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Die Réjane ist größer, »C'est vraiment une actrice!« schreibt der ältere Goncourt 1888 in sein Tagebuch. Journal des Goncourt VII, 312. Er wußte warum. Die Réjane muß vor ihn getreten sein wie ein Retter aus dem Paradiese. In dürren Zeiten erblickt er sie als Helferin, ein betagter Mönch, das Haupt umleuchtet vom fahlen Heiligenschein der Schlemihle. Sie geht heldenhaft für ihn ins Zeug, spielt seine Germinie, erzählt ihm Geschichten von ihrer kleinen Tochter. Er schreibt es ins Tagebuch. Einmal verspricht sie ihm einen Kuß. (Er schreibt es ein.) Schließlich besucht sie ihn, strahlend und jauchzend; man weiß nicht, ob sie seinen Erfolg bejubelt oder ihn tröstet über seinen Durchfall.
Wir rufen mit ihm: c'est vraiment une actrice; – doch in anderem Sinne: Das ist in Wahrheit nur eine Schauspielerin.
Auch sie ist nicht, wie die Duse, ein Erdenmirakel. Sie ist nicht mal, wie die Sorma, ein Stück Poesie. Sie macht alles, was man, ohne ein Genie zu sein, machen kann, und macht es vorzüglich. Sie stirbt vorzüglich. Sie grollt vorzüglich. Sie liebt vorzüglich. Sie kämpft vorzüglich. Sie weint vorzüglich. Dabei fühlt man, wie bei der Sarah (nur daß Gabrielle Réjane viel Ernsteres gibt): jetzt macht sie das Sterben, jetzt macht sie inneres Kämpfen, jetzt macht sie Verliebtheit, jetzt macht sie das verhaltene Weinen, jetzt macht sie die Grollszene. Zum Beginn ertönt ein Glockenzeichen.
Die Réjane ist nicht empfindungslos. Welches Unrecht, sie als Macherin hinzustellen. (Um wieviel leichter würde sie zu kennzeichnen sein, wenn sie das wäre.) Aber die Technik an ihr ist das Vorwiegende. Der Fall wird erschwert, indem sie eine gewisse Einfachheit beobachtet. Sie legt sie schon mehr an den Tag. Um es mit einem Wort zu sagen: sie starrt von Natürlichkeitsmätzchen.
Sie arbeitet das Lebenseinfache so heraus, daß man den Naturalismus deutlich merkt; daß man findet: sie macht die Natürlichkeit großartig.
Will sie eine vollendete Technikerin sein, so muß sie auch die Technik der Übergänge beherrschen. Bei der Duse – nur das Technische betrachtet – gibt es keine Glockenzeichen. Alles geht in einander. Und die letzten Einzelheiten in der Technik der Réjane, die allerglänzendsten »Momente«, sind doch klein gegen das, worin die Duse gelegentlich die Laune hat, auch technisch groß zu sein.
Die Duse als Fedora wird gefragt, wen der Graf Loris anbetet. Dieser Loris ist der Mörder ihres Bräutigams. Sie hat ein einziges Ziel: ihn zu vernichten. Zugleich beginnt sie unbewußt, ihn lieb zu haben. Als sie nun gefragt wird, wer die Person ist, die von Loris angebetet wird, hat die Duse zu sagen: »Ich«. Dieses »Io«, wie sie es spricht, drückt aus: der Mann ist ein verworfener Schurke, den ich hasse, aber es ist seltsam, wie auffallend er mich verehrt, ich mache darüber höhnische Bemerkungen, doch leise, leise lieb ich ihn, ohne es zu wissen, und wenn das jemand behaupten wollte, wenn jemand sagen wollte, daß ich dem Mörder meines Teuersten auch nur verzeihe, so würde meine Trauer ihn namenlos verachten und solche Roheit im Innersten beklagen. Die Duse macht, um das auszudrücken, eine einzige Armbewegung, eine einzige Gesichtsbewegung und eine einzige Pause; dann sagt sie: »– – – io«.
Und für die Dauer eines längeren Daseins vergißt man dieses »io« nicht mehr. Hier ist neben allem anderen ein Gipfel der Technik. Nach Jahr und Tag wird man sich klar, daß zu solcher Wirkung auch eine grenzenlose Technik nötig gewesen sein muß.
Bei der Réjane ist es anders. Sie hat bei Meilhac einen der bedeutendsten technischen Momente. In gedrückter Stimmung muß sie mit einem leichtsinnigen Vater plaudern. Auch sie hat widersprechende Empfindungen zu malen. Sie spricht lächelnd, doch immer sind ihr die Tränen nah. Man bewundert sie; es ist prachtvoll; und jetzt gleich fühlt man, eine wie große Kunst dazu gehört, das zu machen … In drei Punkten also scheidet sich die Technik der Réjane von der Duse. Die Réjanesche Technik vermag weniger auszudrücken; sie vermag es minder überlegen auszudrücken; und wo die Duse eine ewige Melodie gibt, neigt sie noch zur Cavatine. Wieder ist die Réjane hier keine gewöhnliche Koloraturdame (wenn sie es wäre, läge der Fall einfacher), aber Sieglinde ist sie auch nicht.
Sie bleibt eine große Kompromißlerin.
Vielleicht ist es immer wieder töricht, die gallische Schauspielkunst mit der italienischen zu vergleichen. Die italienische bleibt die höchste in der kaukasischen Welt. Die Italiener reißen die Kulissen von der Seele, die gepeinigte Kreatur sendet den Schmerzensruf aus der Tiefe, erschütternd, niederwerfend. Der Schmerz der Franzosen hat Accente. Oft, wenn sie menschliche Qual darzustellen haben, sind sie mehr wütend als leidend; mehr Keifer als Märtyrer; mehr gereizte Bestien als innerste Opfer.
Die Réjane ist eine Soubrettentragödin – freilich ersten Ranges. Alle Minauderien im Leid kommen wundervoll bei ihr heraus. So rührt sie zunächst als Treibhausdame. Wie niedlich stirbt sie, wie niedlich-ergreifend leidet sie. Hier liegt ihr bißchen Poesie; sonst ist sie daran arm, wie sie arm an Rausch ist. Sie reißt nicht hin. Und wenn sie als Nora in tiefster Qual das Tamburin schlägt und tanzt: sie reißt nicht hin. Wundervoll wirkt sie mit aufgelöstem Haar hin- und herrasend, wie irrsinnig. Aber sie »beginnt die Tamburinszene« – ich kann mir nicht helfen. Es fehlt der Rausch. Was sichtbar wird, ist eine künstlich gesteigerte Wildheit, nicht eingeborene Leidenschaft des Schmerzes.
Keine deutsche Schauspielerin hat diese Technik. Aber man stelle sich die hier viel kleinere Sorma vor. Dunkle Sehnsucht. Etwas in die Ferne Schwebendes. Versunkene Kränze. Sterne in der Dämmerung. Ein Lied. Von solchem Zauber hat die Réjane nichts. Für eine gewisse Größe ist eine gewisse Melancholie nicht zu entbehren. Sie bildet zuweilen den Ewigkeitszug. Sie ist das Letzte, über den Dingen Hinziehende, über der Seligkeit und dem Elend zufälliger menschlicher Komödien. Die Réjane hat aber nichts Ewiges. Sie ist vielseitiger als die Sorma; sie steht technisch unendlich höher als die Sorma: doch ihre Gestalt ist nie die Gestalt einer Kreuzträgerin. Die Sorma ist eine Musik; die (größere) Réjane bleibt vraiment une actrice.
Die Réjane gibt die Nora. In diesem wesentlichsten ihrer Stücke versagt sie. Noras Kinderverlogenheit – reizend! Dann wird fein eine Mischung von Schuldbewußtsein und Sichfreifühlen von Schuld zuwegegebracht. Eine vorzügliche Leistung, so sehr man die Leistung spürt. Jetzt aber kommt das nicht Wunderbare. Die Szenen mit Rank bleiben bedeutungslos, und hier ist ein Prüfstein. Wer das Beste nordischer Schauspielkunst sehen will, sehe die Szene zwischen Rank und Nora, wie sie Rittner und die Sorma spielen. Was an Tragik in der stummen und ungeschehenen Umarmung zweier vorübergleitender Seelen ruht, was an stummer, verdrängter Abschiedsstimmung: das wird hier sichtbar. Die Réjane hat keine Vermutung, daß in diesen Szenen eine Welt und der Untergang einer Welt liegt. Die Szenen kommen und gehen, ohne daß man das Rauschen gehört hätte; nämlich der Ewigkeit.
Nora wird bei ihr geläutert durch die Wechselangelegenheit, nicht durch Einsicht in den Charakter des Gatten! Glänzendes Mißverstehen und Anempfindung. Man sieht das Spiel einer Französin, die von einem spröden, alten Norweger etwas läuten gehört, die im Äußeren durch einen Tituskopf sehr einprägsam charakterisiert, sich auch Mühe gibt tonlos zu sein, und im Grunde fast eine Anti-Ibsendarstellerin ist.
Ihre Geschicklichkeit im Ergreifen, und die Vollendung, mit der sie rühren gelernt hat, zeigt sich in der Tragödie des leichtsinnigen jungen Mädchens Gilberte. Sie hat da eine Probe auf dem Liebhabertheater mit einem wirklichen Liebhaber abzuhalten. Gilberte bleibt stecken. Zerstreutheit, Schwüle, Liebeszittern – das gelingt ihr bezaubernd; man ahnt schon, wie unübertrefflich sie bei Donnay als Nerven- und Liebesweib Helene Ardan ist. Und doch: der Eindruck des Zurechtgemachten schwindet nicht. Auch in dieser schwülen Szene blickt sie im Geist auf die Zuschauer und ruft, wie der Vogel im Märchen vom Machandelboom:
Kywitt, Kywitt,
Wat vorn schöön Vagel bün ick.
Kompromißkünstlerin! Sie hat in ihrem Leben den Taumelbecher nie geleert, sie bleibt Französin.
Was man ihr nicht nachspielen wird, ist etwan eine Sans-Gêne, – wo sie äußerlich glänzend charakterisieren kann. Gleich einem kostümierten Affen wankt ihre ruppige Herzogin durch die fürstlichen Gemächer. Allerdings macht sie blutige Übertreibungen. Wenn sie die neuen Gewänder probt, mit den allzulangen Ärmeln, ist sie ganz mit Bewußtsein ein Affe; ein recht übertreibender Spaßmacher; eine auftragende Komikerin. Die Niemann-Raabe gab ein derbes, rechtschaffenes Waschweib: die Réjane ist eine verschmitzte Wäscherin, ein Gassenmädel, ein Pfiffikus, ein Schusterjunge. Da liegt ihr Element: Soubrettenhaftes mit dem Realistischen klug verflochten.
Gabrielle Réjane ist, mit allem was sie hat und nicht hat, die größte Bühnenfranzösin ihrer Zeit. Leuchtend verkündet sie noch einmal, was die Technik vermag … ohne den Ewigkeitszug. Und was Frankreich Wundervolles hervorbringt … ohne das Wunder.