhaft« genannt werden – solange ahnt man noch nicht einmal die neue Sittlichkeit, die den neuen Menschen bilden wird.

Diese neue Sittlichkeit hat noch feinere Forderungen. Heute dürfte es selten vorkommen, dass ein junges Mädchen in Unwissenheit über die Wirklichkeit der Ehe in diese eintritt. Aber in meiner Generation weiss ich Fälle, wo in dem einen die Unwissenheit der Braut ihre Geisteskrankheit zur Folge hatte; in dem anderen, dass sie lange Selbstmordgedanken hegte; in dem dritten, dass sie das Kind, dem sie das Leben gab, immer mit Kälte betrachtete; und in dem vierten, dass das Kind anormal in psychischer Beziehung wurde. Es genügt jedoch für die Schönheit der Ehe und die Harmonie des Kindes nicht, dass die Frau so im allgemeinen weiss, was ihr begegnen wird. Ein junger Mann sagte mir einmal, dass die meisten Ehen schon im Anfange dadurch zerstört werden, dass der Mann die Anschauungsweise und die Gewohnheiten jener tief stehenden Frauen mitbringt, die ihn in die »Liebe« eingeweiht haben; dass er so häufig für immer das Zarteste in seinem Verhältnis zu seiner Frau vernichtet, das Schönste in ihrem Gefühl verletzt, Nach George Sand, die zuerst den Mut hatte, dieses Thema zu behandeln, hat die neuere Litteratur es nicht selten berührt, z. B. Erik Skram in Gertrude Colbjörnson, Jules Case in Jeune Ménage, und noch andere. und dass der Mann es lernen muss, Ehrfurcht und Geduld zu haben. Und ich kenne Männer, die das wirklich bewiesen haben, weil sie einsahen, dass ihre Gattin, wie es bei Frauen nicht selten der Fall ist, ihre Seele, ihr Herz gegeben hatte, lange bevor ihre Sinne erwacht waren, und dass nur das tägliche Zusammensein allmählich auch sie lehrte, sich nach Ganzheit zu sehnen. Erst durch diese gemeinsame Sehnsucht soll ein Kind das Leben empfangen. Noch werden viele Kinder in legalisierter Prostitution, in legalisierter Notzucht geboren. Noch fehlt dem Bewusstsein vieler Frauen und Männer jeder Schimmer von religiöser Andacht, von Schönheitsgefühl vor dem grossen Mysterium des Werdens. Und doch will man noch immer im Namen der »Sittlichkeit« vor der Jugend die Nacktheit der Natur verschleiern und verabsäumt es, ihr Andachtsgefühle vor ihrem eigenen Wesen als dem Heiligtum einzuflössen, in dem das Mysterium des Lebens sich einst erfüllen wird!

In diesem Mysterium giebt es noch verborgene Gebiete, zu denen nur die Intuition gedrungen ist. Nur hier und da hat ein tiefblickender Dichter all die unzähligen Affinitäten oder Repulsionen geahnt, die – unter wechselnden seelischen und sinnlichen Dispositionen, unter wechselnden Stimmungen – das erotische Leben eines modernen Menschen bestimmen; die mystischen Einflüsse, die, manchmal für immer, manchmal nur zeitweise, selbst das innigste Gefühl umwandeln können. All diese mystischen Einflüsse, das zarte Gespinnst all dieser feinen Fäden wird dann ein Teil des Lebensgewebes der Kinder. Und diese geheimnisvollen Verläufe erklären die grosse Verschiedenheit zwischen Kindern derselben Eltern, Kindern, die in äusserlich ganz gleichartigen Verhältnissen geboren und erzogen wurden.

Dass die Menschen in all diesen Eingebungen des Instinktes, diesen kategorischen Imperativen der Nerven und des Blutes zugleich gehorsame Lauscher und strenge Herrscher werden – das ist die Voraussetzung für das zukünftige erotische Glück und für ein glücklicheres Geschlecht der Zukunft.

Die Jetztzeit hat ererbte Sitten und neuerworbene Unsitten, die beide überwunden werden müssen, bevor Seele und Sinne in der Erotik untrennbar werden, oder mit anderen Worten, bevor diese Einheit als die einzige Sittlichkeit in dem Verhältnis zwischen Mann und Weib erkannt wird.

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Es giebt freilich – sowohl unter den genialen Männern wie unter den einseitigen Frauenrechtlerinnen – solche, die meinen, dass die Entwickelung einen ganz anderen Verlauf nehmen wird. Nachdem man den niedrigen Trieb, der der Liebe zu Grunde liegt, klar erkannt und wissenschaftlich analysiert hat, wird, sagt man, das hochstehende Individuum entweder den Trieb befriedigen, schamlos und tierisch, ohne alle Gefühlsausschmückung, oder es wird sich seiner Gewalt entziehen und die Lebenskraft, den Gefühlsinhalt, der jetzt noch von der Liebe verbraucht wird, anderen, edleren Aufgaben zuwenden.

Es liegt nichts Unmögliches in dieser Annahme. Ich habe schon dargelegt, Man sehe: »Missbrauchte Frauenkraft.« dass die Frau durch ihre mütterlichen Funktionen so viel physische und psychische Lebenskraft verbraucht, dass sie auf dem Gebiete der geistigen Produktion minderwertig bleiben muss. Und was ich damals nur intuitiv annahm, ist mir seither von Sachverständigen bestätigt worden. So hat z. B. ein finländischer Arzt Onni Granholm: »Die Liebe«, ein Buch, das ich kurz nach meinem Vortrage über Das Jahrhundert des Kindes erhielt und in dem ich gewisse Forderungen fand, die mit den damals von mir gestellten übereinstimmten. Auch Frau Lou Andreas-Salome hat in einem Essay »Der Mensch als Weib« (Neue Deutsche Rundschau 1900) interessante Gesichtspunkte in dieser Richtung gegeben. dargelegt, wie die ganze Lebenskraft der niedrigeren Organismen sich in der sexuellen Produktion konzentriert, dass aber, je höher man kommt, desto mehr Kraft freigemacht wird; und diese Kraft, die nicht für die Hervorbringung neuer Generationen in Anspruch genommen wird, kann der geistigen Produktion dienen. Jede der beiden verschiedenen produktiven Aeusserungen der menschlichen Lebensthätigkeit muss in gewissem Grade hemmend auf die Kraftentwickelung und das Arbeitsvermögen der andern wirken. Dies ist, nach dem genannten Schriftsteller, die natürliche Ursache der geringeren Fruchtbarkeit des Kulturmenschen und würde – nach den früher genannten Pessimisten – auch das schliesslich Entscheidende bei dem gewahrsagten Untergang der Liebe sein.

Nach meiner Auffassung des Wortes ist es im Gegenteil die Liebe, die bei der relativen Schwächung des Triebes und durch die wissenschaftliche Klarheit über denselben gewinnen wird. Die Menschen werden dann nicht mehr den Trieb mit der Liebe verwechseln, in der derselbe allerdings immer vorhanden ist, aber in derselben Weise, wie z. B. die Skulpturen des Höhlenmenschen in denen eines Michel Angelo gegenwärtig sind. Der Mensch wird dann erst mit allen Kräften seines ganzen menschlichen Wesens lieben können, wenn die Liebe nach dem schönen Wort des Amerikaners Thoreau »nicht nur eine Glut, sondern ein Licht ist«; er wird dann erst einsehen, welchen Reichtum das Leben durch die Liebe erhalten kann, wenn diese ein menschenwürdiges Glück wird, dadurch, dass sie ein künstlerisches Schaffen ist, ein religiöser Kult und – schliesslich – ein Ausdruck der vollzogenen Einheit der Liebenden in einem neuen Wesen, einem Wesen, das einstmals wirklich für das Leben wird danken können.

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Wenn es sich um die Vervollkommnung des Menschengeschlechtes handelt, ist die Umgestaltung der Sitten und Gefühle immer das Wesentliche, und im Vergleiche damit wird der Einfluss der Gesetzgebung immer gering sein. Aber auch diese hat, wie schon gesagt, ihre Aufgabe zu erfüllen. Besonders in Bezug auf Krankheiten, von deren Erblichkeit man absolut überzeugt ist, muss die Gesellschaft ehehindernd eingreifen. Man hat in Deutschland und in Amerika einen guten Uebergangsvorschlag in dieser Richtung gemacht, nämlich dass das Gesetz das Vorweisen eines ärztlichen Zeugnisses – mit vollständigen Daten über die Gesundheit beider Teile – als obligatorische Bedingung der Eheschliessung verlangen solle. Dann hätten die Kontrahenten noch immer ihre Entscheidungsfreiheit, aber sie würden wenigstens nicht wie jetzt unwissend in die Ehe treten und sich selbst und ihre Kinder deren schädlichen Folgen aussetzen. Und es scheint mir, als müsste es für die Gesellschaft mindestens ebenso wichtig sein, ein ärztliches Zeugnis über die Fähigkeit zur Ehe, wie über die Fähigkeit zum Kriegsdienst zu erhalten! In dem einen Falle gilt es, Leben zu geben, in dem anderen, es zu nehmen; und obgleich das letztere freilich bis jetzt als eine weit ernstere Angelegenheit betrachtet wurde als das erstere, dürfte doch ein erwachendes Gesellschaftbewusstsein bald einen Schritt in der erwähnten Richtung fordern. Es lässt sich dann denken, dass sich aus diesem Anfang die Sitte entwickelt; sodass eine weitere Gesetzgebung entbehrlich wäre, weil die Menschen gutwillig auf die schädlichste aller Freiheiten verzichten würden, auf die, einer schlechten Nachkommenschaft das Leben zu schenken, während ein Eheverbot jetzt die Elternschaft nicht verhindern würde. Denn der grosse Haufe könnte ja ausserhalb der Ehe fortfahren, schon vor der Geburt den Kindern Gesundheits- und Glücksmöglichkeiten zu rauben, indem er sie mit erblichen Krankheiten oder schlechten Anlagen belastet. Ohne irgend welchen Anspruch auf Vollständigkeit will ich hier einige ältere und neuere Schriften über diesen Gegenstand anführen, in dem die Litteratur fast täglich anwächst. In einem speziellen Gebiet der grossen Frage habe ich durch einen von Darwins Söhnen, Professor G. Darwin in Cambridge, Mitteilungen über die Untersuchungen erhalten, die er in den 70er Jahren begann, um die Wirkung zu ergründen, welche die Ehe von Geschwisterkindern auf die Nachkommenschaft ausübt. Er hatte die Frage über »Beneficial restrictions to liberty of marriage« (Contemporary Review 1873) aufgenommen und führte dann im »Journal of the Statistical Society« 1875 seine eigenen Untersuchungen als Beweis für die Gefahren einer Ehe zwischen Blutsverwandten an. Er zählt mehrere Arbeiten auf, die dieselbe Frage behandelt haben und zu demselben Schlusssatz gekommen sind, so Dr. Arthur Mitchells »On Blood relationship in Marriage«; Huth: »The marriage of near kins«; von Mantegazza (der mehrere andere Arbeiten über einschlägige Themen geschrieben hat) »Studio sui matrimoni consanguinei«; Chipault: »Etude sur les mariages consanguins« und mehrere Arbeiten über Idiotismus und Taubstummheit, die diese Erscheinungen in Zusammenhang mit konsanguinen Ehen bringen. Diese sollen ausserdem nach verschiedenen anderen Schriftstellern zu Unfruchtbarkeit und erhöhter Sterblichkeit der Nachkommenschaft führen. Wenn die Kinder den Folgen entrinnen, zeigen sich dieselben dafür bei den Kindeskindern. Seit den 70er Jahren ist noch viel mehr über diesen Gegenstand geschrieben worden, obgleich schon Mantegazza 57 Schriftsteller anführt, die vor konsanguinen Ehen warnen, und nur 15, die sie für unschädlich ansehen. Was die Erblichkeit der verbrecherischen Anlagen betrifft, so sind Lombrosos, Tardes, Kraft-Ebings und andere Arbeiten so bekannt, dass ich hier nur an dieselben zu erinnern und ein paar neuere zu nennen brauche: »L'âme criminelle« von M. Fleury und »Déterminisme et Responsabilité« von A. Hamon. Trotz meiner Versuche, von Sachverständigen genaue Mitteilungen über die neuere Litteratur über »eugenics« zu erhalten, ist es mir in dieser Richtung nur gelungen, mir folgende Arbeiten zu verschaffen: Englisch: S. A. K. Siraham: Marriage and disease; H. Orr: A theory of developement and heredity und Darwinism and Raceprogress, eine populäre Abhandlung von Professor J. B. Haycraft, unter dem Titel: Natürliche Auslese und Rassenverbesserung (Leipzig 1895) ins Deutsche übersetzt. In französischer Sprache hat man vor allem Th. Ribots Arbeiten über L'Hérédité, ses conséquences ethiques et sociales und L'Hérédité psychologique; Magnan et Legrais: Les dégenérés. Dann mehrere grössere und kleinere Arbeiten wie Dr. E. Laurent: Mariages consanguins et dégenérescences; Dr. Dallemagne: Dégenérés et déséquilibrés; M. Legrain: Dégenéréscence sociale et alcoolisme und von demselben Verfasser: Hygiène et prophylaxie und Hérédité et alcoolisme; Paul Robin: Dégénération de l'espèce humaine, causes et remèdes; P. Vallet: La vie et l'hérédité; Fere: La famille nevropathique; Le Dantec Evolution individuelle et hérédité; P. Max Simon: Hérédité morale et dissemblance physique; Paul Sollier: Du rôle de l'hérédité dans l'alcoolisme; F. Battesti: Le mariage au point de vue de l'hérédité; J. Fournet: De l'hérédité psychique ou morale; J. Dejerine: L'hérédité dans les maladies du système nerveux. Im Deutschen behandeln folgende Arbeiten denselben Gegenstand: Paul Berger: Die Bedeutung von Krankheiten für die Ehe; Buckmann: Vererbungsgesetze und ihre Anwendungsart auf den Menschen; E. Roth: Die Thatsachen der Vererbung; R. Arndt: Artung und Entartung; W. Hirsch: Genie und Entartung; Krause: Statistischer Beitrag zur Sterblichkeitsfrage bei Geisteskrankheiten. In derselben Frage ist das Buch des Dänen F. Lange: »Ueber den Einfluss der Erblichkeit bei Geisteskrankheiten« zu erwähnen.

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Nietzsche, der von der Liebe wenig weiss – weil er vom Weibe beinahe nichts weiss – und der darum nicht viel des Lauschens Wertes sagt, wenn er sich über diese Themen äussert, hat doch über die Elternschaft tiefere Worte gesprochen, als irgend ein anderer in unserer Zeit. Er hat gesehen, welche Unreinheit, welche Armut sich unter dem Namen der Ehe verbirgt; welches Pfuschwerk, welche Unwissenheit unter dem der Erziehung! Und er hat herrliche Seher- und Dichterworte für das, was der Mensch durch die Elternschaft erstreben und was die Elternschaft sein sollte:

Ich will, dass dein Sieg und deine Freiheit sich nach einem Kinde sehne. Lebendige Denkmale sollst du bauen deinem Siege und deiner Befreiung.

Ueber dich sollst du hinausbauen. Aber erst musst du mir selbst gebaut sein, rechtwinklig an Leib und Seele.

Nicht fort sollst du dich pflanzen, sondern hinauf! Dazu helfe dir der Garten der Ehe!

Einen höheren Leib sollst du schaffen, eine erste Bewegung, ein aus sich rollendes Rad – einen Schaffenden sollst du schaffen

Ehe: So heisse ich den Willen zu Zweien, das Eine zu schaffen, das mehr ist, als die es schufen. Ehrfurcht vor einander nenne ich Ehe als vor den Wollenden eines solchen Willens.

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